Film Noir von MadameFleurie (Don't fear the reaper... (Bakura x Ryou)) ================================================================================ Kapitel 4: Die Ankunft ---------------------- „Who’s that girl there? I wonder what went wrong So that she had to roam the streets She dun do major credit cards I doubt she does receipts It’s all not quite legitimate And what a scummy man Just give him half a chance I bet he’ll rob you if he can Can see it in his eyes, Yeah, that he’s got a driving ban Amongst some other offences […] He must be up to something What are the chances sure it’s more than likely I’ve got a feeling in my stomach I start to wonder what his story might be They said it changes when the sun goes down Around here“ Arctic Monkeys - When the sun goes down Ryou stockte, und richtete seine haselnussbraunen Augen auf Bakura, starrte ihn regelrecht an. Seine Tränen waren versiegt, ohne, dass er es selbst bemerkt hätte, obschon sein Gesicht nach wie vor feucht und aufgequollen wirkte. Die langen, weißen Haare fielen ihm strähnig und platt über die Schultern, während Arme und Handgelenke, die nach wie vor mit Handschellen hinter seinem Rücken fixiert wurden, mittlerweile höllisch schmerzten. „Ich soll was?“, flüsterte er mechanisch, als sei ihm der Sinn dessen, was Bakura erst vor wenigen Sekunden zu ihm gesagt hatte, vollends entgangen.  „Du wirst für uns arbeiten.“ Bakura nahm einen tiefen Zug von einer Zigarette, die bislang ungenutzt zwischen seinen langen, schlanken Fingern abgebrannt war, und hielt kurz inne, ehe er den Rauch beiläufig durch die Lippen ausstieß. Selbstzufrieden lehnte er sich zurück, und betrachtete Ryou schweigend, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, während die Fingerspitzen mit dem weißen Zigarettenpapier spielten. Hinter ihnen ertönte ein kaltes, metallisches Geräusch. Irritiert hob Ryou den Kopf an, während Bakura sich umwandte. Die schwere Stahltür wurde aufgezogen, und Marik, der bislang draußen auf sie gewartet hatte, schob seinen Kopf herein. Er wirkte unsicher, und auf den feinen Gesichtszügen zeichnete sich kritische Sorge ab. Als er Ryou bemerkte, warf er Bakura einen verwunderten Blick zu. „Ich will ja nicht stören, aber es ist schon nach zehn. Der Boss wird sauer, wenn wir nicht bald zurückkommen.“ Er ließ die Augen einige Male zwischen Bakura und Ryou hin und her wandern. „Ist nicht eben ein Schuss gefallen?“ Ohne Mariks Frage irgendeine Form von Aufmerksamkeit zu schenken, schnippte Bakura den Stummel seiner Zigarette in eine der feuchten Ecken und stand auf. Ryou würdigte er dabei keines Blickes. „Wir sind hier fertig“, antwortete er knapp, wie jemand, der soeben ein vielversprechendes Geschäft abgeschlossen hatte. „Mach‘ ihn los.“ ~*~ Es war bereits dunkel, als sie aus dem Auto stiegen. Dicke, runde Schneeflocken, nur erhellt durch das gelbliche Licht der vereinzelten Straßenlaternen, fielen lautlos vom Himmel und fügten sich in die dicke, weiße Schneedecke ein, die sich auf dem Gehweg gebildet hatte. Immerhin hatte man die Straße geräumt. Kaum, dass Ryou seine Füße auf den knirschenden Schnee gesetzt hatte, erfasste ihn ein Windstoß, der ihn bis auf die Kochen frösteln ließ. Zitternd schlang er die Arme um seinen schmalen, mageren Körper, und wandte den Blick um zu Bakura und Marik, die bereits ausgestiegen waren und sich schweigend umblickten. Ryou hatte keine Jacke. Alles, was er besaß, befand sich noch in seinem Haus. Hemd und Jeans, die Dinge, die er noch am Leib trug, boten kaum Schutz vor dem beißenden, kalten Wind, der durch Dominos nächtliche Gassen pfiff. Aus den Augenwinkeln warf er Bakura einen flüchtigen Blick zu. Dieser stand unmittelbar neben ihm, einem Wachhund gleich, nicht gewillt, ihm auch nur die geringste Chance zur Flucht zu gönnen. Wenigstens die Handschellen hatte man ihm abgenommen. Jetzt, wo Blut und Gefühl in seine Hände zurückgekehrt waren, dominierte sie ein stechender Schmerz, der in den nächsten Tagen hoffentlich verschwand. Gedankenverloren hob Ryou die Unterarme und betrachtete die blutigen, roten Striemen an den beiden schmalen Handgelenken. Sie würden bleiben, für immer, da war er sich sicher. Selbst der kleinste Kratzer hinterließ bei ihm schon feine Narben. „Home, sweet Home“, seufzte Marik erleichtert und unterbrach die unangenehme, angespannte Stille. Auf seinen Lippen stand ein zartes Lächeln, die violetten Augen leuchteten zufrieden. Still ließ er die behandschuhten Hände zurück in die Taschen einer weißen Plüschjacke gleiten. Neugierig folgte Ryou Mariks Blick, der auf ein im Schatten liegendes, schmuckloses Gebäude gerichtet war. Sie waren etwas mehr als eine Dreiviertelstunde gefahren, ehe sie hier angekommen waren. Ryou hatte das letzte bisschen Orientierung längst eingebüßt. Hier war er noch nie gewesen. Es musste sich um einen dieser industriell geprägten Vororte handeln, in denen jeder bekam, was er wollte, wenn er nur die richtige Person fragte. Die Straßen waren in einem schlechten Zustand, aufgerissen und voller Schlaglöcher, alles war höchstens dürftig ausgebessert. An einer der größeren Straßen, nur wenige Minuten von hier, hatte Ryou Mädchen stehen sehen, blutjung und aufreizend knapp bekleidet. Beschämt und eingeschüchtert war er in seinem Sitz zusammengesunken, hatte die Augen geschlossen und sich auf den zarten Lederduft der Sitzpolster konzentriert. Hier und da fand sich die ein oder andere ranzige Kneipe, Stundenhotels und leer stehende Lagerhäuser. Von den Wohnhäusern blätterte der Putz, an den Wänden fanden sich ein ums andere Graffitis unterschiedlichster Art. Die letzte Bushaltestelle, an die Ryou sich erinnern konnte, lag bestimmt zehn Minuten mit dem Auto von hier entfernt, Straßenbahnen hatte er keine bemerkt. Vielleicht befanden sie sich nicht einmal mehr in Domino. Die unterschwellige Nervosität, die ihm die letzten Tage über verfolgt hatte, meldete sich zurück und biss sich in seinen Eingeweiden fest. Unruhig tänzelte er von einem Fuß auf den anderen. Hinter ihm fiel die Autotür lautstark ins Schloss. Er zuckte heftig zusammen, wandte sich aber nicht um. Vor ihnen befand sich ein breites, von außen baufällig wirkendes Gebäude, das aussah, wie ein etwas zu groß geratenes Izakaya, eine der traditionellen japanischen Kneipen, die man an jeder Straßenecke fand. Der Putz, einst weiß, wirkte im Licht der Straßenlampen und im Kontrast zum frischen Schnee schmutzig und grau. Die wenigen Fenster, die zur Straßenseite zeigten, waren mit Jalousien verschlossen. Durch ein kleines Tor, welches man abgesperrt hatte, führte ein schmaler Pfad in einen verwilderten Garten. Auf einer großen, aus dunklem Holz gefertigten Eingangstür, neben der eine rote Papierlaterne hing, sah man Macken und diverse Aufkleber, die Ryou von seinem Standpunkt aus nur schemenhaft erkannte. Daran angrenzend, auf einem großen Schild, leuchtete in dunkelroten, geschwungenen Lettern der Name dieses Ortes. Film Noir Stumm folgte Ryou den beiden in Richtung einer schmalen, schlichten Treppe, die vom Eingang hinab in den frischen Schnee führte. Trotz seinen Bemühungen, mit ihnen Schritt zu halten, fiel er bald etwas zurück, die großen, unsicheren Augen auf alles geheftet, was ihm neu und unbekannt zu sein schien. Das ungeduldige Schnipsen menschlicher Finger holte ihn schließlich zurück in die Realität. Verblüfft warf er Bakura einen Blick zu, der ihn ungeduldig musterte. „Trödel nicht herum, komm“, knurrte er wortkarg, griff nach einem silbernen Knauf und schob die Tür ohne weiteres auf. Ryou nickte knapp, und folgte ihnen hinein in das düstere, heruntergekommene Gebäude. Kaum, dass die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, durchströmte ihn eine pappige, samtweiche Wärme. Sofort jagte ihm eine Gänsehaut über Arme und Beine. Stumm schüttelte er sich die Strähnen, die ihm durch den Wind ins Gesicht gerutscht waren, aus der Stirn, und drückte sich an Bakura vorbei in den kleinen Schankraum. Es handelte sich um einen rechteckigen, engen Ort, der wohl vor zehn Jahren einmal recht liebevoll eingerichtet, seither jedoch sich selbst überlassen worden war. Die Decke war niedrig, an den Wänden fand sich eine dunkelbraune Holzvertäfelung, die Ryou etwa bis zur Hüfte reichte, darüber hatte man den Putz dunkelrot angestrichen. Direkt neben ihm, unweit der Eingangstür, befand sich ein schlichter, langgezogener Tresen, hinter dem ein etwa zwei Meter hohes, aus Holz gefertigtes Regal stand. In dessen Mitte hatte man einen großen, den Raum optisch vergrößernden Spiegel eingelassen, links und rechts davon befanden sich ordentlich aufgereiht allerlei Spirituosen. Kleine Holztäfelchen, mit Namen beschriftet, baumelten an einer angrenzenden Wand, und kündeten von jenen Stammgästen, die hier noch eine Flasche Sake offen hatten. Gegenüber, im restlichen Raum verteilt, standen dicht an dicht kleine Tische mit groben, hölzernen Stühlen, die an der angrenzenden Wand in feste Sitzgruppen übergingen. Alles war auf kleinsten Raum gepresst, und die Luft erstarrte vor feuchten und fremden Aromen. Es roch nach dem herbsüßen Schweiß betrunkener Männer, nach verschüttetem Bier, altem Zigarettenrauch und schwerem Parfum. Ein wenig versteckt, in einer der entlegeneren Ecken, führte eine schmale, hölzerne Wendeltreppe hinauf in den zweiten Stock. Aus kräftigen Lautsprechern ertönte seichter, melodiöser Rock. Ryou wandte sich um. Die in schwarz und weiß gehaltenen Fliesen klebten unter seinen Schuhen, und der Zigarettenqualm brannte in seinen Augen. Was für eine heruntergekommene, billige Spelunke dieser Ort war. Aus den Augenwinkeln nahm er war, wie Marik Bakura noch einmal beherzt auf die Schulter klopfte, ihm ein kurzes, kennendes Lächeln schenkte, und schließlich in der Menge verschwand. Kaum, dass er gegangen war, lehnte Bakura sich über den Tresen und klopfte unauffällig mit den Knöcheln der rechten Hand auf die Oberfläche. Dabei nickte er Ryou flüchtig zu, pfiff ihn zurück. Ryou folgte, blieb neben ihm stehen, und ließ seinen Blick alles andere als begeistert durch den Raum wandern. Bakura klopfte noch mehrmals, dann, als ihm die Geduld ausging, schlug er mit der flachen Hand auf die Tischplatte. „He!“ Ein junger Mann, der offensichtlich für den Ausschank verantwortlich war, wandte sich von einem Gast ab, mit dem er sich zuvor angeregt unterhalten hatte, und sah auf. Er war sehr jung, groß gewachsen und bemerkenswert dünn. Struppiges, blondiertes Haar fiel ihm in die Stirn und auf die Schultern, während sich das schmale, glatt rasierte Gesicht in stiller Verwunderung verzog. Er trug Jeans, ein weißes T-Shirt und ein grünes, gemustertes Flanellhemd. Darüber schützte ihn eine weiße Schürze vor Verunreinigungen jeder Art. Er sagte noch etwas zu dem Gast – Ryou konnte es im Lärm der Menge nicht verstehen – stellte ihm eine kleine Schale Edamame hin, drehte sich weg und kam auf sie zu. Er wirkte wach, munter, die Augen leuchteten regelrecht, obschon sich dünne, lila Schatten darunter befanden. Als er Ryou erblickte, trat ein breites, ehrlich wirkendes Grinsen auf sein Gesicht. Als er vor ihnen stand, stützte er sich mit den Ellenbogen auf dem Tresen ab, in der freien Hand ein fleckiges Spültuch, und sah sie gut gelaunt an. „Was gibt’s?“, fragte er, stellte sich gerade hin und griff nach einem der noch feuchten Gläser, die neben der Spüle standen. Erwartungsvoll dreinblickend bearbeitete er es mit dem Handtuch, während Ryou sich irritiert fragte, ob er das Glas damit nicht eher wieder schmutzig machte. „Wo ist Malik?“ Bakura schenkte ihm einen abfälligen, düsteren Blick, augenscheinlich alles andere als erfreut über die überschäumende, euphorische Laune des Anderen. „Drüben“, antwortete er grinsend. Der Junge wirkte unruhig, als säße er auf glühenden Kohlen. Während er abtrocknete, wippte er auf seinen Füßen auf und ab. „Buchhaltung. He, Bakura, wen hast du da eigentlich im Schlepptau?“ Stumm leckte Bakura sich über die Lippen und richtete sich auf, die Arme fest vor der Brust verschränkt. Abweisend legte er den Kopf schief und sah ihn von oben herab an. „Neuzugang“, murrte er. „Malik will ihn sehen.“ Kaum, dass er geendet hatte, wurde das Grinsen des Blonden noch ein Stück breiter. Er stellte das Glas zurück auf die Spüle, wischte sich die Hände grob an der weißen Schürze ab, und streckte Ryou quer über den Tresen seine rechte Hand entgegen. „Cool. Jonouchi Katsuya. Endlich wieder frischer Wind im Haus.“ Verwundert betrachtete Ryou die Hand, die man ihm entgegenhielt, perplex von solch bedingungsloser Offenheit. Nach einigen Sekunden des Zögerns konnte Ryou sich schließlich dazu durchringen, den Händedruck zaghaft zu erwidern. „Ryou Bakura“, murmelte er leise und sah den Blonden introvertiert aus den Augenwinkeln an. Dieser zwinkerte ihm noch einmal freundlich zu, dann löste er den Griff und wandte sich an einen neuen Gast, der darauf wartete, dass Jonouchi ihm seine Aufmerksamkeit schenkte. Unbeholfen blieb Ryou stehen, und zuckte merklich zusammen, als er registrierte, dass Bakura seinen Blick immer noch auf ihn gerichtet hatte. Er wirkte sichtlich genervt. „Komm jetzt“, knurrte er, offenbar von jeder Faser des Barkeepers zutiefst angewidert. Er packte Ryou sanft, aber bestimmend, am Oberarm und zog ihn an Tischen und Gästen vorbei quer durch den Schankraum. Durch seinen ausgelaugten Zustand noch immer wacklig auf den Beinen, stolperte Ryou ihm hinterher. „Was für ein junger Barkeeper“, murmelte Ryou gedankenverloren und warf einen letzten Blick über die Schulter zurück zum Tresen. „Vielleicht ein Student, der hier jobbt...“ Bakura schnaubte verächtlich und warf Ryou über die Schulter einen amüsierten Blick zu. „Negativ“, antwortete er trocken und wandte sich wieder um. „Bei der Menge an Koks, die der Junge braucht, um über die Runden zu kommen, wundert’s mich, dass er seinen Namen noch schreiben kann.“ Ryou spürte, wie sich in seinem Innersten alles zusammenzog. Noch ein letztes Mal sah er zurück, mit gerunzelter Stirn und hochgezogenen Augenbrauen. Wie merkwürdig das alles doch war. Dabei war er so nett gewesen. Ein wenig überdreht vielleicht. Trotz allem nett. Plötzlich kamen sie zum Stehen. Nicht viel fehlte, und Ryou wäre, gedankenverloren und übermüdet, gegen Bakura geprallt. Schwankend sah er sich um, und bemerkte eine große, dunkle Stahltür direkt vor ihnen. Bakura öffnete sie lautlos, schob Ryou hindurch und folgte ihm. Dann zog er sie klackend hinter sich ins Schloss. Die Musik verstummte augenblicklich. Nur noch leise und unterschwellig vernahm Ryou den dröhnenden Bass, der sich, brachial und stur, durch Beton und Stahl fraß. Hier war es kühler als im Schankraum. Ryou begann zu frösteln, und drückte schutzsuchend die Arme an seinen Oberkörper, die er nicht verschränken konnte, da Bakura ihn immer noch fest hielt. Vor ihnen lag ein schmaler, dunkler Flur, mit weißen Wänden, die ohne jeden Schmuck auskamen, und von denen der Putz abbröckelte. Eine einzelne Leuchtstoffröhre brannte an der Decke, ganz am Ende schälte sich eine weitere Tür aus dem Schatten. Es gab keine Fenster. In jenen Ecken, die von der Lampe nicht weiter erreicht wurden, herrschte immerwährende, tiefschwarze Nacht. „Was nun?“, fragte Ryou leise. Seine Stimme war, wie immer, wenn Nervosität in ihm aufstieg, einige Nuancen nach oben gerutscht. Er konnte spüren, wie sich der Griff des Anderen lockerte, und man ihn nachdrücklich etwas tiefer in den Flur schob. Neben ihm konnte er Bakura leise aufatmen hören. Seine Schultern, die er zuvor straff aufrecht gehalten hatte, sanken ein, und der Gesichtsausdruck entspannte sich. Er wirkte erleichtert, trotzdem jedoch ernst und gefasst. „Wir stellen dich dem Boss vor“, antwortete er leise, ohne Ryou anzublicken. Dann verfiel er in Schweigen. Neugierig betrachtete Ryou das schmale Gesicht, versuchte, anhand seiner Miene abzulesen, ob das, was nun kam, gut oder schlecht war, musste jedoch bald begreifen, dass dies zum Scheitern verurteilt war. Als sie das Ende des Ganges erreicht hatten, klopfte Bakura heftig mit der Faust gegen die Tür. Für einige Sekunden herrschte Stille, dann wurde sie ein paar Zentimeter aufgeschoben, und ein herzförmiges, braungebranntes Gesicht erschien. Marik. Als er die beiden erkannte, schmunzelte er freudlos und wandte sich um. Im Gegensatz zu ihrem ersten Aufeinandertreffen erkannte Ryou eine resignierte Traurigkeit in den violetten Augen, kaum vorhanden und so subtil, dass man sie nur erahnen konnte. „Es ist Bakura“, sagte er sanft zu jemandem, den Ryou nicht sehen konnte. Die Koketterie, die er vor wenigen Stunden noch ausgestrahlt hatte, war vollkommen verschwunden. Eine dunkle, selbstbewusste Stimme antwortete, dann ließ Marik sie ein. Eingeschüchtert folgte Ryou Bakura in den schummrigen, kleinen Raum, und versuchte, so weit wie möglich hinter ihm zu bleiben, damit er keine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ihm war unbehaglich zumute. Augenscheinlich handelte es sich bei dieser Örtlichkeit um einen ehemaligen Waschraum, den man zu einem provisorischen Büro umgebaut hatte. Ein wenig verwundert bemerkte Ryou die glatten, rutschigen Fliesen unter seinen Schuhen, die sich ebenfalls an Wand und Decke wieder fanden. In der Mitte des Raumes war ein Abfluss in den Boden eingelassen, alles wirkte eng und bedrückend. An der angrenzenden Wand stand ein großer, verwaister Schreibtisch, auf dem Papier und Stifte verstreut lagen. Ein Stück versetzt fand sich eine protzige, ausladende Sitzgruppe aus rotem Kunstleder, während orangegelbe Neonröhren alles in ein helles, weiches Licht tauchten. Licht, dass trotz allem jedoch nicht über die durch die Fliesen verursachte, kalte Atmosphäre hinwegtäuschen konnte. Eingeschüchtert tastete Ryou sich einen Schritt zurück, bis er mit den Schultern gegen die Tür stieß. Bakura wandte sich um und schenkte ihm einen warnenden Blick, sagte aber nichts. „Wen hast du uns denn da mitgebracht, Bakura?“, ertönte die tiefe, fast höhnische Stimme des Mannes, der sie eben herein befohlen hatte. Als hätte er nur auf dieses Stichwort gewartet, packte Bakura Ryou unsanft im Nacken, und schleuderte ihn mit unnachgiebiger Härte in die Mitte des Raumes. Nicht viel hätte gefehlt, und Ryou wäre vor allen Anwesenden auf den Boden gestürzt. Es brauchte einige Sekunden, bis er das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, und sicher war, dass die weichen Knie seinen Körper auch weiterhin tragen würden. Als er schließlich bemerkte, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren, erstarrte er und hielt die Luft an. Langsam hob er den Kopf. Vor ihm saß ein großer, schlanker Mann von etwa dreißig Jahren. Er sah Marik zum Verwechseln ähnlich, doch die Gesichtszüge wirkten bitter und hart. Die dunklen Augen bohrten sich regelrecht durch Ryous zarten Körper, wache, intelligente Augen, die bereits alles gesehen zu haben schienen. Dicke Strähnen sandblonden Haares fielen ihm in die Stirn und verdunkelten das im Schatten liegende Gesicht um wenige Nuancen. Seine Kleidung wirkte klassisch, Hemd, Anzug und Lederschuhe. Einige wenige Goldringe saßen an seinen Fingern. Alles war edel und hochwertig, wirkte an ihm jedoch abgebrüht und schmierig. Er erinnerte Ryou unwirklich an jene zwielichtigen Gestalten, die er immer auf dem Nachhauseweg gesehen hatte. Auf dem Boden, nur wenige Zentimeter von Ryou entfernt, kauerte ein schmal gebauter, in sich zusammengesunkener Junge, dessen bunt gefärbtes Haar in alle erdenklichen Richtungen abstand. Ryou hatte ihn anfangs nicht bemerkt, und nun, wo er ihn zum ersten Mal wirklich wahrnahm, wich er einen Schritt zurück. Der Blick des Jungen war apathisch auf den Boden gerichtet, und er zitterte unkontrolliert. Auf der Ryou zugewandten, tränennassen Wange prangte ein roter Abdruck, während das dazugehörige Auge langsam aber sicher zu schwoll. Ryou stockte der Atem, während sein Herz kurzfristig aussetzte. Da war sie wieder, diese Angst, sein neuer, aber treuer Weggefährte. Ryou hatte gehofft, er sei gegangen und würde nicht wiederkehren. Offensichtlich hatte er sich geirrt. Zaghaft machte er einen weiteren Schritt nach hinten, ließ die Augen unsicher hin und her wandern. Schließlich sah er aus den Augenwinkeln hinüber zu Bakura und Marik. Marik stand an der Wand, den Blick unangenehm berührt auf den Boden gerichtet. Sein linker Fuß wippte nervös auf und ab. Bakura hingegen starrte sie unverwandt an, die Arme gelassen vor der Brust verschränkt. Er hatte sich des langen, wollenen Mantels bereits entledigt, und Ryou bemerkte ein Paar schwarzer Hosenträger, die sich über den sauberen Stoff des weißen Hemdes spannten. Im Lagerraum waren sie ihm gar nicht aufgefallen. Der unheimliche Mann, der Marik auf den ersten Blick so ähnlich gesehen hatte, stand langsam und selbstgefällig auf, beugte sich zu dem Jungen herab und packte ihn am Kragen. Unsanft zerrte er ihn zurück auf die Beine, wobei er den Griff eisern am Kragen hielt, und funkelte ihn kaltblütig an. Ryou, der sich an die Szene im Lagerraum erinnert fühlte, ließ den Kopf sinken und ballte die Hände stumm zu Fäusten. „Yuugi“, knurrte er Mann abfällig, und Ryou vernahm deutlich das leise, aber klägliche Winseln des schmächtigen Jungens. „Wenn wir dich noch ein einziges Mal bei so etwas erwischen, wird dich deine eigene Mutter nicht wieder erkennen, das verspreche ich dir. Den Schaden ersetzt du uns.“ Der Mann lachte laut auf. Es war jene Sorte kalten Gelächters, die jede Existenz von Mitgefühl kategorisch ausschloss. Dieser Mensch kannte seine Stellung innerhalb dieses Mikrokosmos, und schien nicht davor zurückzuschrecken, davon regen Gebrauch zu machen. „Was erzähle ich dir das eigentlich“, knurrte er an Yuugi gewandt und gab Marik ein kurzes, aber unverständliches Handzeichen. „Du verstehst eh nichts von dem, was ich dir erzähle... Marik, schaff‘ ihn zurück auf sein Zimmer, bevor ich es mir anders überlege.“ Aus den Augenwinkeln nahm Ryou wahr, wie Marik sich von der Wand, an der er eben noch gelehnt hatte, ablöste und langsam zum Sofa ging. Der Mann, der nun offensichtlich genug davon hatte, sich weiter mit dem Jungen zu befassen, löste seinen Griff von dessen Kragen und ließ ihn fallen. Er wäre um ein Haar auf dem kalten Fliesenboden aufgeschlagen, wäre Marik nicht schnell genug gewesen, um dessen Sturz abzubremsen. Rasch schlang er einen Arm um den dürren Körper, fing ihn auf und zog ihn zurück auf die wackligen Beine. „Komm, Yuugi“, flüsterte er mit ungeahnt sanfter Stimme und gequälter Miene. Dann führte er den Jungen langsam aus dem Raum.  Schweigend verfolgte Ryou die merkwürdige Szenerie, verstörend und grotesk zugleich, während sich ein drückendes, unbehagliches Gefühl in seiner Magengegend ausbreitete. Als die Tür zuschlug, dämmerte ihm, dass sich die Aufmerksamkeit der Anwesenden nun vollends auf ihn richten würde. „Malik, war ist hier los?“, ertönte es hinter ihm. Bakura klang ernsthaft verwundert, wenn auch nicht betroffen, über das Bild, dass sich ihm hier soeben geboten hatte. „Dieser Mistkerl hat sich an dem Reservoir mit Green vergriffen. Marik hat ihn total zugedröhnt in seinem Zimmer gefunden, kurz bevor ihr weg seid“, kam es kurz angebunden von Malik. Bakura lachte überrascht und amüsiert zugleich auf. Er blickte einige Male zwischen beiden hin und her, dann verwandelte sich das zarte Lächeln auf seinen Lippen in ein gewinnendes Schmunzeln. „So viel kriminelle Energie hätte ich ihm gar nicht zugetraut“, murmelte er provokant. Der Andere schnaubte abfällig. „Wenn ich denjenigen erwische, der ihm den Schlüssel gegeben hat...“, begann er gedankenverloren, unterbrach sich jedoch in der Mitte des Satzes und wandte sich an Ryou, ein dünnes, kaltes Grinsen auf den Lippen. „Das ist der Junge?“, fragte er ernst und warf Bakura einen flüchtigen Blick zu, ehe er die Augen über Ryous Körper gleiten ließ, wie ein Händler, der seine Ware vor dem Kauf ein letztes mal begutachtete. Beschämt ließ Ryou den Kopf sinken, spürte, wie sich alles in ihm anzuspannen schien. „Sein Name ist Ryou“, antwortete Bakura hinter ihm an seiner Stelle. Das dünne Schmunzeln, welches auf Maliks Lippen gelegen hatte, verwandelte sich in eine höhnische, amüsierte Fratze. Wie gerne hätte Ryou sich jetzt auf dem Absatz herumgedreht und wäre aus dem Raum gerannt. Nur weg, weg von hier und diesem abstoßenden Mann. „Du bist also hier um deine Schulden abzuarbeiten?“, fragte Malik sichtlich amüsiert, die Augen nach wie vor zusammen gekniffen. Sichtlich angetan griff er nach Ryous weißem Haar, und zwirbelte einige dünne Strähnen genüsslich zwischen seinen Fingern. Ein kalter Schauer jagte über Ryous Rücken. „Du hast Recht, der Junge ist ganz nach meinem Geschmack. Die Kunden werden ihn lieben.“ Maliks Grinsen wurde breiter, und er beugte sich so dicht über Ryou, dass dieser den Geruch seines Aftershaves wahrnehmen konnte. Unangenehm berührt drehte Ryou den Kopf ein Stück zur Seite, hielt den Blick gesenkt, spürte jedoch plötzlich, wie Malik fest nach seinem Gesicht griff und ihn dazu zwang, ihn anzusehen. Ryou voll unverhohlener Faszination musternd, strich Malik ihm mit dem Daumen unsanft über die zarten, weichen Wangen. Widerwillig blickte Ryou zur Seite, während zarte Schamesröte in sein Gesicht stieg. „Nicht auf diese Art“, ertönte es in ernstem Tonfall hinter ihnen. Maliks Grinsen gefror augenblicklich zu einer eisernen Maske. Seine Augen, die bisher gierig jeden von Ryous Gesichtszügen aufgesogen hatten, verengten sich zu schmalen, gereizten Schlitzen. Er ließ Ryou los, verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich um. „Was?“, fragte er ungläubig und hob eine der schmalen Augenbrauen. Die Stimme war kaum mehr als ein dunkles, provokantes Knurren. „Warum schleppst du ihn an, wenn du ihn nicht arbeiten lassen möchtest?“ Bakura legte den Kopf ein wenig schief, auf den Lippen ein dünnes, siegessicheres Lächeln. Er nahm die Hände, die er zuvor tief in den Taschen vergraben hatte, heraus, ging ein paar Schritte auf den Anderen zu und legte diesem einen Arm um die Schultern. Gleichzeitig zog er ihn etwas an sich heran und ein paar Schritte von Ryou fort. Dabei wirkte er, wie ein Schuljunge, der etwas ausgeheckt hatte, und nun auf der Suche nach einem Komplizen war. Malik folgte ihm, wenn auch widerwillig, offensichtlich voller Zweifel und Abneigung. Als sie, Ryou den Rücken zugewandt, stehenblieben, senkte Bakura den Kopf ein wenig, ganz, als sprächen sie über wichtige Geschäfte. „Er ist zu zart besaitet für Mariks Job“, begann er leise, anscheinend im Glauben, Ryou könne sie aus dieser Distanz nicht hören. „Zwei Wochen, und er hängt in den Seilen wie Yuugi.“ „Und?“ Malik runzelte die Stirn, ganz offensichtlich noch nicht von Bakuras Standpunkt überzeugt. Dieser senkte seine Stimme noch etwas, und ab diesem Punkt verstand Ryou gar nichts mehr. Dafür beobachtete er, wie Malik hin und wieder schwach nickte, während die Miene sich nach und nach aufhellte. Schließlich hob er den Kopf und schob Bakura ein Stück von sich weg. „Das wäre natürlich eine durchaus lukrative Lösung“, murmelte er gedankenverloren und warf Ryou über die Schulter einen flüchtigen Blick zu. Schließlich erschien ein dünnes Lächeln in Bakuras Gesicht. Dann klopfte er Malik mehrere Male auf die Schulter und ließ ihn los. „Gut“, grinste er und verschränkte die Arme zufrieden vor der Brust. „Dann halten wir es so.“ Langsam ging Malik zurück zu Ryou. Dabei faltete er still die Hände, und drückte sie kraftvoll nach außen, bis die Gelenke so geräuschvoll knackten, als bräche man Reisig entzwei. Stumm beugte er sich zu ihm herab, so weit, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. Auf seinen Lippen thronte ein gewinnendes Grinsen. Eingeschüchtert stolperte Ryou einen Schritt zurück, hielt den Blick krampfhaft zu Boden gesenkt. Es war ihm unerträglich, diesen Mann direkt anzuschauen. Alles an ihm - seine Bewegungen, seine Mimik, seine Stimme - verursachte ein Gefühl blanken Horrors in Ryous Brust. Die Schultern schützend ein wenig hochgezogen, vernahm er ein leises, genervtes Schnauben. Schließlich konnte er spüren, dass Malik ihm in die Haare griff, und ihn wieder dazu zwang, den Blickkontakt aufrecht zu erhalten. Sofort verkrampfte sich alles in ihm. Selten hatte Ryou ein so überzeugtes und hartherziges Gesicht erlebt, die Lippen schmal, die Augen durchdringend und forschend auf ihn gerichtet. Ohne, dass Ryou etwas dagegen tun konnte, überrascht von der unverhohlenen Gewalt und dem spitzen Schmerz, der nun durch seinen Körper schoss, verließ ein zartes, klägliches Wimmern seine Kehle. Hinter sich hörte er Bakuras leises, amüsiertes Lachen, und das dünne Lächeln, dass auf Maliks Lippen gelegen hatte, verwandelte sich in eine hartherzige, höhnische Fratze. Ein zartes Rosa schoss in Ryous Wangen. „Das ist ja herzzerreißend“, grinste Malik voller Sarkasmus, und warf Bakura aus den Augenwinkeln einen flüchtigen Blick zu. „Sieht danach aus, als hätten wir mit dir einen guten Fang gemacht.“ Kaum, dass er den Satz zu Ende gesprochen hatte, verschwand alle Heiterkeit aus seinem Gesicht. Seine Züge verhärteten sich, wurden wächsern und leblos, während sich in die Kälte seiner Augen nun ebenfalls mahnender Ernst mischte. Der Griff, mit dem er Ryous Haar noch immer umklammert hielt, wurde fester.  „Nur damit wir uns verstehen, Kleiner“, knurrte er leise. Derweil waren sie sich so nah, dass Ryou den flüchtigen Hauch Maliks Atems auf seiner Haut fühlen konnte. Ein angsterfülltes Ziehen breitete sich in seinen Eingeweiden aus. Mucksmäuschenstill lauschte er, die Augen weit aufgerissen, nicht wagend, auch nur das kleinste Geräusch von sich zu geben. „Du wirst hier arbeiten, essen und schlafen. Du wirst genau das tun, was wir dir sagen. Du wirst das Haus nicht verlassen und keine Widerworte geben. Wenn du Mist baust, oder versuchst, abzuhauen, werden wir dafür sorgen, dass sie dich ein paar Wochen später aus dem Hafenbecken ziehen. Dein Leben, wie du es kanntest, ist vorbei. Ab jetzt bist du mein alleiniges Eigentum. Mein Wort ist dein Gesetz. Haben wir uns verstanden?“ Ryou zögerte einen Moment, bevor er nickte. In seinen Ohren konnte er das Blut rauschen hören und ihm war, als geschehe alles in Zeitlupe, als offenbarten Maliks Worte nur langsam ihre wahre Bedeutung. Seine Knie wurden ganz weich, als er realisierte, wo er hier hineingeraten war. Er hatte die Kontrolle verloren. Augenblicklich schnürte es ihm die Kehle zu, und die Augen füllten sich wider seines Willens mit Tränen. Stumm ließ er den Blick sinken. „Ich habe verstanden“, wisperte er leise, die Stimme gebrochen. „Bitte lassen Sie mich los.“ Er konnte regelrecht fühlen, wie Maliks abschätziger Blick noch einige Sekunden auf ihm ruhte, dann jedoch tat er Ryou den Gefallen, wandte sich ab und ließ ihn los, als habe er mit seiner höflichen, weichen Art augenblicklich jeden Reiz für ihn verloren. Erschöpft und mit den Nerven am Ende, sank Ryou ein Stück in sich zusammen, wischte sich mit dem Handrücken rüde die aufsteigenden Tränen aus dem Gesicht. Sein langes, weißes Haar hatte derweil seinen letzten Glanz eingebüßt, und hing in stumpfen, staubigen Strähnen an ihm herab, rutschte ihm in die Stirn und verhinderte somit, dass die Anderen mehr von seiner Schwäche wahrnahmen, als unbedingt notwendig. Selten hatte er sich schwächer und erbärmlicher gefühlt. Plötzlich legte ihm jemand eine Hand auf die Schulter. Verängstigt fuhr Ryou herum und blickte in ein bleiches, schmales Gesicht. Es war Bakura, dessen Augen ruhig und gefasst auf ihm lagen. „Komm“, wies er ihn an, mit einer Stimme, die kaum lauter als notwendig, aber ungemein nachdrücklich klang. Ryou nickte stumm, den Kopf noch immer gesenkt, und zusammen verließen sie das kleine Büro. Als sie schweigend den Gang hinunterschritten, über den sie vor weniger als einer Stunde hergekommen waren, war es Bakura, der mit seiner Stimme die Stille zerriss. „Du solltest mit der ständigen Heulerei aufhören“, sagte er knapp. „Dadurch wird sich nichts ändern.“ Von der subtilen Härte der Worte getroffen, blieb Ryou stehen und hob den Kopf. In seinen Augen lag stumme Empörung und ernsthafter Zweifel. Besaß dieser Mensch tatsächlich derart wenig Empathie? War er schon so lange in dieser Welt von persönlichen Abgründen und Gewalt gefangen, dass er nicht einmal mehr nachempfinden konnte, wie sich jemand fühlen musste, der mit den Gepflogenheiten hier nicht vertraut, aber dazu verurteilt war, sein ganzes, zukünftiges Leben hier verbringen zu müssen? „Wo hast du mich hingebracht?“, flüsterte Ryou mit erstickter Stimme, und warf dem stillen, kühlen Mann von einschüchternder Größe einen verhaltenen Blick zu, der jedoch nicht erwidert wurde. Die Hände wieder in den Manteltaschen vergraben, ging dieser schweigend weiter. Anscheinend ging er davon aus, dass Ryou ihm folgte, wenn er ihn nur ausgiebig genug ignorierte. Unverhohlene Bitterkeit stieg in Ryou auf, die stille Gewissheit, dass sein Leben beendet zu sein schien, noch bevor es richtig begonnen hatte. All seine Hoffnungen und Träume für die Zukunft, zerschlagen binnen weniger Stunden. „Hättest du mir gesagt“, begann Ryou knapp und räusperte sich, als er bemerkte, wie dünn seine Stimme wieder geworden war. „Hättest du mir gesagt, wo du mich hinbringst, dann - “ „Was dann, hm?“, unterbrach Bakura ihn, bevor Ryou den Satz beenden konnte. In seiner Stimme lag ein leichtes, gereiztes Knurren. Als er Ryou letztlich wieder ansah, lag unverhohlene Verachtung in seinen Augen. „Hättest du dann darauf bestanden, dass ich dich umlege?“, zischte er und verzog den Mund. „Sei nicht so verdammt dramatisch.“ Ryou verstummte. Eingeschnappt presste er die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und wandte sich von dem Größeren ab. Es war wie sonst auch. Es war egal, was in ihm vorging, er war auf sich allein gestellt. Wie hatte er, wenn auch unbewusst, nur davon ausgehen können, dass es an diesem Ort anders werden würde? Still erreichten sie das Ende des Ganges, wo sie, durch eine dicke Stahltür, ein schmales, graues Treppenhaus erreichten. Es wirkte baufällig und war nicht beheizt, und so kondensierte ihr Atem in winzigen Wölkchen vor ihren Lippen. Im dritten Stock schließlich betraten sie einen schwach beleuchteten, heruntergekommenen Flur, der Ryou an jene Appartementblocks erinnerte, in denen Singles, Studenten und alleinstehende Damen für günstiges Geld unterkommen konnten. Immer wieder zweigten graue Türen nach links und rechts ab. Bakura zog die Hand aus seiner Manteltasche, einen dicken, glänzenden Schlüsselbund in der Hand. Er klimperte leise und metallisch zwischen seinen Fingern. Wortlos suchte er den passenden Schlüssel heraus, schob in ins Schloss, und die Tür sprang klackend auf. „Das ist dein Zimmer“, kommentierte er nüchtern, jedoch vollkommen überflüssig, denn Ryou hatte bereits mit derlei gerechnet. Bakura legte die Hand auf das dunkelbraune Holz und schob die Tür sachte auf. Anschließend tastete er nach dem Lichtschalter, und nur wenige Sekunden später erfüllte gelbes, warmes Licht den Raum. Unsicher spähte Ryou hinein. Das Zimmer war winzig, hatte keine zehn Quadratmeter. Ein schmales Bett, ein Kleiderschrank und ein Schreibtisch standen darin, ansonsten war es, bis auf den dunkelroten Teppichboden, leer und schmucklos. „Du bleibst erst einmal hier“, begann Bakura schließlich, und lehnte lässig mit der Schulter an dem hölzernen Türrahmen. An manchen Stellen blätterte bereits der durchsichtige Überlack ab. „Du solltest schlafen. Es gibt viel zu tun morgen.“ Widerwillig biss Ryou sich auf die Unterlippe. Für Bakura schien das alles absolut alltäglich zu sein, während Ryou am liebsten laut losgeschrien hätte. In seiner Brust tobte ein Sturm der Emotionen, und er war kurz davor, unter dessen Druck zusammen zu brechen. Während er noch zögerte, warf Bakura einen kurzen Blick auf eine dunkle, lederne Uhr, die er am Handgelenk trug. Gedankenverloren runzelte er die Stirn. Langsam betrat Ryou den kleinen Raum, der mehr einer Zelle glich als einem zukünftigen Zuhause. Als er in der Mitte angekommen war, zwischen all den beengend beieinander stehenden Möbeln, wandte er sich um und ließ den Blick unschlüssig umherwandern. Verwundert bemerkte er, dass ihm das Herz wieder bis zum Hals schlug. „Bakura?“, fragte er schließlich, ein wenig zögerlich, die Stimme hoch und weich. Die Arme hatte er nach wie vor um seinen schmalen Oberkörper geschlungen, als könne er sich damit vor den Übeln, welche ihn zur Zeit heimsuchten, schützen. Der Andere hob den Blick von der Uhr und blickte Ryou stumm an. „Was?“, murmelte er leise. Ryou atmete tief ein und rang mit sich selbst, suchte nach den richtigen Worten. Es fiel ihm schwer, zu formulieren, was ihm auf der Seele brannte. „Warum hast du das getan?“, fragte er schließlich leise und räusperte sich anschließend. „Warum hast du diesen Jungen umgebracht?“ Bakuras Augen verengten sich leicht, während er die Stirn kritisch in Falten legte. Ryou rechnete bereits damit, dass er ihn anschreien oder schlagen würde, aber er musste es wissen. Er musste wissen, wofür er hier gelandet war. Er musste wissen, welcher schäbige Grund in so kurzer Zeit sein Leben in einen Trümmerhaufen verwandelt hatte. Für einen unendlich kurzen Moment schwieg der Andere. Seine Augen wanderten nachdenklich über Ryous Gesicht. So oft schien man ihm diese Frage nicht zu stellen, und obschon man ihm ansah, dass sie ihm nicht gefiel, so blieb er doch ruhig. Schließlich verzog er die Mundwinkel zu einem abweisenden Lächeln, und schnaubte leise auf. Dann, ohne zu antworten, wandte er sich ab, zog die Tür hinter sich zu und ließ Ryou mit seinen Gefühlen und aufgewühlten Gedanken allein zurück. Es klickte metallisch, als er von außen abschloss. Dann, mit einem Mal, herrschte absolute Stille. Unsicher starrte Ryou noch einige Sekunden auf die Tür, um sich zu vergewissern, ob der Andere tatsächlich gegangen war, dann seufzte er leise, als die Last und die Anspannung, welche zuvor auf seinen Schultern gelegen hatten, von ihm abfielen. Stumm sank er in sich zusammen, mehrmals tief durchatmend, die zarten, feinen Hände zu Fäusten geballt. Das alles wirkte so abwegig, so kafkaesk, dass er noch nicht ganz die Hoffnung aufgegeben hatte, jeden Moment in seinem Bett aufzuwachen und festzustellen, dass alles nur ein bitterböser Traum gewesen war. Er würde tief Luft holen, und darüber lachen, dass er sich von so einem dummen Gedankengespinst so hatte ängstigen lassen. Im wirklichen Leben jedoch passierten solche Dinge nie, und er würde, das wusste er, mit Sicherheit nicht in einer besseren Realität erwachen. Dies hier war alles, was er hatte, und je früher er das begriff, desto besser. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)