Goldwolf der Handzahme von Windtaenzer (Eine Geschichte in drei Akten) ================================================================================ Prolog: -------- Leise gurrte eine Taube in der Dunkelheit. Stille lag in der Nacht, ehe ihr Flügelschlag sie durchbrach, aufgeschreckt aus dem Nichts. Eine Maske verdeckte Mund und Nase des Mannes, der sich rasch umsah und dann zur nächsten Ecke huschte. Mehrmals wiederholte sich das Schauspiel, bis er mit einem letzten Blick hinter sich das Schneidwerkzeug an die große Glasscheibe setzte und geschickt ein faustgroßes Loch hineinschliff. Nur einmal um die Ecke gelangt, und die Tür wäre kein Hindernis mehr. Ein lautes Krächzen durchschnitt die Leere der verschneiten Straßen und ließ den Dieb zusammenfahren. Plötzlich hektisch fingerte er hastig weiter, doch als der Mann das Schloss endlich offen hatte, schoss eine schwarze Gestalt aus der Luft und fuhr mit den krallenbewehrten Füßen in seine Haare. Erschrocken schrie er auf, ließ alle Vorsicht fallen und schlug wild um sich. „Wenn ich später einen Knick in diesen wunderschönen Federn finde, wäre ich wirklich ärgerlich.“ Die Krähe traktierte ohne Unterlass, aber er sah gehetzt um sich, nur gelegentlich abwehrend ausschlagend. „Wer ist da?!“ „Oh, ich bin enttäuscht.“ Das Grinsen war das erste, was aus den Schatten trat, dann stoben die Flocken mit dem Wind um einen langen schwarzen Mantel. Mit einem scheinbar freudigen, kurzen Schrei flatterte der Vogel auf und zog hinüber, setzte sich gemütlich auf den gehobenen Unterarm des Mannes mit den langen, tiefschwarzen Haaren. Die Augen des Diebes weiteten sich. „Du bist...!“ Er atmete noch einmal harsch ein, machte auf dem Absatz kehrt und sah zu, dass er Land gewann. Das Langhaar strich seinem Raben über das Gefieder und senkte den Kopf, als würde er ihm ins Ohr flüstern. „Schnapp’ ihn dir.“ Die Krähenaugen blitzten, folgten der Spur des Mannes. Mit einem lauten Krächzen stieg der Vogel schließlich auf und flog lautlos davon. Ein Kichern kam von ihrem Herrn, dann verschwand auch er und die Straße war so still wie zuvor. Nur die Fußabdrücke und das Loch in der Glasscheibe zeugten davon, dass die Jagd wieder begonnen hatte. Kapitel 1: Generation next -------------------------- „Man ey, ich hab’ langsam keine Lust mehr.“ Meckernd schnaufte die Frau mit den langen feuerroten Haaren, die unter den Schultern anfingen, Wellen zu schlagen, und lehnte sich zurück in den weichen Saum der Coach. „Wie oft wollen die uns noch rausjagen, ich wollte auch noch die Schule nebenbei schaffen!“ „Ganz ruhig, die Wintermonate sind nun einmal Hauptzeit...“ „Es ist -immer- Hauptzeit...“, unterbrach sie ihn und verschränkte die Arme. Er hob nur abwehrend lächelnd die Hände und entlockte ihr ein weiteres Schnauben. „Also isch mag den Schnee.“ Die Blicke wanderten zu dem kleinen Blondschopf mit dem markanten Akzent, der ihn deutlich als Nicht-Muttersprachler auswies. „Ja, du... So etwas gibt es bei euch ja auch kaum. Franzose muss man sein!“ „Keira!“ Mit mahnendem Blick bedachte das Langhaar sie, entschärfte die Situation dann aber mit seinem typischen sanften Lächeln. „Ja, Zakira?“ Die Rothaarige grinste und rückte zu ihm heran, küsste ihn einfühlsam und betrachtete zufrieden die leichte Rosafärbung auf seinen Wangen. Der junge Mann warf den Kopf zurück und brachte die langen, tiefschwarzen Haare hinter seine Schultern. „Hacke nicht immer auf dem Kleinen herum.“ „Tue ich doch gar nicht...“ „Tut sie doch gar nischt“, nickte der Gemeinte ihm zu und pfiff fröhlich, ehe er sich neben sie setzte. Für den außenstehenden Betrachter schien es lächerlich und überlegenswert, was die Aussage anging, denn der „Kleine“ war genauso groß wie die Dame zu seiner Seite. Zakira lächelte. Lange war es her, dass sein petit-frère, sein „kleiner Bruder“, auf seinen Rücken gepasst hätte. Heute waren sie gleich groß, aber zumindest vom Gewicht her konnte es noch klappen. „Hast du heute schon gefrühstückt, Vincent?“ „Nachdem wir den Schmuckdieb fassten nischt, nein.“ Er seufzte leicht und wischte sich über das rechte Auge, dann schüttelte er nur den Kopf mit einem leisen „Du bist unmöglich“ und stand auf. „Wir brauchen uns gar nicht wundern, dass du nur ein Strich in der Landschaft bist. Kommt, alle beide. Wir haben’s uns verdient.“ Keira stemmte sich auf und zog ihren Nachbarn ohne zu warten auf die Beine, dann verließen sie den Aufenthaltsraum mit dem kleinen Tisch, der rotflauschigen Sitzecke mit Coach und Sesseln und den großen Palmen und anderen Pflanzen in schmucken Keramiktöpfen. Aber zumindest die großen weißen Fliesen folgten ihnen noch etwas, ehe sie sich mit Parkett abwechselten und zurückblieben. Die Schritte hallten in dem Korridor wider. „Wo ist eigentlich unser hyperaktives Schmetterlingchen?“ Ausgiebig gähnend hielt Keira sich wenigstens die Hand vor den Mund und schielte mit einem Auge zu Zakira hinüber. „Noch im Einsatz, fürchte ich. Aber er kann es sich schulisch ja leisten, da stellt das nicht solche Probleme dar...“ „Ich kann es mir auch leisten, genau wie ihr beide, Elitefreaks! Die Frage ist und bleibt, -will- ich mir das leisten? Und die Antwort lautet klar Nein!“ Das Schwarzhaar hob belustigt eine Braue. „Du bist genervt.“ „Na und?“ Erneut verschränkte sie die Arme hinter dem Kopf. „Wenn das meine einzige Möglichkeit ist, rege ich mich halt auf.“ „Isch rege misch nischt auf“, erwiderte Vincent und grinste vor sich hin. „Du musst auch nicht Nacht für Nacht allein durch Cochems Straßen streifen und irgendwelche Kleinstverbrecher jagen“, giftete die Rothaarige verärgert zurück. Natürlich wollte sie nur darauf hinaus, dass er und Zakira im Team arbeiteten. Letzterer ging soeben dazwischen. „Gemach, zofft euch nicht. Ich kümmere mich darum.“ „Lass mal, du brauchst nicht deinen Kopf beim Chef hinhalten.“ Sie winkte nur ab, aber er konnte die versteckte Dankbarkeit in ihren flammend roten Augen sehen. Stumm nickte er nur lächelnd und wuschelte seinem petit-frère gedankenverloren durch die mittelblonden Haare. Flügelrauschen empfing sie, als die drei in den Essenssaal traten. Vor ihnen bot sich das gewohnte Bild vieler gefiederter und lederner Paare Flügel von allerhand tierischen Begleitern, Vögel, Fledermäuse, Drachlinge, Greifen, Diplomaten... Und das ganze Gesocks ohne Flügel. Ein schwarzer Kater mit gleichfarbigen Schwingen kam ihnen sogleich entgegen. „Seid gegrüßt, die Herren! Meine Dame...“ Er neigte den Kopf, während er in der Luft scheinbar stehen blieb und mit kraftvollen Schlägen sich auf der Stelle hielt. „Guten Morgen, Francois“, nickte Zakira ihm freundlich zu und schritt zu ihrem Stammtisch hinüber. Die Halle war relativ leer zu dieser späten Stunde, der Unterricht hatte schon begonnen. Sie jedoch genossen noch ihr Frei nach der Nachtschicht. Andere mit morgendlichen Ausfallstunden kauten gemächlich ihr Frühstück und unterhielten sich, gedämpft und gesittet. Wenn Zakira an früher dachte, wirkte alles so unwirklich, aber er mochte es, die Schule, das Gelände, und auch diese Stadt. Als sie vor einem Vierteljahr herkamen, war alles noch so fremd, unbekannt und feindlich, doch mittlerweile kam es ihm seltsamer vor, sich vorstellen zu müssen, nicht schon immer hier gelebt zu haben. Das Internat der Magieexperten bildete speziell für Einsätze im eigenen und im Ausland aus, es gab keine Sprache, die hier nicht unterrichtet wurde. Aber auch jene, die einfach nur auswandern und einen – teils magischen – Beruf im Ausland wählen wollten, fanden sich hier. Manches Mal noch musste sich das Schwarzhaar erinnern, wo er war, wenn es gemütlich und zivilisiert, erwachsen und streitlos unter den Schülern zuging. Aber das lag wohl auch am Alter. Das gängigste hier waren natürlich diejenigen zwischen 18 und 30, welche erst ins Leben starteten, jedoch auch 40 und älter waren nicht untypisch. Auswanderer, Neuanfänger, Weiterzubildende... Man konnte die „Circle High“ als Zentrum aller Magieschulen Europas sehen. Deshalb lag sie auch etwa mittig auf dem Kontinent. Mit seinen 22 Jahren lag Zakira also genau richtig. Keira mit ihren 23 und Vincent mit seinen 17 bildeten einen großzügigen Rahmen. Mit einem feinen Schmunzeln erinnerte er sich gern, wie sie sich alle kennen gelernt hatten. Damals... Eines alltäglichen Morgens war ein Gerücht durch alle Klassen seiner Schule gegangen, ein Adliger würde neu zu ihnen stoßen, und eigentlich hatte Zakira lediglich aus der Mensa nach oben gehen wollen, als er fast die Treppe wieder rückwärts fiel. Wer ihm im Weg gestanden hatte, ergriff schnell die ausgestreckte Hand und zog ihn zu sich auf den Absatz. Makellose Sprache und ein markantes, schmuckes Aussehen, unterstrichen von diesen mintgrünen Augen... Und ehe er sich versah, flatterte unvorhergesehen ein Brief ins Haus, der ihn nach England verschlagen sollte, wo er Keira erstmalig getroffen hatte, ebenso aus adligem Geschlecht wie jener, der das Schwarzhaar in sein Vaterland entführt hatte und ungewollt seine Familie vorstellte. Wie der Zufall wollte, riss sie von Zuhause aus und begleitete ihren Stiefbruder und das Schwarzhaar zurück in seine Heimat. Ein erneuter Einsatz, angesetzt vom stellvertretenden Oberhaupt der Golden Wings, dem Clan, in den Zakira durch jenen neuen Mitschüler geraten war, indem sie einen Bruderschaftspakt der besonderen Art geschlossen hatten, führte ihn schließlich mit seinem petit-frère zusammen. Eigentlich war Vincent Einzelkind, doch er hatte sich schon immer einen großen Bruder gewünscht, und es war offensichtlich gewesen, dass sie sich viel zu gut verstanden. ~ Die Welt der Magie war aufgeteilt in Clans. Manche hielten sich innerhalb eines Landes, manche bestanden aus gewissen religiösen oder anderen Glaubensgruppen. Eines jedoch hatten die meisten gemeinsam – die Kontrolle der Kriminalität, deren Überwachung. Der Großteil der magisch Gesegneten jedoch führte ganz normale Berufe im Alltag aus und erfreute sich, es leichter zu haben als die nichtmagischen Zeitgenossen. Mehr durch glückliche Fügung verschlug es Zakira, gebürtiger Japaner, schon früh nach Deutschland. Dorthin, wo alles seinen Anfang nahm. Und heute hockten sie alle hier, an der Circle High – nebenbei noch im Einsatz für die Lupes en ailes, Vincents Clan – und irgendwo dazwischen fand sich tatsächlich noch ab und zu Freizeit. Insgesamt ein wirklich bunter Haufen, Engländer, Franzosen, Deutsche, für jeden etwas dabei. Mit einem Lächeln bedachte er die Rothaarige, die auf einem Tablett allerhand für „auf Stulle“, wie sie es gern unbeholfen ausdrückten, zum Tisch brachte, neben den vielen verschiedenen Brötchen und dem Geschirr plus Besteck. Mittlerweile waren sie verlobt, auch wenn er bezweifelte, dass es mehr würde, aber es klang durchaus nett, statt „meine Freundin“ die Dame an seiner Seite mit „meine Verlobte“ zu betiteln und vorzustellen. Außerdem pflegte Keira eh jedes Mal verschmitzt zu sagen, warum denn alle heirateten, die Scheidung sei doch viel zu teuer. Ein feines Piepen holte ihn aus den Gedanken ins Geschehen zurück. Die junge Frau verzog das Gesicht zu einer Grimasse und ließ sich auf den Stuhl fallen, ehe sie ein Handy aus der Tasche zog, ohne auf das Display zu sehen aufklappte und ans Ohr hielt. „Wir kaufen nichts.“ Ein leises, lauerndes Lachen drang bis zu Zakira hinüber und er erkannte ihren Chef. „Ein Glück, dass ich auch nichts an die Frau bringen wollte. Guten Morgen, wie geht’s euch?“ Sie nahm das Gerät wieder weg, drückte eine Taste und legte es zugeklappt zwischen sich und die Jungs. „Wie immer, eine wunderschöne, kalte Nacht, die Ruhe des schlaflosen Morgens und ein netter Kollege am Telefon.“ „Oh, das freut mich ja. Kenne ich den netten Anrufer?“ Keira drehte mit den Augen und antwortete nichts. „Schon gut, schon gut. Ich weiß, dass ihr letzte Zeit oft ausrücken musstet, aber das wird bald wieder.“ Die männliche Stimme klang überraschend sanft und einfühlsam. „Das hoffe ich doch...“, knurrte sie hörbar genervt und griff nach einem Brötchen und einem Messer. Die anderen taten es ihr gleich. „Sind Chris und seine Dame schon zurück?“, wechselte er knapp das Thema. „Nein, die machen Cochems Straßen noch unsicher.“ „Ah.“ Vorerst herrschte Funkstille, bevor er sich räusperte und erneut anhob. „Heute ist Freitag, was haltet ihr von Wochenende?“ „Wochen-was? Was soll das sein?“ „Ich merke schon, da schreit jemand nach Urlaub, was?“ Zakira meinte, das Grinsen des Gesprächspartners sogar zu hören, aber seine Verlobte war gar nicht zu Späßen aufgelegt. „Allerdings! Wann habe ich eigentlich das letzte Mal mehr als drei Stunden am Abend geschlafen?“ „Oh, du Arme. Dann mach’ mal frei, ‘ne ?“ „Wird man sich an diese Worte auch heute Abend noch erinnern?“ Ihre Augen blitzten ärgerlich auf, als das Schwarzhaar leise verhalten kicherte, aber die Frage war durchaus berechtigt. „Ich ja, doch meine auftragsgebenden Kollegen...“ „Ey!“ „Nicht frech werden“, mahnte er sie ernst und sprach dann etwas entspannter weiter. „Schon gut, aber dieses Mal bleibt es, ich schicke dann im Falle andere. Nehmt euch frei, ihr habt’s verdient. Sagen wir, bis nächsten Sonntag?“ Vincent hustete, als er sich aus Überraschung verschluckt hatte, Zakira hob die Braue. „Eine Woche?“ „Ah, wie hab’ ich diese Stimme vermisst! Fühle dich gezwickt, mein Bester!“ Das Schwarzhaar machte eine Grimasse. „Ist angekommen.“ Ihr Chef lachte und klopfte auf den Hörer, als wolle er ihm auf die Schulter klopfen. „Erholt euch gut, und bestellt mir auch dem Chaotenduo einen schönen Gruß. Und guten Hunger!“ „Danke sehr, und machen wir.“ Ein absteigendes Gepiepse ließ das Auflegen der Gegenseite verlauten. Mit gekonnten Griffen verschwand das Handy wieder in dem braunen Ledertäschchen an Keiras Gürtel, ein Druckknopf verschloss die Lasche. „Typisch, immer in den unpassendsten Momenten...“, murrte sie und kaute genüsslich ihren Happen. Zakira lächelte. „Aber mit positivem Ausgang.“ „Ja, das hat es zumindest gerechtfertigt, aber nicht verschönert.“ Der Dritte am Tisch grinste nur schweigend und sagte nichts weiter dazu. ~ * ~ Ein relativ ruhiger Unterrichtstag lag hinter ihnen, je eine Doppelstunde Magie und Sprache. Nachdem ein paar Fangirls wieder einmal in der Gruppenarbeit an Vincents Armen gehangen hatten, konnte Zakira nur zu gut verstehen, als er sich seufzend auf sein Bett fallen ließ und die Tasche beiseite stellte. Geschafft rieb er sich die Augen und gab somit erstmals offen zu, dass auch er endlich einmal Ruhe brauchte. Für gewöhnlich sah man das nicht. „Am liebsten würd’ isch misch beina’ gleich einfach umfallen lassen und einschlafen.“ „Verzeih, aber so siehst du auch aus.“ Sein großer Bruder lächelte aufmunternd, setzte sich zu seinen Füßen und legte ihm die Rechte auf einen kalten Fuß. Wenn Vincent unter Schlafmangel litt, merkte man das immer daran. „Isch kann aber nischt klagen, Schnee mag isch wirklisch.“ Seine Mundwinkel zuckten müde, dann gab er einfach nach und ließ sich zur Seite fallen. Als Zakira jedoch die Beine mit aufs Bett heben wollte, saß er ganz schnell wieder und wedelte protestierend mit den Händen. „Na, na, isch kann doch jetzt nischt schon schlafen!“ Ein Blick zu der Uhr mit dem schwarzen Blatt und den weißen römischen Ziffern verriet, dass es viertel nach drei am Nachmittag war. Wenn sie Nachtdienst ab acht oder neun hatten, lagen sie meist zwischen fünf und sechs im Bett, weil ein bisschen Hausaufgaben auch für sie gemacht werden musste. Ganz zu schweigen von den „versäumten“ Stunden. „Wollen wir nach den anderen beiden schauen?“ Der Kleine schien hellauf begeistert und nickte eifrig, wohl froh, sich bewegen zu können. Zakira erhob sich und zog den langen schwarzen Mantel über. Kaum war er dabei, die urtümlichen Knöpfe zu schließen, rauschten Federn und eine gepflegte Nebelkrähe saß auf seiner Schulter. „Das erinnert mich an gestern“, grinste er und prüfte, ob die Lederhandschuhe ihren Platz einnahmen, ehe er hinaustrat und die Tür hinter sich schloss. Diese Aufmachung war nichts Ungewöhnliches, beinahe normaler, als T-Shirt und Jeans es je sein würden. Es war lange her, als Vincent sich das erste Mal in seiner Tiergestalt gezeigt hatte. Jedem Magieanwender zu eigen lag die geburtgegebene Kraft, eine einzige spezifische Wandlung zu vollführen. So haftete dem Franzosen beispielsweise die Gestalt der Nebelkrähe an und war die einzige, die er beliebig annehmen konnte. Keira hatte es in die Bibliothek verschlagen, die wäre ihnen sonst spätestens hier, im Vorraum des Quartiers, über den Weg gelaufen. Über die Wendeltreppe am hinteren Ende des eckenlosen Raumes – er befand sich in einem Rundturm – gelangte das ungleiche Gespann hinab in das zugehörige Atrium und schließlich ein paar Korridore weiter durch das große Hauptportal hinaus. Die Circle High stand auf einem Berg und schaute wie ein steinerner Wächter über die Stadt dies- und jenseits der Mosel, die sich aus den Bergen Frankreichs direkt am Drei-Länder-Eck mit Luxembourg herabschlängelte und viele Handelsschiffe und Frachter auf diesem Weg bis zur Nordsee brachte. Bei Koblenz mündete sie in den Rhein. Für unwissende Reisende sah das Gebäude aus wie eine hübsche Burg, aber spätestens am schmiedeeisernen Tor, von wo aus eine Pflasterstraße den Berg erklomm, scheiterten sie auf schaulustiger Tour. Die Einwohner Cochems hingegen waren es gewohnt, wenn ungewöhnliche Tiere mit oder ohne menschliche Begleitung herumstreiften oder die ein oder andere Magie gewirkt wurde. Somit schlenderte er gemächlich mit einem Raben auf seiner Schulter durch die lange Marktstraße am Fuße des Berges. Lange brauchte er auch nicht warten, da krächzte die Nebelkrähe leise – man hätte meinen können, ihre Augen glitzerten. Zakira grinste etwas, beschleunigte seinen Schritt. Einen Moment später legte er einem hochgewachsenen jungen Mann mit kurzen, kupferblonden Haaren eine Hand auf die Schulter. Der zeigte jedoch keinerlei Reaktion, weshalb das Schwarzhaar sie sofort zurückzog und näher kam, um ihm über die Schulter zu lugen und seinem wachsamen Blick zu folgen. Schräg gegenüber, in einer anderen Ecke des weiten Marktplatzes, entdeckte er ein weiteres bekanntes Gesicht – die Zweite des Gespanns. Und sie schaute genauso konzentriert, ab und zu auch quer über den runden Platz. „Wie nah?“, flüsterte Zakira knapp seinem Vordermann ins Ohr. Als Antwort erhielt er nur ein kurzes Nicken, doch es reichte, dass Vincent aufflatterte und sich in den Aufwind schob. Leichte Sorge schlich sich in das Gemüt des Partners, als er der Krähe nachsah, ankämpfend gegen Wind- und Schneewetter. Nur zwei Kreise zog der Vogel, im Schneegestöber fast unsichtbar, dann fiel er im Sturzflug und fuhr seine Krallen in eine flauschige Kapuze. Noch bevor er dem Opfer den ersten Schrei entlockte, war der Kupferblonde längst vorgeprescht, das Schwarzhaar im Nacken. Kreischend schlug die Frau um sich, die umstehenden Personen waren erschrocken zurückgewichen. „Keine Bewegung!“, erklang die weiche und starke Stimme des jungen Mannes, fest und bestimmt. Vincent hielt sich akribisch fest und lautstark gegen deren Gekeife an. „Geh’ weg, du dreckiges Mistvieh...!“, fluchte die Frau ungehalten. „Nehmen Sie dieses Tier weg!“ Auf stummes Kommando kehrte die Nebelkrähe tatsächlich auf Zakiras Schulter zurück und klapperte ärgerlich drohend mit dem Schnabel. Das Schwarzhaar strich ihm liebevoll über den Rücken, fixierte jedoch weiterhin die schnaufende Dame vor ihm. „Was wollen Sie?! Ich werde Sie wegen Körperverletzung anzeigen, dämliche Magierrüpel...!“ Sie stockte. Mein Kollege hatte leicht den Kopf gedreht und ein fast diabolisches Grinsen auf dem Gesicht, die Augen fest an ihre geheftet. Der stete Wind zerrte an der schwarzen Feder mit der blutroten Spitze, die hinter seinem rechten Ohr steckte und ihn deutlich sichtbar als Mitglied der Golden Wings auswies. Einer der bekanntesten Clans. Die Frau schluckte, dann hob sie langsam abwehrend die Hände, peinliche Entschuldigung in der Mimik. „Äh, entschuldigen Sie bitte, ich wusste ja nicht...“ Harsch griff er nach ihrem Handgelenk und zerrte sie fort. Zwar schimpfte sie wieder, doch kämpfte sie nicht. Ohne ein weiteres Wort, fort vom Geschehen und neugierigen Blicken, stieß er sie an eine Häuserwand und drückte die Handgelenke fest daran. Ein eiskalter Blick durchbohrte ihre Verteidigung. „Du bist uns lange genug davongelaufen, meine Werteste!“, zischte der Kupferblonde. „I-ich kann das erklären, ich...“ „Ruhe!“ Die Frau schreckte zusammen, zuckte hilflos und kam nicht los. „Du hast etwas, was nicht dir gehört.“ Leise und fordernd ließ er ihre Rechte los, die augenblicklich hektisch unter die befellte Jacke huschte und nach etwas zuppelte. Einen Moment später zog sie unbeholfen eine weite Kette über den Kopf und konnte den schweren Goldanhänger kaum hinhalten, da schnappte er ihn ihr aus der Hand. Sie wimmerte. „Lasst mich gehen!“ „Wir haben ein Auge auf dich.“ Ohne Vorwarnung ließ er los und sie stolperte vorwärts. Schnell gefangen wetzte die Frau dann davon. Ein applaudierendes Händeklatschen durchbrach die Stille der zugigen Gasse. „Ich bin stolz auf euch.“ Er fuhr sich durch die Haare, ließ die Kette in die Tasche gleiten und wandte das etwas verärgerte Gesicht zu Zakira. „Sehr witzig.“ „Hey, das meine ich ernst!“ Mit einem entschuldigenden Lächeln trat dieser heran und legte ihm abermals eine Hand auf die Schulter. Vincent krächzte leise. „Endlich geschafft!“ Das Mädchen von zuvor, welches sich vorhin rasch zu ihnen gesellt hatte, umarmte Zakiras Gegenüber von hinten. Die braun-orangen, relativ kurzen Haare wehten ihr ins Gesicht, rahmten die hübschen eisblauen Augen. „Wir haben eine Woche frei-hei“, antwortete Zakira in einem leichten Singsang und tippte ihr auf die Nasenspitze. „Echt?! Wurde aber auch Zeit!“ Sie umarmte nun ihn freudig, ehe sie abließ und sich die Oberarme hielt. „Wir sollten zusehen, dass wir Land gewinnen, mir ist verdammt noch mal saukalt! Ich hasse Schnee!“ Schmunzelnd betrachtete er die beiden und strich seinem Raben erneut über das schwarzgraue Gefieder. „Das sagst du schon, seit es anfing, nein, seit die Nachricht allein schon kam.“ „Ich weiß, na und? Ist halt so.“ Sie winkte ab. „Wo ist eigentlich deine zweite Hälfte?“ Ein Paar silberner Augen suchte Zakiras Blick. „Hat sich in die Bibliothek verzogen.“ Er zuckte nur vielsagend mit den Schultern und wandte sich dann zum Gehen. „Mylady?“ Er hielt der jungen Frau eine nackte Hand hin, die sie mit beiden nahm und wärmend festhielt. „Man, kannst du dir keine Handschuhe anziehen?“ „Betriebstemperatur“, antwortete er nur, wie immer. „Mit der habe ich meinen gefiederten Begleiter entschneet, das macht sich mit Handschuh so schlecht.“ Zakira nickte mit dem Kopf Richtung Ausgang, sie rief dem Kupferblonden gegen den Wind zu. „Komm, Chris! Verschwinden wir hier.“ Ein Lächeln stahl sich auf seine Züge. „Schon an deiner Seite, meine Liebe.“ Die weißen Flocken setzten sich lautlos auf Fenster und Sims fest, nur das stete Sirren des Windes erinnerte an das Gestöber draußen. Flackerndes Kerzenlicht beleuchtete die Wände der Bibliothek, wo die Halter hingen; zwischen den Regalreihen herrschte nur Dämmerlicht. Keira mochte diese Atmosphäre und verzog sich gern einmal beizeiten hierher, doch heute war sie nicht allein. Aber das störte sie wenig, die gesitteten Mitstreiter unterhielten sich flüsternd oder gar nicht. Eigentlich fühlte sich das gelegentliche Echo von den Lehmwänden recht angenehm an. Draußen zog der Abend herauf, auch wenn es keinen großen Unterschied zu dem trüben Tageslicht machte. Schritte auf dem Korridor kündigten neue Besucher an. Die Rothaarige brauchte sich keine Mühe machen, das frohe Gezeter erkannte sie auch so. „Sagt mal, was macht ihr für einen Krach?“ Sie schaute nicht auf, grinste aber. „Wir erfreuen uns unseres Wochenendes und einer arbeitsfreien Woche, nachdem soeben der letzte Rest ad acta gelegt wurde.“ Zakira ließ sich in einem der gemütlichen Lesesessel nieder und entschuldigte sich bei den anderen, als er sie bemerkte. Freundlich wehrten sie nur ab und unterhielten sich nun auch etwas lauter. „Ach, stimmt ja. Innerlich war ich schon wieder gefasst, gleich loszuziehen...“ Eine Nebelkrähe hüpfte von der Schulter des Schwarzhaarigen auf seinen Unterarm, klapperte mit dem Schnabel und ließ sich genüsslich streicheln. Keira beobachtete ihn aufmerksam. „Wo ist eigentlich der Katzenvogel? Die habe ich länger nicht gesehen.“ Sie meinte den kleinen Greifen, der sonst an ihres Verlobten Seite weilte. Zakira blickte auf. „Kysha? Die ist doch mit unserem Tunichtgut ausgeflogen.“ „Siehst’e, ich bin völlig fertig. Stimmt, ich erinnere mich.“ Sie massierte sich die Lider mit den Fingern einer Hand. „Chris und Maria haben sich bereits verzogen, waren ja auch fast 24 Stunden im Einsatz. Übrigens erfolgreich“, fügte ihr Gesprächspartner vielsagend hinzu. In Anwesenheit anderer sprach man so gut wie gar nicht über Arbeit – zumindest Clansangelegenheiten. „Normal“ Arbeitende, Büroleute und allerhand, taten es natürlich schon. Keira nickte nur. „Ich mache auch nicht mehr lange. Wie schaut’s morgen aus?“ „Erst einmal ausschlafen, dann sehen wir weiter.“ Er schenkte ihr ein Lächeln und stand auf. Mit einem Gute-Nacht-Wunsch, auch an die anderen, verabschiedete Zakira sich mitsamt seinem gefiederten Gefährten nach oben. ~ * * * ~ Eiskalter Wind peitschte dem Jungen ins Gesicht, machte ihn schon teilweise bewegungsunfähig. Zumindest gelang es ihm gerade noch, sich mit den steifen Händen in die Federn vor ihm zu krallen, doch er merkte, dass seine Kräfte langsam zuende gingen. „Wir sollten endlich landen!“, rief eine flötende, weibliche Stimme, aber er verneinte lautstark, um den Gegenwind zu übertreffen. „Nur noch ein bisschen, wir sind doch gleich da...“ „Du frierst mir noch von meinem Rücken weg! Du weißt genau, dass du die Kälte nicht so gut verkraftest, wie du’s gern hättest!“ Er wollte protestieren, aber sie hatte ja recht. Die Gedanken verschwammen mit dem Blick. Seine Schulter streifte einen Flügelsaum, als die Geschwindigkeit die schließlich ausbleibende Gegenwehr ausnutzte und den Blondschopf vom Rücken seines Reittieres riss. Ein panisches Pfeifen durchschnitt die Luft, dann wurde es dunkel. Kapitel 2: Jetzt und los! ------------------------- Jemand rief beständig seinen Namen... Eine Frau. Mit einiger Mühe öffnete er die Augen und wunderte sich, warum die Welt sich so komisch bewegte, und warum alles so eng war. „Corin, Corin!“ „Verdammt, ich weiß, dass ich so heiße...“ Augenblicklich verstummte sie und lehnte sich irgendwo gegen; auf jeden Fall stand sie still. „Was ist eigentlich... Wo bin ich?“ Das Blinzeln brachte keine Antwort, alles schien weiß und grau. Munter tobte der Schneewind um sie herum und pustete dem Jungen dicke Flocken ins Gesicht. „Du wolltest ja nicht auf mich hören...“ Ein großer weißer Flügel mit brauner Fasanenmusterung schob sich schützend in sein Blickfeld und half der Erinnerung endlich auf die Sprünge. „... Kysha?“ Corin schaute über sich, nur um mit einer Grimasse den Schmerz in seinem steifen Nacken zu spüren. Ein zustimmendes Tröten kam aus der Kehle der stattlichen Greifin, deren vogelartige Vorderfüße und Beine ihn fest umschlungen und windsicher hielten. Deshalb war es so warm... Und deshalb hatte sie so getippelt – jedes Mal, wenn sie das Gleichgewicht verlor, musste sie die Löwenbeine, auf denen sie stand, neu justieren. „Wo sind wir?“ „Woher soll ich das wissen? Bin ich eine fliegende Karte?“ Corin schmiegte sich an die halb gefiederte, halb befellte Brust. „Wir müssen zurück...“ „Leider fällt mir nichts besseres ein, deshalb muss ich dir zustimmen. Sobald wir wieder in der Luft sind, werde ich den Weg wohl finden, aber du bleibst fein in meinen Krallen!“ Wie zur Bestätigung drückte sie ihn fest an sich, dann ging das Mischwesen aus Katze und Vogel leicht in die Hocke und stieß sich kraftvoll ab. Tatsächlich brauchten sie nicht mehr lange, das Gebirge zog längst unter den großen Schwingen vorbei, schon als es den Reiter entschärft hatte. Besagter war irgendwann auf dem Weg wieder weggedämmert, doch Kyshas Krallen hielten ihn sicher. Noch eine vernebelte Bergspitze passierten sie, dann tat sich ein graues Loch auf. Das Moseltal! Ein gedanklicher Ruf raste durch den Äther und fand zielsicher seinen Empfänger. Auch wenn dieser bis eben noch geschlafen hatte – sie war die Nacht hindurchgeflogen –, jetzt war er hellwach. Die Greifin lächelte innerlich, ließ sich sanft hinabfallen und glitt kunstvoll über die Dächer der „schönsten Stadt an der Mosel“ hinweg. Sie musste keine Acht auf Beobachter geben, es war früh, es war verschneit und bitterkalt – niemand würde jetzt draußen sein. Majestätisch ging der Katzenvogel nieder und landete mit kraftvollen Flügelschlägen genau austariert, wo sie hinwollte. Zakira kam mit wehendem schwarzen Mantel herangelaufen, er hatte sie bereits erwartet. Dreibeinig stand die Greifin tief im Schnee, die freie Kralle hielt den bewusstlosen Jungen an ihrer Brust. Erleichtert streckte sie ihrem Herren den Halberfrorenen entgegen und merkte nun erst, wie erschöpft auch sie war. Viele ununterbrochene Tage hatten an ihren Kräften gezehrt. Das Schwarzhaar flüsterte besorgt Corins Namen und schmiegte den Kopf an seinen, ehe er sich umwandte und eiligen Schrittes zum Portal ging, den Blondschopf schützend auf den Armen, fest an sich gedrückt. Kysha tapste ihm müde nach. Als sie mit einer Vogelkralle eine Hälfte des großen Holztores aufschob, spürte sie einen dankbaren Gedanken und pfiff leise fröhlich. Eine Art „Geschafft, endlich Daheim!“. Sich schwungvoll schüttelnd verteilte sie den Schnee von ihrem Körper noch in der halben Eingangshalle, trotz dass sie draußen stand, ehe die Greifin plötzlich schrumpfte und im Kleinformat ihrem Herrn folgte. Die Tür schloss sich sanft von selbst und sperrte die unwirtliche Kälte getrost aus. //Ich hatte landen wollen, dass wir eine Pause einlegen, aber...// Zakira schüttelte den Kopf und gebot ihr zu schweigen, seine Miene war undurchschaubar. Ihr Haupt etwas einziehend flatterte sie schuldbewusst neben ihm her, doch als sich ihre Blicke trafen, lächelte er warm. //Das ist nicht wichtig//, sandte er gedanklich zurück, //Ihr seid hier, beide in Sicherheit, und das zählt.// Offenkundig schien das Thema erledigt, ein Nachspiel oder weitere Ansprachen würden wohl nicht folgen. Eine zeitlang gingen sie stumm nebeneinander her, nur das rhythmische Klopfen der Schuhe des Schwarzhaares hallte im Korridor wider. Keine Menschenseele begegnete ihnen, alles schlief noch. Außer einem. Kysha wusste nicht genau, was sich mehr in den silbernen Augen fand: Wut oder Sorge? Scheinbar wusste der kupferblonde Adlige es auch nicht, darum schwieg er mit grimmigem Gesicht. Zakira schloss gekonnt mit dem Fuß hinter seinem Rücken die Tür und legte Corin sanft auf sein seit längerem verwaist gebliebenes Bett. Ein besorgter, hilfesuchender Blick brachte die Verteidigung seines Mitbewohners schließlich doch schnell zum Schmelzen und ließ Chris sich neben ihn am Bettrand niederknien. Fachmännische Handgriffe prüften Puls und Atmung des Bewusstlosen, ebenso die allgemeine Körpertemperatur. Kopfschüttelnd sah er zu Zakira, aber dieser hatte nur die Augen geschlossen und hielt Corins Rechte. Chris atmete leicht aus; in diesem Zustand tiefer Konzentration konnte man den Magieanwender nicht erreichen. Eigentlich lobenswert, solche Unerschütterlichkeit, viele strebten lange und erfolglos danach. Man sah förmlich, wie die Wärme und Kraft in den geschundenen Körper zurückkehrte, jedoch wusste Chris zu gut, warum sein Gefährte seine Hilfe ersucht hatte – nicht um der Anwendung willen, das konnte er sehr gut allein. Zakira öffnete blinzelnd die Augen und wirkte sichtlich erschöpft. Die hohe Aktivität, ungestörte Konzentration, forderte ihren Preis, ebenso wollte der Prinz kaum wissen, wie viel Energie er dem Kleinen zur Verfügung gestellt hatte. „Willst du dich noch mal hinlegen?“, fragte Chris sanft und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Das Schwarzhaar schüttelte nur knapp mit dem Kopf und erhob sich. Der Kupferblonde trat nah heran, stützte seinen Rücken, hielt ihn sicher an den Oberarmen. Zakira zitterte und wehrte sich letztlich doch nicht, als Chris ihn zum Bett hinüberzog und zum Setzen zwang. Fertig legte er lediglich die Linke vor die Augen und lehnte sich zurück an die Wand. „Gib’ mir nur einen Moment...“ „Du musst das nicht tun.“ Chris sah ihn scharf an. Eigentlich teilten sie stets körperlich alles Leid durch ihre Verbindung als Flügelgeleit, eine Art Seelenverwandschaft der besonderen Art, geschlossen durch einen Pakt, doch wie immer hielt er akribisch die Erschöpfung von ihm fern und verbrauchte nur noch mehr von der Restkraft, die ihm blieb. „Verletzungen gönn’ ich dir gern“, grinste der Angesprochene schwach, „Aber das hier muss nicht sein.“ „Deine Selbstlosigkeit bringt dich noch um.“ „Irgendwann.“ Zakira winkte ab. ~ * ~ Eine warme Berührung ließ das Schwarzhaar aufmerken. Sein Freund hatte ihn mit in den Essensaal geschleppt, doch wirklichen Hunger verspürte er keinen. Kysha war gefolgt und stupste ab und zu gegen seine Hand, wenn er wieder dabei war, wegzudösen. Es durfte gegen sieben sein, logischerweise fand sich noch niemand hier, nicht einmal Francois, der schwarze geflügelte Kater, der aus der Familienzucht Vincents’ Eltern stammte und – zufällig – nach einem begleiteten Einsatz nicht dorthin zurückgekehrt war. Chris hatte bereits mehrmals versucht, den Schwarzhaarigen zum Essen zu bewegen, aber ehe er schließlich aufgab, schickte er die kleine Greifin hinaus in den Turm, um Keira und Vincent zu wecken. Eben stach ihm leuchtend rotes Haar ins Auge und brachte irgendwie Erleichterung. „Guten Morgen, die Herrschaften.“ Entgegen der Erwartung war kein Zorn in ihrer Stimme, eher Ausgeglichenheit durch langen Schlaf. Fröhlich ließ sich Keira bei ihnen nieder. „So früh schon auf?“ „Mehr unfreiwillig“, erwiderte ihr Stiefbruder und nickte vielsagend zu Zakira hinüber, der den Anschein machte, nicht ganz anwesend zu sein. Keira blinzelte und legte ihm eine Hand auf die Schulter, woraufhin er leicht zusammenzuckte und sie anschaute. „Oh, verzeih, guten Morgen...“ Das Lächeln konnte über die Wackligkeit der Worte nicht hinwegtäuschen. „Was habt ihr angestellt?“ Plötzlich schien ihr etwas zu dämmern. „Warte mal, der Vogel... Corin ist zurück?“ „Gerade heute früh, keine Stunde her. Allerdings halb erfroren.“ Deutlich sprach die leise Wut aus Chris’ Worten. „Er kann nichts dafür, dass sein Wüstenblut den Schneewinter nicht verträgt!“, mischte Zakira sich energisch ein, knallte beim Aufstehen schwungvoll die Handflächen auf den Tisch. „Also tu’ nicht so, als wäre das Absicht!“ „Er hätte Pause machen und sich aufwärmen können, wenn er klug gewesen wäre.“ „Sicherlich, aber...“ „Hey, hey, hey“, ging Keira mit absteigender Stimme sofort dazwischen. „Beruhigt euch, Jungs. Der Kleine ist wieder da, fertig.“ „Nichts fertig, meine Liebe, Corin hat schließlich nicht nur sich, sondern auch Kysha gefährdet.“ „Die kann sehr gut auf sich aufpassen und hätte schon im letzten Moment eingelenkt!“ „Aber erst im letzten!“ Chris hatte sich gerade aufgesetzt und wurde ebenfalls lauter, blieb aber gefasst. „Mit dieser Art und Weise gefährdet der Junge uns alle, wenn es einmal darauf ankommt!“ „Wenn es um alle geht, wird er anders handeln!“ „Und wer garantiert das? Gewohnheiten lassen sich nicht einfach abschalten.“ Vollkommene Härte lag im Blick des Kupferblonden. „Ich weiß, dass du ihn nicht leiden kannst.“ Zakira zeigte mittlerweile fletschend wie ein Wolf die Zähne. „Das stimmt nicht, ich habe nur ein Problem mit seiner Handlungsweise. Und Sorge um alle, die damit in Mitleidenschaft gezogen werden könnten.“ „Streitet euch nicht“, quietschte die Greifin leise, doch niemand hörte den Neuankömmling. „Vergiss nicht, er ist im Gegensatz zu uns erst siebzehn...!“ „Alt genug!“ Chris schlug mit der Rechten auf die Tischplatte, dass das Besteck klirrte. „Er hat die Welt nie gesehen, niemand brachte ihm solche Dinge bei!“, hielt Zakira dagegen, „Und höre auf, so zu reden, wie ein Oberhaupt es zu tun hat!“ „Worum ge’t es...?“ Ohne ein weiteres Wort drehte das Schwarzhaar sich um und verließ mit wehendem Mantel den Saal, vorbei am fragend schauenden Vincent, der ihm besorgt nachblickte, als sein großer Bruder etwas unsicher schritt. Stille breitete sich im Raum aus. Der Franzose kam an den Tisch und setzte sich auf den nunmehr verwaisten Stuhl. Chris seufzte nur, massierte sich die Lider, ehe er seinen eigenen zurückschob und ohne Kommentar seinem Flügelgeleit nachging. Zumindest Keira erbarmte sich, dem Hinterbliebenen die Situation zu erklären. Er wusste genau, dass Chris recht hatte, dass Zakira verzweifelt nur Argumente aus der Luft griff, die nicht trugen. Er wusste es und sah nur verzweifelt aus einem der Burgfenster in den Innenhof. Müdigkeit nagte hartnäckig an seinem Kopf, doch der junge Mann ignorierte es. Draußen fiel leise der Schnee aus den grauweißen Wolken, ungestört vom Geschehen auf der Erde. „Wusste ich, dass du hier bist.“ Zakira blickte nicht auf, längst hatte er Chris’ Schritt erkannt gehabt. Unbeirrt fand sich dessen Hand auf seiner Schulter wieder. „Verzeih mir, dass ich...“ „Nein, verzeih -mir-. Du hast recht und ich lediglich nichts dagegen zu setzen. Wie heißt es doch, wer keine oder schlechte Argumente hat, wird laut.“ „Und wer sowieso angeschlagen ist ebenfalls.“ Chris legte behutsam die Arme um ihn. „Das ist keine Entschuldigung“, versuchte Zakira sich zu flüchten, aber sein Flügelgeleit piekte nur vielsagend mit dem Finger. Eine Weile schwiegen sie, dann machte der Schwarzhaarige sich sanft los und fixierte die silbernen Augen. „Gehe wenigstens du zurück, dass die anderen nicht allein sind.“ „Ich gehe nicht ohne dich.“ Ohne nennenswerte Gegenwehr seufzte Zakira nur und ließ sich erneut mitziehen. „Wo ward ihr eigentlich?“ Keira sah den kleinen Katzenvogel an, der genau die richtigen Plüschtiermaße hatte. Kysha schaute sie wie aus Hundeaugen an. „Irgendwo nordöstlich, ich glaube bei Rassel...“ „Du meinst sicher Kassel.“ Keira kicherte belustigt. „Äh, ja“, kam verlegen zurück, „Jedenfalls haben sich da ein paar Wölfe gedacht, Randale machen zu können, aber wir sollten nur überprüfen und beobachten.“ Die Rothaarige nickte. Wandlungsfähige, die ihre Kräfte austobten, das gab es leider häufiger. Überlegend hatte sie die Hand am Kinn und den zugehörigen Arm auf die Holzplatte gestützt. Als Schrittecho vom Eingangsportal klang, blickten die drei hinüber. Mittlerweile war längst verlautet worden – mit Kyshas Unterstützung –, was geschehen war, und Keira hatte schnell geschaltet, dass Chris unberührt blieb von Zakiras Aktionen. Aber das kannte sie ja mittlerweile gut genug. Sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen zurücklehnend, beobachtete die junge Frau stumm ihren Stiefbruder und ihren Verlobten. Der eine in seiner üblichen Jeans und T-shirt – heute hellblau –, unberührt von Jahreszeit und Wetter, der andere in seinem üblichen schwarzen Langmantel. Im Gegensatz zu dem Kleidungsstück für draußen war dieser natürlich nicht annähernd so dick. „Und was heißt das für uns?“ Ein lauerndes, böses Grinsen hing ihr im Gesicht, während sie weiterhin zu den Männern schaute. Kysha flötete. „Auftrag ausgeführt, Verdacht bestätigt. Ein fünf-Tier-starkes Rudel, dem einmal Einhalt geboten, eine deutliche Botschaft gesandt werden müsste.“ „Aber nicht für uns, das kann jemand anderes tun“, antwortete Chris, der locker an seinen Platz zurückkehrte. „Schade, und ich habe gerade Lust bekommen...“ Zakira schüttelte lächelnd den Kopf. Er hatte neben Vincent Platz genommen und machte sich nun doch endlich ans Frühstück. „Du bist mir eine, gestern hast du noch laut herumgemeckert.“ „Heißt auch nicht, dass ich jetzt Lust hätte, aber später...“ Sie schielte zu Chris, der nur resignierend seufzte. „Ich rufe ja schon durch.“ Den Rest des Tages verbrachten sie draußen im Schnee, in der Bibliothek oder im Zimmer der Jungs. Im Spaß und zur Erinnerung an alte Zeiten hatte Keira sie einmal Royal Suite genannt – ein Insider aus der Gymnasiumszeit vor vielen Jahren, wo es außer Chris und ihr keine Adligen gab –, aber längst traf das nicht mehr, da viele Schüler der Circle High aus oberen und obersten Schichten kamen. Sie sechs konnten es sich auch nur leisten, weil das Oberhaupt der Lupes en ailes so großzügig war und sämtliche Schulkosten übernahm, für eigene Clansmitglieder wie für die Golden Wings, aber auch für Corin, der keinem Clan angehörte. Dennoch besaß auch er ein Tier, das er durch Gene und Selbststudium erworben hatte. Normalerweise benötigte es einen Bund zwischen zwei Personen, egal welchen Geschlechts und welcher Beziehung sie zueinander standen, um es einem Magieanwender zu ermöglichen, seine Tiergestalt auszubilden. Die Letzte im Bunde, Maria, war mehr durch Zufall zu ihrer Gruppe gestoßen, als sie zwei Rottweiler in Frankreich jagten. Zu schnell für ihre Beine mussten die Wölfe aufgeben, doch ein schnell geschlossener Bund mit Vincent verlieh ihr Gepardengestalt, sodass die Verbrecher mühelos fielen. Nachdem diese auch etwas später zum Frühstück erschienen war, füllte sich allmählich der Saal und sie verzogen sich alsbald. Chris schaffte es zuletzt doch, seinen Seelenbruder ins Bett zu schaffen, nachdem dieser sich fast auf dem Weg zu ihren Quartieren lang gemacht hatte. Corin schlief noch bis zum nächsten Morgen, ehe er ebenfalls seine Version der Dinge zu Kyshas Bild beisteuerte. Zakira war dankbar, dass sein Flügelgeleit ihn nicht ins Kreuzfeuer jagte und die Sache ruhen ließ, aber er wusste gut genug, dass es beim nächsten Vorfall ordentlich knallen würde. Der Junge aus der Wüste hatte kaum Erfahrung trotz seiner siebzehn Jahre, was für das Oberhaupt der Golden Wings kein Grund zur Milderung war. Er sah dabei die Gefahr für alle, wenn einer aus der Gruppe nicht parierte. Doch nun Ruhe – es war Wochenende. Zakira genoss es, die nächsten Tage nur zur Schule zu gehen, nachmittags sich um die Aufgaben und das Lernen zu kümmern und anschließend Freizeit zu haben. Doch das Schwarzhaar merkte, dass nächtliche Aktivität ihm fehlte, es dauerte stets, bis er abends endlich einschlief. Obgleich ihm das nicht fremd war. So sehr er all das schätzte, der Wolfsblütige brauchte seinen Auslauf. Amüsiert sah er oft genug, dass es seinen Teamkollegen nicht anders ging. Letztendlich wanderte pünktlich am Freitag ein Brief ins Sekretariat, Antrag über Freistellung. Nur um einmal mehr die nette Dame zu treffen, die Zakira im Korridor abfing. Sie kümmerte sich immer darum, wann wer warum fehlte und dass Urlaub sowie Krankheit genau dokumentiert wurden. Genau so Aufträge und Einsätze von Schülern, die neben der Circle High noch ihren Kopf in der Welt riskierten. „Wie oft muss ich Ihnen noch sagen, dass Sie lediglich bescheid sagen sollen, wenn Sie auswärtig zu tun haben? Es braucht keinen Antrag, mündlich reicht sogar.“ Der junge Mann neigte knapp den Kopf. „Verzeiht die Mühe, Madame, ich halte mich an Ihr Wort.“ „Viel Erfolg für Ihren Auftrag.“ Sie verabschiedete sich und wuselte mit der gewohnten Eiligkeit zurück an ihren Platz. Es war also ausgemacht. Pünktlich Sonntag Abend würden sie sich auf den Weg machen – erneut endlich einmal mehr gemeinsam. Insgeheim war Zakira gespannt, letzte Zeit hatten nur Menschen auf seiner Liste gestanden, doch nun ging es an Wandlungsfähige. Herausforderung! Er grinste. Man hatte wahrlich Vorteile durch direkten Kontakt mit einem Oberhaupt. Was er jedoch nicht erwartet hätte, war Chris’ seltsamer Gesichtsausdruck, als sie sich unten in der Eingangshalle mit Sack und Pack trafen. Das Schwarzhaar hatte wieder einmal am längsten gebraucht und schließlich aufgegeben zu überlegen, ob er etwas vergessen hatte. Leicht verwirrt wanderte der Blick seiner dunkel smaragdgrünen Augen durch ihre Gruppe. Scheinbar wussten Vincent und Keira ebenfalls schon bescheid. „Was ist los? Habe ich etwas verpasst?“ Kysha flog trällernd auf seine Schulter. „Noch nicht“, erwiderte der Kupferblonde trocken. Vincent piekte ihn und lächelte auf diese fröhliche Art, wenn sie an einen neuen Ort gingen – oder... Zakiras Augen weiteten sich. „Nee, oder?“ „Doch.“ „Wir bekommen einen Neuen!“ Kapitel 3: Neublut ------------------ Maria war wohl am aufgeregtesten von allen. Sie summte herum, wenn es still war und redete viel zu schnell, wenn sie sprachen. Mittlerweile war aber auch Zakira sehr gespannt und sah draußen mit leichter Ungeduld die Mosel vorbeiziehen. Im Knotenpunkt Koblenz würden die sechs den anderen am Bahnhof treffen und erst einmal bei ihm unterkommen, um am Morgen früh und ausgeruht zu starten. „Also wohnt er in Koblenz? Oder wie oder was?“ Das Mädchen mit den braun-orangen Haaren blinzelte freudig in die Runde. Spätestens seit sie wusste, dass es ein „junger Mann“ war, wartete sie begierig, ihn kennen zu lernen. „Scheint so, oder er kommt irgendwie anders unter.“ Zakira zuckte nur mit den Schultern. „Freundlicherweise hat man uns nicht einmal mitgeteilt, wie der Typ überhaupt aussieht und wonach wir demnach suchen müssen.“ Chris klang stark genervt. „Er würde uns erkennen und das reiche aus. Na wunderbar.“ „Nur die Ruhe, Brüderchen, er wird uns sicher nicht brutal überfallen.“ Die Rothaarige klopfte ihm auf die Schulter, doch seine Miene blieb dieselbe. „Sicher?“ Die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme schnitt eiskalt durch das Zugabteil und wurde von tiefer Stille beantwortet. Es kam ihm nicht so vor, als hätten sie ihre verschneite Heimat verlassen, denn auch nach der Stunde Zugfahrt begrüßte sie wie immer ein munteres Schneegestöber. „Und bei dem Wetter noch durch die Straßen...“, murrte Zakiras Gefährte halblaut und erhob sich. Sie holten die Rucksäcke herunter und machten sich auf den Weg nach draußen. Zwar stiegen noch ein paar aus, doch insgesamt wirkte der Bahnhof relativ tot – kein Wunder zu dieser späten Stunde. Spätestens jetzt stellten sich auch Zakiras imaginäre Wolfsohren auf, seine Sinne schärften sich, als wären sie einmal mehr in Cochems nächtliche Straßen zurückgekehrt. Die Schneedecke auf dem Bahnsteig dämpfte ihre Schritte, der schwarze Langmantel flatterte geräuschvoll im Wind. Sie wanderten durch die Halle zum Ausgang und gewahrten das gleiche Bild – keine Menschenseele zu sehen. Aufmerksam wischten die Augen umher, man lauschte auf Bewegung, die nicht erfolgte. Bis Kysha ruckartig den Kopf hob. Zakira folgte ihrem Blick. „Was ist los, meine Kleine? Hast du ihn gefunden?“ Die flüsternde Frage war eher rhetorisch. Seine Kameraden strahlten ebenso Erwartungshaltung aus. Ein Rauschen erfüllte die Luft, doch ehe jemand reagieren konnte, stoppten der Schneefall und der Wind. „Einen wunderschönen guten Abend. Oder eher Nacht, wir haben ja schon fortgeschrittene Zeit.“ Eine angenehme, etwas dunklere Stimme strich um ihre Ohren. Mit gemächlichem Ruck federten Krallenfüße und Löwenpranken nacheinander auf den verschneiten Asphalt und Zakira blinzelte die Schneeflocken aus seinen Augen, als er aufsah. Er war gebannt von den rotbraunen Federflügeln, die schützend um sie lagen und den ausbleibenden, schneidenden Eiswind erklärten. Der fremdländische Akzent verriet gleich die nichtdeutsche Herkunft ihres offenbar neuen Kollegen. Niemand anderes konnte das sein. Aber ein Greif...? „Meine Räumlichkeiten befinden sich gleich in der Nähe, bitte folgt mir.“ Als die Schwingen sich zurückzogen, fuhr der Sturm ein wenig kräftiger in ihre Kleidung. Der ungewohnte, unerwartete Anblick ließ sie gebannt hinterher starren. Das stattliche rotbraune Tier mit verschneitem Fell und weißen Beinen harrte im Gehen aus. Er schien es zu genießen und ließ den Moment stehen, dann nickte er mit dem Kopf in eine Richtung, wandte sich ab und schritt majestätisch davon. Die Muskeln und Sehnen zeichneten sich bei jeder Bewegung an den trainierten Beinen und Flanken. Das durfte noch interessant werden, dachte das Schwarzhaar bei sich und konnte sich eines leisen Lächelns nicht erwehren. Beinahe ehrfürchtig folgte er ihm. Elegant schob der Greif auf den Hinterbeinen stehend das große Holzportal zu, das in den Hinterhof führte, in dem sie nun gelandet waren. Er ließ sich nicht auf alle Viere zurückfallen, sondern vollführte gleich die Wandlung und drehte sich in menschlicher Gestalt lächelnd zu ihnen um. „Gestatten, Jarron.“ Der junge Mann verneigte sich und hatte die mittellangen, dunklen Haare halb im Gesicht, die ihm sonst etwa bis zur Brustmitte reichten. Ein Hochzopf zierte seinen Hinterkopf. Doch viel gebannter erwiderte Zakira den Blick dieser laubgrünen Augen mit dem Goldschimmer. Oder war es nur das leichte Flackern des Lichts? „Und ihr seid...?“ „Wölfin Keira, die Gepardendame Maria, der kleine große Wicht hier ist Vincent, unsere Nebelkrähe...“ Chris hatte gleich das Wort ergriffen. „Mein Flügelgeleit Zakira, Wolf von Beruf, das ist Corin. Und ich bin – “ „Chris Bloodshadow.“ Jarron grinste und offenbarte erstaunlich ausgeprägte Eckzähne. „Das Oberhaupt der Golden Wings, ich fühle mich wahrhaft geehrt.“ Noch einmal verneigte er sich, aber Zakira überlegte, ob er spöttische Ironie vernommen hatte. Chris verengte die Augen, erwiderte aber nichts. Eine plötzliche Feindseligkeit lag in der Luft und das erste und einzige, was Zakira einfiel, war, dazwischen zu springen. „Gemach! Ich weiß nicht, wie ihr euch kennt, aber ich dulde hier keinen Streit.“ „Wir kennen uns nicht, und keine Sorge...“ „Das regeln wir, wenn ich euch ins Warme gescheucht habe.“ Jarron klatschte in die Hände und machte eine passende Geste zu seinem „Husch husch!“. Zakira konnte nur blinzeln, dann wurde er sanft Richtung Hof geschoben. Leise fiel der Schnee auf das Kopfsteinpflaster und verdeckte alles unter seinem Deckmantel. Der Winter hatte seinen festen Griff um die ganze Region gezogen und würde wohl noch lange warten, bevor er sich verzog. Kysha hüpfte lustig herum und freute sich über die vielen Krallen- und Pfotenabdrücke, die sie hinterließ. Ihr Herr konnte mittlerweile verstehen, warum die Greifin zuvor so auffällig reagiert hatte – bei jemandem von ihrer Sorte. Eben jener beäugte sie auch liebevoll forschend, sah jedoch auf, als er Zakiras Blick bemerkte. Das aufkommende Lächeln erwiderte Jarron freundlich, aber insgeheim konnte Zakira ihn absolut nicht einschätzen. „Ein hübsches Tier. Adoption?“ „Ehrlich gesagt... Weiß ich das gar nicht genau.“ „Aah.“ Er nickte verstehend. „Traumbekanntschaft. Das machen die wahrlich gerne, und zack, plötzlich sind sie da und du zweifelst an deinem Verstand.“ „Ähm... Ja, so ungefähr.“ Sein Gegenüber grinste wieder und beschleunigte den Schritt, um die Tür vor ihnen zu öffnen und sie hereinzubitten. „Willkommen in meinem bescheidenen Heim!“ Mit ausladender Geste beschrieb der Greifenmann einen weiten Bogen und konnte das Panorama, das sich ihnen bot, nicht besser unterstreichen. Eine nächtliche Canyonlandschaft lag auf der anderen Seite der Schwelle. Direkt hinter dem „Eingangs“plateau verschwand der Boden scharf nach unten. „Das... Das ist...“ Maria wusste nicht, ob sie jemanden auffordern sollte, sie zu kneifen. Zakira kannte diese Eigenart von Magieanwendern – Vergrößerung von Räumen und beliebige Gestaltung – längst von seinem Englandausflug zu den Bloodshadows nach Hause und war nicht ganz so überrascht. Lächelnd schloss Jarron hinter ihnen die Tür, versiegelte sie magisch wie zuvor – dass nicht aus Versehen normale Menschen hier landeten und vielleicht noch abstürzten – und bedeutete ihnen zu folgen. Ein schmaler Pfad schlängelte sich herab und endete weit vorn unten an einer Höhle. Der Wind säuselte sein Lied, während er durch die Schluchten und Felsen fegte, sanft aber bestimmt. Man konnte nicht erahnen, wo die Landschaft endete, genau so wenig, wo die Decke begann. Einen offenen Himmel hatte das hier bestimmt nicht, die Begrenzungen eines Raumes musste man schon einhalten. Die Gepardin kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, schaute beständig um sich, damit sie nichts verpasste. „Du bist noch nicht lange unter unsereins, nicht wahr?“ Sie blickte zu ihrem Gastgeber. „Nee, leider nicht. Aber ich bin froh, dass ich überhaupt die Chance bekommen habe, schließlich war ich nicht von Anfang an dabei.“ „Oh, ein Neumagier? Interessant. Ich habe davon gehört... Nunja, einerlei. Kann ich euch noch etwas anbieten?“ „Nur ein Gespräch.“ Chris verzog keine Miene. „Kein Problem.“ Gekonnt hüpfte er den Pass entlang, die anderen gingen nur vorsichtig voran, um nicht dem Abgrund direkt links von ihnen Hallo zu sagen. Zur Rechten gab eine schroffe Felswand zumindest etwas Halt. Zakira bewunderte ihren Führer irgendwie, erkannte er durch Kysha doch das Greifische in seiner Art, wenn auch ganz andere Aspekte – wie eben kein Tier und kein Mensch dem anderen gleicht. Doch jetzt erst sah er deutlich, wie viel Menschliches Kysha doch an sich hatte. Nun war sie schon einige Jahre bei ihm und es fühlte sich gerade an, als würde er sie kaum kennen. Nach einer halben Ewigkeit, so kam es ihm vor, erreichten sie ihr Ziel. Weiche Felle schmückten die Steinbänke, ein kleines Lagerfeuer warf flackernd sein Lichtspiel an die Sandsteinwände. Zakira blieb draußen stehen, während die anderen sich dankbar einen Platz suchten. Corin war am Klippenrand geblieben und schaute sehnsüchtig in die Weite der Landschaft. „Na, woran denkst du? Heimweh? Flügeljucken?“ Der Wüstengeborene legte seine Hand auf die auf seiner Schulter, ein wehmütiger Blick in seiner Mimik. „Vielleicht...“ „Na los.“ Das Schwarzhaar drückte ihm leicht gegen das Schulterblatt. „Flieg’, kleiner Vogel!“ „Aber...“ Er wartete noch einen Moment, wie zur Vorbereitung, und stieß den Goldschopf über den Rand. Ein erschrockener Schrei kam aus der Höhle in seinem Rücken, doch er blickte nur hinterher. Zakira kannte die Tierreflexe gut genug, wie stark sie doch verankert waren. Maria schämte sich ihrer ungewollten Reaktion bereits, sie wusste es ebenso. Beinahe im selben Augenblick erhob sich ein weißer Vogel mit bizarrem Schrei majestätisch über den Rand und stieg in den Himmel. Unerwartet schreckte der Stehengebliebene zurück, als Jarron plötzlich an ihm vorbeisauste und im Hechtsprung folgte, den typischen markerschütternden Greifenschrei durch die Nacht schickend. Kysha hüpfte flötend hinterher. Vergnügt sah er zu, wie die beiden unterschiedlichst großen Tiere Katz’ und Maus spielten, sich fröhlich jagten und ihre Stimmen zu einem scheinbar wirren, dennoch schönen Gesang vereinten. „Fliegen müsste man können.“ Keira war an seine Seite getreten und lehnte sich an ihn. „Aber Landjagden sind auch etwas Wunderbares.“ „Es hat alles seine Pro’s und Für’s!“ Zakira kicherte verhalten mit der Hand vor dem Mund. „Keira, das war dasselbe.“ „Ach, verdammtes Deutsch... Du weißt ja, was ich meine!“ Sie winkte ab und lachte. Manchmal passierten der Engländerin solche Sprachfehler noch, zur Belustigung aller, was sie genugtuend hinnahm. So konnte sie immer wieder verfahrene Situationen durch Lachen auflockern. Auch die anderen drei kamen heran und beobachteten das nächtliche Schauspiel im Mondlicht. Vincent ging unwillkürlich einen Schritt rückwärts, als der Grinseblick seines großen Bruders ihn traf. „Du wirst doch nischt...“ „Keine Sorge. Ich rate dir nur, mitzumachen und deine Flügel zu genießen. Es sieht nach Spaß aus.“ Das Schwarzhaar versteckte den Wehmut in seiner Stimme, dass er ebenso gern dort draußen wäre. Vincent makaber von der Klippe zu stoßen hätte er nicht gewagt, bei dem abenteuerlustigen Corin, der sogar das Meer unsicher machte, ging das ohne schlechtes Gewissen. Sein petit-frère zögerte, als er zu seinen fliegenden Kameraden schaute, doch dann wagte er sich an den Rand des Plateaus und nahm die Nebelkrähengestalt an, um im nächsten Moment zu den anderen zu stoßen. Mit dem stumpfen Krächzen hörte sich das Gezeter und Gekeife noch ulkiger an. Zakira suchte Chris’ Blick, der aber gleich die Hände hob und sich abwandt. „Denke nicht einmal daran. Das muss ich mir nicht geben.“ „Warum bist du so abweisend, seit wir Jarron getroffen haben? Der Chris, den ich zu Fröhlichkeit und Entspannt sein erzogen habe, ist das nicht.“ „Nein, weil ich als Oberhaupt die Situation stets im Auge haben muss, schließlich muss jemand auch auf euch Chaoten – und eure Umgebung – Acht geben.“ Betreten blickte das Schwarzhaar zu Boden. Ein paar Bilder von Erinnerungen streiften kurz durch seinen Kopf; Aufträge, wo Passanten in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Aber dass sein Flügelgeleit in der Arbeit ernst wurde und sehr akkurat vorging, kannte er ja doch, nur nicht so stark ausgeprägt. „Verzeih mir.“ „Schon gut.“ Schweigend warteten sie, bis die Spielkinder wieder „auf den Teppich“, auf festen Boden kamen, und legten sich dann allesamt in den kuscheligen Fellen schlafen, ohne noch großartig zu reden. ~ * ~ Als Zakira erwachte, dachte er zuerst schreckhaft, er habe verschlafen. Das wärmende Feuer war erneut gefüttert worden und knisterte fröhlich vor sich hin, und als ein kurzer starker Lufthauch in die Höhle zog, merkte der Wolfsblütige erst, wie kalt es ohne die Flammen geworden wäre, trotz des weichen Fells. Die Eiseskälte einer Wüstennacht. Blinzelnd vertrieb der junge Mann den Rest Müdigkeit aus den Augen, während er sich aufsetzte. //Kannst du nicht mehr schlafen?// Kysha, die kleine Greifin an seiner Seite, noch halb versteckt, hob schlaftrunken den Kopf. Statt einer Antwort sah ihr Herr sich um. Der Horizont hinter dem Canyon war bereits hell gefärbt, die Sonne müsste bald aufgehen; alle anderen schliefen noch friedlich, bis auf... „Guten Morgen, Zakira Wolfsblut.“ Kaum hatte der Angesprochene sich erneut zum Vorplateau gedreht, fegte ihm ein kräftiger Windstoß ins Gesicht und durch die Haare, als ein großer rotbrauner Greif die Krallen in den Sandstein schlug und die gewaltigen Federflügel anzog. Jetzt, im Halbhellen, konnte man mehr erkennen als in der schneesturmtrüben Nacht. Erste Sonnenstrahlen glänzten golden auf den weißen Löwenbeinen, die Flanken trugen bereits die Körperfarbe, ebenso wie Kopf- und Halsgefieder. Die Federn auf der Flügelunterseite und die an Hals und Brust trugen weiße Spitzen mit zwei braunen Streifen dazwischen. Aus den leicht braunorange umrahmten Augen blickte die laubgrüne Iris hervor, feine Goldfäden schimmerten im tanzenden Licht aus der Höhle. Um das Ganze zu komplettieren, besaß der schmutzig gelbe Schnabel eine schwarze Spitze, der Puschel am Schweif war ebenfalls tiefschwarz. Die feinen Federohren – natürlich nur zum Schmuck, hören taten diese Tiere wie Vögel – bewegten sich etwas und mit einem leichten Gurren in der Kehle kam er sanften Schrittes näher, sodass Zakira ihm sogar eine Hand auf die Nase legen konnte. Allerdings zögerte der sichtlich. „Fürchtest du dich etwa?“ Etwas Rhetorisches lag in der angenehmen, weichen Stimme. Bedächtig hob das Schwarzhaar doch eine Hand und der Greif stieß freudig mit dem Schnabel dagegen, der Löwenschweif wedelte majestätisch langsam. „Hast du deine Freundin noch nie reiten dürfen?“ „Nun, doch, aber... Es ist nicht unbedingt die Regel. Ehrlich gesagt vergesse ich manchmal, was sie ist, weil nur ein kleines Plüschwollknäuel ständig an unserer Seite ist.“ Jarron senkte den Kopf etwas. „Verstehe... Sie muss ganz schön gefangen sein, wenn sie sich nie entfalten kann.“ Wie ein Stich trafen die Worte, ließen Zakira die Lider schließen, betreten und beschämt zur Seite blicken. Erschrocken zuckte er zurück, als der warme befiederte Kopf sich an seinen legte. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte und verharrte still. Der Greif gurrte leise kehlig. „... Sitz’ auf.“ „Äh, was?!“ Er hielt sich die Hand vor und hoffte, mit dem überraschten Ausruf keinen geweckt zu haben. Ohne ein weiteres Wort drehte sein Gegenüber sich nur zur Seite und zuckte knapp mit den Schwingen. Mit zusammengebissenen Zähnen näherte Zakira sich ihm und legte die Rechte an den ihm zugewandten Flügel, überlegte, wie er am besten auf seinen Rücken kam. Kysha hatte den Flügel immer nach hinten gestreckt und sich hingelegt, dass er problemlos zwischen Hals und Schulter hinaufkam, doch einen wilden, fremden Greifen konnte er wohl kaum darum bitten. Natürlich spürte Jarron die Unsicherheit, aber er schwieg, gab keine Tipps, machte keinerlei Anstalten, irgendwie behilflich zu sein; der rotbraune Greif bewegte sich keinen Zentimeter. Schließlich presste Zakira einfach die Lippen zusammen und verließ sich auf sein intuitives Gefühl. Er ging in die Knie und stemmte sich kraftvoll mit den Händen auf, schwang das linke Bein in einer Bewegung über Flügel und Rücken, sodass er fast durch den Schwung zur anderen Seite wieder einen Abgang machte. Erst einmal tief durchatmend griffen die Hände schon automatisch in die Federn am Halsrücken. Nichts bewegte sich. Das Schwarzhaar wollte gerade überlegen, ob er etwas falsch gemacht hatte, da setzte das Tier ohne Vorwarnung zum Sprung an, ging in die Knie und hüpfte aus dem Stand zur Seite über den Klippenrand. Doch entgegen aller Erwartung und Überraschung hatte Zakira sich weder erschreckt, noch verspürte er Angst im Angesicht des fernen Bodens vor ihm – Jarron machte keine Anstalten, den senkrechten Sturzflug abzufangen. Und irgendwann kam der Moment, dass es Zakira tatsächlich Spaß machte. Obwohl die Schwerkraft an ihm zerrte und die Fliehkraft ihn gleichzeitig über Jarrons Kruppe reißen wollte, hielt er sich eisern. Scharf wechselte der Flieger die Richtung und glitt in der Waagerechten mit ausgebreiteten Schwingen über den tiefen Abgrund. Furchtlos wie in Ekstase nahm Zakira es sich einfach heraus, richtete sich vom weichen Rücken auf, streckte beide Hände von sich und jubelte laut in den schneidenden Morgenwind. Am Horizont ging die Sonne auf. //Ich wusste doch, dass du ein Reiter bist! Ein verdammt leidenschaftlicher, will ich meinen.// Der junge Mann blinzelte, nur kurz überrascht. //Und du beherrscht Telepathie.// //Ganz recht! Festhalten!// Kaum hatte er die Warnung ausgesandt, legte der Greif sich schon seitwärts und verfiel in den Sturzflug. Zakiras Hände fanden sich schnell wieder an dessen Hals, er legte sich flach zwischen dessen Schultern und fühlte förmlich das Adrenalin durch seine Adern rasen. //Mir ist etwas entgangen//, stellte er nur fest. Sein Gefährte schmunzelte und flog in weiter Kurve zum Plateau zurück. Ein lautes Huch! begrüßte sie. Elegant und fließend landete Jarron vor der Höhle. Während er die Flügel anzog und sortierte, gurrte er fröhlich. Ihre Kollegen saßen gemütlich um das Feuer. „Ihr seid mal wieder auf den Beinen, bevor die Maus die Schlange beißt, was?“ Keira grinste. Maria lächelte wortlos, nachdem sie sich eben geräuschvoll umgewandt hatte. Chris hingegen, der die Hand auf ihrer Schulter hatte und stand, hatte diesen vielsagenden Es-gibt-Neuigkeiten-Blick, doch ob gut oder schlecht, war erst einmal nicht ersichtlich. Der Mantelträger saß kraftvoll ab, fing sich gekonnt auf dem Boden und richtete sich auf, die Schultern durchgedrückt. Seine Greifengefährtin flatterte heran und in seine Arme. Sie brauchte nicht um Streicheleinheiten bitten, die kamen von ganz allein dabei. Zufriedenes Gurren legte sich zwischen das Flammenknistern und den leise heulenden Wind. Ohne Vorwarnung fächerte sich eine der Schwingen Jarrons auf und stupste dem ernsten Adligen einfach fast ins Gesicht. „Guck’ nicht so.“ Er ignorierte den Neuen gekonnt und winkte die anderen zu sich. „Kommt beisammen. Das gilt auch für dich, Jarron.“ „Oje, und ich dachte, ich müsste mich keinem Anführer mehr unterwerfen...“ Zakira suchte Chris’ Blick, der langsam ausatmete und kurz die Augen schloss, um ruhig zu bleiben. „Folgendes: Unsere Ziele treiben sich vor allem abends und nachts frei herum, tagsüber sind sie normale Menschen, vielleicht sogar schlichte arbeitende Bevölkerung. Nachdem wir gleich uns von unserem netten Kollegen“, seine silbernen Augen hätten den Greifen genau so gut töten können, „durch die Stadt haben bringen lassen, um Frühstück einzunehmen, wird nach Anhaltspunkten gesucht. Ich möchte die Geschichte schnell über die Bühne haben. Bestenfalls sind wir morgen wieder Zuhause.“ „Hast du es eilig, da hinzukommen?“ Jetzt sah der Kupferblonde den Greifen doch an. „Nein, aber ich bin bedacht darauf, möglichst wenig Aufsehen zu erregen. Bei dieser Idiotenbande hier passiert das viel zu schnell, wenn alle auf einem Fleck sind.“ Sein Flügelgeleit kicherte leise, erwiderte nichts, Keira schaute nicht einmal bekümmert. „Dann los, worauf warten wir? Hop hop.“ Mit einem Nicken wandelte Jarron zurück, löschte das Feuer und führte sie den engen Klippenweg zurück in den Winter. ~ * ~ Stumpfes Knarzen verhallte leise bei jedem Schritt, der in den Schnee gesetzt wurde. Zakira schaute sich bedächtig um, Konzentration und Ernst beherrschten seine Gedanken. Mehr unbewusst fuhr die Hand hoch zur Schulter, in weiche Federn. Schnabelklappern war alles, was die Krähe verlauten ließ. „Wir sollten uns aufteilen“, hatte das Schwarzhaar beim Frühstück rasch vorgeschlagen. Zuerst war sein Flügelgeleit nicht ganz so begeistert davon, willigte letztlich aber doch ein. Zum Glück hatte er zuvor den jungen Mann noch überreden können, gut zu essen, bevor der völlig angespannt schon aufbrach und die anderen zurückließ. Der eisige Wind brach sich an dickem Stoff, wurde größtenteils ausgesperrt von wärmendem Fell. Der Schneefall ebbte langsam ab und bald war die Wolkendecke so löchrig, dass die Morgensonne hindurch schaute. Ihre liebevollen Strahlen wischten über Zakiras Wangen, der sich von ihr leiten ließ und durch die ausgestorbenen Straßen Koblenz’ streifte. Viele Gedanken irrten durch seinen Geist, während er umhersah und jede Bewegung wahrnahm, sei es ein vereinzelter Passant oder nur eine streunende Katze. „Was glaubst du, wird uns erwarten?“ Im Gleichtakt wippte die Krähe auf seiner Schulter mit, um seine Schritte auszugleichen. Diese Frage hatte er schon oft gehört, jedes Mal, wenn sein Begleiter nicht genau einschätzen konnte, was auf sie zukam. „Nischts, was wir nischt schaffen.“ Das Krächzen hallte still von den Häuserwänden wider. Der Magier lächelte nur. Schweigend zogen die Stunden vorbei. Die Glocken einer nahen Kirche klingelten zum Mittag. Wann waren sie aufgestanden? Kraftvollen Schrittes betrat das Schwarzhaar eine Bücherei in der Innenstadt und holte sich ein beliebiges Buch von irgendwo, setzte sich in die Leseecke und beobachtete aber statt der schwarzen Schrift nur die Leute im Augenwinkel, die hier herumliefen. Manch einer erwiderte seinen Blick nur kurz, wenn dessen Augen über die Krähe wischten. Es war ungesagt klar, wen man vor sich hatte, denn welcher normale Mensch rannte schon mit einem Vogel auf der Schulter in der heutigen Zeit herum? Rückblende. Was hatte er erreicht? Außer der Inspektion der inneren Stadtviertel und der Leute, die hier lebten und arbeiteten – gar nichts. Aber das machte nichts. „Schönes Wetter heute, wah? Hat sich etwas gebessert seit gestern.“ Er ließ sich seine Überraschung nicht anmerken, schaute nur auf und lächelte dem Mann neutral entgegen, der sich anbei in einen der Sessel setzte. Es bedurfte keiner Worte, um die Miene Zakiras mit dem „Was willst du?“ auszudrücken oder zu unterstreichen. Der Unbekannte starrte ihn erwartungsvoll an, freundlich, aber bestimmt. Da schien keine Auskunft zu kommen. Stattdessen beugte er sich vor und identifizierte das Werk in des Schwarzhaars Hand. „Ein Buch über menschliche Anatomie? Nicht gerade das, was man sich so normal zum Lesen holt, oder?“ Zakira klappte es zu. „Was willst du?“ „Na na, nicht so unwirsch. Ich denke, ich weiß, wen du suchst.“ „Ach, denkst du das? Wen suche ich denn?“ Erst jetzt nahm er ihn einmal näher unter die Lupe. Gepflegtes Äußeres, schwarze Hose, Lederjacke – und ohne Zweifel wusste der Kerl, dass der, den er auf gut Glück angequatscht hatte, kein einfacher Mensch war. „Wahrscheinlich das gleiche wie dieser junge Typ, den ich heute Vormittag von der Straße gefischt habe. Er war nicht sehr redefreudig, aber er hat mir mit viel Elan dein Aussehen beschrieben.“ Na klar, dachte Zakira, und ich bin der Weihnachtsmann. „Was hat der Junge denn gesucht?“ Der Fremde stand auf und verließ wortlos das Geschäft, noch einen Abschied auf den Lippen zur Verkäuferin, die sich nichts weiter dabei dachte und den nächsten abkassierte. „Ob das Bluff war?“, krächzte Vincent leise. Sein Gefährte zog nachdenklich die Brauen zusammen und klappte schließlich das Anatomiebuch wieder auf. „Möglicherweise. Lassen wir es darauf ankommen. So wie ich aussehe, könnte ich mit vielen jungen Typen befreundet sein.“ „Warum aber sollte er einen Magier einfach auf die Art und Weise anspreschen, wenn er damit nischts bezwecken wollte?“ „Vielleicht will er ihn verarschen oder einfach aus der Reserve locken, um ihn selbst abzuschleppen.“ Die Nebelkrähe schaute wachsam umher. „Vielleicht.“ Schwungvoll preschte eine Gestalt durch die enge Gasse, drückte sich rücklings sofort an die Ecke und lugte knapp herum. Jemand folgte, die Linke im Anschlag, bereit, Magie zu wirken. Sie bedachte ihn eines fragenden Blickes, er schüttelte nur knapp den Kopf. Silberne Augen klebten an zwei Männern, die sich lautstark unterhaltend die Straße hinab bewegten. Chris hatte sie auffälligerweise an den Wegen am Rheinufer entdeckt und nun verfolgten er und seine Gefährtin die beiden schon eine ganze Weile. Die Vermutung lag nahe, dass sie zwei von den Wölfen waren. Streckenweise war die Jagd gar nicht so leicht, denn sie hatten auch als Menschen verdammt gute Sinne und einmal wäre das Oberhaupt der Golden Wings beinahe in die Witterung des einen hineingekracht. Glücklicherweise hatte er genug Erfahrung durch seine Stiefschwester Keira, die ja auch Wolfsgestalt besaß, und wusste, wie das aussah, wenn ein solcher etwas mit seiner Nase oder seinen Ohren aufschnappte. „Ganz langsam...“, flüsterte er beinahe unhörbar, trat in passendem Moment hinaus auf das Pflaster und mischte sich mit unter die Menschen. Wenigstens ein paar liefen jetzt draußen herum. Nahtlos fing er ein banales Gespräch mit der Frau an seiner Seite an und lachte herzlich, als sie von ihren verpatzten Prüfungen erzählte und was für dumme Fehler sie gemacht hatte. Wind ließ die dunkelgrüne Jacke flattern, die den Kupferblonden vor Kälte schützte. Lässig hatte er die Hände in die Hosentaschen gesteckt und schlenderte wie ein normaler Schüler oder Auszubildender in der Mittagspause weiter. Dabei ließ er ihre beiden Ziele niemals aus den Augen. „Was meinst du, ob sie uns die Ergebnisse verraten, bevor die Prüfungen fertig sind? Also dass wir wissen, ...“ „Möglicherweise, aber darauf würde ich mich nicht verlassen, schon lange nicht mehr.“ Maria streckte sich und zupfte ihren braunen Anorak mit dem Fellkragen wieder zurecht. „Ist ja doof. Und was machen wir jetzt?“ „Das gleiche wie immer“, grinste er und bog unauffällig in eine andere Seitengasse ab. Sie war eng, aber auch von normalen Bürgern benutzt. Jemand kam ihnen entgegen. Die beiden vermutlichen Wölfe aus dem Rudel, das sie finden sollten, waren mittlerweile still geworden und spazierten gemütlich voran. Sie waren achtlos geworden und somit wurde die weitere Verfolgung ein bisschen leichter. Glockenschlag verkündete eine weitere vergangene Stunde und Chris sah seufzend auf. Wie lange wollten die noch herumwandern? Das wurde wohl nerviger, als es anfangs den Anschein gemacht hatte. Aber mittlerweile war er ja einiges gewohnt. An einer Ecke auf einen offenen Platz schließlich zog er Maria einfach beiseite und drückte sie dezent an sich, einen Kuss auf ihre Lippen setzend. „Wir kreisen sie ein“, flüsterte er an ihrem Ohr, „Und dann setzen wir sie einfach fest. Das bringt so alles nichts.“ „In Ordnung. Sei vorsichtig.“ Sie strich ihm nochmals über die Wange und erntete sanfte, freundliche Miene. Dann wandte er sich wortlos um und verschwand. Das Eisblau wachsamer Augen folgte dem Adligen nicht mehr lange nach. Ein Lächeln wischte über kalte Lippen, die Wärme des Kusses verlor sich in der Winterkälte. „Also, wen jagen wir zuerst? Diesen Bastard von der Tankstelle oder den Idioten, der dich neulich in der Innenstadt zur Sau gemacht hat?“ Chris lehnte sich geräuschlos in den Schatten eines Hausaufgangs. Endlich waren die beiden einmal stehen geblieben. Hoffentlich hatte sich seine Gefährtin nicht zu weit entfernt, um eventuell gleich mit zuzuschlagen. „Aber zuerst...“ Einer drehte sich um. Der Kupferblonde hielt den Atem an. „Mir war so, als wäre irgendeine Made uns nachgekrochen.“ „Ach, deshalb bist du so still geworden. Ich hätte es wissen müssen.“ Verdammt! Der junge Mann wandte sich leicht Richtung Tür, die Hand schon nach dem Griff langend. Selbst wenn es ihm möglich gewesen wäre, sich in Unsichtbarkeit zu weben, es war zu spät und vor allem wäre es spürbar gewesen. Kaum schwang das schwere Holz auf, schrie ihm ein HALT! hinterher, doch er rannte nur durch den dunklen Flur und um die mittig liegende Treppe herum. Ein Hinterausgang wäre jetzt klasse – und da war er. Dumpfes Geräusch vermittelte Chris’ rasantes Stoppen direkt am Portal, die hektischen Schritte des Beschatteten holten ihn bald ein. Dass das jetzt auch passieren musste, war doch fast klar gewesen. Jetzt, wo er allein war. „Hab’ ich dich...!“ In letzter Sekunde entließ ihn die Tür tatsächlich in eine andere Straße und gerade so flüchtete er vor dem Handgriff an seinem Arm. Stolpernd kam er zum Liegen, rappelte sich auf, wandte sich um und ging in Angriffshaltung, die Rechte leicht zurückgezogen und kleine Flammen darin. „Wage es...“ Sein Gegenüber lachte nur. „Ist das alles? Du rennst uns ewig nach, statt uns gleich auszuräuchern, und lässt dich jetzt so leicht fangen?“ Mit Zähneknirschen stellte Chris fest, dass der zweite sich rückseitig genähert hatte. „Du musst wirklich noch viel lernen, Kleiner...“ Vielleicht hatte er recht. Chris atmete durch und ließ seinen Instinkt übernehmen, der ihn nach vorn trieb und in direkten Frontalangriff. Jaulend schreckte der Mensch zur Seite, mehr aus Überraschung als dass er getroffen worden war. Währenddessen sprintete der junge Anführer zur Seite davon. Er kam nicht weit. Ein wolfsechtes Heulen holte ihn ein. „Nein...!“ Stechender Schmerz jagte durch seine Wade und brachte ihn zu Fall. Der verfluchte Vierbeiner war schneller. Er versuchte, ihn mit dem Stiefel zu erwischen, machte es dadurch nicht gerade besser. „Jetzt hat’s sich ausgelaufen, Bengel.“ Die harsche kräftige Hand des Fremden packte ihn am Kragen, zog ihn halb hoch, die zweite hatte ein Tuch in den Fingern. Knurrend fletschte Chris die Zähne und griff zu anderen Methoden. „Nimm das, Bastard!“ Pure Energie pfefferte seinem Gegner um die Ohren und riss ihn von den Füßen. Eine zweite Salve verscheuchte den grauweißen Wolf. Schnell sah der Adlige zu, hoch und davon zu kommen. Unbeirrt der blutenden Wunde und des Pochens in seinem Kopf lief er davon. Zakira dürfte längst wissen, dass etwas passiert war. In der Eile und dem Gebrauch seiner Fähigkeiten hatte er nicht einen Moment damit geliebäugelt, sich abzuschirmen. Das konnte man eh nur wirklich tun, wenn man in Sicherheit war. Ein Heulen erklang hinter ihm in der Straße. Wetzende Pfoten stoben durch den Schnee. Selbst wenn Chris jetzt weg kam, sein Blut würde seine Fährte immer verraten. Also blieb er letztlich stehen, drehte sich kampfbereit seinem Feind zu, neues Feuer in der Hand, das vorschoss und Fell versengte. Eine Frau kreischte irgendwo. Passanten – das hatte jetzt noch gefehlt. Wasserdampf stieg auf von den Stellen am Boden, an denen der Schnee binnen Sekunden geschmolzen war, nur um im nächsten Moment sich in Eiskristallen wieder irgendwo niederzulegen. Mittlerweile hielt ein sichtbarer Schild den Vierbeiner auf Abstand, der trotzdem immer wieder versuchte, sich dagegen zu werfen, dass er brechen möge. Ein fremdes Geschoss ging auf Chris’ Kugel nieder und der Kupferblonde blickte gehetzt über die Schulter. Der zweite Wolf war nicht in seine Gestalt gewechselt, sondern hatte die Situation genutzt und nun auch einmal seine Sprüche ausgepackt. Wo zur Hölle steckte Maria...?! Ein unhörbarer Ruf verklang durch den Äther. Er hatte keine Ahnung, ob er ankommen würde. Scheppernd brachen Scherben aus der schützenden Magiehaut. Zitternd barst das ganze Feld auseinander. Dann also die harte Tour. Einen fremdländischen Spruch auf den Lippen sprang Chris zur Seite und konzentrierte sich neu. Er brauchte keine Worte dafür, aber es half manchmal ungemein. Die silbernen Augen blitzten scharf auf, fixierten den Mann in der lässigen dunklen Kleidung, der schon zu neuem Schlag ausholte. Dieses Mal nicht. Beide Hände legten sich fast aneinander, formten einen Diskus, der erwartungsvoll sirrte. Diese Technik wandt der junge Mann ungern an, sie war wirkungsvoll und scharfklingig, aber genau so ungenau in ihrer Bumerangart. Wenn der Magier nicht aufpasste, erwischte es ihn selbst. Mit Kampfschrei feuerte er es seinem Gegner entgegen und duckte sich schließlich weg, bevor das verfehlte Geschoss ihn zerlegte. Die Augen erfassten es und gewannen neue Kontrolle, zielten noch einmal nach dem Angreifer, der sich darum aber nicht scherte und verdammt nahe kam. Erstickt schrie Chris auf, stolperte rückwärts und fiel in den rutschigen Schnee. Im nächsten Moment hatte sein Gegner ihm weichen Stoff auf Mund und Nase gedrückt und die Umgebung verschwand im Dunkel. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)