Kristallflügel von Flordelis ================================================================================ Kapitel 5: Aus Stein -------------------- Elaine hätte nicht erwartet, jemals wieder aufzuwachen. Aber der dumpfe Schmerz, der sich in ihrem Inneren ausbreitete, sagte ihr mehr als deutlich, dass sie immer noch lebte und als sie die Augen öffnete, stellte sie auch fest, dass sie mit viel Glück gesegnet gewesen war. Der gesamte Raum lag komplett auf der Seite, sie, Aras und Garnett lagen auf einer Wand, gespickt mit Glasscherben, da die Rahmen von gegenüber herabgefallen und zerbrochen waren. Der Tisch hatte sich glücklicherweise nicht mal ein wenig verschoben, wie Elaine später erfahren sollte, lag das daran, dass er mit dem Boden verschraubt worden war. Das Fenster war ebenfalls zersplittert, lag allerdings derart unpraktisch an einen Felsen gelehnt, dass man nicht hinausklettern konnte. Elaine blickte an sich herab und stellte erleichtert fest, dass sie nicht verletzt war, selbst ihre Schmerzen hielten sich einigermaßen in Grenzen und betrafen hauptsächlich ihre Schultern, mit denen sie wohl aufgekommen sein musste. Als sie die anderen beiden musterte, bemerkte sie, dass auch die beiden nicht verletzt waren, jedenfalls nicht äußerlich, aber wach waren sie ebenfalls noch nicht. Elaine stand auf und versuchte, die Tür zu erreichen, doch selbst als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, kam sie nicht an die Klinke. Ihre Fingerspitzen streiften das Metall, schafften es aber nicht, es zu ergreifen, um die Tür zu öffnen. Aras müsste es schaffen, sagte ihr ein kurzer Blick, also müsste sie tatsächlich warten, bis er wach wurde. Sie fragte sich, wie spät es wohl war und wie hoch die Wahrscheinlichkeit sein mochte, dass jemand von der Kirche bereits hierher unterwegs war. So einen Absturz müsste man doch immerhin weithin sehen, sagte sie sich, er erzeugte immerhin jede Menge Rauch. Aber bräuchte man dafür nicht ein Feuer? Ein solches roch sie immerhin nicht, also wusste vielleicht noch niemand, dass sie abgestürzt waren. Aber was bringen all die Gedanken? Festsitzen tun wir so oder so. Plötzlich begann Aras sich ebenfalls zu regen und einen Moment später, blickte er sich bereits suchend um. Schließlich verharrten seine Augen auf Elaine und schon stand er aufrecht vor ihr. „Alles in Ordnung?“, fragte er und sie glaubte tatsächlich, eine Spur Besorgnis in seiner Stimme zu hören. „Dafür, dass ich gerade einen Luftschiffabsturz überlebt habe, geht es mir wirklich sehr gut. Wie ist es mit dir?“ „Dasselbe.“ Sie sahen beide zu Garnett hinüber, die noch nicht wach war. Er neigte den Kopf. „Ich habe gehört, dass sie schon mehrere Abstürze überwunden hat. Die Crewmitglieder munkeln, sie ist aus Stein.“ „Haben die dann nicht auch schon mehrere Abstürze überlebt?“ Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Wie gesagt, ich bin nur ein freier Mitarbeiter.“ „Das verstehe ich nicht. Warum arbeitest du für sie?“ Es sah nicht so aus, als würde er antworten wollen, aber schließlich rang er sich zu etwas durch, was er wohl verantworten konnte: „Sagen wir, unsere Interessen überschneiden sich und ich hielt es für angebracht, die Ressourcen von Nimbatus mit meinen zu kombinieren.“ Das sagte ihr zwar nicht sonderlich viel, aber ihr war auch bewusst, dass es sich dabei um ein sehr persönliches Thema handelte und sie deswegen nicht zwingend weiterforschen sollte. Auch wenn er, ihrer Meinung nach, nicht wirklich Respekt verdient hatte, immerhin hatte er sie entführt. Vielleicht hatte er einen wirklich guten Grund?, warf ihr Unterbewusstsein ein. Vielleicht stimmt das, was Nimbatus erzählt? Sie schob den Gedanken erst einmal von sich, da Garnett sich in diesem Moment ebenfalls zu regen begann. Als sie sich streckte, gab sie ein Geräusch von sich, als wäre sie in diesem Augenblick aus einem tiefen und erholsamen Schlaf erwacht. Sie sah sich um und erkannte, scheinbar wohlwollend, dass das Schiff wirklich abgestürzt war. „Letztes Mal lagen wir auf dem Kopf, das war viel spannender.“ Elaine wunderte sich ein wenig, dass sie sich keine Sorgen um die Mitglieder der Mannschaft machte, aber wenn sie wirklich derart viele Abstürze bereits miterlebt hatte, konnten sie sich inzwischen vermutlich rechtzeitig sichern, ehe es zu schweren Verletzungen kommen könnte. „Dir scheint es gutzugehen“, stellte Aras fest. „Dann sehen wir lieber zu, dass wir hier rauskommen.“ Während sie sich aufrichtete, trat er direkt unter die Tür. Wie Elaine erwartet hatte, erreichte er den Knauf ohne Probleme und schaffte es damit auch spielend, die Tür zu öffnen. Sie hing in den Raum hinein und das zeigte Elaine ein weiteres Problem: „Wie kommen wir jetzt da hoch?“ „Nichts leichter als das“, antwortete Aras. „Ich helfe euch hoch und dann ziehe ich mich nach oben.“ Er blickte zu Garnett, die keinen Widerspruch einlegte, dann sah er zu Elaine und hustete verlegen. „Na ja, vielleicht warten wir mit Elaine auch bis zum Schluss.“ Sie wollte gerade fragen, weswegen man sie derart behandeln sollte, da fiel ihr selbst wieder ein, dass sie einen kurzen Faltenrock trug, der bei ihrer Uniform vorgeschrieben war. Hitze stieg ihr ins Gesicht, sie nickte hastig. „Ja, das wäre wohl besser.“ Garnett trat mit einem Kichern vor. Aras ging leicht in die Knie, die Hände ineinander gefaltet, die Handflächen nach oben gerichtet. Sie stieg mit dem Fuß darauf, er drückte die Knie durch, um ihr nach oben zu helfen. Sie bekam etwas zu fassen und zog sich nach oben. Kaum war das geschafft, half Garnett Aras zu ihr herauf. Elaine trat unter die Öffnung und blickte nach oben. Niemand war mehr zu sehen und für einen kurzen Moment befürchtete sie, dass man sie hier zurücklassen würde, doch dann erschien Aras wieder in der Tür und reichte ihr die Hand. „Fertig. Du kannst hochkommen.“ Obwohl Elaine es nicht so recht glauben konnte und ihre Arme sich anfühlten, als würden sie viel zu überdehnt, schaffte er es tatsächlich, sie nach oben zu ziehen, wo sie erst einmal erleichtert ausatmete, ehe sie sich bedankte. Aras winkte wortlos ab, fuhr herum und folgte dann anscheinend Garnett, die bereits vorausgelaufen war. Elaine beeilte sich, diesem Beispiel zu folgen. Solange sie nicht wusste, wo sie war, wollte sie lieber nicht zurückgelassen werden. Es fiel ihr nicht sonderlich leicht, über die Wand des Luftschiffes, die nun als Boden fungieren musste, zu laufen. Stellenweise gab es Lücken, an denen sie zu stolpern drohte, an anderen Stellen lief Öl heraus, das ebenfalls die Absicht hatte, sie stürzen zu lassen. Doch schließlich kam sie unbeschadet, wenngleich reichlich verspätet, bei Aras und Garnett an. Letztere war gerade dabei, sich bei ihrer Crew nach deren Befinden zu erkundigen. Wie es aussah, hatten alle den Absturz gut überstanden, was für Elaine an ein Wunder grenzte, aber wieder ihren Verdacht unterstrich, dass sie erfahren in Schutzmaßnahmen waren. Jeder von ihnen grinste und sah gut gelaunt aus, Blut war keines zu entdecken. Schließlich wandte Garnett sich ihr und Aras zu. „Wir müssen durch den Notausstieg und nachsehen, wo wir sind. Vermutlich müssen wir auch den Rest des Weges laufen.“ Elaine verzog unwillig ihr Gesicht. Sie wurde entführt und musste nun auch noch selbst zum Versteck ihrer Entführer laufen. Was für eine traurige Angelegenheit. Statt etwas zu sagen, folgte sie Garnett und Aras zum Notausstieg. Es war eine Luke, die normalerweise im Boden des Luftschiffs war, nun aber als seitlicher Ausgang fungieren konnte. Garnett öffnete die Luke und ging zuerst hinaus, direkt gefolgt von Aras, während Elaine wieder einmal das Schlusslicht bildete. Kaum stand sie draußen, legte sie den Kopf in den Nacken und starrte überwältigt auf die Umgebung. Vor ihr erstreckte sich ein Wald, was nicht weiter ungewöhnlich war. Das Besondere, was sie so fasziniert sein ließ, war die Tatsache, dass die unendlich groß erscheinenden Bäume und auch jede einzelne Blume, jeder Grashalm, allesamt versteinert waren. Es war raues Gestein, dessen bloßer Anblick genügte, um einem mitzuteilen, dass es schmerzhaft wäre, die Hand darüber gleiten zu lassen. „Wo sind wir?“, fragte sie mit ehrfurchtsvoller Stimme. „Das ist der steinerne Wald von Terrins“, erklärte Garnett und fügte sofort hinzu: „Weißt du, wenn verschiedene Formen von Magie aufeinandertreffen, resultiert das oft in einer Wechselwirkung, die in derartigen Dingen endet, weil sie die Naturgesetze außer Kraft setzt oder umkehrt. In diesem Wald wurde eine der Schlachten während des Kriegs ausgetragen.“ Elaine fragte sich, wie es früher einmal hier ausgesehen haben mochte, welche Tiere an diesem Ort existiert hatten und wie es ihnen ergangen war, nachdem ihr Lebensraum zu Stein geworden war. Es schmerzte in ihrer Brust und trieb ihr fast die Tränen in die Augen. „Wie lange wird es dauern, bis wir wieder im Hauptquartier sind?“, fragte Aras. „Wenn wir den Wald durchquert haben, sind wir fast da. Wir kriegen das hin.“ Elaine war sich da nicht so sicher, aber etwas anderes beschäftigte sie noch mehr: „Bleibt die Mannschaft hier?“ Garnett nickte. „Irgendjemand muss das Schiff ja wieder flottkriegen. Wir können es hier schlecht einfach nur herumliegen lassen.“ „Aber was, wenn Mitglieder der Kirche hier eintreffen?“ „Ach, die betreten den Wald nicht. Wir haben dir ja erzählt, dass hier einst eine Schlacht getobt hat, deswegen glaubt man, dass es hier viele Geister gibt – und damit ist das hier ein unheiliger und gleichzeitig heiliger Ort und deswegen wird niemand aus der Kirche einen Fuß hier hereinsetzen.“ Derart viel Aberglaube konnte Elaine sich nicht in den Rittern der Kirche vorstellen, weswegen ihr die Erklärung, die Aras gleich darauf lieferte, wesentlich besser gefiel: „Ich habe gehört, sie fürchten vielmehr den Wächter dieses Waldes. Er soll schon einige Ritter getötet haben.“ Davon hatte sie zwar nie gehört, aber Elaine war eher geneigt, das zu glauben. Garnett wiederum winkte ab. „Na ja, was auch immer. Jedenfalls sind wir hier sicher.“ Elaine fragte sich, warum sie sich keine Gedanken darum machte, was mit ihnen geschehen könnte, wenn die Gerüchte und Geschichten stimmten, erhob aber keinen Einspruch. Sie folgte Garnett und Aras, die bereits zwischen den Bäumen entlangliefen. Selbst der Weg war aus Stein, wie sie feststellte. Das war sie zwar bereits aus der Stadt gewohnt, aber hier war der Boden uneben, weswegen es sich wesentlich unbequemer anfühlte. „Ist es wirklich sicher, hier herumzulaufen?“, fragte Elaine doch nach wenigen Schritten. Eine unheilvolle Stille lag auf dem Wald, kein Tier war zu sehen, nicht einmal ein versteinertes. Die Sonnenstrahlen schafften es nur mühsam durch das Gewirr aus steinernen Ästen zu ihnen herab, was die bedrückende Atmosphäre nur weiter verstärkte. Garnett stemmte eine Hand in die Hüfte. „Dieser Wald ist frei von jedem Untier oder gar Bestie.“ „Bestie?“ Schockiert hielt Elaine sich die Hände vor den Mund. „Was lernt ihr eigentlich in Nersrose?“, fragte Aras. „Seit dem Krieg sind viele Gebiete, außerhalb eurer Stadt natürlich, von Bestien verseucht. Vermutlich auch ein Ergebnis des übermäßigen Magieeinsatzes.“ Davon hörte sie an diesem Tag das erste Mal. Warum verheimlichte die Kirche das? Und warum griffen diese Wesen die Stadt nicht an? Aras zuckte auf diese Frage allerdings nur mit den Schultern und auch Garnett schien keinerlei Ahnung zu haben – oder sie wollte es nur nicht ausplaudern. „Aber nehmen wir an, es gibt hier doch Bestien, wie würden wir uns dann wehren?“ Die beiden schwiegen, was ihr aber Antwort genug war. Im Endeffekt blieb ihr also nur die Hoffnung, dass nichts geschehen würde und das war nicht sonderlich viel. Zu ihrer Erleichterung geschah den Großteil des Weges nichts weiter und sie war bereits gewillt zu glauben, dass ihre Einbildung ihr nur einen Streich spielte und es gar nichts Furchtbares oder Unheilvolles an diesem Ort gab – bis sie plötzlich eine leise Stimme hörte: „Endlich bist du da. Ich warte schon so lange.“ Augenblicklich blieb sie stehen und sah sich um. Die Stimme war eine andere gewesen, aber es war dasselbe Gefühl, wie jenes, das sie in der Kirche überkommen war, wann immer der Drache mit ihr gesprochen hatte. Bedeutete das etwa...? Aras blieb ebenfalls stehen und drehte sich zu ihr. „Was ist los?“ Weder er noch Garnett schienen etwas gehört zu haben, weswegen Elaine sich nicht sicher war, ob sie etwas sagen sollte. Sie wollte – nein, sie musste – der Stimme folgen und fürchtete gleichzeitig, dass es keine gute Idee war und die beiden ihr genau das auch bestätigen würden. Aber würde sie es schaffen, die beiden abzuhängen, um der Stimme zu folgen? Rasch schloss sie sich ihnen wieder an und zu ihrem Glück begannen die beiden eine Unterhaltung darüber, ob sie den Verfolgern der Kirche bereits weit genug entkommen waren – immerhin könnten sie auch rund um den Wald herum warten – oder ob es vielleicht gar keine gegeben hatte. Sie ließ sich noch ein wenig weiter zurückfallen, wartete, bis die beiden wieder nach vorne sahen und rannte dann so schnell sie konnte ins Unterholz. Die versteinerten Überreste der Vegetation rissen ihr die Haut an ihren Beinen auf, aber sie hielt dennoch nicht inne, auch nicht, als Aras und Garnett nach ihr riefen. Entschlossen, sich nicht aufhalten zu lassen, ehe sie ihr Ziel erreicht hatte, rannte sie immer weiter. Doch noch bevor sie diesen Punkt erreicht hatte, gab es etwas auf einer Lichtung, das sich ihr in den Weg stellte. Es waren weder Aras, noch Garnett und auch keine undurchdringbare Wand aus steinernen Pflanzen und auch nicht dieser Wächter. Was sich ihr entgegenstellte, waren zwei Wölfe, die etwa doppelt so groß sein mussten wie normale Artgenossen und die noch dazu vollkommen aus Stein zu bestehen schienen. Dass sie sich dennoch bewegen konnten, war ein weiteres Wunder an diesem Tag, auf das Elaine aber getrost hätte verzichten können. „Warum passiert mir das alles?“, fragte sie leise seufzend. Die Wölfe knurrten, legten die Ohren an und gingen in Angriffsstellung. Elaine wich ein wenig zurück, sich selbst im Klaren darüber, dass sie nicht schaffen könnte, diese beiden Wesen abzuhängen, schon allein, weil sie den Wald sicher besser kannten, als sie. Sie faltete die Hände vor ihrer Brust, senkte den Kopf und schloss die Augen. „Ich glaube an Ner, die allmächtige Göttin und Mutter“, begann sie ihr verzweifeltes Gebet. „Sie wird mich aus meiner Not erlösen. Ich glaube an Ner, die allmächtige Göttin und Mutter...“ Doch ihr Gebet wurde unsanft unterbrochen, als einer der Wölfe sprang, um sie anzugreifen – und im selben Moment hörte die Welt auf, sich zu drehen. Die Bewegungen dieser Wesen verlangsamte sich zu einem Grad, dass es wirkte, als würden sie schlafwandeln, die Laute, die sie von sich gaben, klangen verzerrt. Ein hellroter Schleier lag vor ihren Augen und tauchte alles in ein unheimliches Licht, das ihr so vertraut schien als wäre sie damit bereits geboren worden und wäre sich dessen bis eben nur nie bewusst gewesen. Einer der Wölfe setzte unendlich langsam zum Sprung an, eine Stimme riet ihr, auszuweichen, aber eine unendlich groß erscheinende Sicherheit erwiderte ihr mit aller Ruhe, dass sie nichts zu befürchten hatte – und im nächsten Moment war der Wolf bereits zu Kristall erstarrte, nun nur noch eine Statue, die keinerlei Gefahr mehr für sie darstellte. Der andere Wolf ließ sich davon nicht einschüchtern, er sprang dennoch, aber seine Bewegungen waren derart verzögert, dass sie lediglich einen knappen Schritt zur Seite machen musste, um ihm auszuweichen. Als er wieder auf dem Boden aufkam, hatte er sich ebenfalls in Kristall verwandelt und kippte danach einfach um. Wieder war da diese zaghafte Stimme, die ihr sagte, dass sie außer Gefahr war und sich nun keine Sorgen mehr machen musste, aber dann war da auch noch die andere, wesentlich lautere, die sich enttäuscht zeigte und noch mehr wollte. Mehr Opfer, mehr Gelegenheiten, um diese Kräfte einzusetzen, mehr... mehr, mehr! 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