Ein zweites Leben von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 40: Unerfreuliche Neuigkeiten ------------------------------------- Auf dem Anwesen, bei einem gemütlichen Abendessen, erzählte von Fersen von sich und was er in Amerika erlebt hatte. Andre und seine Großmutter standen nebeneinander am Tisch, so wie es ihrem Rang angemessen war. Andre schielte zwischendurch zu Oscar. Was sie jetzt wohl über von Fersen dachte? Oscar saß dem Grafen gegenüber und hörte ihm nur mit halbem Ohr zu. Sie wusste ja im Grunde genommen über seine Erlebnisse in Amerika. „...Frankreich, ich bin zurückgekehrt. Ich trinke auf dein Wohl, du schönes Land...“, beendete von Fersen seine Erzählung und damit zeitgleich das Abendbrot. „Möchtet Ihr nicht mit mir und Andre nach Paris auszureiten? Jetzt gleich?“, schlug Oscar unvermittelt vor und erhob sich von ihrem Stuhl. „Ich möchte Euch etwas zeigen.“ „Oscar, du willst doch nicht...“ Andre biss sich noch rechtzeitig auf die Zunge und sah seine Frau erschrocken an. Er hätte sich beinahe in Gegenwart seiner Großmutter und dem Gast verraten. Er dachte an sein Kind. Hatte Oscar etwa vor, ihn von Fersen vorzustellen? Oscar schien seine Gedanken gelesen zu haben und kommentierte sie mit einem ermahnenden Blick. In Anwesenheit von Sophie und von Fersens, behandelte sie ihn meistens distanziert. „Nicht was du denkst, Andre“, meinte sie knapp und kühl. Sie würde doch ihr Kind niemals in Gefahr bringen, auch wenn von Fersen eine vertrauenswürdige Person war! „Aber, Lady Oscar...“, wand jetzt auch Sophie ein. Sie hatte die Hintergedanken der beiden nicht einmal erahnt. Für sie war dieses Verhalten zwischen ihnen normal und sie sah nichts Außergewöhnliches darin. Sie wollte nur nicht, dass sich ihr Schützling und ihr Enkel zu dieser späten Stunde nach draußen wagten. Es war, als wären sie noch Kinder, auf die man aufpassen müsste. Da die alte Haushälterin aber von Oscars Sturheit wusste, wälzte sie ihre Sorge auf den Grafen ab. „...unser Gast ist erst von einer langen Reise zurückgekehrt und draußen ist es bereits dunkel geworden...“ „Das macht mir nichts aus“, meinte von Fersen freundlich und stand von seinem Platz ebenfalls auf. „Mit Oscar durch Paris zu reiten würde mir sogar Freude bereiten.“ Seine Freude verflog jedoch, sobald er in Paris war. Die Straßen waren menschenleer und ruhig, aber Oscar ließ sich davon nicht beirren. Sie wusste anscheinend genau, wo sie hin mussten und wählte gezielt den Weg durch die nächtliche Stadt. In einer Seitengasse, an einem abgelegenen Hof, versammelte sich eine kleine Gruppe von einfachen Bürgern. Ein Mann im mittleren Alter stand auf einer großen Kiste und hielt vor ihnen eine Rede. Es ging um die Adligen und um die königliche Familie. Dass sie von den goldenen Tellern aßen und das einfache Volk verhungern ließen. Aus seiner lauten, fordernden Stimme sprach blanker Hass. Von Fersen schluckte vor Entsetzen seine bittere Galle herunter. Aber das war noch nicht alles. Oscar zeigte ihm noch etwas anderes. Sie ritt vor, fort von dem kleinen Menschenknäuel und blieb bei einer Hauswand stehen. Dort hing ein Bildnis von Marie Antoinette. Viele Messer steckten in dem gemalten Antlitz der Königin. Von Fersen schauderte es noch mehr. Er stieg aus dem Sattel und entfernte alle Messer, als würde er damit etwas ändern können. „Es wird besser sein, wenn Ihr morgen die Königin aufsucht“, sprach Oscar dabei gefasst und noch bevor er seiner Verzweiflung Luft machen konnte. „Frankreich ist in Aufruhr, wie Ihr gerade gesehen habt. In sieben Jahren hat sich vieles verändert. Das einfache Volk hat sich vom Königshaus abgewandt. Die hohen Steuern und die obersten Schichten unterdrücken es. Es verhungert, es leidet und es schreit nach Vergeltung.“ „Ihr habt recht, Oscar...“, unterbrach von Fersen sie erstickt und schlug verbittert mit seiner Faust gegen die Wand. „Ich habe mich wie ein Feigling benommen! Ich hätte von Anfang an bei Marie Antoinette bleiben sollen, wie Ihr mir stets empfohlen habt! Ihr habt mir jetzt vor Augen geführt, wie blind ich war! Warum habe ich nur nicht auf Euch gehört?“ Er drehte sich um und sah Oscar verbittert an. „Sagt mir bitte, wie ist es dazu gekommen?!“ „Es scheint Euer Schicksal zu sein, Graf“, sagte Oscar ohne lang zu überlegen. Direkt neben ihr berührte Andre sie sachte am Arm. „Wir müssen langsam los. Die Bürger könnten zurückkehren. Und wir wollen doch nicht, dass sie den Grafen womöglich noch erkennen.“ „Du hast recht. Wir müssen fort von hier. Nachts sind die Straßen von Paris für Adlige gefährlicher geworden.“ Oscar schenkte ihrem Mann einen langen Blick, bevor sie wieder von Fersen unverwandt ansah. „Wir können uns auch unterwegs oder bei mir auf dem Anwesen weiter darüber unterhalten.“ Von Fersen kam nicht umhin, diese Frau erneut zu bewundern. So viel Beherrschtheit und innere Willensstärke hätte er auch gerne gehabt. Sie zeigte nie offen ihre Gefühle, aber dennoch war sie ein herzensguter Mensch. Vielleicht wusste deshalb noch niemand über die Liebe zwischen ihr und Andre. Er glaubte sogar gespürt zu haben, dass es zwischen den beiden noch etwas Verborgenes gab, was sie quälte und gleichzeitig noch mehr miteinander verband. Noch auf dem Weg zum Anwesen traf von Fersen seine Entscheidung. Er würde morgen Ihre Majestät aufsuchen und sie darum bitten, von ihrem abgelegenen Schloss nach Versailles zurückzukehren. Zusätzlich beabsichtigte er seinem Vaterland abzuschwören und in ihre Dienste zu treten. Oscar nickte einvernehmlich. Sie wusste mit Sicherheit, er würde es so machen wie er sagte. Aber innerlich hatte sie die dunkle Vorahnung, dass seine Entscheidung nichts mehr am Geschehenen ändern würde. - - - Kalte Herbsttage legten sich über Frankreich. Es waren Wochen vergangen seit die Königin auf Bitten des Grafen von Fersens, mit ihren Kindern nach Versailles zurückgekehrt war. Oscar hatte am Hofe alle Hände voll zu tun. Als Kommandant der königlichen Garde war es ihre Pflicht, für Ordnung zu sorgen und ihre Soldaten auf Trab zu halten, zum Schutz der königlichen Familie. Auf dem Übungsplatz und hoch zu Pferde erteilte sie ihnen ihre Befehle; beanstandete wenn jemand aus der Reihe tanzte oder nicht ordnungsgemäß trainierte. „Für heute genug!“, teilte sie ihnen nach einem Übungskampf laut mit. Ihre hohe, energische Stimme hallte über alle Köpfe hinweg. Sofort brachen die Soldaten alles ab und stellten sich in Reihen auf. „Geht jetzt auf eure Posten!“, befahl ihnen Oscar herrisch, als alle stramm vor ihr standen. „Und morgen ist um dieselbe Zeit Inspizierung! Wegtreten!“ „Jawohl, Kommandant!“, antworteten die Soldaten im Chor und zerstreuten sich. Oscar trieb ihr Pferd an und überquerte, flankiert von zwei Reitern, den Übungsplatz im gemächlichen Gang. Sie wollte ins Warme, ihre unterkühlten Glieder kurz entspannen und dann sehen, was es heute sonst noch zu erledigen gab. Wenn nichts weiter anstand, dann würde sie sich den Nachmittag freinehmen und mit ihrem Mann nach Paris reiten. Sie stellte sich die leuchtend, grünen Augen ihres Kindes vor, wenn sie ihm sein Lieblingsgebäck aus Versailles mitbringen würde. Ihre Mundwinkel zogen sich kaum merklich nach oben. „Lady Oscar“, entriss sie der Reiter links von ihr aus ihren Träumereien: „Habt Ihr schon die neusten Neuigkeiten gehört?“ „Es gibt jeden Tag irgendwelche Neuigkeiten, Graf de Girodel“, konterte sie und setzte ihre ernste Miene wieder auf, ohne den Grafen anzusehen. „Um welche geht es diesmal?“ „Ein außergewöhnlicher Dieb treibt seit Kurzem sein Unwesen, Lady Oscar“, berichtete Victor de Girodel – ganz die Ruhe selbst und ohne die geringste Ahnung, was er jetzt auslösen würde: „Er bestiehlt nur Adlige und verteilt seine Beute unter den Armen. Man sagt, er trägt eine Maske, kleidet sich in Schwarz und seit gestern nennt man ihn: Schwarzer Ritter!“ Oscar traf es wie ein Schlag. Sie sah blitzartig nach rechts zu Andre. Von seinem verzogenen Gesichtsausdruck las sie die gleiche Besorgnis ab. Kalter Schauer überlief Oscars Rücken. Sie musste diesen Mann aufhalten, bevor das Schlimmste passierte! Andre nickte ihr zu. Er war ihrer Meinung und Oscar richtete ihr Augenmerk wieder nach vorne. „Graf de Girodel!“, verlautete sie fest und anordnend: „Ihr übernehmt die heutige Befehlsgewalt und ich reite nach Paris! Ich will mich näher über diesen schwarzen Ritter erkundigen!“ Sie stieß ihrem Pferd heftig in die Seiten und galoppierte mit Andre eilends davon. Girodel zügelte überrascht sein Pferd und sah ihr eine Weile wie angewurzelt nach. Eigentlich müsste er an ihre Laune schon längst gewöhnt sein, aber ihre urplötzliche Reaktionen verblüfften ihn immer wieder aufs Neue. Und er musste zugeben, sie hatte ihm während ihrer Verbannung sehr gefehlt. Er hatte die Aufforderungen der Königin und ihr Urteil nicht verstanden. Aber er verstand Oscar. Befehl war Befehl und dieser musste ausgeführt werden! Stolz und erhobenen Hauptes war Oscar in die Verbannung gefahren und erst sechs Monate später als geplant zurückgekehrt. Die erste Zeit sah sie geplagt aus. Na ja, wer würde das nicht, wenn man ein Jahr und sechs Monate lang durch ganz Frankreich gescheucht wurde?! Sie verlor kein einziges Wort darüber, was sie in der Verbannung erlebt hatte, aber auch das war bei ihr nichts Ungewöhnliches. Sie war schon immer kein redseliger Mensch. Wenigstens hatte sie sich in den letzten Monaten von ihrer Strafe erholt und war wieder der gewohnte Kommandant des königlichen Garderegiments. Oscar und Andre platzten in die Wohnung von Bernard und Rosalie, als würden sie jemanden verhaften wollen. Nur Bernard war anzutreffen. „Rosalie ist mit eurem Kleinen auf den Markt gegangen“, erklärte er seinen Gästen beim Eintreten und schloss hinter ihnen die Tür, ungeachtet ihrer finsteren Gesichtsausdrücke. Für die beiden war es bedauerlich, ihren kleinen Sohn nicht anzutreffen, aber da sie mit Bernard einiges klarstellen wollten, war es besser so. Oscar marschierte bis ans Fenster des ersten Raumes und betrachtete jede Ecke, jedes Möbelstück mit Argusaugen. Andre folgte ihr nur bis an den Tisch und drehte sich zu Bernard um. „Wir möchten von dir etwas wissen.“ „Dann nehmt bitte Platz“, lud Bernard sie freilich an: „Und ich schaue, ob wir vom Tee etwas übrig haben.“ „Nicht nötig.“ Oscar drehte sich am Fenster um und fixierte ihn streng. „Ich bleibe lieber hier stehen.“ Andre nahm dagegen auf einem der Stühle Platz - mit dem Rücken zu seiner Frau, um seinen Freund im Auge zu behalten. „Wir sind eigentlich nicht hier, um Tee zu trinken.“ „Nun gut.“ Bernard setzte sich ihm gegenüber hin. Ihm war nicht anzusehen, wie es in seinem Inneren wirklich aussah. „Erzählt, was ihr von mir wissen wollt. Geht es um den Kleinen? Oder um Rosalie?“ „Um keinen der beiden.“ Andre schüttelte verneinend den Kopf. „Indirekt schon“, erklang Oscars Stimme hinter ihm. „Es geht ganz alleine um dich, Bernard. Wir haben vom schwarzen Ritter gehört“, meinte sie direkt, als gehe sie in die Offensive: „Und seine Spuren führen uns hierher!“ „Moment mal!“ Bernard begriff nun, was sie von ihm wollten und versuchte zu seiner Verteidigung ungläubig dreinzuschauen. „Ihr glaubt doch nicht, ich sei der schwarzer Ritter?!“ „Es tut mir leid, Bernard...“, wand Andre unbeeindruckt ein und Oscar fügte trocken hinzu: „Wir haben Beweise. Und wir haben dich gesehen.“ „Wann und wo?“, verlangte Bernard pikiert zu wissen, aber sein Geist arbeitete, wie der eines Wachhundes, der eine Gefahr witterte. „Bei deinem letzten Raubzug“, fand Oscar die sofortige Erklärung. Das stimmte zwar nicht ganz, aber sie konnte ihm ja nichts über ihr wahres Wissen sagen und suchte nach einem plausiblen Ausweg. Bernards Haltung versteifte sich. Jetzt sah auch er finster drein. „Das meint Ihr doch nicht im Ernst?!“, platzte es aus ihm aufgebracht heraus: „Ich werde doch niemals unbefugt in Euer Haus eindringen!“ „Dafür aber in andere.“ Oscar ließ nicht locker und verschränkte ihre Arme vor sich. „Was unterstellt Ihr mir?!“ Bernard konnte nicht mehr ruhig sitzen und schoss in die Höhe. Er sah von Oscar auf Andre und seine Augen funkelten. „Ich dachte, wir sind Freunde!“ „Das sind wir, Bernard.“ Auch Andre erhob sich zu ganzer Größe, aber viel gelassener. „Und als deine Freunde, wollen wir dich vor der Gefahr bewahren. Man kann den Ärmsten der Armen auch anders helfen: Mit Spenden oder anderen Mildtätigkeiten, aber nicht mit stehlen!“ „Und wenn es keinen anderen Ausweg mehr gibt?!“, fuhr ihn Bernard an. Ihm war anscheinend der Kragen geplatzt und nun war es ihm egal, ob er dabei aufs Glatteis geführt wurde oder nicht. „Die Adligen nehmen sich was sie wollen und leben auf die Kosten einfacher Bürger! Während sie im Saus und Braus leben, sterben hier Menschen vor Hunger und Krankheit! Sie haben kein Geld und werden noch mehr von der Steuer erdrückt! Wie viele Aristokraten denkst du, setzen sich für sie ein?! Bis auf deine Frau habe ich kaum einen gesehen, Andre!“ „Willst du aber, dass man dich tötet?“, donnerte Oscar dazwischen, nicht minder aufbrausend und aufweisend. Sie stand nicht mehr mit verschränkten Armen am Fenster. Unbemerkt hatte sie sich an die Seite ihres Mannes gesellt und ballte nun ihre hängenden Hände zu Fäusten. „Weißt du überhaupt, was du damit anrichtest, Bernard?! Man wird harte Maßnahmen gegen den schwarzen Ritter ergreifen und mich mit meinen Soldaten einsetzen, um ihn zu fangen und zu töten! Willst du das? Ich nicht! Deswegen bitte ich dich inständig: Hör damit auf, bevor es noch zu spät ist!“ „Ich kann nicht, Lady Oscar...“, dämpfte Bernard seine Stimme: „Ich weiß Eure Sorge gut zu schätzen, aber jemand muss doch gegen das Leid des Volkes etwas tun. So kann das nicht weitergehen.“ „Bernard...“ Andre wollte etwas dagegen sagen, wurde aber von Oscar unterbrochen: „Lass ihn...“ Sie lockerte ihre Fäuste und fasste Andre sachte am Arm. „Du hast doch früher selbst gesagt, dass wir nichts dagegen ausrichten können, aber der schwarzer Ritter schon. Komm, lass uns lieber gehen.“ „Wie du willst.“ Andre gab ihr insgeheim recht. Weitere Debatten mit Bernard würden Nichts bringen. Oscar setzte ihre Füße in Bewegung und Andre folgte ihr beklommen. An der Tür hielten sie beide noch einmal kurz inne und Oscar schaute über ihre Schultern. „Ich kann es nachvollziehen, Bernard, wenn dir das kleine Kind gleichgültig ist. Aber denke wenigstens an Rosalie. Sie wird Gefahren ausgesetzt sein, wenn man den schwarzen Ritter schnappt. Und der Junge erst recht. Ich verspreche dir, ich werde mich um Rosalie kümmern, auch wenn ich und Andre wegen unserem Sohn dabei aufliegen sollten. Und ich werde mich natürlich mit meinen Truppen zurückhalten. Aber es gibt genügend andere, die hinter dem schwarzen Ritter her sein werden. Überlege es dir noch einmal gut, bevor du handelst.“ Oscar drehte sich nach dem letzten Satz um und ging mit Andre hinaus. Jede zweite Nacht brach der schwarze Ritter in einem der Adelshäuser ein. Oscar hielt sich zurück, wie sie es versprochen hatte. Aber ihre Sorgen wurden dadurch nicht weniger. Zusammen mit Andre hatte sie noch paar Male Bernard aufgesucht, aber dieser war kein einziges Mal mehr zu Hause anzutreffen. „An der Seite von Robespierre und als Journalist ist er viel zu viel unterwegs“, fand Andre nach eineinhalb Wochen heraus. „Wenigstens hat er Rosalie und unseren Jungen zu Diane geschafft.“ „Das ist nett von ihm, aber die Sache gefällt mir trotzdem nicht“, erwiderte dazu Oscar im sachlichen Ton. Sie saß in ihrem gepolsterten Sessel vor dem Kamin und ließ sich von dem prasselnden Feuer wärmen. Andre saß dicht bei ihr auf der Lehne und hielt ihre Hand, die auf seinem Knie ruhte. Beide befanden sich in Oscars Kaminzimmer. Falls die Tür im Salon aufgehen sollte, konnte Andre schnell hochspringen und sich an den Kamin stellen, um so zu tun, als führe er mit Oscar von dort eine belanglose Unterhaltung. „Ich weiß, was du meinst“, bezog er sich auf ihren letzten Satz: „Mir gefällt das auch nicht, aber leider kennen wir nicht seinen Aufenthaltsort. Wir können höchstens jede Nacht auf Bälle gehen, bis er uns irgendwann über den Weg läuft. Oder ich schneide mir die Haare ab, verkleide mich wie er und spiele den Lockvogel.“ „Andre!“, fuhr Oscar ihn erschrocken an: „Du weißt genau was passiert, wenn du das tust! Für dich ist dein Augenlicht vielleicht nicht von Bedeutung, aber für mich schon!“ „Es war nur ein Scherz!“, beruhigte Andre sie neckend und tätschelte sanft ihre Hand. „Mach das nie wieder!“ Oscar stupste ihn mit ihrem Ellbogen als Ermahnung in die Seite und lenkte gleich von dem Thema ab: „Wieso gehst du nicht lieber zu deinen neuen Bewegungen, so wie in unserem früheren Leben?!“ „Ich weiß doch, was dort abläuft, also brauche ich nicht hinzugehen.“ Andre schenkte ihr ein warmes Lächeln und hauchte ihr einen Kuss auf den Handrücken. „Ich bleibe lieber bei dir... meine Rose...“ „Ich bin im Moment eher eine Distel!“ Oscar entriss ihm hastig ihre Hand und schoss aus ihrem Sessel empor. Sie begann am Kamin mit langen Schritten hin und her zu laufen. „Bernard ist ein Dickkopf! Ich habe ihn gewarnt! Und was macht er?! Er lässt Rosalie und unseren Jungen bei einer jungen Frau wie Diane, die selbst schutzlos ist, wenn Alain in der Kaserne weilt! Das ist verantwortungslos von ihm, Andre! Wenn ihm schon sein eigenes Leben nicht von Belang ist, dann soll er wenigstens daran denken, was er Rosalie damit antut! An meiner Statt sitzt ihm jetzt Girodel im Nacken, weil er vor Kurzem in sein Haus eingebrochen ist!“ Ihr Redefluss glich einem tosenden Wasserfall und Andre wagte sie nicht zu unterbrechen. Wenn sie sich ausgesprochen hatte, würde sie sich schon beruhigen. Er würde dann aufstehen und sie in seine Arme schließen. Sie würde sich an ihn schmiegen und den restlichen Trost bei ihm finden. So passierte es meistens zwischen ihnen, wenn sie ganz unter sich waren und sich vor fremden Augen sicher fühlten. Oscar blieb abrupt mitten am Kamin stehen. „Andre, wir reiten nach Paris!“ „Jetzt gleich?“ Andre sah sie verwundert an. Diese Entscheidung hatte er von ihr nicht erwartet. „Es ist bereits dunkel geworden...“ „Das ist mir gleich! Ich lasse unser Kind und zwei wehrlose Frauen nicht ohne Schutz!“ „Alain ist doch bei ihnen, soweit ich weiß.“ Andre wollte auch bei seinem Kind sein, aber er sorgte sich auch um seine Frau. Oscar gab ihm innerlich recht. Alain verbrachte seine dienstfreien Tage bei sich zuhause und auf ihn war in jeder Hinsicht Verlass. Aber Oscar war trotzdem beunruhigt, als spüre sie ein Unheil aufkommen, das sie trotz ihres Wissens über ihr erstes Leben, nicht deuten konnte. „Ich reite trotzdem hin!“, beschied sie entschlossen und marschierte in ihr Zimmer, um ihren Mantel anzuziehen. Andre erhob sich schwer seufzend von der weichen, gepolsterten Lehne des Sessels und ging an die Tür im Salon. Oscar tauchte dort mitsamt ihres Mantels auch schon auf und gemeinsam verließen sie ihre Gemächer. Sie liefen den langen Gang entlang und dann die große Treppe herunter. Mitten auf dem Weg ins unterste Stockwerk begegnete ihnen Sophie. In Hast durchquerte die Haushälterin den breiten Vorraum und trug einen schweren Schlüsselbund mit sich. „Was geht hier vor, Großmutter?“, rief ihr Andre verwundert von der letzten Stufe der Treppe nach. „Man kann heute nicht vorsichtig genug sein!“, brummte die alte Frau unter ihrer Nase und setzte ihren Weg ohne anzuhalten fort: „Wie konnte ich nur die Hintertür vergessen?!“ „Sie hat anscheinend Angst vor dem schwarzen Ritter und verriegelt unser Haus deshalb wie eine Festung“, erklärte Oscar ihrem verdutzten Andre. Nebeneinander gehend erreichten sie den Ausgang. Da hörten sie wie aus dem Nichts einen schrillen Schreckenslaut von Sophie: „Ein Dieb!“ Oscar und Andre tauschten einen entsetzten Blick miteinander und rannten unverzüglich zu der Hintertür. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)