Willst du das wirklich machen? von Chokkan7_12 (Bist du dir ganz sicher?) ================================================================================ Kapitel 1: Atarashii -------------------- „Willst du das wirklich machen?“ Unsicher über das Vorhaben ihrer langjährigen Freundin sah Ran auf. Atarashii war nach wie vor dem Abgrund, vor dem sie stand, zugewandt. Deshalb konnte Ran ihr schwaches Lächeln nicht sehen, dass für ein paar Sekunden über die Lippen des sechzehnjährigen Mädchens huschte. Anstatt einer Antwort beugte Atarashii sich zu der Ledertasche hinunter, die sie zuvor neben sich abgestellt hatte. Mit einer langsamen, fast schon behutsamen Bewegung zog sie eine Mappe heraus, die vor lauter Zettel überzuquellen drohte. Jetzt endlich drehte sie sich vom Abgrund weg und ging auf Ran zu. Sie hielt ihr die Mappe hin, so als würde sie sie ihr überreichen wollen. Aber Ran nahm sie nicht entgegen. Stattdessen warf sie der Mappe nervöse Blicke zu und schaute dann Atarashii in die Augen. In die azurblauen Augen, in denen sich ein milchiger Schleier abzeichnete. „Du musst schwören“, begann Rans Freundin plötzlich mit erstaunlich entschlossener Stimme, „dass du niemandem jemals davon erzählst.“ Rans Brust krampfte sich kurz zusammen. Ihre Augen weiteten sich, aber schließlich legte sie ihre rechte Hand auf die Mappe und ihre linke Hand an ihr Herz. „Ich schwöre“, sagte sie tonlos und konnte ein leichtes Zittern in ihrer Stimme nicht unterdrücken. Atarashii nickte bedächtig und zog die Mappe zurück, nachdem Ran ihre Hand wieder entfernt hatte. Dann schritt sie abermals auf den Abgrund zu, die Mappe unter den Arm geklemmt. Die Art, wie sie sich fortbewegte, glich einem Marsch. Ran war mehr als überrascht. So hatte sie ihre Freundin aus Kindertagen noch nie gesehen. Sie schien eine Aura auszustrahlen, die sich angenehm und unangenehm gleichzeitig anfühlte. Allerdings war es lange her, dass sie so oft mit Atarashii zusammen gewesen war. Zwei Jahre, um genau zu sein. Da war das Mädchen mit den azurblauen Augen und dem langen, schwarzen Haar mit ihrer Familie in den Westen gezogen. Jeden Monat hatte sie Ran geschrieben, doch dann hatte Ran irgendwann keine Briefe mehr bekommen. Der Inhalt der Briefe umfasste viele negative Erfahrungen und immer wieder vertraute sie Ran an, dass sie so gerne wieder in Japan und damit bei ihr wäre. Dass sie es in der fremden Umgebung nicht mehr aushielt, dass sie das Essen dort nicht mehr hinunterwürgen konnte und dass sie in der Schule gar nicht wahrgenommen wurde. Sie fühlte sich so allein gelassen und wollte sich auch ihrer Familie nicht anvertrauen. Nur Ran hatte sie alles geschrieben, alles, was sie belastete. Auch von ihrer Krankheit, die eigentlich gar keine war. Seit einigen Tagen war Atarashii wieder in Japan, denn sie hatte Geld für ein Flugticket gespart und war alleine zurückgekehrt. Sie hatte auf der Stelle Ran angerufen und sie gebeten, bei einer Sache dabei zu sein. Natürlich hatte Ran ihr diesen Wunsch nicht abgeschlagen, zumal sie froh war, ihrer Freundin endlich richtig helfen zu können. Es war ganz was Anderes, vor Ort zu sein, als ihr über die Briefe gut zuzusprechen, aber ansonsten nichts machen zu können. Jetzt stand sie vor ihr, die langen schwarzen Haare zurückgebunden und sichtlich mitgenommen von der Vergangenheit. In den drahtigen Händen hielt sie die überfüllte Mappe und atmete mehrere Male tief durch. Ran bemerkte ihr Zögern und fragte noch einmal: „Bist du dir ganz sicher, dass du das machen willst?“ Ihre Freundin, die die ganze Zeit auf die Mappe gestarrt hatte, richtete nun ihr Gesicht zum Himmel, auf dem sich dichte Wolken zusammengebraut hatten. „Ja“, antwortete Atarashii mit derselben Entschlossenheit wie zuvor, „Ich bin mir ganz sicher.“ Sie beugte sich zu der Mappe in ihren Händen hinab und küsste den Klappdeckel. Dann holte sie aus und warf die Mappe in den Abgrund. Sämtliche Zettel lösten sich aus der Klammerung und segelten weitaus langsamer als die Mappe selbst in das gähnende Loch des Grabens. Wenn Atarashii genau hinsah, konnte sie noch ihre eigene Handschrift auf ihnen erkennen. Sie blickte den Zetteln solange nach, bis sie das hässliche Aufprallen der Mappe auf dem Boden hörte und kein Stück Papier mehr in Sicht war. Ran hatte solange ein paar Meter hinter ihr gestanden und sich nicht gerührt. Doch das dumpfe, aber entsetzliche Aufkommen der Mappe auf dem Boden des Abgrunds ließ sie zusammenzucken. Atarashii machte auf dem Absatz kehrt und schritt an Ran vorbei, den Abhang hinunter. Verdutzt wandte Ran sich nach ihr um und folgte ihr dann raschen Schrittes. „Aber… ist es denn nicht schade?“, stellte sie endlich die Frage, die ihr schon so lange auf der Zunge brannte, „All deine schönen Geschichten und Zeichnungen… einfach so wegzuwerfen?“ Ihre Freundin schwieg erst mal und richtete ihren Blick stets geradeaus. Erst, als die beiden Mädchen schon fast wieder auf der Ebene angekommen waren, sagte sie: „Es ist Zeit für einen Neubeginn.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)