Ein zweites Leben von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 59: Zehn Jahre später ----------------------------- Im Süden Frankreichs, an einem stillen Örtchen an der Küste zum Mittelmeer und an jenem Haus, wo Oscar ihr erstes Kind zur Welt gebracht hatte, hielt eine Kutsche in Begleitung von zwei Reitern an. Nicht weit vom Haus, auf einem Feld, arbeitete ein breitschultriger Bauer mit seinen Gehilfen. Die Sonne prallte gegen seinen Strohhut und Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Er trieb seine Schaufel tief in die Erde, richtete sich dann zu ganzer Größe auf und wischte den Schweiß mit den hängenden Spitzen seines roten Halstuches fort. Ein Ehepaar stieg aus der Kutsche und ging auf ihn zu. „Alain!“, rief der Mann und winkte ihm. Der Angesprochene ließ seine Arbeit stehen, deutete seinen Kameraden eine Pause zu machen und ging dem Paar entgegen. „Bernard! Rosalie!“, grüßte er sie mit breitem Grinsen. „Lange nicht gesehen!“ „Seit dem Sturm auf die Bastille, um genau zu sein“, berichtigte ihn Bernard: „Du warst danach mit deinen Kameraden wie vom Erdboden verschluckt.“ „Das ist schon zwölf Jahre her.“ Alain winkte ab, als verscheuche er die Fliegen. „Ich musste mich um meine Mutter kümmern. Sie war ganz alleine, hier im Süden.“ „Wo ist sie jetzt?“, fragte ihn Rosalie und schaute auf das Haus, als würde sie die gute Frau dort im Hof sehen. „Sie ist vor ein paar Jahren verstorben“, meinte Alain trüb und bekam von den beiden ihr Beileid ausgesprochen. „Andres Großmutter ist auch verstorben, letztes Jahr“, fügte Rosalie bedauernd hinzu: „Sie ist in Frieden eingeschlafen, hat er gesagt.“ „Das haben Andre und Oscar mir auch erzählt“, erinnerte sich Alain: „Sie ruht in der Normandie und meine Mutter hier auf dem Friedhof am Meer.“ Alle drei hielten eine kurze Schweigeminute, bis Bernards Augenmerk über das Haus schweifte. „Ihr habt es ein wenig ausgebaut!“, stellte er bewundernswert fest. Alain folgte seinem Blick und schob seinen Strohhut etwas höher. „Oscar der Jüngere wollte es so haben. Er ist ja hier geboren. Seine Eltern haben ihm die freie Wahl gelassen, als Entschädigung, dass sie ihn umstimmten, mit ihnen nach Frankreich zurückzukehren. Der Junge hat sich drüben in Schweden gut entwickelt. Aus ihm wird ein gerechter Staatsmann werden. Er will in dieses Haus einziehen, sobald es fertig sein wird. Sein Bruder bekommt das Haus in der Normandie. Und seine Eltern wollen danach nach Arras ziehen. Sie lassen sich dort auch ein Haus bauen.“ „Es ist wie ein Wunder, dass die Häuser von Lady Oscar, bis auf ihr elterliches Anwesen, vor Plünderung und Raub verschont geblieben sind. Manch andere Adelshäuser wurden dagegen dem Erdboden gleich gemacht“, bemerkte Rosalie und wandte ihren Blick von dem Haus auf Alain zurück. „Oscar hat mit ihrem Einsatz und Mut in manchen Teile von Paris, in der Normandie, Arras und auch hier im Süden, einen ziemlich guten Eindruck bei den Bewohnern hinterlassen“, wusste Alain zu berichten: „Die Menschen waren zwar wütend und hasserfüllt, aber auf sie traf das nicht zu. Sie empfingen Oscar und ihre Familie sogar herzlich, als sie vor zwei Jahren nach Frankreich zurückkehrten. Mit der Enthauptung der Königin vor acht Jahren ist ihre Verbannung ja hinfällig geworden.“ „Der Tod Ihrer Majestät hatte Lady Oscar schwer getroffen, aber sie machte den Menschen keine Vorwürfe“, erzählte Rosalie mitfühlend: „Ich habe ihr die letzten Tagen der Königin geschildert, denn ich habe mich um Ihre Majestät im Gefängnis gekümmert. Lady Oscar hat mir nur verbittert zugehört und stumm geweint.“ Sie verschwieg, was danach geschehen war: Oscar hatte sich in ihrem Ehezimmer eingesperrt und man hatte ein heftiges Knallen und Scheppern gehört. Andre hatte aussichtslos versucht zu Oscar durchzudringen und ihm blieb nichts anderes üblich, als die Tür gewaltsam aufzubrechen. Der Anblick der Trümmerhaufen aus diversen Möbelstücken und Vasen auf dem Fußboden im Zimmer jagte ihm einen Schrecken ein. Oscar selbst kniete mittendrin und vergrub ihren Kopf in den Händen, als wolle sie nichts mehr hören. Andre ging wortlos zu ihr, hockte sich vor sie hin und nahm sie in seine Arme. Oscar hatte keinen Widerstand geleistet und Rosalie glaubte in ihrer Schreckensstarre Vorwürfe und hilflose Wut vernommen zu haben: „Warum, Andre? Warum konnte ich das nicht verhindern? War das im ersten Leben auch so?“ Rosalie hatte die letzte Wortwahl von Oscar nicht verstanden, aber als Verwirrung und Erschütterung interpretiert. Es dauerte Stunden, bis Oscar wieder dieselbe war. Rosalie schüttelte diese Erinnerung ab, das alles lag schon zwei Jahre zurück, als sie Lady Oscar und ihre Familie nach der Rückkehr in der Normandie mit Bernard besucht hatte. „Oscar hatte schon immer eine Schwäche für die Königin gehabt...“, ergänzte Bernard ihre Rede: „Aber im Herzen stand sie auf der Seite des Volkes. Sie hat dem Adel schon längst abgeschworen und ist durch Andre ein Teil von uns geworden.“ „Ja, Oscar war schon immer etwas Besonderes“, stimmte Alain ihm zu und erinnerte sich an jenes Versprechen, welches sie ihm beim Aufbruch nach Schweden abgenommen hatte. Und da war noch etwas, was allerdings noch länger zurück lag: Der Abend der Schlägerei, als Andre Oscar bis zu Alains Wohnung auf seinen Armen getragen hatte. Sie hatte ihre Wünsche an Andre gelallt – dass sie ihn heiraten und mit ihm eine Familie gründen wollte. „...und dann nehmen wir die Bastille ein...“ hatte sie an Alain geäußert, bevor sie an Andres Brust eingeschlafen war. Alain hatte ihre Wortwahl damals als unverständlichen Kauderwelsch einer Sturzbetrunkenen interpretiert und schon bald vergessen. Bis zu dem Tag, an dem die Bastille gestürmt war. Es schien, als hätte Oscar das alles geahnt. Aber was soll´s! Die grausigen Zeiten und die Terrorherrschaft waren vorüber! Alain schüttelte diese Erinnerungen wie Wasser ab und kehrte in die Wirklichkeit zurück. „Seit sie wieder hier ist, kümmert sie sich um die Menschen. Sie lässt sie nicht leiden und sorgt für Ordnung. Dafür wird sie geschätzt, geachtet und geehrt“, beendete er. „Wo ist sie eigentlich?“, wollte Bernard wissen, hob seinen Arm und deutete mit dem Daumen über seine Schulter auf die zwei Reiter neben der Kutsche. „Ich habe da nämlich jemanden mitgebracht, der sie sehen möchte.“ „Oscar ist mit Andre, ihren Söhnen und meiner Schwester in der Stadt einkaufen“, erklärte Alain und musterte die beiden Herren auf den Pferden ausführlicher. Sie sahen nicht wie Bürgerliche aus, obwohl sie einfache Kleider trugen. Und der Jüngere von ihnen kam Alain bekannt vor. „Wer sind die? Und was wollen sie von Oscar?“ Bernard öffnete seinen Mund, aber zu Wort kam er nicht. Statt einer Antwort erschall in dem Moment laute Hufschläge und das Rollen von einem Gefährt auf der Straße. Eine Kutsche mit einem Zweier Gespann und ein Reiter auf einem grauweißen Pferd rasten um die Wette auf das Haus zu. „Du wirst nicht gewinnen!“, rief der blondgelockter Reiter dem braunhaarigen Kutscher heiter zu. „Das werden wir sehen!“, frohlocke dieser energisch und gab den Pferden noch kräftiger die Peitsche. „Auch das noch!“, schimpfte Alain, dann lachte er vergnügt und winkte Bernard und Rosalie mit sich. „Kommt mit! Ich stelle euch die beiden durchgedrehten Sprösse der Familie Grandier vor!“ „Ich habe gewonnen!“ Der blondgelockte junge Mann zügelte sein Pferd direkt am Zaun des Hauses und wendete sich triumphierend der Kutsche zu, die knapp hinter ihm zum Stehen kam. „Das begreife ich nicht?!“, protestierte der Knabe verständnislos vom Kutschbock: „Wie kannst du auf nur einem Pferd gewinnen, wo ich doch zwei habe?!“ „Tja, Bruderherz, die Kutsche hat auch Gewicht“, sagte der Blondschopf mit seiner jugendlich tiefen Stimme und bemerkte gleichzeitig Alain mit dem Ehepaar auf sich zukommen. „Steig ab, Reynier, wir haben Gäste“, befahl er seinem Bruder und stieg selber aus dem Sattel. „Hallo Alain! Wen hast du uns da mitgebracht?!“ Sein jüngerer Bruder stand schon bei ihm. Fast gleichzeitig öffnete sich die Kutschtür und eine junge Frau stieg daraus. Etwas wackelig auf den Beinen schimpfte sie verärgert auf die Brüder: „Oscar! Reynier! Ich sagte langsam fahren und nicht die Pferde zu Schande treiben!“ „Beruhige dich, Diane“, ließ der fast achtzehnjährige Oscar sie nicht weiter auf ihn und seinem Bruder herumhaken. „Wir haben Gäste.“ Diane sah sich um und ihre Verärgerung verwandelte sich in Freude. „Rosalie! Bernard!“ „Wer waren sie noch mal?“, fragte der zwölfjährige Reynier seinen großen Bruder im Flüsterton. „Wenn ich mich nicht täusche, haben sie uns vor zwei Jahren in Normandie besucht, nachdem wir aus Schweden zurückkehrten. Und hattest du nicht bei ihnen gelebt, als du klein warst?“ „Du täuschst dich nicht. So war das alles gewesen.“ Oscar hob und senkte beiläufig seine Schultern. „Das sind Freunde unserer Eltern und nebenbei gesagt, auch ihre Trauzeugen.“ „Und nicht nur das!“ Bernard kam auf sie zu und legte jedem der Brüder eine Hand auf die Schulter. „Ihr zwei seid in die Höhe geschossen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben!“ „Das stimmt“, musste Oscar sich schmunzelnd eingestehen und warf sogleich einen abschätzenden Blick auf die beiden Reiter, die er schon auf seinem Ritt bemerkt hatte. „Wer sind die?“ „Sie wollen deine Mutter sprechen“, erklärte Alain und Oscars Gesichtsausdruck verfinsterte sich. Er mochte keine Fremden, die seine Mutter sprechen wollten. Ihm kam es so vor, als müsste er sich immer noch vor solchen Leuten in Acht nehmen – insbesondere hier in Frankreich. Das war unnötig und das wusste er. Aber dennoch brachte es ihn unwillkürlich an jenen Tag zurück: Als er als Kind von dem grässlichen Söldner mit der Narbe im Gesicht entführt und seine Mutter angeschossen wurde, als sie ihn, ihren Sohn, schützen wollte. Oscar versuchte ruhiger zu atmen und diese schreckliche Erinnerung zu verdrängen. Sie waren doch alle nicht mehr in Paris und das musste doch etwas Gutes sein. „Das sind Graf de Girodel und General de Jarjayes“, offenbarte ihm Rosalie im Plauderton. Alain starrte baff drein. Nun wusste er, wo er den Jüngeren der beiden Reiter schon einmal gesehen hatte. Das war jener Graf, der Lady Oscar vor vielen Jahren heiraten wollte und der sie dann bis zur Grenze von Belgien begleitet hatte. Aber was wollte er jetzt hier? Hoffte er auf eine neue Chance und dachte, dass Lady Oscar ohne Andre zurückgekehrt sei? Vielleicht stand er deshalb dem General de Jarjayes ständig bei und wich meistens nicht von seiner Seite? So, als würde er das für Lady Oscar tun, obwohl sie es gar nicht von ihm verlangt hatte. Das konnte er vergessen! Alain verkniff sich ein zynisches Grinsen. Der Graf war definitiv umsonst gekommen. Der zwölfjährige Reynier konnte mit dem einen Namen kaum etwas anfangen. Bei dem anderen dämmerte ihm dagegen einiges. Seine Mutter war früher eine de Jarjayes und seine Großmutter in der Normandie hieß noch immer so. Er zog seine Schlüsse daraus, wer der ältere Herr auf dem Pferd sein könnte. Sein großer Bruder hingegen schien unbeeindruckt zu sein. Er behielt seine grimmige Entschlossenheit, straffte seine Haltung noch mehr und bewegte achtsam seine Füße. Die beiden Reiter stiegen mit ausdruckslosen Mienen von den Pferden ab und Oscar blieb auf zwei Schritten Entfernung vor ihnen stehen. Er war fast auf gleicher Augenhöhe wie der General, sein jüngerer Bruder dagegen einen Kopf kleiner. „Ihr wollt also zu unserer Mutter?“ Der General musterte sein Gegenüber ausgiebig und streng. „Das will ich. Wo ist sie?“ „Sie macht mit Vater an der Küste einen Ausritt“, meinte Oscar darauf trocken und mit der gleichen Strenge im Gesicht. „Was wollt Ihr von ihr?“ „Das werde ich ihr selbst sagen.“ „Und wenn ich das auch wissen möchte?“ „Das ist nicht für deine Ohren bestimmt.“ „Ich möchte es trotzdem erfahren! Sie ist meine Mutter und ich habe das Recht dazu.“ „Oscar, höre auf!“, mischte sich unverfroren sein jüngerer Bruder ein: „Sei nicht so streng zu unserem Großvater! Mutter würde das nicht wollen!“ Der General nahm ihn zum ersten Mal zur Kenntnis und sah ihn messerscharf an. Das schüchterte aber auch den Jüngeren nicht ein. Die himmelblauen Augen strahlten dieselbe Kühle und Beherrschtheit aus, wie die sanft grünen seines älteren Bruders. „Reynier...“, brummte der General missmutig: „Warum ausgerechnet Reynier?“ „Mutter hat das so gewünscht“, erwiderte sein Namensvetter ungerührt, aber in etwas freundlicherem Tonfall: „Sie haben mich nach Euch benannt, Großvater.“ Der General wurde grimmiger, seine Haltung noch strenger. „Du hast kein Recht mich Großvater zu nennen! Dafür hast weder du, noch dein Bruder die Erlaubnis!“ „Wie Ihr es wünscht, Großvater.“ Reynier zeigte nicht, ob er beleidigt oder gekränkt war. Sein Bruder verzog dabei eine hämische Grimasse. „Es mag sein, dass weder mein Bruder noch ich die Erlaubnis haben, aber Ihr bleibt im Blut so oder so unser Großvater.“ Der General stierte gradlinig wieder zu ihm. „Mir scheint, du hast viel zu viel von deiner Mutter geerbt! Bist du auch mit dem Degen so gewandt, wie mit deiner losen Zunge?“ Das klang nach einer Herausforderung. „Selbstverständlich, Großvater.“ Bei Oscar glomm ein Leuchten in den Augen. „Mutter und Vater haben Reynier und mich von klein auf im Umgang mit allen möglichen Waffen unterrichtet.“ „Das will ich sehen!“ Auch bei dem General schwamm ein verborgenes Aufleuchten in seinem eisigen Blick auf. „Und zwar dich und deinen Bruder!“ „Mit Vergnügen!“ Oscar grinste und ordnete gleich seinen Bruder an, ohne seinen Großvater aus den Augen zu lassen: „Reynier, hol unsere Übungsschwerter!“ Reynier rann schleunigst ins Haus. Alain mit seiner Schwester und Bernard mit Rosalie standen nicht weit entfernt und beobachteten diese Szene mit gemischten Gefühlen. Aus dem Augenwinkel bemerkten sie beiläufig etwas, was auf sie zu kam: In der Ferne zeichneten sich zwei Silhouetten auf Pferden ab, von denen eines ein dunkles und eines ein weißes Tier war. „Jetzt wird es interessant...“, murmelte Alain dabei unbestimmt. Victor de Girodel hatte die Reiter auch bemerkt und meinte von der Seite zu dem General: „Sie kommt.“ Der General nickte ihm stumm zu, dass er ihn verstanden hatte, aber sah sich nicht nach den Reitern um. Sein jüngerer Namensvetter kam kurze Zeit später mit zwei Übungsschwertern aus dem Haus gerannt und reichte eines davon seinem Bruder. „Oh! Unsere Eltern kommen!“, stellte er bei einem flüchtigen Blick in die Ferne fest. „Ich weiß“, sagte sein großer Bruder und nahm die gereichte Waffe an sich. „Wenn sie da sind, fangen wir an, würde ich sagen. Oder Großvater?“ Der General nickte wieder - beherrscht und ohne jegliche Gefühlsregung. Aber seine Kiefer mahlten und seine Hände verschränkte er hinter seinem Rücken, um seine wahren Emotionen zu dämpfen... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)