Ein zweites Leben von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 55: Abschied -------------------- Knapp zwei Wochen später stand Graf Victor de Girodel unverhofft vor der Tür. Einer seiner Männer hatte ihm berichtet, an einem leer stehenden Haus am Stadtrand habe er einige Söldner beobachtet, die früher Oscars Befehlsgewalt unterstanden. Und Graf Hans Axel von Fersen beliebe dort fast jeden Tag einzukehren. Das hatte Victor de Girodel sehr stutzig gemacht. Soweit er sich erinnerte, hatte Oscar Graf von Fersen immer als guten Freund geschätzt. Vielleicht tat sie das noch immer? Das musste er unbedingt in Erfahrung bringen! Sein gebrochenes Herz verlangte nach einer Erklärung, die nur sie ihm geben konnte! Victor passte von Fersen eines Tages ab und folgte ihm mit einigem Abstand durch ganz Paris. Am Stadtrand hielt von Fersen an, führte sein Pferd an ein abgeschiedenes Wohnhaus und übergab die Zügel an einen der Söldner, die dort in der Tat Wache standen. Das Pferd wurde in die Stallungen im Hinterhof geführt und von Fersen verschwand ins Innere des Hauses. Girodel trieb gemächlich sein Pferd an. Ein kleiner, blondgelockter Junge schoss um die Ecke des Hinterhauses und steuerte auf den Haupteingang zu. Hinter ihm hefteten sich eine junge Frau mit geschürzten Röcken und zwei Söldner an seine Fersen, die das Pferd des Grafen zuvor weggeführt hatten. Victor hatte das Mädchen und den Jungen auf Anhieb erkannt und schmunzelte zufrieden. Der Junge wurde gerade an der Haustür von einem weiteren Söldner abgefangen. „Du bist ein richtiger Wildfang!“, amüsierte er sich, stellte ihn vor sich ab, aber ließ ihn nicht los. „Ich muss ins Haus, Jean!“, konterte der Kleine aufrecht, als erteile er einen Befehl. Das brachte ihm wieder Gelächter von den Männern ein und seine drei Verfolger gesellten sich mit dazu. „Ein geborener Befehlshaber durch und durch!“, meinte einer von ihnen anerkennend und fasste ihn bei der Schulter. „Nun aber nicht so voreilig! Vorerst musst du mit uns Vorlieb nehmen!“ „Graf Fers ist hier und es gibt Berichte!“ Der Junge ließ nicht locker und entblößte frech seine Milchzähne. „Aber bestimmt nicht für deine kleinen süßen Ohren, die deine Eltern dir definitiv langziehen werden, wenn du nicht auf sie hörst!“, ermahnte ihn das junge Mädchen mit erhobenem Zeigefinger. Die Söldner grinsten zustimmend. „Das werden sie nicht!“, beharrte der Kleine selbstbewusst und streckte ihr die Zunge entgegen, was ihm noch mehr Gelächter auf seine Kosten einbrachte. Die leutselige, ausgelassene Stimmung verflog auf der Stelle, als ein Reiter in der Nähe anhielt. Sofort baute sich eine Wand aus blauen Uniformen vor dem Mädchen und dem Jungen auf. Und noch weitere Söldner kamen angerannt und richteten auf ihn die Gewehre. „Ganz ruhig, Männer!“, beschwichtigte sie der Reiter und hob seine leeren Handflächen hoch. „Ich beabsichtige nicht gegen euch zu kämpfen! Ich will nur...“ „Es ist uns gleich, was Ihr wollt!“, schnitt ihm einer von ihnen das Wort ab: „Verschwindet, solange Ihr noch könnt!“ Einer der Kameraden hinter ihm, der den Jungen zuvor eingefangen hatte und der Jean genannt wurde, schob derweilen das Kind und das Mädchen in das Haus. „Schnell, rein mit euch!“ Der Reiter hatte sie gesehen und rief lauter in ihre Richtung: „Wenn ihr schon hinein geht, dann könnt ihr gleich Lady Oscar melden, dass Graf de Girodel hier ist und sie sprechen möchte!“ „Mama! Mama!“ Der Junge stürmte aufgebracht in das große Zimmer, das als Küche, Speisesaal und Beratungsraum gleichzeitig diente. Auf dem einzigen großen Tisch lag eine Karte ausgebreitet. Seine Eltern, Alain und Graf von Fersen standen um sie herum gebeugt und besprachen etwas. Alle fuhren zeitgleich hoch, als der Kleine überstürzt hereinplatzte und seinen Wortschwall mitten auf dem Weg zu ihnen von sich zum Besten gab: „Mama! Da ist ein Graf Giro! Er will zu dir!“ Ihm folgten Jean und Diane auf dem Fuß. „Er meint Graf de Girodel, Madame Oscar“, korrigierte ihn Diane völlig außer Puste und Jean erstattete bestätigend Bericht: „So ist es! Die Männer lassen ihn auf keinen Fall durch und sind bereit, wenn nötig, zu schießen! Aber der Graf versicherte, dass er nicht auf einen Kampf aus ist. Er will nur mit Euch sprechen, Kommandant!“ „Der ist bestimmt Euch gefolgt!“, knurrte Alain mit schiefem Blick auf Graf von Fersen. „Oder wie erklärt Ihr Euch, dass er hier ist?!“ „Das tut mir leid“, entschuldigte sich von Fersen: „Aber ich schwöre, ich war vorsichtig!“ „Nicht vorsichtig genug!“ Alain schielte weiterhin grimmig zu ihm. „Hör auf, Alain.“ Andre legte ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter. „So gesehen ist Girodel keine große Bedrohung für uns.“ „Das sehe ich auch so!“, bestätigte ihm Oscar, ohne Jean aus den Augen zu lassen. „Ist Girodel alleine?“ „Ja, Kommandant.“ „Vergewissert euch, dass ihm niemand gefolgt ist und dann führt ihn hierher.“ „Jawohl, Kommandant.“ „Oscar, seid Ihr sicher, dass das so gut ist?“, wand von Fersen skeptisch ein, nachdem der Söldner gegangen war. „Da muss ich ihm zustimmen, Oberst“, fügte Alain etwas befangener, aber gleichzeitig auf der Hut, hinzu. „Ich kenne Girodel. Er war mir ein stets treuer Untergebener. Und ich glaube nicht, dass er etwas Böses im Schilde führt. Besonders was mich betrifft.“ „Aber Ihr habt seinen Antrag in der Kaserne abgelehnt, ihn sozusagen vor aller Augen bloßgestellt. Da kann auch schon mal ein nobler Herr durchdrehen“, sprach Alain seine Bedenken weiter aus. „Ich habe ihn in Versailles ein paar Mal angetroffen und es sah mir nicht danach aus, als würde er nach Rache sinnen“, erinnerte sich Graf von Fersen diesbezüglich: „Er sah mir eher verzweifelt und ruhelos aus.“ „Wir werden gleich erfahren, was er wirklich will“, meinte Oscar nichtssagend und trug Diane freundlich auf: „Bereite bitte für uns alle Tee.“ „Ja, Madame.“ Diane huschte an die Kochstelle. „Und du bleibst bei uns, mein Sohn“, trug Oscar ihrem Jungen auf und dieser stellte sich unverzüglich zwischen seine Eltern an den Tisch. So etwas ließ er sich doch nicht zwei Mal sagen. Victor de Girodel betrat den Raum - flankiert von zwei Söldnern zu beiden Seiten. Sie ließen ihn eintreten, schlossen hinter ihm die Tür und hielten dort vorsichtshalber Wache. Girodel grüßte alle Anwesenden mit einem Nicken und fixierte seinen Blick auf Oscar. Sie trug Zivilkleidung: Eine Hose, Hemd, eine Weste und Ausgehjacke. So wie Andre und der kleine Junge, der zwischen den beiden stand und mit den grünen Augen seines Vaters und mit dem Ernst seiner Mutter, ihn ausgiebig musterte. Ein einfacher Söldner mit einem roten Halstuch, Graf von Fersen und er selbst trugen dagegen Uniformen - je nach Rang. „Es erfreut mich, Euch wohlauf zu sehen, Lady Oscar. Ihr seht wie immer gut aus.“ „Die Freude ist auch meinerseits, Graf de Girodel“, erwiderte Oscar ihm höflich und ungerührt: „Wollt Ihr mir etwa erneut einen Antrag machen, oder weshalb seid Ihr hier?“ „Lady Oscar, glaubt mir, ich hätte Euch mein Leben lang Anträge gemacht, aber nicht wenn Euer Herz schon vergeben ist.“ Victor lächelte bitter. Sein Blick schweifte von Oscar auf Andre, dann auf das Kind und wieder auf Oscar. „Ich wollte mich nur vergewissern, dass es Euch gut geht und dass Ihr Eure Verletzung gut überstanden habt.“ „Mir geht es gut“, versicherte ihm Oscar ohne Umschweife: „Und ich danke Euch für Eure Sorge. Aber das erklärt noch immer nicht, weshalb Ihr wirklich hier seid. Hat mein Vater etwas damit zu tun?“ „Nein, Lady Oscar!“ Victor konnte ihr Misstrauen ein wenig verstehen. „Ihr wisst es vielleicht noch nicht, aber für Euren Vater seid Ihr gestorben.“ „Wie bitte?“ Das traf Oscar hart. Sie zeigte es nicht, aber ihre weit aufgerissenen Augen verrieten sie. „Das habe ich nicht gewusst... Und meine Mutter? Was sagt sie?“ „Was soll sie schon sagen, Lady Oscar? Sie sorgt sich um Euch, aber bewahrt ihr Ansehen.“ „Meine arme Mutter...“ Oscar schmerzte es noch mehr im Herzen, aber das änderte nichts an ihrer Entscheidung. „Wenn ich aus Frankreich fort bin, dann übermittelt ihr bitte, dass ich wohlauf bin. Ich bin dem Ruf meines Herzens gefolgt und ich bin glücklich mit dem, was ich habe. Sie soll sich um mich keine Sorgen machen, ich werde schon alles überstehen.“ „Ich werde es ihr genauso ausrichten, Lady Oscar“, versicherte ihr Girodel und zog seine Brauen leicht zusammen. „Aber was meint Ihr: Fort aus Frankreich? Warum wollt Ihr das Land verlassen? Ihr seid doch nicht verbannt, soweit ich weiß.“ „Jetzt schon.“ Oscar richtete ihr Augenmerk auf Graf von Fersen. „Bitte erklärt Ihr es ihm.“ Von Fersen räusperte sich in seine Faust, bevor er Girodel direkt ansprach: „Es hat sich noch nicht herum gesprochen, daher könnt Ihr es noch nicht wissen: Die obersten Generäle haben den König unter Druck gesetzt. Da sich General de Jarjayes von seiner Tochter losgesagt hat, ist sie von einem Moment zum Nächsten zu einer gewöhnlichen Frau geworden, die Männerkleidung trägt und früher der königlichen Garde gedient hat. Schon alleine das ist für die Obersten skandalös. Das gilt als Verrat und Verrat muss hart bestraft werden. Der König war sich unschlüssig, weil Oscar eigentlich mehr seiner Frau gedient hat. Deshalb wendete er sich an die Königin. Ihre Majestät war empört und hat die obersten Generäle in die Schranken gewiesen. Für Oscar hat sie dagegen eine Verbannung auf Lebenszeit verhängt und mich gebeten, ihr und ihrer Familie sicheres Geleit ins Exil nach Schweden zu geben.“ „Ihr trefft jetzt also die Vorkehrungen“, ergänzte Girodel mit einleuchtender Miene auf die Karte. „Wann wollt Ihr aufbrechen, Lady Oscar?“ „Morgen bei Sonnenuntergang. Es muss noch Einiges gepackt werden“, sagte Oscar dazu knapp und stierte selbst auf die ausgebreitete Karte auf dem Tisch. Es würde ein langer Weg von Frankreich nach Schweden sein, aber sie würden das schon meistern und überstehen. Ihre Schusswunde war soweit verheilt - sie musste nur den Verband ab und zu wechseln, aber das war halb so schlimm. Hauptsache war, dass sie wieder bei Kräften war und sich erholt hatte. Sie beabsichtigte eigentlich erst nächsten Monat Frankreich zu verlassen und bis dahin einige Sachen zu klären, aber die Verbannung hatte ihr beträchtlich die Zeit gekürzt. „Gestattet mir bitte, Euch ebenfalls zu eskortieren, Lady Oscar. Wenigstens bis zur Grenze Frankreichs“, hörte sie Girodel bitten. „Es wird mir eine Ehre sein, an Eurer Seite ein letztes Mal auszureiten und Euch über die Grenze in Sicherheit zu wissen.“ Oscar schaute zu ihrem Mann, verständigte sich mit ihm wortlos und nickte dann zustimmend dem Grafen de Girodel zu. „Wir sind einverstanden. Achtet nur darauf, dass Ihr alleine kommt und Euch niemand folgt. Und natürlich kehrt selbst unbeschadet zurück.“ „Das werde ich mit Sicherheit tun, Lady Oscar. Ich danke Euch vielmals.“ Girodel schmunzelte befreiter und Oscar gestattete ihm, zu bleiben. Er gesellte sich zu Graf von Fersen an den Tisch und sie alle beugten wieder ihre Köpfe über die Karte, bis Diane zu ihnen kam und mitteilte, dass der Tee angerichtet sei. - - - Der Abschied fiel allen Beteiligten schwer. Rosalie weinte hemmungslos als sich der Zug mit Lady Oscar am nächsten Spätnachmittag in Bewegung setzte. Ihr Mann gehörte zu den Begleitern, aber sie zählte selbst nicht mit dazu. Es würde ein langer Weg bis zur Grenze werden und sie wollte nicht die ganze Zeit Lady Oscars Reise mit ihren Tränen erschweren. Worte waren überflüssig. Bis auf ein „Passt auf Euch gut auf und kommt sicher an“ gab es nichts mehr, was sie ihr mit auf den Weg geben konnte. Von Oscars Seite galt das Gleiche. Zum letzten Mal drückte sich Rosalie an die Frau, die ihr so viel bedeutete. Oscar sagte nicht „weine nicht“, denn es wäre genauso überflüssig wie „Pass auf dich auf“. Stattdessen drückte sie die jüngere Frau beherzt an sich und flüsterte ihr in das blonde Haar, mit einem leichten Klumpen im Hals: „Rosalie, ich danke dir für alles, was du für mich und meine Familie getan hast. Sei tapfer und mutig, denn du hast noch Einiges vor dir... Aber mit Bernard wirst du das alles durchstehen. Er ist deine Kraft und Stütze... Folge deinem Herzen...“ „Ja, Lady Oscar...“ Rosalie schluchzte und dann ließ sie Oscar los, solange sie es noch konnte. Dann war der kleine Oscar dran. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die feuchten Wimpern, beugte sich zu ihm vor und umarmte ihn. „Sei lieb und höre auf deine Eltern. Jetzt bist du bei ihnen und es wird alles gut werden.“ Der kleine Oscar nickte und schenkte ihr sein sonniges Lächeln. Er konnte es kaum abwarten loszufahren, denn er würde zusammen mit seiner Mama auf ihrem Pferd reiten. Rosalie entließ ihn aus ihrer Umarmung und es stach ihr dabei wehmütig im Herzen. Sie würde ihn genauso vermissen wie Lady Oscar und Andre, von dem sie sich als Nächstes verabschiedete. Auch von ihm gab es Dankesworte zum Abschied und von ihr die Glückwünsche für eine gute Reise. Und zur aller Letzt kamen Diane und Alain dran. Dann brach der gesamte Zug auf. Bernard, Alain und seine elf Kameraden eskortierten die Kutsche, in der Diane fuhr und das ganze Gepäck, der Proviant und alles Nötige für die Reise eingepackt war. Andre, Oscar, Graf von Fersen und Graf de Girodel ritten etwas voraus. Der kleine Oscar saß stolz vor seiner Mutter im Sattel und winkte Rosalie, bis sie dann aus seinem Blickfeld entschwand. Die Sonne war schon untergegangen und hinterließ rosafarbene bis dunkelviolette Streifen am ganzen Himmel. Es sah wunderschön aus und neigte die Gemütsverfassungen in eine melancholische Stimmung. Die Wärme des Tages wechselte sich mit der frischen Frühlingsluft ab und alle hüllten sich noch tiefer in ihre Umhänge. Die Straßen waren bereits leer und still. Nur das gemächliche Hufklappern und das Rollen einer Kutsche hallten leise in der Umgebung. Graf de Girodel unterbrach als erster die Schweigsamkeit: „Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber ich muss die ganze Zeit an unsere allererste Begegnung denken, Lady Oscar.“ „Das wird mir auch unvergesslich bleiben“, meinte Oscar knapp, aber höflich und aufrichtig: „Ihr wart mir immer ein treuer Kamerad, Graf, und ich habe Euch schon immer als solchen geschätzt.“ Für Viktor war sie dagegen mehr als nur ein Kamerad und ehemaliger Kommandant der königlichen Garde. Aber diese Tatsache hatte er bereits tief in seinem Herzen begraben, denn Lady Oscar war für ihn noch unerreichbarer geworden als jemals zuvor. Sie war die Frau eines anderen Mannes und hatte sogar schon ein Kind von diesem, das gerade in den Armen seiner Mutter einschlief. Sein blonder Schopf sank immer tiefer auf ihren Ellenbogen nieder. Andre bemerkte das auch und flüsterte seiner Frau von der Seite zu: „Soll ich ihn in die Kutsche bringen?“ „Ach lass ihn doch...“, hätte Oscar am liebsten gesagt, aber ihr Arm wurde immer schwerer und es entstand schon ein Kribbeln unter ihrer Haut, was sie für eine Zustimmung entscheiden ließ. Sie nickte und übergab Andre den Kleinen, ohne ihn dabei zu wecken. Der gesamte Zug blieb daraufhin stehen und während Andre das Kind wegbrachte, nutzte Oscar die Gelegenheit und äußerte an Girodel eine Bitte aus: „Ich weiß nicht, ob ich jemals zurückkommen werde, aber ich möchte, dass Ihr mir etwas versprecht...“ „Was auch immer Ihr wünscht, Lady Oscar.“ Victor schien gar erfreut zu sein, für sie etwas tun zu können, egal was es sein würde. Oscar holte tief Luft und senkte ihre Stimme noch leiser, aber gerade noch für Girodel verständlich. „Bitte erhebt niemals die Waffe gegen wehrlose Menschen, auch wenn es der ausdrückliche Befehl von den obersten Generälen oder gar vom König selbst sein sollte... Und fragt bitte nicht, warum ich Euch das bitte... darauf kann ich nicht antworten...“ Girodel schaute sie eine kurze Weile verwundert von der Seite an, aber dann legte er seine Rechte auf sein Herz. „Ich verspreche es Euch, Lady Oscar.“ „Ich danke Euch, Graf de Girodel.“ Oscar war ihm in der Tat dankbar. Sie wusste, wenn er ihr etwas versprach, so würde er auch so handeln. Für sie würde es ihm gar nichts ausmachen die Seiten zu wechseln, erinnerte sie sich an seine Worte aus ihrem früheren Leben. Andre stieß wieder zu ihnen, ohne das Kind, und der Zug setzte seinen Weg fort. Graf von Fersen grübelte über das merkwürdige Versprechen nach, welches Oscar Graf de Girodel abnahm. Es schien, als würde Oscar etwas ahnen – etwas, das sie nicht sagen wollte. Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein und auf dem langen Weg vergaß er es schon bald wieder. Seine Aufgabe war es, Oscar bis nach Schweden zu begleiten und ihr beizustehen, so, wie er es Marie Antoinette versprochen hatte. Aber auch so hätte er das getan, denn Oscar zählte schon seit vielen Jahren zu seinen engsten und vertrautesten Freunden. An der Grenze zu Belgien nahm die kleine Truppe den nächsten Abschied. Diesmal von Girodel, Alain und den Soldaten. Sie machten über Nacht eine Rast im naheliegenden Wald und trennten sich dann. Abgesehen von Oscar, Andre und ihrem Kleinen musste sich auch Alain von seiner Schwester verabschieden. Diane würde mit nach Schweden gehen, so hatte sie es noch in den Tagen der Genesung mit Oscar besprochen. Ihr Schützling brauchte noch sein Kindermädchen und nach dem grausigen Vorfall dachte Alain, dass Frankreich auch für seine Schwester zu gefährlich geworden sei. Die Trennung fiel wieder einmal schwer, vor allem den Geschwistern, aber sie trugen es alle mit Fassung. Auf dem Heimweg dachte Alain darüber nach, was Oscar ihm zum Abschied gesagt hatte: „Da ich kein Befehlshaber mehr bin, liegt die Führung deiner Kameraden nun bei dir. Sorge dafür, dass niemand von der Militärpolizei verhaftet wird, vor allem Lassalle nicht. Und seid bei eurem Tun vorsichtig... Und vertraue auf das Volk...“ Sehr eigenartige Worte hatte sie gewählt, aber Alain hatte es ihr selbstverständlich versprochen. Doch dann überraschte sie ihn gleich mit dem, was sie Lassalle gesagt hatte: „Trete niemals ohne deine Waffe zum Appell an. Wende dich an Alain, denn er wird schon wissen, was zu tun ist...“ „Jawohl, Kommandant.“ Was konnte Lassalle ihr noch sagen?! An Bernard hatte sie auch etwas Seltsames geäußert: „Ich fürchte, es wird bald mehr Unruhen in Frankreich geben, aber ich habe einen anderen Weg gewählt... Ach, höre nicht auf mich... Höre lieber auf den Ruf deines Herzens - du wirst es schon richtig machen und das Volk wird dir folgen...“ „Selbstverständlich, Lady Oscar.“ Bernard hatte sich über ihre Wortwahl auch gewundert, aber Oscar war schon immer etwas außergewöhnlich und vielleicht forschte er deshalb nicht weiter darüber nach. Girodel verweilte noch einige Zeit an der Grenze, bis schon alle längst fort waren. Mit den einfachen Soldaten wollte er nicht zurückkehren, weil sie ohnehin nicht seinem Stand angehörten. Er sah lieber noch etwas länger in die Richtung, in der Lady Oscar schon längst nicht mehr zu sehen war und nahm den Abschied, den er ihr nicht von Angesicht zu Angesicht sagen konnte. Es hätte ihm ohnehin nichts gebracht und es hätte sowieso nichts an der Tatsache geändert, dass sie sich für einen anderen entschieden hatte. Gleichzeitig dachte Victor aber auch an das Versprechen, das er ihr gegeben hatte. Was meinte sie damit? Wie dem auch sei, er hatte es ihr versprochen. Victor wendete sein Pferd und ritt langsam zurück in Richtung Paris. Von dort aus nahm er den Weg auf das Anwesen de Jarjayes. Er suchte Madame de Jarjayes auf und überbrachte ihr die Nachricht von Oscar, dass sie nun fort nach Schweden sei. Und er entschuldigte sich, dass er nicht schon früher ihr Versteck verraten konnte. Im Salon befand sich auch die alte Haushälterin, die Großmutter von Andre und die einstige Kinderfrau von Oscar. Nach dem Auftragen des Tees für die Madame blieb sie einfach an ihrer Seite und versuchte zusammen mit ihrer Herrin, die bitteren Tränen vor dem Gast zu unterdrücken. Und ob es Zufall war oder nicht - auch der General war anwesend. Von ihm kam kein Ton, keine Gefühlsregung – nichts. So, als existiere Oscar wirklich nicht und Victor würde über eine Fremde erzählen. In Wirklichkeit saugte Reynier jedes einzelne seiner Worte auf und hauchte im Geiste ein „Danke“ - dafür, dass es seiner Tochter gut ging und dass sie an einem sichereren Ort aufgehoben war, als hier Daheim oder sonst wo in Frankreich. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)