Ein zweites Leben von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 57: Unerwarteter Besuch ------------------------------- Der achtjährige Oscar hätte nie gedacht, dass sein zwei Jahre alter Bruder ihn verraten würde können. Er ging mit ihm in den Stall, um zu zeigen, wie selbstständig und mutig er auf Mamas weißem Pferd reiten konnte - obwohl er das ohne Aufsicht seiner Eltern eigentlich nicht durfte. Es war ihm sogar strengstens verboten. Aber solange er im Stall bleiben würde, würde das schon niemandem auffallen. Und es würde dabei auch nichts passieren. So dachte der kleine Oscar und zog seinen jüngeren Bruder am Handgelenk mit sich. An der Box blieben die beiden Jungen stehen. Der Ältere holte aus einem Holzeimer einen Apfel. „Sieh zu und lerne!“, beschied Oscar den kleinen Reynier naseweis und öffnete die Boxtür. „So gewinnt man das Vertrauen des Tieres und dann ist es brav! Das hat Papa mir gesagt.“ Der kleine Reynier nickte und seine blaue Augen schimmerten erwartungsvoll. Papa sagte öfters solche Sachen. Reynier war neugierig darauf, ob es sein großer Bruder ohne Papa oder Mama schaffen würde. Oscar hatte jedoch nicht bedacht, dass das Pferd schon seit Tagen in der Box stand und sich nach Auslauf sehnte. Sobald die Boxtür aufging, witterte es die Möglichkeit und nahm Reißaus. Oscar landete überrascht auf seinem kleinen Hintern und der Apfel flog ihm im hohen Bogen aus der Hand, als das Pferd an ihm rasend vorbei preschte. „Bleib stehen!“, rief ihm Oscar nach und sprang behände wieder auf die Beine. Der weiße Schimmel hörte ihn zwar rufen, reagierte aber nicht im Geringsten darauf. Er spürte Freiheit in seiner Mähne und galoppierte ohne anzuhalten auf die Stalltür zu. Diese war nur einen Spaltbreit offen, was für ihn aber gar kein Hindernis darstellte. Und im nächsten Augenblick stürmte er schon auf den Hinterhof und tobte sich dort aus. „Nicht da lang!“, rief Oscar lauthals und setzte, mit seinem jüngeren Bruder im Schlepptau, dem Tier nach. Jemand kreischte schrill und entsetzt. Die beiden Jungen beschleunigten ihren Schritt. Es würde ein Donnerwetter geben, dass spürte Oscar schuldbewusst, aber machte keinen Rückzieher. Im Hinterhof des Hauses hing Diane die frisch gewaschene Wäsche auf einer Leine auf. Wie aus dem Nichts fing urplötzlich die Erde an zu beben und hinter ihrem Rücken erklang ein wildes Hufklappern. Erschrocken drehte sich Diane um und da sauste der weiße Schimmel an ihr vorbei. Mühelos durchtrennte er mit seinem mächtigen Gewicht die Wäscheleine. Dianes ganze Mühe war umsonst, denn die Kleidungsstücke landeten verstreut auf den Erdboden. Sie kreischte schrill vor Entsetzen und das lockte auch die beiden Eltern der Jungen aus dem Haus. Fast gleichzeitig kamen sie bei Diane an. „Was ist passiert?“, fragte das Ehepaar im Chor. Diane zeigte auf das herumlaufende Pferd und dann auf die Kleidungsstücke auf dem Boden. „Die Wäsche ist dahin, Madame Oscar! Und Euer Pferd ist daran schuld!“ „Wer hat ihn denn freigelassen?!“ Oscar zog streng ihre Augenbrauen zusammen und warf einen strafenden Blick auf ihre Söhne. Der kleine Reynier zeigte mit seinem Finger auf seinen großen Bruder und verriet ihn mit: „Er!“ „Ich werde dein Pferd einfangen, Oscar, und es auch gleich für dich satteln“, meinte Andre von der Seite und lief in Richtung des Ausreißers. Oscar bejahte ohne ihn anzusehen. Ihr Augenmerk und ihre Aufmerksamkeit galten ganz allein ihrem Ältesten. Dieser bedachte seinen jüngeren Bruder mit einem schiefen Blick und sah dann aufrecht zu seiner Mutter hinauf. „Ich habe dein Pferd nicht absichtlich freigelassen! Ich wollte ihm nur einen Apfel geben und als ich die Boxtür öffnete, ist es weggerannt!“ Sein Wortschwall glich einer Berichterstattung und so sehr gelogen war es ja sogar nicht, wie er nebenbei selbst feststellte. Doch seine Mutter beeindruckte das keineswegs. Turmhoch stand sie vor ihm, faltete ihre Hände hinter sich aufeinander und schaute grimmig auf ihn herab. Er konnte sie nicht täuschen. Sie kannte seine Beweggründe auswendig und kam ihm gleich auf die Schliche: „Du wolltest ihm nicht nur ein Apfel geben, sondern ihn auch noch ausreiten! Ohne Papas oder meine Erlaubnis!“ Oscar der Jüngere zuckte nicht einmal mit der Wimper. Er straffte sein Rückgrat noch aufrechter und betrachtete seine Mutter flegelhaft. „Und wenn dem so wäre?“ Oscar verdrehte entrüstet die Augen und schlug sich ihre Hand gegen die Stirn. „Eine Armee anzuführen ist viel leichter, als euch drei ohne Aufsicht zu lassen!“ „Uns drei?“ Ihr Ältester sah fraglich auf sich herab und dann zu seinem kleinen Bruder. „Wer ist der dritte?“ „Der mir euch zwei eingebrockt hat“, erklärte ihm Oscar mit einem knappen Satz und entfernte ihre Hand wieder von der Stirn. Sie schaute sich nach ihrem Mann um. Andre hatte schon das Pferd eingefangen und führte es gerade in den Stall zurück. Oscar beobachtete ihn dabei verschmilzt. Ihr glänzender Blick und das kaum merkliche Lächeln auf ihren Lippen verrieten ihrem Ältesten, dass sie Papa meinte und ihre Worte nicht ernst gemeint waren. Diane hatte derweilen die Wäsche vom Boden aufgesammelt und in den Korb zurück geworfen. Sie ließ ihn stehen, um sich später darum zu kümmern. Sie kam zu ihren beiden Schützlingen und riss Oscar aus ihrer kurzen Träumerei: „Madame? Andre sagte, er würde das Pferd für Euch satteln. Heißt das etwa, dass Ihr alleine auszureiten beabsichtigt?“ „Ich beabsichtige nicht, ich muss“, erklärte Oscar sachlich und schenkte Diane ihre vollkommene Aufmerksamkeit. „Ein Dienstbote des Grafen von Fersen war hier und sagte, dass sein Herr mich zu sich bittet. Es gibt Neuigkeiten, die besprochen werden müssen.“ „Aus Frankreich?“, bemerkte Diane angespannt. „Wäre möglich. Deshalb reite ich jetzt schnell zu ihm.“ Oscar verstummte. Sie verschwieg ihr, dass der Bote noch etwas mitgeteilt hatte: Graf von Fersen hatte Besuch empfangen und das war auch der zweite Grund, weshalb er Oscar zu sich bat. Auf die Frage, wer der Besuch sei, sagte der Bote, er dürfte es nicht verraten. Aber es sei ein willkommener Besuch von zwei Menschen, die sie wiedersehen wollten. Oscar hatte den Boten mit der Antwort zurückgeschickt, dass sie nachkommen würde. Danach hatte sie mit Andre überlegt, wer der Besuch sein könnte. Sie tippten auf Bernard und Rosalie, aber diese zwei hätten wohl eher einen Brief geschickt. In Frankreich herrschte Ausnahmezustand und es war praktisch unmöglich, heil daraus zu kommen. Der Sturm auf Bastille vor zwei Jahren war nicht das Ende, sondern erst der Anfang. Oscar und Andre bekamen immer seltener Nachrichten aus Frankreich. Und sie waren allesamt erschütternd. Die letzte war, dass das Volk Versailles gestürmt und die königliche Familie in die Tuilerien verbannt hatte. Die Nationalversammlung, mit Robespierre an der Spitze, setzte sich durch, erließ neue Gesetze, verurteilte Adlige und entzog ihnen die Privilegien. So auch der Königsfamilie. Oscar bangte um ihre Eltern und um alle, die dort geblieben waren. Aber sie konnte leider nichts dagegen tun. Sie war aus ihrer Heimat vertrieben und von ihrer Familie verstoßen worden. Die Hände waren ihr mehr gebunden, als jemals zuvor. Sie wusste nicht, was die Zukunft parat hielt. Denn in ihrem früheren Leben waren sie und Andre schon längst tot. Mit der Geburt ihres zweiten Sohnes hatte ihnen das Schicksal ein neues Leben geschenkt und sie gleichzeitig dazu gezwungen, die Geschehnisse in ihrer Heimat aus der Ferne zu beobachten. Oscar seufzte schwer. Sie war zum Teil nicht mehr die, zu der sie einmal erzogen wurde. Kein stolzer Kommandant mehr, aber noch standhaft und kämpferisch genug. Bei dem Wortaustausch zwischen Diane und ihr verzog ihr Ältester sein Gesicht. Er würde niemals vergessen können, was Frankreich ihm und seinen Eltern angetan hatte - insbesondere seiner Mutter. Die Erinnerung an den verhängnisvollen Tag schwand zwar mit den Jahren, aber es graute ihm noch immer, wenn seine Eltern über Frankreich sprachen. Entschlossen machte er einen Schritt auf seine Mutter zu. „Habe ich die Erlaubnis, dich zu Graf von Fersen zu begleiten?“ „Für das, was du hier angerichtet hast, sollte ich dich eigentlich versohlen! Meinst du nicht?“, meinte Oscar zu ihm, nicht mehr ganz bei der Sache. Der Junge nutzte die Gelegenheit gleich für sich aus und zog eine schiefe Grimasse. „Das kannst du danach machen. Aber ich möchte dich nicht alleine lassen.“ Oscar fasste sich wieder an die Stirn. Nachdem der Bote des Grafen gegangen war, hatte Andre darauf plädiert, sie zu begleiten. Sie konnte ihn nur mit Mühe überreden, bei den Kindern zu bleiben. Sie hatte ihm versichert, spätestens zum Nachmittagstee zurück zu sein. Jetzt verlangte ihr Ältester das Gleiche, als hätte er sich mit seinem Vater abgesprochen. Es waren noch etwa vier Stunden bis zum Vespern. Zum Glück wohnte von Fersen nur eine viertel Stunde im Schnellritt von ihnen entfernt. „Nun gut“, gab Oscar entnervt nach. Sie wollte nicht auch noch mit ihrem Ältesten eine Debatte eingehen. Ihr gleichnamiger Sohn war genauso ein Dickschädel wie sie und nicht so leicht umzustimmen wie Andre oder ihr Jüngster. Der zweijährige Reynier war ein stilles Wesen, aber nicht minder wissbegierig und neugierig wie sein großer Bruder. Nur verhielt er sich ruhiger - mit seiner gelassenen Art glich er mehr seinem Vater. Auch das braune Haar und die männlichen Gesichtslinien hatte er von Andre geerbt. „Ich verspreche, ich werde artig sein!“, gelobte Oscar und konnte es kaum abwarten, mit seiner Mutter loszureiten. - - - „Lady Oscar ist mit ihrem ältesten Sohn, Oscar dem Jüngeren, gerade eingetroffen, Herr Graf“, meldete ein Lakai seinem Herren den Besuch an. „Das ist gut.“ Graf von Fersen erhob sich von seinem Sessel und ging selbst zur Tür seines Salons, um Oscar zu empfangen. Zwei Damen, die ihm gegenüber auf einem Sofa saßen, wechselten miteinander einen Blick und sahen erwartungsvoll dem Grafen nach. Oscar betrat den Salon ohne sich umzusehen und grüßte den Grafen mit einem Handdruck. „Mir wurde gesagt, Ihr habt Besuch. Ich will Euch nicht länger stören, deshalb schlage ich vor, dass wir uns kurz fassen.“ „Du bist immer noch so direkt und knapp beim Wort, Oscar... mein Kind...“, hörte sie eine weiche Frauenstimme nicht weit von sich sagen und erstarrte. Ihr Herz hämmerte aufgeregt und schuldbewusst. Die Hand des Grafen entglitt ihr und er selbst trat zur Seite. Damit gewährte er ihr den freien Blick auf das breite Sofa in seinem Salon. Oscar schluckte gebannt und konnte sich nicht mehr vom Fleck rühren. „Mutter...“, hauchte sie kaum hörbar: „Sophie...“ Ihr Sohn zog sie unverständlich am Ärmel ihrer Ausgehjacke. „Wer sind die, Mama?“ „Deine Großmutter... und deine Urgroßmutter...“, erklärte ihm Oscar beiläufig und ihre Füße setzten sich schleppend in Bewegung. Die zwei Damen erhoben sich vom Sofa beinahe gleichzeitig und kamen ihr entgegen. Beiderseits langsam, als wüssten sie nicht, wie sie miteinander umgehen sollten. Oscar blieb vor ihnen stehen - unschlüssig, achtsam, dennoch selbstbeherrscht und in ihrer ganzen Würde. Ihr Sohn wich ihr nicht von der Seite und ahmte ihre Haltung nach. Bei Betrachtung des Jungen schlug sich Sophie die Hand vor dem Mund. Sofort kam ihr die Erinnerung hoch: Als sie ihm mit einem älteren Mädchen ein einziges Mal begegnet war. Was für ein unfassbarer Zufall! Und sie hatte damals nicht die geringste Ahnung, wer er sei, obwohl er sie an ihren Enkel und an ihren Schützling gleichermaßen erinnert hatte! „Du hast dich kaum verändert, meine Tochter.“ Emilie de Jarjayes unterbrach als erste die eisige Stille und fasste Oscar mit zittrigen Fingern bei den Armen. Ihr Gesicht war vor Kummer und bitteren Erlebnissen gezeichnet. Ihre sonst so feine Haut schien fahl und um Jahre gealtert zu sein. Sie wirkte abgemagert und kraftlos. Ihre Augen schimmerten glasig und trugen dunkle Ringe, als hätte sie schon seit Langem keinen Schlaf mehr gehabt. „Ich weiß, dein Vater hat dich aus der Familie verstoßen, aber du bist und bleibst für immer mein Kind... Bitte, Oscar... sei nicht so hartherzig... Vergib mir meine Fehler...“ „Ihr habt doch keine begangen, Mutter...“ Oscar ließ sie nicht weitersprechen. Sie brach beinahe selbst in Tränen aus, aber sie riss sich krampfhaft zusammen. „Es gibt nichts zu vergeben. Ihr seid schuldlos. Es war allein meine Entscheidung, mein Wille und ich bereue nichts... Ich bin glücklich mit dem was ich habe...“ „Oh, Oscar...“ Emilie hielt es nicht mehr aus und drückte sich unvermittelt an ihre Tochter. Bittere Tränen rannten ihr die Wangen herab. Sie schluchzte und zitterte, als wäre ihr kalt. „Mein Liebling... Ich bin unsagbar froh, dass du lebst und dass du deinen eigenen Weg gefunden hast...“ „Mutter, ich...“ Oscars standhafte Beherrschung brach innerlich zusammen. Auch sie konnte ihren Tränen keinen Einhalt mehr gebieten und schloss ihre Arme herzhaft um ihre Mutter. Ihre eiserne Disziplin hatte schon vor Jahren an Kraft verloren. „Ich freue mich, dass Euch nichts geschehen ist...“ „Warum weinst du, Mama?“, mischte sich besorgt ihr Sohn ein. Das gefiel ihm nicht. Er wollte nicht, dass diese Frau, ob sie seine Großmutter war oder nicht, seine Mutter traurig machte. Oscar entriss sich von ihrer Mutter und fuhr sich mit ihrem Ärmel über die Augen. „Ich weine nicht, mein Sohn. Das sind Tränen des Glücks. Ich freue mich, meine Mutter wieder zu sehen. Das würdest du doch auch tun, oder etwa nicht?“ „Ich würde dich aber nicht zum Weinen, sondern zum Lachen bringen“, konterte ihr Ältester und schielte zu seiner Großmutter. Emilie tupfte sich mit einem Taschentuch die Augen trocken und schenkte ihm ein warmherziges Lächeln. „Du bist also der älteste Sohn meiner Tochter. Mein Enkel.“ Sie streckte ihm ihre Hand entgegen und fuhr ihm sachte durch die blonden Locken. Danach umfasste sie sein Kinn und musterte sein Gesicht ausgiebig. „Du hast vieles von deinem Vater...“ „Ich weiß.“ Der Junge wich von ihr zurück, behielt aber sein ernstes Gesicht. „Und auch von deiner Mutter...“, bemerkte Emilie seufzend und machte Platz für die wesentlich ältere, rundliche kleine Dame, die ihre Tochter gerade aus ihrer Umarmung losließ. Irgendwie bekam der kleine Oscar das Gefühl, dass er ihr schon einmal begegnet war. Sie schloss ihn heftig in ihre Arme und schluchzte ununterbrochen. „Das ich das noch erleben darf... Mein geliebter Enkel hat eigene Kinder...“ Stoisch ließ der Junge ihre Umarmung über sich ergehen. Doch als sie ihm auf die Wange küsste, wurde es ihm unangenehm und er nahm Reißaus. Er flüchtete zu seiner Mutter und rieb sich die Wange. „Ich möchte nach Hause, Mama! Papa wartet!“ „Du hast recht. Wir sollten lieber aufbrechen.“ Oscar strich ihm durch das Haar und legte anschließend ihren Arm um ihn. „Es gibt aber Neuigkeiten aus Frankreich, die dringend besprochen werden müssen!“, wand von Fersen unverfroren ein. Er hatte die ganze Zeit etwas Abseits ausgeharrt und nun trat er zu ihr heran. „Wollt Ihr sie nicht wenigstens anhören, Oscar? Es geht um die Königin und um ihre Familie.“ Bei der Erwähnung von Marie Antoinette, stach es Oscar im Brustkorb. Das Gesicht ihres Sohnes verfinsterte sich mit einem Schlag, was Oscar allerdings übersah. Sie richtete ihr Augenmerk auf den Grafen. „Doch, ich möchte die Neuigkeiten erfahren. Aber nicht ohne meinen Mann. Er soll sie auch anhören, denn ohne ihn treffe ich bezüglich unserer Heimat keine Entscheidung. Deswegen lade ich Euch zu uns ein, Graf. Zudem möchte ich Andre nicht vorenthalten seine Großmutter und auch seine Schwiegermutter wieder zu sehen. Und ich kann mir vorstellen, dass meine Mutter und Sophie auch unseren zweiten Sohn kennen lernen wollen.“ „Wie recht du doch hast, mein Liebling!“, stimmte Emilie ihr zu und in ihre geplagten Augen trat ein freudiger Funke. „So können wir dann zusammen über alles sprechen.“ - - - Andre war sichtlich erstaunt, als Oscar in Begleitung des Grafen und einer Kutsche in dem Hof einritt. Er kam unverzüglich aus dem Haus, um sie zu begrüßen. Oscar stieg derweilen aus dem Sattel, half ihrem Ältesten herunter und überließ die Pferde den Bediensteten. Graf von Fersen war auch schon abgestiegen und sein Pferd wurde gleich darauf abgeführt. In dem Moment erreichte sie Andre und grüßte höflich. Seinem Ältesten zerzauste er die Haare und seine Frau wollte er gerade in Arme nehmen, als er ihre geröteten Augen bemerkte. Das machte ihn stutzig und besorgt. „Was ist passiert?“ „Jede Menge“, sagte Oscar und trat zur Seite. Sie zeigte mit ihrem Kinn auf die Kutsche. „Wir haben Besuch aus Frankreich.“ Die Kutschtür wurde geöffnet und daraus stiegen nacheinander zwei Frauen. Andre schossen die Brauen in die Höhe, seine Augen weiteten sich und seine Glieder erstarrten. „Madame de Jarjayes... Großmutter...“ „Es gibt auch ernste Neuigkeiten“, sagte Oscar neben ihm, aber ihr Mann hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. Andre blinzelte baff und schluckte mehrmals, als wolle er sich vergewissern, dass er nicht träumte. Dadurch merkte er auch nicht, wie Diane mit seinem Jüngsten auf den Armen bei ihnen ankam und vor dem Besuch höflich knickste. Er erwachte erst aus seiner Starre, als die zwei Damen schon vor ihm standen. Leicht verstockt holte er seinen verspäteten Gruß nach. Er legte sich seine Rechte aufs Herz und verneigte sich höflich. „Madame de Jarjayes... Seid herzlich willkommen...“ „Du hast dich genauso wenig verändert, wie meine Tochter.“ Emilie lächelte freundlich und berührte sachte seinen Arm, was Andre noch mehr überraschte. „Du warst von Klein auf an ihrer Seite. Du bist mit ihr aufgewachsen und bist ihr überallhin gefolgt. Obwohl ihr unterschiedlichen Standes seid, habe ich euch beide immer gern zusammen gesehen. Ich freue mich für euch beide und für eure Kinder. Ihr habt meinen Segen.“ „Ich danke Euch, Madame, das bedeutet uns sehr viel.“ Andre fand endlich seine Sprache wieder und legte sich noch weitere Worte zurecht, die er ihr gleich darauf offenbarte. Dabei senkte er kein einziges Mal seinen Blick von ihrem Antlitz. „Ich liebe Eure Tochter seit ich denken kann über alles, und das werde ich selbst über den Tod hinaus tun.“ „Das weiß ich gut zu schätzen, Andre.“ Emilie ließ von ihm ab und gab seiner Großmutter die Möglichkeit, ihn ebenfalls zu begrüßen. Die alte Frau schluchzte herzzerreißend und warf sich ihm um den Hals. So ähnlich, wie sie es bei seinem Sohn auch getan hatte. „Mein Junge! Wie konntest du mir das nur antun?! Warum hast du mir all die Jahre die Wahrheit verschwiegen?!“ „Ich wollte Euch nicht beunruhigen“, tröstete Andre sie und legte seine Arme um sie. „Mich nicht beunruhigen?!“ Sophie riss sich empört von ihrem Enkel und runzelte gekränkt mit ihrer Stirn. „Du Flegel! Du hast mir mit deinem Schweigen noch mehr Sorgen bereitet!“ „Sophie, bitte... Es ist doch alles Vergangenheit“, mischte sich Oscar, zum Schutz ihres Mannes, unverzüglich ein. „Es hilft nichts mehr, daran zu rütteln.“ „Wie Ihr meint, Lady Oscar...“ Sophie trat ihr zuliebe den Rücktritt an. Emilie de Jarjayes befasste sich derweilen mit ihrem zweiten Enkel. „Er hat deine Augen, Oscar“, stellte sie sofort bei der Betrachtung fest. „Und alles andere von Andre. Fast das Gegenteil von eurem Ältesten.“ „Ihr habt so recht!“ Sophie tauchte mit rührendem Blick bei ihr auf und gleichzeitig musterte sie die junge Frau, die den kleinen Reynier auf dem Arm hielt. Sophie erkannte sie auf Anhieb! Sie mochte zwar schon uralt sein, aber vergesslich war sie noch lange nicht. Sie war sich nun mehrfach sicher, dass sie damals bei der Kaserne ihren Urenkel mit diesem Mädchen gesehen hatte! Diane kam die Großmutter von Andre auch bekannt vor, so, als hätte sie sie schon einmal gesehen. Aber sie konnte sich nicht mehr genau daran erinnern. Es musste eine flüchtige Begegnung gewesen sein und ihre Aufmerksamkeit galt in erster Linie ohnehin immer ihrem Schützling. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)