Ein zweites Leben von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 38: Das Kind -------------------- Irgendwo an der Küste zum Mittelmeer und an der Grenze zu Spanien, wo sich die Gebirgskette der Pyrenäen ausstreckt, brachte Oscar ihr erstes Kind zur Welt. Sechzehn Tage hatten sie von Paris bis zu diesem Ort gebraucht. Es war ein Fischerdorf, nicht weit von Port, mit einer kleinen Kirche und hilfsbereiten Bewohnern. Sie wurden alle nett empfangen und es interessierte keinen Menschen, wer Oscar in Wirklichkeit war. Sie sahen sie als eine vornehme Dame, die die Monate ihrer Schwangerschaft hier verbringen wollte - mehr nicht. Das Leben hier im Süden war anders, als dort oben nahe Paris. Die Menschen lebten vom Fischfang, von Viehzucht und Bodenwirtschaft. Aber auch hier drückte die Steuer. Die ersten Wochen wohnten Oscar und ihre Begleiter in Gasthäusern. Bis das Haus eines reichen, alleinlebenden und verstorbenen Bauers zum Verkauf stand. Das Haus war nicht groß, aber für die siebenköpfige Mannschaft reichte es vollkommen aus. Im ersten Stockwerk befand sich eine Küche, die auch gleich als Speisezimmer diente. Die weiteren drei Zimmer wurden Madame de Soisson, Diane und Alain zugeteilt. Im oberen Stockwerk befanden sich weitere drei Räume. Den mittleren nutzten sie als Salon und die übrigen Zimmer behausten die zwei Ehepaare. Die Frauen kümmerten sich um den Haushalt und um Oscar. Die Männer um die Wirtschaft und den Rest. Madame de Soisson hatte in der Nachbarschaft eine gleichaltrige Heilkundige gefunden, die im Dorf auch als Hebamme tätig war. Ab da an verging keine Woche, ohne dass sie die werdende Mutter besuchte. Etwa um den vierten Monat konnte man bei Oscar schon eine leichte Bauchwölbung erkennen. Widerwillig, aber für das Wohl des ungeborenen Kindes, trug Oscar die Umstandskleider. Es war ein ungewöhnlicher Anblick und etwas völlig Neues - für sie, als auch für ihren Mann und ihre Freunde. Und auf einmal durfte sie sich keine Anstrengungen zumuten, ausreichend gut essen, täglich an der frischen Luft spazieren gehen und durfte sich nicht aufregen. Oscar fügte sich stoisch, aber behielt die Oberhand im Haus. Andre überhäufte sie mit übertriebener Fürsorge, was ihm schiefe Blicke oder das ein oder andere verstimmte Murren von ihr einbrachte. In den nächsten Monaten wurde Oscar noch launischer, was sie sich selbst nicht erklären konnte. Andre musste von ihr einiges einstecken, aber er ertrug das mit Fassung. Er liebte sie einfach zu sehr. Und nach den Worten der Hebamme und Madame de Soisson zu urteilen, lagen ihre miesen Launen an der Schwangerschaft. Aber sie versprachen ihm, dass seine Frau wieder ganz die alte sein würde, wenn das Kind erst geboren ist. Im Frühjahr 1783, genauer gesagt im blühenden Mai, war es nun endlich soweit. Die neun Monate waren verstrichen wie im Flug. Zuvor hatten die Frauen dafür gesorgt, dass die Männer aus dem Haus waren. Sie sollten sich um Andre kümmern und mit ihm an den Strand ausreiten - weit fern vom Haus, damit er die Qualen seiner Frau nicht mitbekommen konnte. Oscar wünschte ihn in so einer Stunde gerne bei sich, aber das war nicht angebracht. Und mit dem Wissen über seine empfindliche Seite, hatte sie dem zugestimmt. Er würde vor Sorge um sie noch umfallen und das wollte sie ihm nicht antun. Oscar hatte immer noch bildlich vor sich, wie er bei ihrem Geständnis aus dem Sattel gekippt war. Es würde auch ohne ihn gehen. Sie würde das schon schaffen. Man hatte ihr doch nicht umsonst beigebracht, kämpferisch, furchtlos und stark zu sein. Und das war sie, trotz ihres zartgliedrigen Körperbaus und dem wie eine Kuppel, fassrunden Bauchs. Nun suchte sich ihr Kind den Weg aus dem mütterlichen Leib und sie meisterte die Geburt unbeschadet. „Es ist ein Junge!“, frohlockte die Hebamme. Eine rundliche und freundliche Frau in den mittleren Jahren, mit der sich Madame de Soisson inzwischen angefreundet hatte. „Wie schön!“ Oscar sank erschöpft in die Kissen zurück und schloss für einen flüchtigen Moment die Augen, um wieder in einen ruhigeren Atem zu finden. Das lautstarke Gebrüll des Säuglings ließ sie jedoch nicht lange ausruhen und schreckte sie auf. „Ein geborener Befehlshaber!“, murmelte Oscar und musste schmunzeln. Sie, die wie ein Mann erzogen wurde weil ihr Vater nur Töchter vorweisen konnte, brachte den langersehnten Erben zur Welt! Was ihr Vater wohl dazu sagen würde? Nein, an ihn und den Hof durfte sie jetzt noch nicht denken! Jetzt galt es, ihr Mutterglück mit ihrem Mann zu genießen! Das brüllende Wesen wurde gerade von Madame de Soisson in einer Schüssel gebadet. Die Hebamme kümmerte sich derweilen um die Mutter. Diane und Rosalie beseitigten geschäftig alle blutigen Spuren, die eine Geburt hinterließ. Binnen weniger Minuten war alles erledigt. Auf ihrem Bett sitzend, unter der Decke und in ein frisches Hemd umgekleidet, lehnte sich Oscar erneut in die Kissen zurück. Man hat ihr für Körper und Geist wohltuenden Tee gegeben, den sie gleich gerne trank. Nach der Pflege der Mutter kehrte die Hebamme zu dem Neugeborenen zurück, der nach einem ordentlichen Bad in weiche Tücher gewickelt wurde. Er brüllte ohne Unterlass. Madame de Soisson brachte ihn zu Oscar ans Bett. „Er braucht Muttermilch.“ „Muttermilch?“ Oscar errötete verlegen, obwohl sie von der Geburt noch etwas rot war. Langsam ließ es aber nach und ihre Haut nahm wieder ihre normale Farbe an. Oscar streckte mechanisch ihre Arme nach dem Kind aus. Sie wollte ihn sehen und betrachten - erfahren, wer da neun Monate in ihr gelebt hatte, wegen wem sie so einen großen Bauch bekam und Umstandskleider ertragen musste. Und auch für wen sie da ihren Mann mit ihren Launen und dem Gezanke in den Wahnsinn trieb. „Ihr müsst ihm Eure Brust geben.“ Madame de Soisson zeigte ihr, wie man das Kind richtig hielt und legte es fürsorglich in den Ellbogen seiner Mutter. Oscar knöpfte den Ausschnitt ihres Hemdes auf und legte ihr Kind an, wie es ihr gesagt wurde. Der Kleine verstummte abrupt, als er die mütterliche Brust bekam und schmatzte daran genüsslich. Trotz des kleinen Körbchens hatte Oscar genügend Milch für ihn. „Das kitzelt!“ Sie lachte auf und betrachtete neugierig das saugende, pausbäckige Wesen in ihrem Arm: Der Kleine war fast genauso groß wie ihr Unterarm. Ein zarter, blonder Flaum bedeckte sein Köpfchen. Oscar strich ihm vorsichtig mit dem Zeigefinger die Wange entlang, dabei fielen ihr Strähnen ihrer Haarmähne nach vorn. Ihr Kind fuchtelte mit seinen winzigen Ärmchen in der Luft und verfing sich darin. Oscar befreite ihn und schob sich ihr Haar zurück hinters Ohr. „Entweder essen oder fechten. Beides geht nicht“, sagte sie dabei lächelnd und hielt sachte sein Fäustchen in ihrer Hand umschlossen. Ihre himmelblauen Augen leuchteten vor Stolz, was ihr aber nicht bewusst war. Draußen, außerhalb des Zimmers, entstand ein heftiges Poltern und schwere Schritte waren zu hören. Oscar verdrehte die Augen und seufzte. „Können sie nicht ein wenig leiser sein?“ „Das können nur Alain und Bernard sein“, vermutete Diane mit gerührtem Blick auf Mutter und Kind. „Sie versuchen bestimmt noch Andre zu bändigen“, fügte Rosalie hinzu. Ihre Augen leuchten nicht minder fasziniert und angetan. „Ihr wolltet doch, dass er solange draußen bleibt, bis Ihr nach ihm ruft.“ „Bernard und Alain sollen ihn mir ganz lassen, sonst können sie was erleben!“, grollte Oscar nicht ernst gemeint und milderte sogleich ihre Stimme: „Also gut! Andre darf reinkommen. Aber nur er!“ „In Ordnung.“ Madame de Soisson scheuchte ihre Tochter und Rosalie mit sich hinaus. „Wir wollen sie jetzt alleine lassen.“ Die Hebamme trat noch einmal an das Bett heran und betrachtete den schmatzenden Säugling mit erfahrenen Blick. „Er ist gesund und kräftig. Und auch Ihr habt alles gut überstanden, Madame. Ich werde morgen früh vorbeischauen. Aber falls Ihr mich braucht, schickt einfach Diane oder Rosalie zu mir. Jetzt ruht Euch aus.“ „Ich danke Euch von ganzem Herzen.“ Oscar schenkte ihr ein reines Lächeln. „Sobald ich aus dem Bett bin, werde ich mich natürlich erkenntlich zeigen.“ „Das eilt nicht, Madame. In erster Linie geht es mir um Euer Wohl und das des Kindes.“ Die Hebamme verabschiedete sich mit einem gütigen Gesichtsausdruck und kaum dass sie aus dem Zimmer war, lugte auch schon der braune Schopf von Andre durch den offengelassenen Türspalt. „Darf ich?“ „Wenn ich nach dir gerufen habe, mein Gemahl“, neckte ihn Oscar aus dem Bett. Andre schloss die Tür hinter sich und ging auf leisen Sohlen an das Bett heran. Sein Blick fixierte sich nur auf seine Frau und das, was da an ihrer Brust saugte. Ihm war klar, dass sie eine Tortur hinter sich hatte und jetzt erschöpft sein musste. Vom Hören und Sagen wusste er schon, wie schmerzhaft eine Geburt sein konnte. Bei Oscar hatte er das nicht mitbekommen, dafür hatten seine Freunde gesorgt und ihn weit weg vom Haus gezerrt. Als er es nach Stunden nicht mehr aushielt und vor ihnen Reißaus nahm, war schon alles vorbei. Bei jedem Schritt musterte er seine Frau und sein Kind ausgiebig. „Geht es dir gut?“, fragte er Oscar umsorgt, mitten auf dem Weg. Oscar war wohlauf und verfolgte jede seiner Bewegungen mit Argusaugen. „Mach dir keine Sorgen. Es ist alles in Ordnung. Setz dich lieber und leiste mir Gesellschaft.“ „Gerne.“ Andre glaubte ihr, denn er entdeckte nichts Auffälliges an ihr. Er setzte sich vorsichtig an die Bettkante und wagte sich nicht zu regen. Sein Vaterglück schien ihm irgendwie noch nicht begreiflich zu sein. Jeden Monat mit zuzusehen wie Oscars Bauch größer wurde und zu wissen, dass dort etwas wuchs, sich bewegte und trat, war eine Sache. Aber das Ergebnis seiner Zeugung mit eigenen Augen betrachten zu können, war etwas ganz anderes. Es war ein unbeschreibliches Gefühl aus Stolz, Unglaube und Rührung. „Er ist wundervoll“, flüsterte er nach kurzer Zeit: „Er hat deine Haarfarbe, Liebste.“ Er hob seinen Zeigefinger und strich ihm vorsichtig durch den weichen, hellgoldenen Flaum. „Er hat deine Essgewohnheiten“, bemerkte Oscar schnippisch. „Meinst du?“ Andre schaute ihr fragend ins Gesicht. Seine Finger ruhten weiter kaum merklich an dem Köpfchen des Kindes. „Und wie hast du das herausgefunden?“ „Er saugt wie du.“ Oscar grinste frech und zog sogleich wieder eine ernste Miene: „Nun ist aber Schluss damit. Die Hebamme sagte, solange ich stille, darf ich dich nicht an mich heranlassen. Das heißt, wir dürfen zwar in einem Bett nächtigen, aber nicht... na ja, du weißt schon...“ „Schade...“, seufzte Andre entrüstet. Schon seit ihr Bauch zu wachsen begann, ließ sie ihn nicht mehr an sich heran. Sie fürchtete, die wilde Leidenschaft könnte dem Kind schaden. Überraschenderweise, und was ganz und gar nicht zu ihrem hitzigen Temperament passte, war sie penibel darauf bedacht, alles zu befolgen, was ihr die Hebamme oder Madame de Soisson empfahl. „Und wie lange dauert so eine Stillzeit?“, fragte er an, um im Kopf auszurechnen, wie lange er warten musste. „Mir wurde gesagt, dass es von Kind zu Kind und von Mutter zu Mutter unterschiedlich ist.“ „Nun gut.“ Andre gab nach. Wenn die Zeit kam, dann kam sie. In seinem früheren Leben hatte er zwanzig Jahre warten müssen, bis ihm Oscar ihre Liebe gestanden und mit ihm eine einzige Nacht verbracht hatte, bevor der Tod über sie beide kam. In diesem Leben hatte er nur neun Jahre auf sie warten müssen und würde also die paar Monate der Stillzeit auch überleben. Hauptsache, sie waren jetzt eine richtige Familie! Andre wechselte das Thema, um nicht weiter darauf einzugehen: „Hast du schon einen Namen für ihn?“ „Nein, noch nicht.“ Oscar hob und senkte beiläufig ihre Schultern. „Ich überlasse die Wahl dir.“ „Hmm...“ Andre überlegte angestrengt. Dabei schaute er von der Mutter auf das Kind und von dem Kind auf die Mutter. „Wie wäre es mit Oscar?“ „Wieso unbedingt Oscar?“, wunderte sich seine Frau und zog ihre Stirn kraus. „Es reicht doch schon, dass ich so heiße!“ „Das stimmt, aber ich habe mir nur überlegt, dass es nicht schaden könnte, auch einen richtigen Jungen so zu nennen.“ „Andre!“ Oscar strafte ihn mit einem scharfen Blick, konnte aber nicht länger durchhalten und brach in Gelächter aus. Ihre Schultern bebten und ihr Kind quengelte auf ihrem Arm, fühlte es sich doch beim Trinken gestört. Oscar beruhigte sich und legte ihre freie Hand ihrem Mann zärtlich an die Wange. „Ich bin mit deiner Wahl einverstanden, mein Geliebter. Warum auch nicht? Wir werden ihn so oder so lieben.“ „Ach, meine liebste Oscar...“ Andre wurde von seinen Gefühlen noch mehr übermannt. Er zog sein Gesicht zu ihr, aber kaum hatte er ihre Lippen berührt, stoppte er. „Darf ich dich küssen? Oder verbietet das deine Stillzeit auch?“ Oscar betrachtete seine Gesichtszüge als würde sie darüber nachdenken. Ihre Hand streifte derweilen von seiner Wange herab, an seinem kräftigen Hals vorbei und verharrte still in seinem Nacken. Ihre Mundwinkel zogen sich leicht nach oben. „Du darfst“, sagte sie freudig und presste ihm schon selbst ihre Lippen auf den Mund. - - - Die nächsten Monate gemeinsamen Elternglücks verrannen noch schneller, als es dem Ehepaar lieb war. Ihr Kind wuchs und gedieh prächtig. Oscar trug wieder ihre Männerkleider und nahm sich zur Aufgabe, sich um die Menschen im Dorf zu kümmern, die am ärmsten von allen waren. Dafür wurde sie geachtet und geschätzt. Andre und ihr gemeinsamer Sohn begleiteten sie fast immer und überall hin. Diane und Rosalie wurden zu den Kindermädchen auserkoren und passten auf den Kleinen ohne Unterlass auf. Der Junge wuchs allen Bewohnern des Hauses und sogar den Nachbarn schon bald ans Herz. Er lernte und erkundete die Welt um sich herum mit Neugierde. Zuerst mit den Augen und zappligen Bewegungen seiner Gliedmaßen. Danach durch Antasten und Greifen mit seinen winzigen Händchen, sobald er krabbeln konnte. Es dauerte nicht lange, bis er im achten Monat nach seiner Geburt auch seine ersten Schritte machte. Und mit den ersten Schritten kamen ihm auch die ersten Silben über die Lippen, wie „Pa“ und „Ma“. Sprechen konnte er im Allgemeinen zwar noch nicht, aber er wusste sich schon mit undefinierbaren Lauten auszudrücken. Langsam entsagte er der mütterlichen Brust und wurde mit Brei oder klein zermahlenen Speisen ernährt. Und alle ihm vertrauten Gesichter konnte er auch unterscheiden. Er wusste, wer seine Eltern und wer die anderen waren. Im Ganzen war er ein aufgeweckter, kleiner Bursche und Liebling des ganzen Haushaltes. Noch ein Monat und dann war das Familienglück und das Zusammenleben vorbei. Es war schon längst Zeit für Oscar, nach Hause zurückzukehren und ihre Pflichten als Kommandant in der königlichen Garde wieder aufzunehmen. Sie hatte die Verbannung ein halbes Jahr mehr als erforderlich ausgenutzt und wäre gerne noch länger dem Hofstaat fern geblieben, aber das konnte sie nicht. Die Königin brauchte sie und sie würde sie nicht im Stich lassen. Nicht nach dem, was Ihre Majestät für sie getan hatte. Es war ihre Berufung, ihr Schicksal und davon würde sie nicht weglaufen. Da konnten Bernard und Alain ihr sonst noch was einreden und versuchen sie umzustimmen, ein neues Leben mit Andre und dem Kleinen wo anders anzufangen, aber sie würde trotzdem ihrem Gewissen folgen. Sie hatte sich doch bewusst für ein Doppelleben entschieden. Rose und Distel gleichzeitig zu sein, war sicherlich nicht leicht, aber sie würde das meistern. Mit ihrem geliebten Andre an der Seite, würde es leichter gehen. So dachte sie zumindest, bis sie und ihre Begleiter an einem frühen Abend Paris erreichten und sie sich voneinander verabschieden mussten... Der kleine Junge war noch viel zu klein um zu verstehen, dass seine Eltern ihn verließen und eine unbestimmte Zeit nicht zu ihm kommen würden. Er hatte ihnen zum Abschied gewunken und gelacht – mit seinem glockenhellen Stimmchen und seiner sonnigen Natur. Vielleicht, weil er Rosalie und Bernard mittlerweile schon zu sehr kannte und so an sie gewöhnt war, dass deshalb für ihn alles in Ordnung schien. Oscar und Andre fühlten sich wie Verräter an ihrem eigenen Kind. Die Sonne verschwand schon fast hinter dem Horizont, als sie das Anwesen erreichten. Keiner von ihnen sprach ein Wort, sie verstanden sich auch ohne. Sophie empfing sie mit einer Glückseligkeit und Freude, die für alle beide noch unerträglicher war, als der Abschied von ihrem Sohn. Wenigstens waren Oscars Eltern in Versailles, sonst wüssten sie nicht, wie sie auch das überstehen sollten. Später würden sie es schaffen, aber jetzt war ihnen alles zu viel. „Ich bin müde Sophie. Ich will nur noch schlafen“, sagte Oscar knapp zu ihrem einstigen Kindermädchen gleich nach der Begrüßung und stürmte auf ihr Zimmer. Sie sperrte sich ein und donnerte mit ihren Fäusten hart gegen die Tür. Nein, sie war nicht müde und wusste gar nicht, ob sie jemals wieder einen ruhigen Schlaf finden würde! Bittere Tränen rannen ihr haltlos über die Wangen und sie beachtete sie nicht einmal. Sie war ihren mütterlichen Gefühlen ausgeliefert und versuchte sie niederzuringen, aber erfolglos. Sie verachtete sich dafür, was sie mit ihrem Kind getan hatte und konnte nicht anders, als noch einmal aus Wut und Verzweiflung gegen die Tür zu schlagen. Das musste vergehen! Sie sollte sich wieder so verhalten, wie es die Erziehung von ihr verlangte! Sie hatte bis zum Morgengrauen Zeit, sich zu fassen und zu fangen. Und das würde sie schaffen, wie sie schon einiges bisher geschafft hatte. Wie unerträglich und qualvoll es auch sein mochte, aber es würde sich schon fügen. Andre war doch immer an ihrer Seite und würde ihr überall beistehen. Das war doch ein kleiner Tropfen Trost, der ihr wenigstens ein kleines bisschen Frieden in ihrem zerrissenen Herzen verschaffte. Andre hatte seiner Frau schwermütig nachgesehen, als sie überstürzt in ihr Zimmer gerannt war. Er wusste genau, dass sie allein sein wollte und lief ihr deshalb nicht nach. Den Grund kannte er nur zu gut, denn er war von denselben Gefühlen betroffen. Seine Großmutter überschüttete ihn mit Fragen, aber er reagierte nicht darauf und machte sich nur auf den Weg in sein Zimmer. Andre hatte schon fast vergessen, dass sich seine Großmutter nicht einfach abwimmeln lassen würde, ohne eine Antwort auf ihre Fragen zu bekommen. Sie stellte sich ihm aufgebracht in den Weg und ihr rundes Gesicht überzog sich mit der altbekannten Verärgerung. Sophie drückte ihre Hand ihrem Enkel gegen den Brustkorb und bewog ihn damit zum Stehenbleiben. „Was fällt dir ein zu gehen und mir nicht zu antworten?! Ich will alles wissen! War Lady Oscar gut versorgt?! Hast du auf sie gut aufgepasst?! Wo wart ihr überall gewesen?! Wart ihr in Schwierigkeiten...“ „Entschuldigt, Großmutter“, unterbrach Andre sie abwesend: „Wir sind alle müde... Es ist nichts passiert... Wir haben die Verbannung unbeschadet überstanden und Oscar ging es die ganze Zeit gut...“ Er umrundete sie und setzte seinen Weg fort. Sophie sah ihm verdattert und empört nach. Das sah ihrem Enkel nicht ähnlich! Auch ihr Schützling hatte mitgenommen ausgesehen. Vielleicht hätte sie nicht gleich von Anfang an mit ihren Fragen beginnen sollen. Aber sie hätte es doch gerne gewusst! Nun würde sie bis morgen warten müssen. Wenn ihr Enkel oder ihr Schützling überhaupt etwas erzählen würden. Andre hatte ihr mit seinen knappen Worten so angedeutet, dass er ihr alles gesagt hatte. Und Lady Oscar würde sich ganz sicher in ihre eisige Schweigsamkeit hüllen. Dafür kannte sie Sophie zu gut. „Ach, diese Kinder!“, schimpfte sie für sich entrüstet, aber sogleich beruhigte sie sich. Hauptsache, beide waren unversehrt und heil nach Hause zurückgekehrt! Und das war im Grunde das Wichtigste. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)