☾ Mikadzuki von Mimiteh ================================================================================ Kapitel 64: Therapie -------------------- "Ich mache mir solche Vorwürfe, Ojii-san! Es war meine Aufgabe, auszuwählen, wer den Privattrakt bewacht und ich habe versagt“ Masa stieß ein unwilliges Knurren aus und ballte die Hände in ihrem Schoß zu Fäusten. Arata legte besänftigend eine Hand darauf. „Du konntest nicht ahnen, dass er zu soetwas fähig ist. Rin ist so ein Sonnenschein, ein wunderbarer Charakter. Aber das muss nicht jedem gefallen. Ich fürchte, dieser Jungspund war eifersüchtig“, gab er ruhig zu bedenken. Masa knurrte erneut, wütend auf sich selbst. „Natürlich. Oh, ich hätte auf Rins Zofe hören sollen. Arisu ist mehr als einmal zu mir gekommen und hat mich vorgewarnt, dass nicht jeder Diener es hinnehmen wird, einen höherrangigen Menschen vor der Nase zu haben. Es ist eine Schande, dass ich sie nicht ernst genug genommen habe!“ „Na-na, Mago. Hör‘ auf, dir Vorwürfe zu machen. Wir sollten lieber froh sein, dass es gerade noch gutgegangen ist“ Masa lachte trocken auf. „Ja. Weil dein Schüler so geistesgegenwärtig reagiert hat!“ Aratas tröstendes Lächeln gefror für einen Moment. „Ja, das haben wir nur Kôhei zu verdanken. Auch wenn ich nicht so ganz damit einverstanden bin, wie er den Diener getötet hat“ Masa hob etwas den Kopf und sah ihren Großvater unverständig an. „Wie meinst du das?“ „Du hast doch gehört, was an Kôheis erstem Tag geschehen ist, oder? Dass er durchgedreht ist? – Der Diener hatte nur zwei Wunden. Eine an der Schulter und eine durch die Kehle. Vom ersten Schlag an, war Kôhei darauf aus, ihn zu töten. Er hat an diesem Diener Rache für das genommen, was seiner Mutter angetan wurde. Ich habe dir die Geschichte ja in Kurzform erzählt, nicht wahr?“ Masa überlegte einen Moment und nickte dann langsam. „Á propos, wo ist er überhaupt?“ „Kôhei? Nicht hier. Er hatte sein Tachi in Rins Gemach zurückgelassen. Der Fürst persöhnlich hat es ihm zurückgebracht und ihm als Dank für sein löbliches Eingreifen einen Wunsch freigestellt. Kôhei bat darum, mit den Wölfen umziehen zu dürfen. Er wird erst in ein paar Tagen wiederkommen, wenn wir schon auf den Inseln sind“ Arata blinzelte etwas und sah seine Enkelin von der Seite an. „Du hast damals ganz Recht gehabt. Kôhei ist eine sehr eigene Persöhnlichkeit, verschlossen, traumatisiert. Es war Rin gerade gelungen, ihn ein wenig zu öffnen. Die beiden sind in den letzten Monaten richtige Freunde geworden – wenn nicht auf dem Weg zu mehr“ Masa kniff die Augen zusammen. „Mehr? Glaubst du das wirklich?“ Der alte Inuyôkai zuckte leicht mit den Schultern. „Kann gut sein. Jedenfalls tun sie sich gegenseitig gut. – Bloß muss jetzt ersteinmal Rin aus ihrer Erstarrung erwachen. Ich glaube, die Fürstin hat sie heute Nacht mit zu sich genommen, oder?“ „Ja, damit Rin aus dem Gemach raus ist, in dem es geschehen ist. Aber das arme Mädchen ist noch immer fertig mit den Nerven“, bejahte Masa. „Das glaube ich gern. Ich kann es schlecht nachvollziehen, aber ich denke, es gibt kaum etwas Schlimmeres, oder?“, fragte Arata. „Nichts, Ojii-san“, bekräftigte Masa schlicht und sah dabei ins Nichts. „Du denkst an Mina, oder?“ Es dauerte eine Weile, bis die Verwalterin des Inuschlosses nickte. Mina, ihre Kindheitsfreundin, der in noch recht jungen Jahren niemand rechtzeitig zur Hilfe geeilt war. Sie hatte den seelischen Gräuel nicht ausgehalten. Kaum einen Mond später war sie tot gewesen, hatte sich die Pulsadern mit den eigenen Klauen aufgeschlitzt. „Aber Mina hatte niemanden, der ihr helfen konnte. Sie hatte keine Eltern mehr. Rin in dem Sinne auch nicht. Aber sie hat die Fürstin und den Fürsten, die sie als ihr Adoptivkind betrachten und die sie als Eltern sieht. Das wird ihr genug Halt geben“, sagte sie dann fest. Arata blickte an seiner Enkelin vorbei richtung Fenster, wo die Schamanen Aufstellung nahmen. Das Attentat auf Rin hin oder her, wegen dem gestern schon das Bankett abgesagt worden war, die Reise musste stattfinden. In wenigen Minuten würden sie aufbrechen. Arata erhob sich, ohne den Blick wieder zu seiner Enkelin zu wenden. „Hoffen wir’s“, sagte er nur. ~*~ In Musashi ahnte niemand etwas von den dramatischen Entwicklungen am Inuschloss. Die drei kleinen Kinder, die erst an diesem Morgen von der Rückkehr ihrer Eltern erfahren hatten, wuselten begeistert herum und bestürmten jeden mit unzähligen Fragen, der nicht bei drei auf den Bäumen war. Kaede und alle anderen, die es gewohnt waren, nahmen es gelassen, die fünf Neuen wirkten leicht paralysiert. Allerdings durfte man auch annehmen, dass vier davon bisher nicht richtig geglaubt hatten, dass die, die sie mit Aijin – Herrin – ansprachen, tatsächlich dreifache Mutter war. Einzig Koume hatte es Kohaku geglaubt. Während Shiori schließlich losging und den Reitdrachen holte, den sie gestern Abend hinter dem Haus angepflockt hatte, damit er des nachts grasen konnte, nahm InuYasha Sango beiseite. „Bleibt ihr nun doch hier? Ich meine, euch beide und eure Kinder hat Sesshômaru ja zugesagt, aber noch mehr von euch?“, fragte er. Sango konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. „Im Gegenteil. Ich habe eine Idee…“, bemerkte sie und beugte sich vor um InuYasha etwas ins Ohr zu flüstern. Der sah sie halb amüsiert, halb ungläubig an. „Keh! Na, wenn das mal gut geht“ ~*~ „Rin! Rin-hime, bitte!“ Arisu zog eine verzweifelte Grimasse. Sie machte sich entsetzliche Vorwürfe, aber das musste sie im Moment zurückstellen. „Lass es, Arisu. So hat das keinen Sinn. – Ach, Rin, komm her“ Natsu zog ihre Ziehtochter an sich, die bisher alles teilnahmslos über sich hatte ergehen lassen. „Ja, Herrin“, antwortete Arisu und trat zurück, legte den Kimono, den sie Rin hatte anziehen wollen, wieder ab. Dennoch wollte sie nicht ganz aufgeben, zu dem Menschenmädchen durchzudringen, dass ihr mehr Freundin als Herrin war. „Masa-donno hat mir übrigens eine Botschaft für den Fürsten aufgetragen, Natsu-sama. Sie sagt, Kôhei bedanke sich nocheinmal dafür, dass ihm seine Bitte gewährt wurde“, wandte sie sich gezielt an die Fürstin. Und zum ersten Mal an diesem Morgen hob Rin etwas den Kopf. „Kôhei?“, fragte sie heiser von den unzähligen, vergossenen Tränen. „Ja, Rin-hime. Der Fürst gewährte ihm als Dank für Eure Rettung eine Bitte“ „Welche?“ „Er wollte seine Schwester besuchen und mit ihr und den Ookami auf die Inseln umziehen“, antwortete Arisu pflichtbewusst, aber sie grinste innerlich. War es ihr also doch gelungen. „Kommt… kommt er wieder?“ „Sicher, Rin-hime. Er wird doch seine Ausbildung nicht abbrechen“, versicherte sie neutral, diesmal verschwieg sie nichts. Von Kôheis Schutzversprechen wusste sie schließlich nichts. „Gut…“, kam es von Rin zurück, alle Fröhlichkeit war aus ihrer Stimme gewichen aber ihr Ton war wenigstens wieder hörbar. Dankbar nickte Natsu Rins Zofe zu und die erlaubte sich ein erfreutes Zurücknicken. In diesem Moment waren sie nicht Fürstin und Bedienstete, sondern ebenbürtige Wesen, die sich um jemanden sorgten, der ihnen beiden wichtig war. Schließlich war es Natsu, die den Obi von Rins Yukata wieder schloss und sie vor sich aus dem Raum bugsierte. „Was geschiet nun? In ihrem Zustand wird sie doch den langen Ritt auf dem Drachen nicht durchstehen, oder?“ Natsu schüttelte leicht den Kopf. „Ich fürchte nein. Sie ist noch vollkommen traumatisiert. – Der Fürst wird sie mitnehmen“ Arisu riss die Augen auf, während sie ihr einfaches, grobes Stoffbündel nahm, in dem ihre Habseeligkeiten verstaut waren. Sie hatte sich geschworen, ihrer Herrin nicht mehr von der Seite zu weichen. Als sie gestern von dem Vorfall gehört hatte, hatte sie geglaubt, ihr Herz würde stehen bleiben. Wie sehr hatte sie sich bemüht, genau so etwas zu verhindern. Sie hatte versagt, das war ihr klar und dafür hätte sie sich hart bestrafen können – wenn sie nicht gebraucht worden wäre. Sesshômaru stand auf dem Flur vor Natsus Gemach und hatte gewartet, neben, hinter ihm stand Moe, Natsus Zofe, mit Kin auf dem Arm. Der blinde, kleine Prinz wirkte inzwischen wie ein nicht ganz neunmonatiges Menschenkind und verhielt sich wie immer sehr ruhig. Er war nie sonderlich agil gewesen. Nicht, seit seiner Erblindung. Und zu diesem Zeitpunkt war er ja gerade fünfzehn Tage alt gewesen. „Alles bereit?“, fragte Natsu leise. Sesshômaru, dessen nachdenklicher Blick auf Rin lag, nickte leicht. „Arata, Masa und die anderen sind unterwegs“, sagte er ausdruckslos. Was dann soviel hieß, wie: Wir sind die letzten, die noch hier sind, abgesehen von den Inuschamanen, die draußen darauf warteten, das Schloss umziehen zu lassen. Natsu nickte erneut stumm und folgte dem Inuyôkai dann hinaus, Rin vor sich her schiebend. Das Mädchen ließ es geschehen. Sesshômaru hielt sich mühsam davon ab, die Hände zu Fäusten zu ballen. Was war bloß in diesen wenigen, verhängnisvollen Minuten aus seiner stets heiteren, unbekümmerten Rin geworden? Wo war ihre Lebensfreude, ihr zwangloses Wesen, all das, was sie so besonders machte? Mühsam eine schmerzvolle Miene unterdrückend schloss Sesshômaru die Augen, konzentrierte sich, kaum dass sie aus dem Schloss hinaus waren. Augenblicke später stand er als riesiger, weißer Hund da, legte sich hin. Da Rin nur Löcher in die Luft starrte, packte Natsu sie kurzerhand fester und sprang hoch um das Mädchen in Sesshômarus Nacken zu setzen. Die Nähe ihres verehrten Ziehvaters, das dichte, warme Fell, schienen zu Rin durchzudringen, denn unwillkürlich kuschelte sie sich hinein. Natsu betrachtete sie kurz, ehe sie zurück auf den Boden kam um sich selbst zu verwandeln. Arisu hatte das bereits getan, ein zierliches, rotgoldenes Reh stand neben ihnen, einzig Moe blieb in menschenähnlicher Gestalt und stieg rasch in AhUhns Sattel, Kin noch immer im Arm. Der Reitdrache schaute bekümmert zu Sesshômarus Rücken auf, er schien zu spüren, dass etwas mit Rin nicht stimmte, aber das konnten sie jetzt nicht beachten. Sie mussten runter vom Schlossgelände, damit die Schamanen mit ihrer Arbeit beginnen konnten. Also setzte Sesshômaru sich in Bewegung, erst mit langsamen Schritten, dann, als er spürte, dass Rin sich instinktiv in seinem Pelz festhielt, immer schneller. Der Weg ins Unbekannte hatte begonnen. Erst Stunden später rasteten sie an einem schmalen Flusslauf. Rin ließ sich von Arisu überreden, ein wenig zu trinken und ein paar Beeren zu essen, starrte aber nach wie vor teilnahmslos in die Gegend. „Sie wird es überwinden, sie braucht nur Zeit“, bemerkte Natsu behutsam, die neben Sesshômaru unter einem Baum saß und Arisus rührende Bemühungen im Auge behielt. Die Sikayôkai war wirklich ein Goldstück. „Es wäre mir nur lieber gewesen, sie hätte diesen Schlag nicht abbekommen“, gab Sesshômaru ungewohnt offen zurück und jeder außer Natsu, der es hörte, tat rasch so, als habe er nichts mitbekommen, denn eine solche Ehrlichkeit des Fürsten war Privatsache. Natsu aber nickte leicht, während sie nachdenklich die Lippen aufeinanderpresste. „Das wünschen wir uns alle. Ich bin mir aber sicher, dass sie nur einen Anstoß braucht, sich wiederzufinden. Das ist Schock, was sie so teilnahmslos macht. Sie ist lebensbejahend genug, sich nicht davon unterkriegen zu lassen. Aber im Moment kommt sie selbst nicht an sich heran. Vielleicht… vielleicht braucht sie einfach Nähe. Und wenn meine schon nicht hilft, dann vielleicht…“ Natsu ließ den Satz offen, aber sie wusste, dass Sesshômaru verstanden hatte. Tatsächlich sah er sie kurz aus dem Augenwinkel an, ehe er wieder zu seiner Ziehtochter blickte. „Rin!“, rief er halblaut. Tatsächlich hob sie den Kopf, blickte allerdings aus leeren Augen in seine Richtung, auch wenn sie sich erhob, die Aufforderung verstanden hatte. Kurz vor ihm blieb sie stehen. Es war die Erinnerung an die alten Reisen, die sie hatte folgen lassen, nichts anderes. „Komm zu mir“, forderte Sesshômaru sie gelassen auf und etwas zögerlich setzte sie sich neben ihn, ein paar Handbreit entfernt. Der Inuyôkai sah sie kurz an, ehe er kurzerhand ihren Arm nahm und sie behutsam näher an sich zog, bis sie an seiner Seite lehnte, den Kopf auf das weiche Fell um seine Schulter gebettet. Rin wehrte sich nicht, im Gegenteil, sie entspannte sich fast augenblicklich. Und jetzt zeigte sich, dass sie des Nachts kaum geschlafen hatte, aus einem Albtraum nach dem Nächsten geschreckt war. Als sie einschlummerte, zeigte sich auf ihren Lippen ein zaghaftes Lächeln. ~*~ InuYasha und seine Gruppe hatten sich inzwischen endgültig von Kaede verabschiedet, was durchaus für ein paar Tränen gesorgt hatte – außer bei dem Hanyô natürlich – und befanden sich auf dem Weg. Die drei kleinen Kinder saßen fröhlich zwischen all dem Gepäck auf dem Reitdrachen, Sango ritt mit Miroku auf Kirara, Kohaku hatte Koume hinter sich auf Katashi genommen und nebenher trottete Kuroro in der von ihr meist favorisierten, kleinen Form. Yutaka hatte sich bereiterklärt, dass Reitpferd für Jinejis Mutter zu spielen und so saß die nun auf einem weißen, dämonischen Pferd mit tiefroter Mähne, während Jinenji selbst, InuYasha, Shiori und der Rest der neuen Taijiya liefen. Sie hatten keine Eile, für sie galt kein festes Programm, wann sie ankommen sollten. Das galt nur für die Fürstentümer, bei denen gleich ganze Schlossgelände mit umzogen. Noch hing jeder ob des Abschieds seinen eigenen Gedanken nach, es wurden nicht viele Worte gewechselt. ~*~ Als es dämmerte, verharrten Sesshômaru und seine kleine Gruppe noch immer an dem Flusslauf. Rin hatte tatsächlich sehr ruhig geschlafen und er hatte sie schlafen lassen, im Wissen, dass es ihr gut tat. Menschen mussten nuneinmal schlafen, insbesondere, wenn sie es in der Nacht zuvor nicht getan hatten. Als es dämmerte und sie im auffrischenden Wind zu frösteln begann, hatte er sein Fell etwas über sie gezogen, sich aber ansonsten nicht gerührt. Er wollte sie nicht stören. Doch jetzt hob er den Kopf. Dieser Geruch in der Nähe, der gefiel ihm nicht. Ein tierischer Wolf, ein einzelner bloß, aber das bedeutete normalerweise entweder, dass er schwach oder aggressiv war – oder beides. Alle drei Optionen waren nicht sehr erstrebenswert. Vorsichtshalber knurrte Sesshômaru unterschwellig, eine Geste der Warnung, die Wölfe genausogut verstehen mussten, wie Hunde. Sofort erklang ein beschwichtigendes Japsen – und das schon ziemlich nah. Die Wölfin musste sich geschickt entgegen der Windrichtung genähert haben. Roch sie nicht, dass hier Yôkai waren, Yôkai, die sie mit einem einzigen Klauenhieb filetieren konnten? Oder interessierte es sie nicht? Letzteres, vermutete Sesshômaru als sich kaum hundert Meter entfernt ein weißer Körper aus dem Unterholz schob, allerdings abgeduckt, abwartend verharrte. Dunkle Augen lagen fragend auf ihm. Gleich darauf kam sie aber näher, leicht witternd, den Blick nun auf Rin gerichtet, die noch immer zu schlafen schien. Skeptisch musterte Sesshômaru das ungewöhnliche Gebahren der Besucherin, die nun in einem recht kleinen Kreis um ihn herumstrich und dann erneut schnurgerade auf Rin zu kam. Drohend hob Sesshômaru die linke Hand, ließ die Dokka-so erwachen, nicht willends, Rin aus dem Schlaf zu reißen und sie dann auch noch ihrem Albtraum leibhaftig gegenüberstehen zu lassen. Sie hatte genug durchgemacht, der Angriff eines törichten Wolfs musste da nicht auch noch sein. Zu seiner vollkommenen Überraschung hörte er da plötzlich Rins Stimme und sie klang alles andere als furchtsam. „Miyu?“ Die Wölfin hob etwas den Kopf, ließ die Zunge zu einem freundlichen Hecheln seitlich aus dem Maul gleiten und verharrte, den Blick nicht von Rin nehmend. Etwas verschlafen hob Rin den Kopf, blinzelte. „Miyu“, wiederholte sie dann etwas fester, ohne sich weiter zu rühren. Rin nennt einen Wolf ‚sanfte Schönheit‘. Dann muss sie ihn tatsächlich kennen…, beschloss Sesshômaru für sich und ließ probehalber die Giftklaue verschwinden, ohne allerdings die Hand zu senken. Auch die puren Klauen würden ausreichen, diese Wölfin notfalls in ihre Einzelteile zu zerlegen. Aber die weiße Fähe rührte sich noch immer nicht, stand nur da, die Rute entspannt gesenkt, den Blick ruhig. Sesshômaru stellte für sich fest, dass er nun gar nichts mehr verstand. Aber er hatte auch nicht vor, zu fragen. Beim Anblick der Wölfin war ein leichter Glanz in Rins Augen getreten, der nichts mehr mit dem verräterischen Tränenschimmer oder der dunklen Leere des vergangenen Tages zu tun hatte. „Miyu! Miyu, wo bist du denn? Miyuuuuuuuuu!“, rief da plötzlich eine eindeutig kindliche Stimme aus dem nahen Waldstück. Sesshômaru hob den Kopf noch ein wenig mehr, witterte erneut. Wieder näherte sich Wolfsgeruch, aber diesmal dämonischer. Eine sehr junge Wolfsdämonin, wenn er sich nicht irrte. Tat er nicht, denn gleich darauf preschte ein Dämonenkind auf die Wiese, das man vielleicht mit einem gut vierjährigen Menschenkind verglichen hätte. Es hatte honigfarbene Haare, die ab dem Nacken in unzählige, kleine Zöpfchen gewunden waren und strahlende, gelbgrüne Augen. Ungeachtet der anwesenden Personen hastete es auf die Wölfin zu und fiel ihr so stürmisch um den Hals, dass die weiße Fähe beinahe umgekippt wäre. Aber sie schien solcherart Begrüßung gewohnt zu sein, grollte nur freundlich vor sich hin und rührte sich ansonsten nicht. Erst nach einer Weile stupste sie das Kind auffordernd an, ehe ihr Blick sofort wieder zu Rin ging. Das Kind sah auf, entdeckte nun erst Sesshômaru, erkannte den blauen Sichelmond auf dessen Stirn und kauerte sich an der Flanke der Wölfin zusammen, ohne vor Schreck ein Wort hervor zu bringen. Sie hatte bisher sichtlich nicht mitbekommen, vor wem sie da saß. Sesshômaru sah darüber hinweg. „Wer bist du?“, wollte er emotionslos wissen, sodass die Kleine wieder aufsah und ihn aus geweiteten Augen anblickte. Sie wurde einer Antwort enthoben, als sich erneut jemand näherte. „Imouto!“ Sofort rappelte die Kleine sich auf und lief dem weiteren Neuankömmling entgegen, drängte sich furchtsam und schutzsuchend an sein eines Bein. „Ani!“, murmelte sie sichtlich mit der Situation überfordert. Jetzt erst sah der Dämon, der offenbar der ältere Bruder des kleinen Dämonenkindes war, sich um – und erkannte seinerseits, bei wem seine kleine Schwester gelandet war. Allerdings hatte er sich besser im Griff als die Kleine, seine Augen weiteten sich nur kurz, ehe er sich vorneigte. „Sesshômaru-sama“, grüßte er höflich. Angesprochener nickte nur kurz, dafür regte sich nun Rin. „Kôhei!“, rief sie und ihre Stimme klang um ein Vielfaches munterer, als noch vor ein paar Stunden. Der junge Wolfsdämon sah wieder auf. „Rin? – Oh, entschuldigt bitte: Rin-hime?“, besann er sich gerade noch auf die bei den Inu so hochgelobte Höflichkeit. Damit entlockte er Rin doch tatsächlich ein leichtes Schmunzeln. Sie schob Sesshômarus Schulterfell ein wenig beiseite und setzte sich auf. „Was machst du denn hier?“, wollte sie wissen. „Eine Abordnung der Ookami lagert ganz in der Nähe. Vor ein paar Minuten ist Miyu abgehauen und Sayoko musste natürlich hinterher. Ich wollte sie nur wieder einfangen. Wo Miyu hinwollte, wusste ich nicht“, gab Kôhei ruhig zu Protokoll, ganz als würde es ihn gar nicht wundern, wie nah Sesshômaru das Menschenmädchen bei sich duldete, aber als er Rin kurz musterte, blitzte sorgenvolle Wärme in seinen Augen auf, die sich sicherlich nicht auf diese Nähe bezog. Natsus Mundwinkel zuckten kurz, als sie das sah, aber sie verhielt sich ebenso ruhig wie die letzten Stunden über. „Tja, sieht ganz so aus, als wollte Miyu sich nach meinen Befinden erkundigen“, sagte Rin schließlich nach einem Moment und die Wortwahl klang schon wieder ganz nach der alten Rin. Über Kôheis Lippen glitt ein kurzes Lächeln. „Scheint so. – Und, wie ist das werte Befinden, Hime?“, erwiderte er und ein selten spitzer Ton lag in seiner Stimme. Das schien genau das zu sein, was Rin aufmunterte. „Besser, Kôhei-san. Um einiges besser“, formulierte sie ebenso höfisch und dann tat sie etwas, dass noch am Morgen desselben Tages undenkbar gewesen war: Sie lachte fröhlich. Kôhei erwiderte das Lächeln, ehe er sich herabbeugte, seine kleine Schwester leicht von sich schob und ihre Hand nahm. Sayoko sah erst zu ihm hoch, dann unsicher zu dem Hundefürsten und seiner Gruppe. „Nun, Rin-hime, darf ich vorstellen? Meine kleine Schwester, Sayoko-hime“ Benannte sah zu ihrem großen Bruder auf. „Bin ich wirklich eine Prinzessin, Ani?“ Rin kicherte etwas, als Kôhei todernst meinte: „Für mich schon immer, Imouto“ Dabei ging er erst garnicht darauf ein, dass Sayoko ja eigentlich auch politisch eine Prinzessin war, seit sie dem Erben der Wölfe versprochen war. Dann jedoch straffte Kôhei die Schultern. „Wir sollten zurückgehen, Sayoko. Otou-san macht sich sonst noch Sorgen“ Die Kleine nickte heftig. „Otou-san soll sich keine Sorgen machen!“, bekräftigte sie rasch und schien ihre Befangenheit gegenüber dem Fürstenpaar längst vergessen zu haben. „Ganz meine Meinung. – Kommst du auch mit, Miyu?“ „Miyu muss mitkommen!“, bestimmte Sayoko. „Klar, Sayoko. Das tut sie auch bestimmt. Nicht wahr? – Miyu!“ Die weiße Wolfsfähe ließ sich das nicht zweimal sagen. Allerdings kam sie noch kurz auf Rin zu und leckte ihr rasch übers Gesicht, ehe sie zu ihrer eigentlichen Herrin und deren Bruder zurückkehrte. Rin kicherte erneut. Kôhei hob kurz die freie Hand. „Dann entschuldigt die Störung, Inu no Taishô; Fürstin. Bis bald, Rin-hime!“ Damit verschwand er. Rin sah ihm kurz nach, dann zuckte sie zusammen, als ihr Magen leise zu knurren begann. Fast verlegen zog sie etwas die Schultern hoch. „Entschuldige, Sesshômaru-sama“, murmelte sie vor sich hin. Der Inuyôkai sah sie von der Seite an. Sie wirkte auf einmal wieder genauso lebensfroh wie früher. Soll es das schon gewesen sein?, fragte er sich unwillkürlich, aber nach außen hin wirkte seine Miene gewohnt ausdruckslos. „Geh‘ dir etwas suchen“, forderte er das Mädchen auf, wie er es früher immer getan hatte und ebenso wie früher sprang Rin augenblicklich auf. Einen Moment später war sie schon auf dem Weg zum Flusslauf. Arisu, die die kleine Verwandlung staunend und erleichtert beobachtet hatte, schloss rasch zu ihr auf. „Was habt Ihr vor, Rin?“, fragte sie. Rin sah sie mit blitzenden Augen an. „Essen suchen. Ich habe Hunger“, verkündete sie locker. Arisu musste beruhigt lächeln. „Nun, das kommt davon, wenn Ihr den ganzen Tag nur eine Hand voll Beeren gegessen habt“, kommentierte sie und erlaubte sich einen leicht tadelnden Unterton. Rin ging nicht weiter darauf ein. „Kannst du Fische fangen, Arisu?“, wollte sie wissen. Die Sikayôkai zögerte kurz. „Ich habe es nie versucht“, gab sie zu. Auch wenn sie eine Dämonin war, als Rehverwandte ernährte sie sich, sobald sie etwas zu Essen brauchte, vegetarisch. Rin störte sich nicht weiter an dem Einwand. „Naja, besser als Jaken wirst du es sicher können“, verkündete sie unbefangen und setzte ihren Weg zum Wasser fort, wobei sie die Arme ganz wie früher leicht zur Seite wegstreckte. Arisu folgte ihr kopfschüttelnd. Kaum zu glauben, dass das dieselbe Rin war, wie noch vor ein paar Stunden. Ähnliche Gedanken gingen auch Sesshômaru und Natsu durch den Kopf. „Sie ist wieder ganz die Alte“, bemerkte die Löwendämonin schließlich, während sie beobachtete, wie Rin den Saum ihres Yukatas hochkrempelte und ins flache Wasser watete. Sesshômaru antwortete nicht, aber auch er beobachtete das ihm so bekannte Szenario und in seinen Augen war ein leichter Glanz, der fast einem Lächeln gleich kam. Auch er war sehr erleichtert, dass Rin zu ihrem wahren Wesen zurückgefunden hatte – und so schnell obendrein. Nicht jeder hätte solcherart Trauma so schnell überwunden. Da meldete sich Natsu wieder zu Wort: „Meine Schwester würde sicher sagen, das Wiedersehen mit ihrem Retter war eine Therapie für Rin. Aber ich glaube ehrlich gesagt, da steckt mehr dahinter“ Sesshômaru sah sie von der Seite an, ohne etwas zu sagen. Natsu schmunzelte etwas. „Na sag‘ bloß, das wäre dir noch nicht aufgefallen. Erst rettet er sie, dann macht er sich sichtlich Sorgen um sie und dann ist es offenbar auch noch er gewesen, der ihr die Angst vor Wölfen genommen hat. Und wenn ich mich des Rufes entsinne, den Kôhei im Schloss hat, verhält er sich selten so offen und aufgeweckt wie gerade eben“, zählte sie vielsagend auf. Sesshômaru rührte keinen Muskel, aber insgeheim dachte er über Natsus Worte nach. Rin und ein Ookami… ausgerechnet. Nun ja, Raion und Inu ist auch nicht weniger bemerkenswert…, fasste er für sich zusammen und auch um seine Mundwinkel zuckte er kurz, ehe er den Kopf zur Seite drehte. Seine goldenen Iriden trafen auf die silbriggrünen von Natsu, beide leuchteten in der nahen Dämmerung. Er gab nicht preis, wie er über Natsus Detektivarbeit dachte, sondern beugte sich nur etwas vor und versiegelte ihre Lippen mit den seinen. Für Natsu war das Antwort genug… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)