Der Friedhof von Skeru_Seven ================================================================================ ✗✗✗ --- Als ich am Morgen aufstand und mir beinahe den Schädel einschlug, weil ich über Teku stolperte, der sich wie ein verkorkster Bettvorleger auf dem Boden ausgebreitet hatte, war mir klar, dass dieser Tag nicht gut endete. Manchmal merkte man so etwas schon in den ersten Sekunden. Dass mich mein Kater nicht mal schuldbewusst begrüßte, weil ihn mein Beinahetod belastete, machte die Sache ebenfalls nicht besser. Egoistisches Vieh; solange ich ihm das Futter öffnete, war alles soweit in Ordnung. Genervt kochte ich mir Kaffee, stellte fest, dass er furchtbar schmeckte, weil ich den Filter von gestern noch mal benutzt hatte, und beschloss, mich am besten noch einmal ins Bett zu legen. Alternativ ging auch eine Kugel im Kopf. Auf der Arbeit würde ich sowieso nur noch mehr Katastrophen verursachen und den Hass meiner Abteilung auf mich ziehen. Aber einen unentschuldigten Fehltag konnte ich mir eigentlich nicht leisten, meine Chefin war eine echt pedantische Person ohne Verständnis für die Sorgen und menschlichen Probleme ihrer Mitarbeiter. Es wuchs keine Kohle zu ihr rüber, wenn sie mit uns rücksichtsvoll umsprang. Also beugte ich mich meinem dummen, unausweichlichen Schicksal, donnerte nicht die benutzte Tasse gegen die Wand oder meinen Kopf, sondern ließ sie in die Spüle plumpsen, atmete mehrmals lange ein und aus, um wieder auf ein erträgliches Maß runterzukommen und fing an, mich für die Arbeit fertig zu machen. Allein als ich im Bad wieder mit meinem Spiegelbild konfrontiert wurde und ihm provokant den Mittelfinger zeigte, um mit dem Anblick überhaupt klarzukommen, fühlte ich mich wieder extrem abgefuckt. In den letzten drei Jahren war ich fett geworden; nicht so fett, dass ich zur Arbeit rollen konnte, aber meinen ursprünglichen Umfang hatte ich wahrscheinlich verdoppelt; alles von früher passte nicht mehr. Meine Haare hingen wirr und ziemlich behämmert herunter. Eigentlich hätte ich sie mal radikal kürzen müssen, auf ungefähr drei Zentimeter, aber sie kamen sowieso wieder, also konnte ich es sein lassen. Ließ ich der dunkelbraunen Flut ihren Lauf, juckte im Büro keinen. Früher hatte ich sie mal blond gefärbt, weil ich es konnte, die Reste hingen immer noch in den ausgefranzten Spitzen. Jeder modebewusste Mensch hätte mich geschlagen, aber mir wars egal. So wie mir einiges inzwischen egal war. Die wirklich wichtigen Sachen wie Duschen, Rasieren, Zähne putzen und Fingernägel absäbeln, um nicht mit einem Höhlentroll oder Urzeitvieh verwechselt zu werden, ließ ich über mich ergehen, aber alles darüber hinaus hatte in meinen Augen keinen Sinn mehr. Ja, das war ich. Nie hätte ich vermutet, dass ich mich mal zu so was, wie es mir der Spiegel präsentierte, verwandeln würde. Das einzige, was sich nicht verändert hatte, war das Arschloch in mir. Ich zog ich mich an, ignorierte das fröhliche Dummgesabbel des Radiomoderators, der mir verboten auf den Sack ging, und trat aus der Haustür, raus auf die Straße und auf zum Idiotenverein. Meiner Arbeit. Fast wäre ich wieder umgedreht, so kalt und nass hatte das Wetter die Stadt seit gestern zurückgelassen. War heute Freitag der dreizehnte oder weshalb verfolgte mich so viel übler Scheiß? Ich versuchte, mich zu beruhigen und nicht wahllos auf eine der Mülltonnen einzutreten, die jemand dekorativ direkt vor die Eingangstür des Wohnkomplexes, der sich mein Zuhause schimpfte, deponiert hatte, setzte eine betont gleichgültige Miene auf, um jeden zu signalisierte, dass er mich mal am Arsch lecken konnte, und schlenderte die Straße entlang, während der Regen mich aufweichte. Das schlechte Wetter nahm zu und ich sah immer weniger; ein Schirm wäre jetzt nicht schlecht gewesen, aber als echter Kerl hatte ich es immer abgelehnt, mir so einen unnützen Plundern ins Haus zu holen. Rausgeschmissenes Geld. Jetzt rächte sich mein Stolz; nicht mehr lange und ich konnte in den Laden schwimmen, vielleicht wuchsen mir noch Kiemen und Flossen. Rutschig wie Hund war es netterweise auch noch. Vielleicht sollte ich den Wunsch nach einem Regenschirm vergessen und mir dafür Schlittschuhe organisieren. Jeder Meter war hier ein Abenteuer für sich. Und es kam, wie es kommen musste: Ich übersah ein paar Stufen, weil der liebe Wettergott inzwischen Eimer über allem ausleerte, stolperte grandios über meine eigenen Füße und legte mich so unglücklich aufs Maul, dass mir schwarz vor Augen wurde. Dieser Tag gehörte wirklich in die Kategorie "beschissen". Ich wusste nicht, ob ich zu allem Überfluss durch den Aufprall das Bewusstsein verloren hatte oder nur das Gefühl hatte, dass mir mindestens ein paar Minuten fehlten, jedenfalls nahm ich irgendwann meine Umgebung wieder so wahr, dass ich mich vorsichtig aufrichten konnte und den Endspurt zu meiner geliebten Chefin hinlegte. Wenn die mich zusammenfaltete, weil ich zu spät kam, platzte mir wirklich der Kragen und es kam zu Handgreiflichkeiten. Durch mein absolut dämliches und überflüssiges Missgeschick fühlte ich mich wie eine lebende Pfütze und nahm an, dass mich jeder Depp im Umkreis von zehn Meter wie die Attraktion schlechthin anglotzen würde, erstens weils scheiße aussah und zweitens weil man mich eh immer irgendwie schräg anglotzte, aber zu meinem Glück hatte anscheinend keiner ein Auge für mich. Im Büro ließ man mich heute in Ruhe; keiner stapelte willkürlich Scheiße auf meinen Schreibtisch oder textete mich mit Müll zu, den eh keiner wissen wollte. Nicht mal die Chefin, mein persönlicher Feind, kam vorbei, um mir mitzuteilen, dass ich dies und das und jenes verbockt hatte. Heute war vielleicht doch nicht so ein schlechter Tag, denn keiner ging mir auf den Sack. Ich schrieb also Berichte, spielte Käsekästchen gegen mich selbst und freute mich auf den Feierabend. Zwar würde er so trist und langweilig ablaufen wie immer, aber arbeiten war dann doch das größere Übel. Dann lieber einen schnarchlangweiligen Feierabend. Als ich nach Stunden mein Zeug wieder zusammenpackte und am Büro vom Chefdrachen vorbeischlenderte, um den Weg nach Hause einzuschlagen, hörte ich dort meinen Lieblingskollegen mit ihr schwallen. Nicht das übliche Geschleime, das kein Mensch erträgt, sondern noch was viel dreisteres. „Herr Pettrakov ist heute nicht zum Dienst erschienen, ohne sich telefonisch abzumelden.“ Hallo, blind geworden oder was? Ich war zwar wegen meinem dämlichen Zwischenfall etwas später gekommen, ohne mich groß zu entschuldigen, aber deswegen so einen Stuss vom Stapel zu lassen, grenzte an Schikane. Nur zu gerne wäre ich reingeplatzt und hätte dem Trottel mal erzählt, was ich davon hielt, als Arbeitsverweigerer hingestellt zu werden, aber ich biss die Zähne zusammen und ging. Wenn Madame Furie mich morgen darauf ansprechen würde, könnte ich ihr diverse Dokumente unter die Nase halten, die von mir verfasst worden waren. Auf dem Heimweg fiel mir auf, dass trotz der späten Stunde viel zu viele Leute auf der Straße rumgammelten; dabei war das Wetter immer noch mies und kühl und hätte mich nicht unnötig an die frische Luft geholt. Alles Wahnsinnige, die in diesem Stadtviertel wohnten, das stellte ich immer wieder fest. Vielleicht gab auch jemand einen aus und ich hatte es nicht mitbekommen. Kurz vor meiner Wohnungstür sah ich ein braunes Fellknäul auf den Stufen liegen und sich die Pfoten putzen, als würde sie dafür bezahlt werden. Katzen waren wirklich keine Seltenheit, aber dass sie der von Magmai so ähnelte, fand ich auffällig. Sie konnte es aber eigentlich nicht sein, sie war ihm schon vor Jahren davongelaufen und da war sie schon sowas wie antik gewesen. Ich sah einfach zu viele Sachen, jetzt nach drei Jahren immer noch, die mich an ihn erinnerten. Der Rat meiner Eltern, mal einen Seelenklemper zu nerven und mir Hilfe zu holen, kam mir wieder in den Sinn, hörte sie aber immer noch dumm an. Was sollte der mir helfen können? Gar nicht. Meine eigenen vier Wände sahen immer noch schlimm aus, als ich mich auf die Couch fallen ließ und durch das schlechte Fernsehprogramm schaltete. Aufräumen wäre angesagt, doch mir fehlte die Lust dazu. Spätestens morgen sah es eh wieder genauso aus, besonders wenn Teku wieder auf Jagd nach imaginären Mäusen ging und sich in der Gardine verhedderte. Er konnte es nicht lassen, Dreck und Chaos und viel Verderben zu hinterlassen; in dem Punkt passten wir ausgesprochen gut zusammen. Wo war er eigentlich? Wenn ich heim kam, kam er sonst immer angekrochen und bettelte um Dosenfutter. Von nicht existenten Mäusen wurde er halt nicht satt. Opportunistischer Dreckskerl. Ein Rascheln aus der Küche ließ mich aufhorchen; das klang irgendwie verdächtig, also sollte ich mal nachsehen, ob er gerade lernte, meinen Kühlschrank zu plündern. Wenns um Fressen ging, konnte denen keiner was vormachen. Im Gegensatz zu Hunden waren Katzen nicht so von ihren Haltern abhängig. Ein Grund mehr, mir nie wieder eine anzuschaffen, das stresste mich zu sehr. „Teku, lass die Scheiße“, brüllte ich ihm warnend aus dem Flur zu, um ihn darauf vorzubereiten, dass es gleich Ärger in großen Portionen gab. Mein Kühlschrank war eins der wenigen Dinge in diesem verranzten Schuppen, an dem ich hing. Lag wohl am Foto, das ich darauf gepinnt hatte. Ärgerlich, dass man mir heute keine Ruhe gönnte, stolperte ich in meine Miniaturküche und blieb wie eingefroren stehen. Da war kein Kater, der mir die Salami aus dem Fach klaute, sondern ein fremder Kerl, dem irgendwie das halbe Gesicht fehlte und der mit etwas, was ich nicht erkannte, auf der Anrichte herumhantierte. Was zum Geier ging hier ab? Der konnte nicht echt sein, wie sollte der hier reingekommen sein? Spielte mein Kopf mir wegen heute Morgen Streiche? Vielleicht drehte ich nach drei Jahren endlich doch durch. „Wer sind Sie? Hauen sie aus meiner Wohnung ab!“ Rumpöbeln konnte ich in allen Lebenslagen gut, selbst wenn ich gerade vor Schreck fast umkippte. Er sah mich an, als wäre ich der Verrückte und nicht er. „Warum deine Wohnung? Das ist meine, also verschwinde du!“ Das durfte nicht wahr sein, ich diskutierte mit keinem Einbrecher; einem assi gruseligen Einbrecher, der sich keiner Schuld bewusst war! Etwas maunzte hinter mir; Teku kam in den Raum getrabt, ignorierte sowohl mich als auch den kranken Typ mir gegenüber und machte sich stattdessen über sein Fressen her. Ein Hund hätte mich jetzt sicher verteidigt. „Gehen Sie, ich wohne hier seit drei Jahren, ich habe ein Recht darauf!“ Mir fiel keine sinnvolle Begründung ein, ich wollte den einfach nur hier heraushaben, danach die Tür verbarrikadieren und ausrasten. Einfach nur schreien, bis wohl einer der Nachbarn die Polizei holte, weil er einen Mordfall vermutete. An der Haustür setzte ein unregelmäßiges Kratzen ein und der Typ grinste, als wäre das der Freifahrtschein für ihn, um mein gammliges Reich zu übernehmen. Ds Winseln, das daraufhin folgte, ließ mich erschauern. Es war doch nur irgendein Köter und trotzdem bekam ich es mit der Angst zu tun. Irgendetwas stimmte hier einfach nicht und ich hatte das Gefühl, dass es an meiner Wahrnehmung lag. Vielleicht bildete ich es mir alles ein, weil ich gerade den Verstand verlor. Dabei hatte ich noch nie etwas von einer spontan ausgelösten Psychose durch peinliche Treppenstürze gehört. Als schließlich noch vor meinem Fenster eine bleiche Frauengestalt erschien, die mir zwar nett lächelnd zuwinkte, mich aber nicht davon ablenkte, dass wir uns im zweiten Stock befanden, rannte ich einfach schreiend und um mich schlagend aus der Wohnung. Ich war verrückt, drehte am Rädchen. Oder ich hatte durch meinen Unfall das Pech, Gestalten sehen zu können. Geister von Leuten, die keiner sah. In beiden Fällen würde die Psychiatrie mich mit Freuden empfangen. Panisch und kopflos stürmte ich die nassen Straßen entlang, ohne auf die Leute um mich zu achten. Ich wollte nur weg von dem Grauen, das mich in meiner eigenen Wohnung heimgesucht hatte. Dabei hatte ich Glück gehabt, dass man mich nicht angegriffen hatte. Wenn es wirklich Geister gewesen waren, was absolut absurd und beschränkt klang, hätten die mich doch in Stück reißen müssen. Passierte zumindest immer den armen fetten Trotteln in den Filmen. Und ich traf auf dieses Klischee voll zu. Das Tor des Friedhofs klemmte wie so oft. Um mich nicht noch aufzuregen, dass ich da nicht hineinkam, hievte ich mich mit Mühe über die Mauer, aber weil ich das regelmäßig tun musste, hatte ich etwas Erfahrung, wie ich mich am wenigsten blöd anzustellen hatte. Hier kam ich immer hin, wenn es mir extrem schlecht ging oder sich mal wieder irgendein Jahrestag ankündigte. Also so gut wie fast jeden zweiten Tag, obwohl ich immer behauptete, ich tat das nur, um nach dem Grab zu sehen. Weil die Unkrautschicht nicht ohne mich wuchs. Ein Hoch auf den Selbstbetrug. Eigentlich tat man das nicht, aber ich setzte mich auf die Grabbegrenzung, weil ich nicht mehr stehen konnte, und setzte ein derart armseliges Grinsen auf, dass man schon blöd sein musste, um nicht zu checken, wie es gerade in mir aussah. „Hey, Mann. Ich bin wieder da. Und ich glaub, ich ticke nicht mehr ganz richtig.“ Ich vermisste Magmai fürchterlich. Seitdem er nicht mehr da war, fand ich mein Leben noch schwachsinniger als vorher. Früher hatte ich mir wenigstens vorgenommen, irgendwann mal gegen meine Eltern und ihre veraltete Vorstellungen zu rebellieren und Punk zu werden, wenn ich groß war - da war ich 15 und nicht sehr schlau -, aber inzwischen machte ich genau das, was ich früher voll scheiße gefunden hatte: Ich ging in einem beschissenen Büro ein und aus und arbeitete mich dumm und dämlich, hatte eine kleine Wohnung, die dauernd aussah, als wäre eine fette Party gefeiert worden – ohne mich –, und hielt mir eine Katze, weil Magmai immer eine hatte haben wollen. Selbst fand ich die Viecher in Ordnung, aber wenn er nicht gewesen wäre, hätte ich mir keine geholt. Warum musste er auch voll bis oben hin vor einen Bus stolpern und sich überfahren lassen? Einige meinten ja, das wäre Absicht von ihm gewesen, andere behaupteten, dass ihn jemand geschubst hätte. Für mich war es egal, er war weg und ich allein und verbittert wie ein alter Mann, der im Seniorenheim saß und darauf wartete, dass er stirbt. Und das mit 23 Jahren; erbärmlich. Dabei hatte ich Magmai am Anfang gehasst und er mich auch; wir waren zu unterschiedlich, um uns gleich zu mögen, aber dann wieder nicht verschieden genug, um uns nie wieder über den Weg zu laufen. Irgendeine verquere, grenzdämliche Mischung aus beidem. Unsere Beziehung war kurz, heftig und absolut unmöglich gewesen, und obwohl ich ihn wirklich gemocht hatte, auch als besten Kumpel, hatte ich bei der Beerdigung nicht heulen können. Das tat mir heute immer noch Leid. Blieb zu hoffen, dass er mir das nicht krumm nahm, wo auch immer er gerade herumirrte. Vielleicht im Himmel; vielleicht in der Hölle. Vielleicht sollte es mich auch einfach nicht interessieren. Magmai war tot, ich zu einem emotional verkrüppelten Vollpfosten mutiert – ich war schon früher scheiße gewesen, aber nicht so hart – und lebte ein Leben, dass ich eigentlich nie hatte haben wollen, weil ich mich nicht dazu aufraffen konnte, etwas zu ändern. Und ich sah dauerhaft hinüber aus, weil mir inzwischen so egal war, was die Leute von mir dachten. Ich war noch nie attraktiv gewesen, mit meinem schiefen Mund und der spitzen Nase, aber bei der Damenwelt kam man eh nicht so an, wenn man wie ein Milchbubi aus der Klatschzeitung aussah. Auch meine permanente Pleitegeiernummer hatte sie nicht vergrault. Es hatte wirklich gereicht, einigermaßen durchtrainiert zu sein und immer einen dämlichen Spruch parat zu haben, im Notfall auch den großen Assi raushängen zu lassen. Unglaublich, aber darauf fuhren genügend Frauen ab. Durch Magmai hatte ich mein Verhalten etwas angepasst, den Blick fürs Wesentliche bekommen, den er mir beigebracht hatte. Ohne ihn hatte ich mich in allen Punkten gehen lassen und überhaupt keine Lust, mich jemals wieder auf jemanden einzulassen, egal ob Mann oder Frau. Noch so ein Erlebnis hielt ich nicht aus. Ein Knirschen von Kies hinter mir riss mich aus meinem Emokopfkino heraus und versetzte mich in Alarmbereitschaft. Nachdem, was mir heute schon alles über den Weg geflogen war, konnte ich mur mit dem schlimmsten rechnen. Mein Verdacht wurde bestätigt, eine Meute aus blassen, teilweise deformierten Personen stand mit etwas Abstand hinter mir auf dem Weg und glotzte mich an. „Geht weg, lasst mich in Ruhe!“, schrie ich sie an und überlegte, ob es mir etwas brachte, dem vordersten von ihnen eins auf die Nase zu geben. Dumme Idee, das waren Hirngespinste oder übernatürliche Viecher, die mir auf den Sack gingen, die würden darüber nur lachen. Nicht mal weglaufen würde mir helfen, die waren ja anscheinend überall. Eine Gestalt kämpfte sich aus den hinteren Reihen zu mir nach vorne durch, bis sie keine Armlänge von mir entfernt stehen blieb. Ich starrte ihn einfach nur mit offenem Mund an und merkte gar nicht, dass ich aufstand und einen Schritt auf ihn zuging. Mein Gehirn fühlte sich wie eine wabbelige Masse Matsch an und mir war kotzübel. Es war Magmai, genauso groß und dürr und fahrig wie an seinem letzten Tag. Nur die Verletzung an seinem Gesicht und an den Händen passten nicht zu meinen Erinnerungen an ihn. Waren wohl die Überreste des Unfalls. Aber das musste ich mir einbilden, mein Kopf warf heute einfach Realität, Wunschdenken und irgendwelchen Schwachsinn zusammen und machte mich so zu einem aggressiven, total verwirrten Wrack. Und obwohl ich wusste, dass vor mir höchstens ein paar Nebenschwaden entlang huschten, in denen ich zufällig Magmai sah, schämte ich mich, so wie ich war, ihm zu begegnen. Noch jähzorniger, mürrischer und idiotischer als früher, dick und ungepflegt, mit ausgeleiertem T-Shirt und Jogginghose, ohne Schuhe, aber dafür mit einem fetten Dachschaden. Ging es noch schlimmer? „Was ist hier los?“ Sprach ich halt mir der Luft, hoffentlich sah mich keiner. „Was machst du hier, du bist tot, Mann! Bin ich bescheuert? Oder kann ich jetzt Geister sehen?“ Er trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Das hatte er früher auch immer gemacht, wenn ihm was unangenehm war und er ganz schnell die Fliege machen wollte. Bei meinem Anblick kein Wunder. „Ich weiß, dass du nicht real bist!“ Ich wollte heim in mein Bett und bis zum Weltuntergang pennen. „Kannst du trotzdem mal auf meine Fragen antworten?“ „Ich bin real. Genauso real wie du.“ Seine Augen schimmerten nicht mehr so blau wie früher, das ließ mich dann doch an seiner Aussage zweifeln. „Schön. Wenn du so real bist, dann erklär mir mal, was hier abgeht. Warum ich Leute sehe, die nicht da sind. Vor allem dich sehe, obwohl du seit drei Jahren tot bist.“ War ich wirklich schon so durch, dass ich ihn anschrie, obwohl er mir nichts getan hatte? „Weil du jetzt zu uns gehörst. Du bist nicht verrückt, Sima.“ Er breitete entschuldigend die Hände aus. „Du bist auch tot.“ Jetzt blieb mir endgültig die Wut im Rachen stecken und es kam nur ein ungesundes Krächzen raus. „Laber keinen Scheiß! Ich war heute arbeiten, wann soll ich denn gestorben sein?“ „Davor. Als du die Treppe hinuntergefallen bist. Machts jetzt bei dir klick?“ Er war mir nicht böse, selbst wenn ich mich hier wie der letzte Vollochse aufführte, stattdessen sah ich nur Bedauern und Mitleid. „Du bist nicht verrückt. Nur tot.“ Ich wollte protestieren, ihn verfluchen, einfach irgendetwas machen, aber mein Kopf übernahm die Führung und setzte die Bausteine zusammen. Deswegen hatte mich keiner angesprochen, mit mir geredet. Deswegen war ich für Teku nur Luft gewesen, obwohl er sonst immer auf mich reagierte. Deswegen die vielen Leute überall, die Katze, die ja schon längst tot war, der komische Psycho in meiner Wohnung. Alles Geister, die ich nicht sah, weil ich plötzlich die Superbegabung entwickelt hatte. Ich war abgekratzt, ohne es zu merken. Magmai umarmte mich sehr zögerlich und nach drei Jahren schaffte ich es doch endlich zu flennen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)