Wie Blätter aus einem Tagbuch... von Sternenschwester ((OS/Drabbel-Sammlung für OC)) ================================================================================ Kapitel 19: Flieg kleiner roter Adler - II - Ein Name ----------------------------------------------------- Ein Name 1864 - Bozen „Noch einmal: Ich weiß wahrlich nicht, warum Agnes mich unbedingt jetzt nach Bozen zitiert.“ Genervt blickte Roderich weiterhin starr nach draußen, wo die Landschaft in unheimlicher Geschwindigkeit an ihnen vorbeizog, während Salvatria hörbar die Lippen schürzte und kaum den Anschein machte, das Thema fallen lassen zu wollen. Rupert lag zusammengerollt auf ihrem Schoß und schnurrte unablässig vor sich hin. „Das ist mir schon klar. Es verwundert mich dennoch ein wenig, auch wenn ein Telegramm mit ‚Schwing gefälligst deinen Arsch nach Bozen. Es ist dringend! Und tust du dies nicht, komme ich persönlich vorbei.‘ eindeutig ihre Handschrift trägt. Aber warum muss ich dich dann unbedingt zu dieser Furie begleiten?“ Forsch suchten die violetten Augen die ihres Bruders, aber dieser sah weiterhin stur aus dem Fenster. Nach einer Weile kam er zum Schluss, dass er die Salzburgerin nicht weiterhin ignorieren konnte, zudem der Kater aufgehört hatte selig am Schoß seiner Herrin zu verbleiben, sondern sich nun reckte, um Roderich ebenfalls einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen. „Weil du ihre Nachbarin bist….“, antwortete er dann schlussendlich lasch und hoffte, damit endlich seine Ruhe zu bekommen. Dass seine Hoffnung enttäuscht wurde, sah er ab dem Augenblick, wo er aus den Augenwinkeln mitbekam, wie Salvatria erbost die Backen aufblies. Doch bevor sie dazu kam, irgendeine Antwort zu fauchen, fuhr der Zug mit den typischen quietschenden Bremsgeräuschen in den Bahnhof von Bozen ein. „Wir sollten aussteigen.“ Mit größerer Hast als nötig griff Roderich nach ihren beiden Koffern, während Salvatria mit Rupert im Arm aufstand und vor ihm raus auf den Gang schritt. ---------------- „Roderich… Salva… Yuhu!“ Übermütig winkte Adelheid über die Köpfe der Menge hinweg, auch wenn sie mit ihren rotblonden Haaren gut aus dieser herausstach. Mit wenig Mühe erreichten Roderich und Salvatria endlich die junge Frau, welche sie mit leicht rötlichen Wangen begrüßte. Erst dann wurde beiden die Anwesenheit der zwei anderen Personen bewusst, welche nur wenig weiter hinter der Vorarlbergerin standen. Agnes suchte unverzüglich den Blickkontakt zu Roderich und dem österreichischen Erzherzogtum wurde wiedermal bewusst, welch temperamentvolles Gemüt hinter den rostroten Augen lag. „Grüß Gott, Agnes.“, begann Roderich, doch runzelte solgleich die Stirn als er den kleinen Jungen sah, welcher scheu an der Hand der Tirolerin hing. Es war ein Knabe von vielleicht mal 4 Menschenjahren und verlegen drückte er sich stärker an den schwarzen Rock, wobei er mit seiner freien Hand ein wenig der roten Schürze vor sich zog, als könnte er sich dahinter verstecken. Er war in die typische Landeskleidung Tirols gesteckt worden, auch wenn Roderich eindeutig sehen konnte, dass die Kleidung nicht für ihn gemacht worden war. Dafür war sie ihm ein wenig zu groß. Das schwarze Wuschelhaar umrahmte leicht ungekämmt das kleine Köpfchen, welches schon in diesem jungen körperlichen Alter viel von einem rundlichen Kindergesicht verloren hatte. Dabei kringelte sich eine Strähne deutlich von den anderen ab und Roderich war sich sicher, dass er jemanden kannte, welcher ebenfalls eine solche Ringellocke besaß. Dabei kam er einfach nicht drauf, wer es war. Wenn man von der Locke absieht, so ähnelte er Agnes schon sehr stark, kam es Roderich plötzlich in den Sinn, als sein Blick zu den goldenen Augen glitt, die vielleicht wenig farblich mit denen der Tirolerin gemeint hatten, aber von der Form her und vom trotzigen Ausdruck, der in ihnen lag, deutlich auf eine Verwandtschaft hinwiesen. Vor dem geistigen Auge sah er wieder Bilder der Zeit, wo Theodor einen wahren Wildfang in sein Heim gebracht hatte, den zu zähmen er bis zuletzt nicht fähig gewesen war. Agnes war auch einst höchst dürr von Gestalt gewesen, mit dünnen Armen und ebenso dünnen Beinen. „Agnes…?“ Doch bevor er seine Verwunderung äußern konnte, wurde ihm höchst unhöflich von der Grafschaft das Wort abgeschnitten. „Nicht hier, und ja, das ist der Grund, warum ich dich hab herkommen lassen. Aber was anderes, Richi, was macht die hier?“ Unverhohlen nickte sie zu Salvatria, welche ihren herausfordernden Blick blasiert konterte. „Bitte, Agnes…“, versuchte Adelheid zu intervenieren, doch Roderich schritt unverzüglich ein, einen deftigen Familienstreit witternd. „Sie ist meine Begleitung, Fräulein Hütt, und darf ich dich erinnern, dass sie wie Adelheid und du Teil der Familie ist! Ich erwarte nicht, dass ihr jetzt die dicksten Freundinnen werdet, aber reißt euch wenigstens in der Öffentlichkeit soweit zusammen.“ Er konnte deutlich sehen, wie eisern Agnes die Zähne zusammen biss, während der kleine Junge, offenbar von jedem vergessen, sich immer mehr hinter der hochgewachsenen Gestalt der Tirolerin versteckte. Misstrauisch beäugte er jeden einzelnen von ihnen, bis ihn dann Agnes nach vorne zerrte und noch einmal einen letzten Blick Roderich zuwarf. „Wie gesagt, nicht hier… Gehen wir zu mir nach Hause.“ ------------------------------------------------------- „Du meinst, dieses Kind ist einer der Unsrigen?“ Roderich warf einen zweifelnden Blick in Richtung des Jungen, welcher am Boden mit Adelheid spielte. Er wusste nicht woher, aber offenbar hatte Agnes in den letzten Tagen ein paar Holzspielsachen zusammengeklaubt, welche nun der Junge mit sichtbarem Stolz abwechselnd der Vorarlbergerin und der Salzburgerin präsentierte. Mit Adelheid schien er schon vertraut zu sein, aber die Vorsicht Salvatria gegenüber legte sich erst allmählich gelegt, nachdem diese sich zu ihnen auf die hölzernen Dielen gesetzt hatte und mit einem zauberhaften Lächeln mit dem Jungen zu spielen begann. Von Rupert jedoch hatte sich der Bub wohlweislich fern gehalten, und auch der Kater zeigte wenig Interesse, mit ihm Bekanntschaft zu schließen. „Ich meine nicht nur, Richi. Ich habe es mir von den Saligen bestätigen lassen. Glaubst du etwa, ich war die letzten Tage untätig?“ Roderich runzelte die Stirn und wog die nächsten Worte genau ab. „Und was haben dir die wilden Frauen gesagt?“, fragte er dann zögerlich, achtend, jeglichen Zweifel in seiner Stimme auszublenden. Agnes reagierte selbst in solch modernen Zeiten höchst empfindlich, was die Angehörigen eines Volkes anging, welches eigentlich nur noch in Märchen und Sagen seinen Platz hatte. „Sie meinten, ich solle auf ihn Acht geben und ihn soweit auf seine Rolle vorbereiten.“ Entnervt drehte Agnes den Krug in ihren Händen hin und her, warf dabei regelmäßig einen Blick Richtung Kind, bevor sie sich wieder Roderich zuwandte. „Sie haben mir weder gesagt, was oder wen er repräsentiert, nur dass er eindeutig unser Gemeinschaft angehören soll. Blöde Weiber.“ Trotz der Überforderung gegenüber der Situation musste der Österreicher lächeln. Es geschah nicht oft, dass Agnes sich abfällig über die alten Vertreter äußerte. Doch so unerwartet das Lächeln gekommen war, so schnell verging ihm die Laune, als er sich bewusst wurde, was die Anwesenheit dieses Knaben bedeuten konnte. Repräsentanten tauchten nicht einfach so auf und ihr Erscheinen konnte Freude, wie auch Leid zugleich sein. Freude, wenn ein neues Land es geschafft hatte, sich zu behaupten. Leid für denjenigen, von dem es sich abspaltete und Trauer, wenn sein Wachsen das Ende eines anderen bedeutete. Mit Schaudern dachte Roderich an die Frau, welche er über Jahrzehnte Mutter genannt hatte. Norikum war nach einem Überfall der Bayern auf Katharinas slawisches Fürstentum verschwunden und hatte ihren Platz, den sie selbst nach dem Fall des römischen Imperiums, unter welchem sie Jahrhunderte lang Dienst getan hatte, innerhalb ihrer Gesellschaft gehabt hatte, ihm und seinen Schwestern überlassen. Scheu und sich versichernd, dass Agnes es nicht mitbekam, ließ er seinen Blick über die hagere Gestalt der Tirolerin schweifen. Erleichtert, keine äußerlichen Anzeichen für Schwäche an ihr ausfindig machen zu können, lehnte er sich zurück gegen die Holzlehne des Stuhles und nahm einen Schluck Bier. Agnes sah nicht wirklich aus als würde sie sich anderes fühlen als sonst. Wie kam er nur auf die Idee, Agnes wäre in Gefahr, von einem anderen verdrängt zu werden? Erstens hatte die Frau mehr Haare an den Zähnen als so mancher Mann auf der Brust und zweitens konnte er sich nicht vorstellen, dass die Zeiten so umbruchsreich waren, als dass sie Platz machen müsste. Dennoch, die Anwesenheit dieses Jungen hatte einen bitteren Beigeschmack. Plötzlich prustete Roderich, als ihm ein Geistesblitz kam, und erstickte dabei beinahe an seinem Bier. „Triento…“ Agnes, welche bis dahin dem Spiel des Kleinen zugesehen hatte, drehte sich ruckartig um und sah ihn verwirrt an. „Wie bitte?“ „Na, vielleicht ist er Triento… du weißt doch, das ehemalige Gebiet des Fürstbistums Trient.“ Nun sahen auch die drei anderen Anwesenden zu ihm, wenn auch der Junge der einzige war, welcher sich von diesem Ausbruch an Erkenntnis unbeeindruckt zeigte, und sich nach kurzer Zeit wieder dem Spiel mit seinem Kreisel zuwandte. Rupert schien von der Verwirrtheit, welche sich in den Gesichtern der anderen wiederspiegelte, ebenfalls unberührt zu bleiben und lag weiterhin auf dem alten Kachelofen, um zu dösen. „Richi, glaubst du wirklich, das Weltgeschehen macht sich nach mehr als einem halben Jahrhundert die Mühe, mir noch auf die Schnelle einen Vertreter zu schicken, nachdem ich seit Napoleon dieses Flecken mein Eigen nennen darf? Ich meine, ich stehe diesem Land seit dem zwölften Jahrhundert vor. Glaubst du nicht, dass es ein wenig spät sei für so etwas?“ Unwirsch wedelte die Hausherrin in Richtung des Knaben, welcher sich weiterhin mit seinem Kreisel beschäftigte, als ginge in das nichts an. „Nun ja, aber vielleicht…“, versuchte sich nun Salvatria ins Gespräch einzuschalten, doch Roderich schnitt ihr bestimmt das Wort ab, ahnend, worauf sie hinaus wollte und dieses Thema war wahrlich das letzte, was er nun ansprechen wollte. „Welche Sprachen spricht das Kind?“ Dem Ausdruck auf dem schmalen Gesicht der Tirolerin konnte Roderich entnehmen, dass auch Agnes auf eine ähnliche Vermutung gekommen war. „Keine Ahnung, er hat bis daher nie die Pappen aufgemacht.“ Eine seltsame Stille legte sich über dem Raum, nur unterbrochen von dem Klackern des Kreisels, wenn er aufhörte sich zu drehen und am Boden aufkam. Adelheid war die Erste, welche sich von ihrer Starre löste. „Repräsentant oder nicht, das Kind braucht auf jeden Fall einen Namen.“ Salvatria nickte und Roderich sah zu Agnes, welche die Stirn in Falten legte. Kurze Zeit später wurde sie sich der erhöhten Aufmerksamkeit auf ihrer Person bewusst. „Was ist denn?“, fauchte sie in das Zimmer, wobei selbst der namenlose Bub kurz sein Köpfchen hob. „Na, dir wurde die Verantwortung für ihn übertragen, also musst du ihm auch einen Namen geben…“ „Und warum nicht unser Wasserkopf, Salzprinzessin?“ Roderich überging wie immer galant die Beleidigung, welche ihm die tirolerische Grafschaft an den Kopf warf, und griff behutsam nach ihrer Hand. „Agnes bitte, mach es nicht schwerer als es ist. Du wirst dich in Zukunft um den Kleinen kümmern, schließlich…“ „Ich bin nicht seine Mutter.“, zischte sie ihm gefährlich zu, während sie ihm unwirsch die Hand aus seinen Fingern zog. „Damit das klar ist, wenn überhaupt bin ich für diese kleine Wanze die große Schwester.“ „So wie bei mir.“, intervenierte nun Adelheid und zog den kleinen Jungen zu sich, der sich bereitwillig gegen sie schmiegte und für kurze Zeit die goldenen Äugelein schloss. Mit einem theatralischen Seufzen erhob sich Tirol und ging auf Adelheid zu, welche nun den Knaben hin und her wiegte. Salvatria erhob sich und setzte sich neben Roderich an den Tisch. „Gut, ihr wollt also unbedingt, dass ich diesem Würmchen einen Namen gebe?“ Agnes stemmte die Hände in die knöchernen Hüften und betrachtete lange den Übeltäter ihres Zusammentreffens, der nun seine Augen wieder geöffnet hatte, um ohne Scheu den Blick der Tirolerin zu suchen. „Wetten, sie nennt ihn Andreas?“, flüsterte Salvatria ihrem Bruder ins Ohr. „Dann nenne ich dich nach zwei Männern meiner langen Geschichte.“ Roderich spürte, wie die Salzburgerin neben ihm feixte. „Andreas Meinhard Hütt.“ „Madre?“, gluckste nun der frisch benannte Hütt-Sprössling und hob seine kurzen Ärmchen nach der Älteren. „Nein, das ist nicht deine Mama, kleiner Andi. Sondern deine große Schwester.“, flüsterte ihm Adelheid zu, während Agnes erst nach langem Zögern sich hinabbeugte und sie alle, wofür Roderich ihr dankbar war, vor einer weiteren Szene verschonte. Dabei war ihr vom Gesicht her nur zu gut abzulesen, wie wenig sie von seiner ersten Äußerung hielt. Zudem seine ersten Worte Italienisch waren und auch dem Österreicher ein ungutes Gefühl in der Magengegend hinterließen. „Genau, deine ältere Schwester Agnes.“, nuschelte Agnes in Gedanken versunken. „Bist du sicher, dass du den Kleinen Andreas nennen willst?“, warf Salvatria ein und zuckte anschließend unter dem scharfen Blick der Tirolerin nicht zusammen, als sich diese mit dem Kind auf dem Arm zu ihr wandte. „Ich mein ja nur, erinnere dich doch, was mit dem letzten Andreas passierte…“ „Salvatria! Wühle nicht im Schlamm der Geschichte herum.“, ermahnte sie nun auch Roderich, der sich des Konfliktpotenzials um das Thema ‚Hofer‘ nur zu gut bewusst war. Schließlich hatte er an dessen Werdegang und vor allem auch Sturz einiges an Verantwortung zu tragen. Doch wider Erwarten blieb Anges gelassen und schenkte ihrer persönlichen Hassschwester nur einen kühlen Blick, ohne auf das Gesagte näher einzugehen. „Glaub mir, ich kenne auch die Schatten dieses armen Tors und sehe auch hinter den Helden, aber hier geht es mir nicht darum, dass sich der Kleine ihn als Vorbild nimmt.“ Mit einem Lächeln, welches nur dem Knaben galt, kniff sie dem kleinen Andreas Meinhard in die Wange. „Wenn er wirklich mit mir was zu tun hat, wird er seinen Weg auch ohne ein verklärtes Vorbild bestreiten. Und komm gar nicht auf die Idee, ihn wegen seines zweiten Namens mit nach Salzburg zu nehmen, du altes Salzfass.“ Ihre Miene verhärtete sich, während Roderich Salvatria einen warnenden Blick zuwarf, um dem in der Luft liegenden Streit noch ein wenig Einhalt gebieten zu können. Abermals ließ Agnes ihren Blick über jeden von ihnen schweifen, bevor sie ihre Gedanken zu Ende darlegte. „Es geht mir nicht um den Träger des Namens, sondern um die Symbolkraft, die dieser Name in sich birgt.“ Ihre Stimme klang gefestigt und konnte dennoch Roderich nicht hinweg täuschen, dass Agnes sich nicht so selbstsicher fühlte, wie sie es vorgab. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)