Ein zweites Leben von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 34: Anforderung ----------------------- Reynier de Jarjayes durchquerte den Salon mit festen Schritten. Nur das leise Quietschen seiner Lederstiefel auf dem Boden unterbrach die angespannte Stille. Er passierte den Sessel, in dem seine Frau saß und hinter dem Sophie mit ihrem Enkel stand. Alle sahen ihn mit großen Augen an – darauf wartend, was nun geschehen würde. Reynier blieb direkt am Klavier stehen, damit er alle in seinem Blickfeld hatte. Insbesondere seine Tochter. Oscar versuchte die Ruhe zu bewahren und nirgends mehr hinzusehen, außer zu ihrem Vater. Ein flaues Gefühl keimte in ihr auf. Emilie de Jarjayes erhob sich aus dem Sessel und ging auf ihren Gemahl zu. „Was ist vorgefallen? Ist etwas mit dem König?“ „Seiner Majestät geht es gut“, brummte der General verstimmt und sah seine Tochter noch schärfer an. „Es geht um die Königin!“ „Was ist mit ihr?“ Oscar schoss in die Höhe. Das unwohle Gefühl in ihr verstärkte sich. „Sie hat mich zu sich bestellen lassen, nachdem du bei ihr warst!“, fuhr Reynier seine Tochter schroff an und ballte seine Hände zu Fäusten: „Ich komme gerade von ihr!“ Oscar erbleichte. Die Königin hatte sie doch nicht etwa verraten?! Nach all dem Vertrauen und ihrer Freundschaft?! Oscar verbat sich, sich nach Andre umzusehen. Sie sah stur nur ihren Vater an und sammelte ihre Fassung. „Kommt bitte zum Punkt, Vater! Was ist mit der Königin? Was wollte sie von Euch?“ „Sie sagte, du hast sie besucht!“ Verärgerung sprach aus dem eisigen Blick des Generals noch mehr als zuvor. „Ja, das habe ich. Aber das ist doch nicht verboten?! Es gehört zu meiner Pflicht!“ Oscar bekam eine Gänsehaut und es kribbelte ihr im Nacken. Das konnte sie nicht unterdrücken. Aber wenigstens sah man ihr das nicht an. „...und sie sagte, sie habe dabei vergessen, dir einen Auftrag zu erteilen!“, sprach der General barsch weiter, als wäre er nicht unterbrochen worden. „Einen Auftrag?“ Jetzt sah ihn Oscar verständnislos an. Was hatte sich denn die Königin für sie ausgedacht? „Was für ein Auftrag, Vater?“ Reynier änderte weder seine bedrohliche Haltung, noch seinen schneidenden Ton oder seinen funkelnden Blick. „Sie meinte, du hättest ihr in den Ohren gelegen, Frankreich sei arm! Und auf ihre Frage, wie arm, hättest du gesagt, man müsse mindestens ein Jahr bei den Bauern leben, um das zu verstehen!“ „Aber...“ Oscar blinzelte wie vom Donner getroffen. So etwas hätte sie sich niemals gewagt der Königin zu sagen! Sie hätte eine andere Formulierung gebraucht! Die Königin hatte sich das definitiv ausgedacht! „Oscar...“, hörte sie Andre unfassbar murmeln, aber sie schaute nicht zu ihm. „Stimmt das, Oscar?“ Madame de Jarjayes schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund. „Hast du ihrer Majestät das wirklich gesagt?“ Oscar antwortete nicht. In ihrem Kopf rasten die Gedanken wie im Flug: Was hatte die Königin nur mit ihr vor? Sie brannte darauf den Auftrag zu erfahren! Reynier interpretierte ihre Stummheit als Zustimmung auf die Frage seiner Frau. „Wie konntest du Ihrer Majestät so etwas sagen?!“, machte er seiner Tochter heftige Vorwürfe: „Das gilt als Verrat! Sie hätte dich deines Postens als Kommandant entheben können!“ „Und was hat sie stattdessen gemacht?“, stieß Oscar mühsam durch ihre zusammengepressten Zähne hervor. Jede Sehne ihres Körpers war angespannt, ihre Hände waren zu losen Fäusten geballt und ihr kribbelte es noch stärker im Nacken. „Sie hat dich für einen Jahr aus Versailles und Paris verbannt!“, schleuderte ihr Reynier lauter und strafend ins Gesicht: „Du sollst noch diese Woche dein Zuhause verlassen und abreisen!“ „Das ist ja furchtbar!“, entfuhr es Sophie unvermittelt von den Lippen und sie bekam beinahe einen Schwächeanfall. Sie konnte sich gerade so noch auf den Beinen halten. Ihr Enkel neben ihr bekam das nicht mit. Hilflose Wut brodelte in ihm. Er versuchte sie zu bändigen, aber sein verfinstertes Gesicht sagte schon alles. Wie konnte Marie Antoinette Oscar nur so etwas antun?! Nach all ihren treuen Diensten! „Verbannt?“, äußerte sich Emilie de Jarjayes ebenfalls fassungslos: „Aber wo soll denn Oscar hin?! Und das auch noch für einen Jahr?!“ „Oscar soll an Stelle Ihrer Majestät durch ganz Frankreich reisen, möglichst viele Bauern besuchen und soll nicht vor einem Jahr zurückkehren!“, erklärte Reynier seiner Frau trocken: „Das hat mir Marie Antoinette ausdrücklich mitgeteilt und noch hinzugefügt, wenn es ein halbes Jahr länger dauern sollte, um so besser!“ Er schnaufte gedämpft und hatte nur noch seine Tochter im Visier: „Verstehst du, was du angerichtet hast, Oscar? Ihre Majestät ist gekränkt! Du hast sie zutiefst beleidigt!“ „Nein, das stimmt nicht...“, dachte Oscar bei sich. Die Anspannung fiel von ihr ab und sie atmete innerlich auf. Die Königin hatte sie unter einem Vorwand verbannt, damit sie irgendwo im hintersten Winkel Frankreichs, weit weg von ihrem Elternhaus und dem Hofstaat, ihr Kind zur Welt bringen konnte. „Ich werde morgen mit Ihrer Majestät sprechen!“, mischte sich Madame de Jarjayes entschlossen ein. Sie fand ihre Fassung zurück und bekräftigte sie mit einer kerzengeraden Haltung. Die Verbannung ihrer Tochter gefiel ihr absolut nicht. „Ich kenne die Königin! Sie kann nicht lange gekränkt und beleidigt sein. Ich werde sie darum bitten, Oscars Strafe zu mildern. Ein paar Monate Hausarrest finde ich angemessener als ein Jahr Verbannung!“ „Mutter...“, protestierte Oscar vehement und warf ihr einen flüchtigen Blick zu. Sie war innerlich erschrocken. Der Hausarrest würde sie, ihren Mann und ihr Kind ins Verderben stürzen! „Ihr braucht nicht mit Ihrer Majestät sprechen... Ich werde das schon überleben...“ „Aber Oscar!“ Jetzt platzte auch Andre der Kragen. „Sei still und mische dich nicht ein!“, schnitt ihm Oscar barsch das Wort ab. Sie würdigte ihn immer noch keines Blickes. Ihr ungerechtes Verhalten gegenüber ihres Mannes tat ihr sogleich leid, aber sie wollte ihn doch nur schützen! Niemand der hier Anwesenden durfte etwas von ihrer Beziehung zueinander erfahren! Andre verletzte ihre Zurechtweisung sehr, aber er sagte nichts. Mit Oscar stimmte etwas nicht! Sie bewahrte zwar äußerlich die Ruhe, aber er merkte, wie sie krampfhaft versuchte, sich nicht von der Stelle zu rühren. Oscar behielt nur ihren Vater im Auge - hartnäckig und standhaft. „Wenn das der Befehl der Königin ist, dann werde ich ihn selbstverständlich ausführen! Ich gehe morgen zu ihr, um mich zu verabschieden. Danach packe ich meine Sachen und spätestens in zwei Tagen reise ich ab“, beendete Oscar und wollte sich schon abwenden, als ihr Vater sie aufhielt: „Das ist noch nicht alles, Oscar!“ „Es gibt noch etwas?“ Oscar sah ihn fragend an. Was hatte sich die Königin noch für sie ausgedacht? Reynier legte seine geballten Hände hinter seinem Rücken aufeinander und zog seine Brauen noch strenger zusammen. „Ihre Majestät hat zusätzliche Bedingungen gestellt! Da sie dich an ihrer Statt schickt, darfst du nicht in deiner Uniform oder als Kommandant reisen!“ „Die Bedingung akzeptiert, Vater. Ich ziehe es sowieso vor, in meiner Zivilkleidung zu reiten.“ Erneut atmete Oscar innerlich auf. Damit konnte sie leben. „Das Reiten hat sie dir verboten!“, redete der General gereizt weiter: „Ihre zweite Bedingung ist, dass du nicht reiten darfst! Sondern du sollst in einer Kutsche fahren, damit du nicht so schnell zurückkehren kannst! Und wenn du schon wie eine Dame darin fährst, hat sie mir mitgeteilt, wird sie dir diesbezüglich ein paar schlichte Kleider mit auf den Weg geben!“ „Kleider?“ Oscar erstarrte und verstand gleichzeitig den Sinn dahinter. Die Königin meinte sicherlich keine gewöhnlichen Kleider, sondern Umstandskleider! Und das Reiten hoch zu Pferde war für werdende Mütter bekanntlich gefährlich - deshalb die Kutsche! Marie Antoinette hatte anscheinend an alles gedacht! Im Salon herrschte wieder eine schwerwiegende Stille. Emilie de Jarjayes und Sophie starrten mit geweiteten Augen vom General zu Oscar und zurück. Andre dagegen starrte fassungslos Oscar an. In seinen Adern kochte bereits das Blut. Die Königin musste den Verstand verloren haben! Wie konnte sie von Oscar nur so etwas verlangen! Das grenzte an eine Unverschämtheit, an Verspottung! Und Oscar blieb dabei gelassen! Er hielt es nicht mehr länger aus: „Oscar! Wieso stellt sie dir solche Bedingungen? Ist die Verbannung nicht schon Strafe genug?“ „Andre!“, ermahnte ihn seine Großmutter und trat ihm wuchtig auf den Fuß. „Man kann sich nicht gegen den königlichen Befehl auflehnen!“ Andre ignorierte den heftigen Druck und Schmerz an seinem Fuß, als hätte er nichts gespürt. „Das weiß ich, Großmutter, aber...“ „Gebe Ruhe, Andre!“, bat ihn Oscar in ihrem altbekannten, kühlen Ton. Dennoch glaubte er, ein leichtes Zittern in ihrer Stimme vernommen zu haben. Was ging in ihr vor? Warum ließ sie das alles zu? Das sah ihr nicht ähnlich! Und sie sah ihn immer noch nicht an, als hätte sie Angst, dass er ihr auf die Schliche kommen könnte! An ihrer Statt warf ihm der General seinen streng gesonnenen Blick zu. „Hüte deine Zunge, Andre! Oscar hat sich das selbst zuzuschreiben! Wenn Ihre Majestät befiehlt, in einer Kutsche und wie eine Frau im Kleid zu reisen, dann wird sie das auch tun, ob sie will oder nicht! Und du wirst sie begleiten! Ich habe dich nicht umsonst in ihre Dienste gestellt!“ „Ja, General.“ Andre senkte seine Haupt. Wenn er mit Oscar in die Verbannung gehen würde, dann konnte er noch damit leben. Ohne sie würde er hier nicht einmal eine Woche aushalten, geschweige denn ein ganzes Jahr! „Dann ist es geklärt!“, hörte Andre den General sagen und hob wieder den Blick. Dieser widmete sich erneut seiner Tochter. „Und da ist noch eine letzte Sache, Oscar! Sie meinte, du sollst dir ein paar Bürger aus Paris als Begleitung nehmen!“ „Wozu soll das gut sein?!“, entfuhr es Madame de Jarjayes verständnislos: „Wären die Soldaten aus dem königlichen Garderegiment nicht besser dafür geeignet?“ „Das habe ich Ihre Majestät auch gefragt“, meinte darauf Reynier, ohne seine Tochter aus den Augen zu lassen: „Sie erklärte mir: Da du in die Verbannung fährst, Oscar, bist du außer Diensten! Deswegen stehen dir auch keine Soldaten der königlichen Garde zu!“ „In Ordnung, Vater.“ Auch dieser Bedingung stimmte Oscar leichthin zu. „Ich werde mich morgen, gleich nach dem Ersuch Ihrer Majestät, darum kümmern.“ „Gut, Oscar, das wäre alles!“ Dem General fielen ihre schnellen Zustimmungen natürlich auf und er krauste stutzig die Stirn, aber er machte sich nicht weiter Gedanken darüber. Umso besser, wenn Oscar deswegen keine Szenen machte. Auf eine Auseinandersetzung mit ihr hatte er kein Verlangen. Er musste wieder zurück nach Versailles und ihre Debatten hätten ihn nur unnötig aufgehalten. „Wenn du keine Fragen mehr hast, gehe ich jetzt.“ „Ich habe keine weiteren Fragen, Vater.“ Doch, Oscar hatte Fragen - aber nicht an ihn. „Dann mache mir keine Schande und kehre heil zurück!“ Reynier umfasste seine Tochter bei den Armen, sah ihr kurz in die Augen und verließ dann gleich stürmisch den Salon. Trotz seiner Strenge und Hartherzigkeit ihr gegenüber, wollte er nur das Beste für sie. Sie war sein Stolz, auch wenn sie einige Makel hatte und manchmal Fehler beging. Oscar sah ihm nach, bis die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte. Stumm bat sie ihn um Verzeihung und flehte ihn innerlich an, sie in das Leben einer Frau zu entlassen. Sie hätte gerne gewusst, wie er auf den Brief in ihrem früheren Leben reagiert hatte. Sie hatte ihm die gleiche Bitte niedergeschrieben und war am nächsten Tag mit Andre in den Tod geritten. Oscar schluckte bitter. Sie musste jetzt an ihr neues Leben denken! An das Leben, welches sich in ihr entwickelte! Sie merkte nicht, wie ihre Mutter an sie herankam. Erst ihre weiche Berührung an ihrem Arm und ihre gütige Stimme brachten sie dazu, ihr Augenmerk von der Tür abzuwenden. „Mein Kind. Du siehst geplagt aus“, sprach Emilie de Jarjayes fürsorglich zu ihr. „Kann schon sein, Mutter...“ Oscar bemühte sich um einen neutralen Ton. Emilie ließ sich davon aber nicht täuschen. „Du brauchst mir nichts vormachen, mein Liebling. Ich sehe dir an, dass ein Jahr weit weg von Zuhause auch dir nicht geheuer ist.“ „Ach, Mutter...“ Oscar seufzte schwer. Wenn sie nur wüsste, dass sie bald Großmutter werden würde. Oscar hätte es ihr liebend gerne offenbart, aber damit hätte sie ihren Mann in Gefahr gebracht und das wollte sie am allerwenigsten. Nein, sie würde das mit sich selbst ausmachen. „Es gibt Vieles, was mir nicht geheuer ist. Aber ich werde das schon schaffen.“ „Lady Oscar...“, unterbrach Sophie sie vorsichtig und gesellte sich an die Seite von Madame de Jarjayes: „...gestattet mir, Euch auf dem Weg durch Frankreich zu begleiten.“ „Großmutter! Das geht nicht!“, mischte sich Andre empört ein, aber blieb beim Sessel stehen. Wenn er schon mit Oscar in die Verbannung fuhr, dann sollte es auch nur bei ihm bleiben. „Ihr seid doch nicht mehr die Jüngste!“, erklärte er seiner Großmutter. „Du halte deinen Mund!“, wies ihn Sophie in die Schranken und hob mahnend ihren Zeigefinger in die Höhe: „Was weißt du schon, wie man gutes Essen zubereitet oder Wäsche wäscht?! Du treibst doch nur Unsinn!“ „Er hat aber recht, Sophie...“, ließ Oscar die alte Dame nicht weiter auf Andre herumhacken: „Der Weg durch Frankreich ist lang und anstrengend. Du musst auch an deine Gesundheit denken.“ „Aber wer wird sich dann um Eure Belange sorgen?!“ Sophie sah sie verständnislos durch ihre runde Brille an und ließ ihren Zeigefinger herabsinken. „Andre kommt doch mit.“ Oscar sah zum ersten Mal zu ihm hinüber, bemüht ihre wahren Emotionen nicht preiszugeben. „Und ich weiß schon, wer noch mitkommen kann. Ich werde morgen Rosalie aufsuchen und sie darum bitten.“ „Das ist eine gute Idee, mein Liebling!“, stimmte ihr Emilie erleichtert zu und auch Sophie atmete auf. Rosalie war ein gutes Mädchen und würde sich sicherlich mit Begeisterung um Oscar kümmern. Oscar hatte das auch gedacht und ihr schwirrten schon weitere Personen durch den Kopf, die außerdem noch in Frage kämen. Andre konnte ihren Vorschlag in dieser Hinsicht verstehen. Wenn er nur wüsste, was noch auf ihn zukommen würde! Er hatte nicht die leiseste Ahnung davon! Ihm kam es nur so vor, als wollte ihm Oscar eine geheime Botschaft mitteilen, was nur ihn und sie betraf! Nur aber nicht mehr heute! Heute war schon genug gesagt! Und dann noch diese eigenartigen Forderungen der Königin! Wie ungerecht! Wie Oscar das wohl verkraftete? Sie wirkte zwar gefasst, aber innerlich musste sie bestimmt kochen! Er kannte sie doch schon so lange! Er würde sie morgen auf dem Weg zu Rosalie ausfragen und nicht nachgeben, bis sie ihm alles verriet! Das nahm sich Andre vor. - - - Diese Nacht kam Andre kaum zum Schlafen. Immer wieder kreisten ihm Oscar, die Königin und alles, was am Abend passiert war, durch den Kopf. Er konnte zwar nichts gegen den Befehl Ihrer Majestät ausrichten, aber er würde an Oscars Seite bleiben - sie begleiten, sie unterstützen, was auch immer passieren würde! Sie war seine Frau, seine Liebe und er würde alles für sie tun! Auch Oscar schlief in der Nacht schlecht. Sie plagte ein schlechtes Gewissen gegenüber ihren Eltern und Andres Großmutter. Sie hatte ihnen allen ins Gesicht gesehen und ihnen eine verdientermaßen Verbannte gemimt. Das war entsetzlich! Wie tief würde sie noch sinken? Und wie weit würde sie noch gehen? Oscar lag auf ihrem Rücken - eine Hand gegen die Stirn gepresst, die andere ruhte auf ihrem noch flachen Bauch. Um sie herrschte vollkommene Dunkelheit. Sie wollte nicht einmal ein Feuer im Kamin angezündet haben. Sie suchte die Finsternis der Nacht und hatte sogar die Vorhänge am Fenster zugezogen, sodass kein Lichtstrahl vom Mond oder den Sternen in ihr Schlafgemach durchdringen konnte. Wo würde das alles bloß enden? „...mache mir keine Schande, Tochter...“ hatte ihr Vater zum Abschied gesagt. Aber was war schon Schande? Und wie grässlich sich dieses Wort anhörte! Sie hatte die Schande schon längst über ihre Familie gebracht, aber das war ungerecht! Warum war es schändlich, dass sie den Mann geheiratet hatte, den sie liebte und von dem sie ein Kind erwartete?! Oscars Finger tasteten sich an ihrem Bauch entlang und umschlossen ein Stück Stoff ihres Nachthemdes in einer Faust - nicht stark genug. Sie musste an das Wesen denken, das sich unter ihrem Herzen entwickelte! Sie durfte nicht die Nerven verlieren! Ihre Faust lockerte sich und ihre Finger ruhten wieder ausgebreitet auf ihrem Bauch. Oscar drehte sich auf die Seite, ohne ihre Hand davon zu lösen. Die andere Hand schob sie unter ihr Kopfkissen und schloss die Augen. Sie musste jetzt schlafen und an etwas anderes denken. Wie wäre es mit Andre? Sie würde ein ganzes Jahr mit ihm verbringen, ohne sich verstellen zu müssen! Das würde ihn bestimmt sehr erfreuen! Aber warum war er heute aufgebracht? Oscar runzelte die Stirn. Bestimmt wegen der Aufforderungen der Königin, die ihm nicht gefallen hatten! „Du wirst schon deine Meinung über sie ändern, das verspreche ich dir!“, dachte sie selbstsicher bei sich und ihre Stirn glättete sich wieder. Ein angenehmes Kribbeln entstand in ihrer Magengrube, als sie sich vorstellte, wie er auf die brisante Neuigkeit reagieren würde. Das würde ihn sicher noch mehr umhauen, als die Überraschung mit der Heirat! Und eine Überraschung war das wahrhaftig! Oscar hatte ihm zwar keine Überraschungen mehr versprochen, aber für diese war er selber verantwortlich! Wie sollte sie ihm das am Besten beibringen? Sollte sie ihn raten lassen, bis er aus Verzweiflung keinen Ausweg mehr wusste? Oder sollte sie ihn zappeln lassen und ihr Geständnis in die Länge ziehen, bis es ihn fast in den Wahnsinn trieb? Oder sollte sie lieber direkt sein, ihn mit einem eisigen Blick strafen und so tun, als hätte er etwas verbrochen? Armer Andre! Mit ihr hatte er es sicherlich nicht leicht! Und mit dem Kind? Wie würde er mit ihm umgehen? Was für ein Vater würde er sein? Auf jeden Fall nicht streng. Strenge passte nicht zu Andre! Eher liebevoll und nachgiebig. Am Ende würde er das Kind noch verwöhnen und ihm alles durchgehen lassen! Nein, sie würde schon für ein Gleichgewicht sorgen und alle beide zurechtweisen, falls das nötig sein sollte! Oscar lächelte bei dieser Vorstellung und glitt in einen traumlosen Schlaf. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)