Ein zweites Leben von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 60: Frieden ------------------- Die Pferde kamen näher. General de Jarjayes hörte die ihm altbekannten Stimmen, aber verstand kein einziges Wort. Andre sagte etwas und Oscar lachte herzhaft, rein und ausgelassen. Reynier hatte schon vergessen, wie ihr unbeschwertes Lachen klang. Das letzte Mal, als er sie lachen gehört hatte, war sie noch ein Kind. Sein Kind, auf das er schon immer stolz war! Das helle Lachen hörte abrupt auf und die Pferde blieben stehen. Eine unfassbare Stille lag in der Luft. Hasste sie ihn? Oder hoffte sie auf eine Versöhnung? Oder war ihr gar alles gleichgültig? Reynier spürte ihren Blick auf seinem Rücken und in seinem Nacken entstand ein unangenehmes Kribbeln, aber er drehte sich nicht um. Sein Augenmerk wanderte nur von ihrem Ältesten auf ihren Jüngsten und zurück. Er hörte, wie sowohl Oscar als auch Andre von ihren Pferden abstiegen. Wie Girodel und diese Rosalie mit ihrem Bernard sie beide begrüßten und dann sah er sie vor sich! Direkt an der Seite ihrer Söhne! „Vater...“, formten ihre Lippen, aber kein Ton kam von ihnen, als hätte ihr die Stimme den Dienst versagt. Oscar und Andre sahen überrascht aus, mehr nicht. Seine Tochter konnte schon immer gut ihre Gefühle verbergen. Das hatte er ihr beigebracht; er hatte sie so erzogen und Andre hatte es sich von ihr angeeignet. Obwohl sie beide nun etwa Mitte Vierzig zählten, schienen ihre Gesichtszüge unverändert zu sein. Nur etwas waren sie gealtert. Das zeigten gewisse Linien an der Stirn, Augenfalten und Grübchen um die Mundwinkel. Reynier wandte seinen Blick wieder von den beiden ab und widmete sich ihren Söhnen. „Ihr könnt mit der Fechtübung anfangen!“ „Jawohl, Großvater!“ Der Älteste nickte und sah kurz zu seinen Eltern. „Keine Sorge, das ist nichts Schlimmes. Großvater will nur wissen, wie gut wir schon im Fechten geübt sind.“ Dann ging er mit seinem Bruder auf eine gewisse Entfernung. Der General begleitete die zwei mit etwas Abstand, ohne Oscar und Andre weiter zu beachten. Die beide blieben wie vom Donner gerührt da stehen. Oscars Vater hatte sich verändert: Sein faltiges und kantiges Gesicht, die markanten Gesichtszüge, die tief eingegrabenen Wangen und die hervortretenden Wangenknochen erzählten Geschichten über lange Kämpfe. Der General war mit den Jahren von erbitterten Schlachten gezeichnet. Oscar schluckte mehrmals, um ihre Fassung wieder zu finden und auch Andre versuchte sich nicht anmerken zu lassen, was in ihm bei diesem unverhofften Besuch vorging. Erstaunen und Sprachlosigkeit waren nur einige ihrer Empfindungen. Sie beide wussten nicht, weshalb der General hier war und das bescherte ihnen noch zusätzlich ein gewisses Unbehagen. Bernard kam mit den anderen zu ihnen und erklärte etwas ausführlicher die Begegnung mit dem General und Graf de Girodel: „Euer Vater, Lady Oscar, hat Rosalie in Paris ausfindig gemacht und verlangt, dass wir ihn zu Euch bringen. Er sagte, er habe Euch etwas Wichtiges mitzuteilen.“ „Ihr sprecht so, als hätten wir euch gezwungen, Bernard Chatelet“, unterbrach ihn Girodel unverhohlen und stellte sich auf der freien Seite neben Oscar. „Lady Oscar. Nach dem Tod der Königin musste Euer Vater seinen Titel ablegen und ins Ausland gehen. Dass Ihr seine Tochter seid, hat ihn vor dem Tod bewahrt und gerettet. Viele andere Seinesgleichen hatten dabei weniger Glück. Ich habe ihn ins Ausland zu meiner Verwandtschaft begleitet und letzten Monat konnten wir endlich zurückkehren. Da aber Euer Vater seine Besitztümer hier verloren hat, ist er mit mir nach Schweden zu seiner Frau aufgebrochen. Wir waren überrascht, als Graf von Fersen uns mitteilte, sie wohne bei Euch in der Normandie. Von Fersen hat sich sehr verändert. Er ist sehr verbittert geworden und hasst Menschen. Deswegen waren wir nur kurzzeitig bei ihm. Eure Mutter hat uns herzlicher empfangen, aber Euer Vater konnte auch dort nicht länger bleiben. Er ist rastlos geworden, Lady Oscar. Er meinte, er finde erst dann seine Ruhe, wenn er mit Euch einige Dinge klargestellt hat. Ich habe ihn deshalb zu Eurem einstigen Schützling geführt und nun sind wir hier.“ „Warum erzählt Ihr mir das, Girodel?“, fragte Oscar kühl und beobachtete dabei, wie ihre Söhne miteinander fochten. Ihre Sehnen spannten sich an, als ihr Blick hin und wieder auf ihren Vater fiel. „Ich dachte, das würde Euch interessieren?“ Girodel sah sie von der Seite verwundert an. „Ich weiß, er hat Euch verstoßen, aber...“ „Er hat mich für tot erklärt!“, schnitt ihm Oscar vor Wut erstickt das Wort ab: „Ich bin für ihn gestorben! Das habt Ihr mir vor vielen Jahren selbst offenbart!“ „Aber das ist schon lange her, Lady Oscar. Zeiten und Menschen ändern sich...“ „Mein Vater aber nicht!“ Das Blut raste ihr durch die Adern, wie eine entfesselte Flutwelle. „Lass es gut sein, Oscar“, beschwichtigte Andre sie von der anderen Seite und legte ihr seinen Arm um die Schultern. Girodel richtete dabei sein Augenmerk sofort auf den General zurück. Es tat ihm immer noch weh, sie in den Armen eines anderen Mannes zu sehen. Oscar fühlte sich von ihrem Mann leicht getröstet, aber ihre verletzten Gefühle als seine Tochter wollten sich nicht beruhigen lassen. Weshalb ihr Vater auch gekommen war: Sie würde ihn niemals so behandeln können, wie er sie. Ihr Ältester ging gerade vor den fließenden Hieben seines Bruders in Deckung und ihr Jüngster schlug ihm im nächsten Moment das Übungsschwert aus der Hand. „Ich habe gewonnen!“, triumphierte er begeistert und hob das Schwert seines Bruders vom grasbewachsenen Erdboden. „Du hast gewonnen, weil ich dich gewinnen lassen habe“, meinte der Ältere unbeeindruckt und schnitt eine komische Grimasse. „Was höre ich da?!“ General de Jarjayes baute sich erbost zwischen den beiden auf und fixierte den Älteren. „Wenn du deinen Gegner gewinnen lässt, dann macht er kurzen Prozess mit dir!“ „Das ist mir durchaus bewusst. Aber Reynier ist mein Bruder und ich kenne seine Fechtkünste auswendig“, konterte der junge Mann aufrecht. Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen - zumindest sah man ihm das nicht an. Was in ihm selbst vorging, wusste niemand zu sagen. General de Jarjayes beäugte ihn abschätzend. Bis auf die Augenfarbe und die männlichen Gesichtszüge ähnelte er durch und durch seiner gleichnamigen Mutter. Auch die Art und Weise wie er das Schwert führte, erinnerte ihn an sie. Von Andre war mehr in dem Jüngeren. „Gebt mir eure Schwerter! Alle beide!“, befahl der General seinem Namensvetter und streckte schon seine Hand nach den Waffen aus. Reynier der Jüngere dachte sich nichts dabei und reichte die Übungswaffen dem General. „Das war kein schlechter Kampf“, sagte dieser den Brüdern ausdruckslos: „Es könnte besser sein. Jetzt geht auf eure Plätze und sagt eurer Mutter, sie soll auf der Stelle zu mir kommen!“ Das brauchten die Brüder gar nicht tun, denn Oscar hatte ihn auch so gehört. Kaum dass ihre Söhne bei ihr ankamen, ging sie auf alles gefasst zu ihrem Vater. „War er schon immer so?“, wollte Oscar der Jüngere bei seiner Ankunft von seinem Vater wissen. „Was seine Strenge und Disziplin angeht, ja“, äußerte sich Andre knapp und sah seiner Frau achtsam nach. Diese stand schon in gestrafter Haltung vor dem General. „Was soll das werden?“, fragte sie beherrscht, als der General ihr eines der Schwerter reichte. „Frage nicht, sondern tue das, was ich dir sage!“, fuhr Reynier sie schroff an und drückte ihr die Waffe gewaltsam entgegen. „Ich will sehen, ob in dir wenigstens noch ein Funken davon übrig geblieben ist, was ich dir beigebracht habe! Oder hat dich dein weiblicher Eigensinn vollends verdorben?!“ Das traf Oscar hart. Ihre feinen Gesichtszüge verhärmten sich, ihre Sehnen spannten sich am ganzen Körper noch mehr an und sie schloss ihre Finger fest um den Griff des Schwertes. „Nun gut“, murrte sie finster: „Ich werde Euch diesen Wunsch erfüllen.“ Reynier zog seine Mundwinkel zufrieden nach oben. Er machte ein paar Schritte rückwärts, brachte sich in die richtige Position und verübte als erster den Angriff. Oscar parierte gekonnt seine darauf folgenden, heftigen Hiebe, wich ihm flink aus und schlug zurück. An Wendigkeit und Agilität hatte sie noch nichts eingebüßt. Dennoch drängte sie der General schon bald mit schnellen und ununterbrochenen Schlägen immer wieder zurück. Sie war daher gezwungen, nur in Deckung zu gehen und konnte ihn schließlich kaum noch abwehren. „Ist das alles, was du behalten hast, Oscar?!“, funkelte Reynier sie schnaufend an, während seine Klinge mit Wucht gegen die ihre prallte und er sie damit in die Knie zwang. „Du sollst mich nicht gewinnen lassen, Oscar!“ „Das tue ich keineswegs!“, zischte Oscar gedämpft und brachte ihre ganze Kraft auf, um ihrem Vater standzuhalten. Seine Klinge drückte gegen die ihre - schon beinahe vor ihrem Gesicht. „Du törichtes Weibsbild!“, knurrte Reynier grimmig und ließ den Druck etwas locker. So, als würde er eine kurze Verschnaufpause einlegen wollen. Oscar nutzte das jedoch nicht aus. Sein Griff ließ weiter nach und sie konnte sich wieder auf die Beine rappeln. Doch anstatt auf ihn einen Gegenangriff zu verüben, rührte sie sich nicht von der Stelle. Sie war außer Puste und ihr Herz hämmerte wild. „Du sollst kämpfen und nicht scheitern!“ Reynier atmete pausenlos ein und aus. Seine Hand senkte ermattet das Schwert und sein Augenmerk schien seine Tochter zu durchbohren. „Wir sind schon genug gescheitert!“ Er ballte seine freie Hand zur Faust. „Die Flucht des Königs und seiner Familie war von Anfang an zum Scheitern verurteilt! Und du warst nicht mehr dabei, als alles den Berg hinab ging! Du hast einen Rückzieher gemacht!“ Im Grunde wusste Reynier, dass sie nichts dafür konnte. Aber die entsetzlichen und markerschütternden Bilder der Hinrichtung und des vergossenem Bluts in der Vergangenheit musste er doch irgendwie loswerden. „Ihr macht mir ungerechtfertigt Vorwürfe, Vater!“ Oscar senkte auch ihre Waffe. Sie stand vor ihm von Angesicht zu Angesicht. Sie sprach aufrichtig, obwohl es in ihr mehr und mehr brodelte. „Ich wäre bis zum letzten Moment geblieben, glaubt mir! Aber der König hat mich aus seinen Diensten entlassen! Ich konnte nichts tun...“ Nein, das konnte sie nicht... In Schweden hatte sie von der barbarischen Hinrichtung des Königs und später der Königin viel zu spät erfahren, als schon alles vorüber war. Es hieß, es wurde ein Gerät erfunden und errichtet, das einen schnelleren und schmerzfreieren Tod brachte, als eine Axt... Dieses Gerät nannte man Guillotine. Oscar war nach dem Tod der Königin verbittert und wütend, weil sie all das nicht verhindern konnte. Auf Graf von Fersen traf das Gleiche zu und seitdem distanzierte er sich mehr und mehr aus der Gesellschaft der Menschen - auch von Oscar, was sie ihm nicht verübeln konnte. Robespierre gelang zur Macht und wurde als Vater des Terrors bezeichnet. Doch auch seine Terrorherrschaft fand ein jähes Ende: Robespierre wurde gestürzt und landete ebenfalls unter der Guillotine... Nach seinem Tod ebbte die Revolution mit der Zeit ab. Nun herrschte der selbsternannte Kaiser Napoleon über Frankreich und all die, die zu Revolutionszeiten geflohen waren, kehrten nach und nach zurück.... „Du törichtes Weibsbild...“, wiederholte der General aufgebracht. Zorn und Verzweiflung standen in seinem gezeichneten Gesicht geschrieben. „Die Majestäten wurden hingerichtet! Die Monarchie ist gestürzt und der Adel hat nichts mehr zu sagen! Du warst nicht dabei, als die Köpfe rollten! Du warst schon bei der ersten Fluchtmöglichkeit fortgeritten!“ Er klang so, als gebe er ihr die Schuld für alles - aber dem war nicht so. Oscar spürte mit einem Mal in sich, dass in ihm etwas vorging, was nicht zu seiner strengen, verbitterten und jähzornigen Erscheinung passte. Eine fremdartige Sanftheit lag in seinem eisigen Blick und ließ sie an jenen Tag der Offenbarung erinnern, an dem er sie aus der Familie verstoßen hatte. Seine raue Stimme stockte oft. Oscar schluckte bangen Herzens. Sie hatte ihren Vater, bis auf dieses einziges Mal damals, noch nie so erlebt und fand keine Worte dafür. Nur ein lautloses „Vater“ formten ihre Lippen. „Du bist nach Schweden fort! Du hast einen anderen Weg gewählt...“ Reynier verstummte kurz und rang mit sich. Sein Kinn zitterte und er betrachtete Oscar eindringlicher als zuvor. Er atmete tief durch und lockerte seine geballte Faust. „...du hast den richtigen Weg gewählt und ich war froh, dich in Sicherheit zu wissen...“ In Oscar schlugen die Gedanken Purzelbäume. Ihre Gefühle gerieten durcheinander. Krampfhaft versuchte sie ihr Empfinden niederzuringen und ihre aufrechte Fassung beizubehalten. „Ihr überrascht mich, Vater“, sagte sie heiser und offen: „Ihr habt mich verstoßen und vor aller Augen bekundet, dass Ihr mich nicht mehr als Tochter anseht!“ „Was denkst du, weshalb ich das tat?!“ Reynier spannte wieder seine Muskel an und runzelte mit der Stirn, aber gleich darauf wurden seine Gesichtszüge plötzlich weicher. „Ich wollte nur dein Bestes, mein Kind... Ich wollte dich schützen...“ Seine Augen schimmerten unerwartet glasig und seine Gefühlskälte zerschmolz endgültig zu einer nie gezeigten Warmherzigkeit. „Es stimmt: Ich habe dich als Tochter verloren... Dafür habe ich aber einen Sohn gewonnen... Ich habe dich schon vor langer Zeit in das Leben einer Frau entlassen...“ Oscar fiel das Übungsschwert aus der Hand. Ihre Augen weiteten sich und ihre Wimpern wurden feucht. Sie hätte nie mit diesen Worten, die ihr Erlösung und Frieden bedeuteten, gerechnet. Reynier hob das gefallene Schwert auf, sah sie noch kurz an und ging dann mit einem leisen, befreiten Lächeln um seine Mundwinkel. Mit gemäßigtem Schritt und stolzierender Haltung erreichte er die versammelte Gruppe. Er reichte die Übungsschwerter an seine beiden Enkel zurück. „Jetzt dürft ihr mich Großvater nennen!“ Die zwei Brüder nickten dankend und nahmen erstaunt ihre Schwerter an sich. Ihre Augen glänzten freudig und spitzbübisch. Sie grinsten über beide Ohren hinweg und der General klopfte jedem auf die Schulter. „Eure Eltern können auf Söhne wie euch stolz sein! So wie ich auf eure Mutter schon immer stolz war! Meine Tochter ist mir das liebste Kind, das ich habe!“ Die Brüder öffneten und schlossen tief ergriffen ihre Münder. Der General schmunzelte zufrieden, ließ von ihnen ab und wandte sich an den Vater. „Andre...“, sprach er gefasst, wie es sonst seine Art war: „Ich habe von deiner Großmutter gehört. Das tut mir sehr leid. Sie war eine herzensgute Frau und du hast ihr immer alle Ehre gemacht.“ „Ich danke Euch, General.“ Andre wusste nichts dazu zu sagen. Er war auf der Hut und gleichzeitig verdrängte er sein Misstrauen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie seine Frau sich langsam zu ihnen aufmachte. General de Jarjayes sah sie nicht kommen. Seine Aufmerksamkeit galt Andre und er fasste ihn unerwartet bei den Armen. Andre versteifte sich kurzzeitig. Er war überrascht und verblüfft. Reynier nahm das kaum wahr. Er sprach ernst und doch mit einem gewissen Glanz der Freude in seinen Augen: „Du hast auch mir alle Ehre gemacht, mein Junge. Du warst immer an der Seite meiner Tochter, du hast sie nie im Stich gelassen und warst ihr immer ein treuer Gefährte. Auf Gedeih und Verderb! Du bist zwar nicht von Adel, aber das hat jetzt ohnehin keine Bedeutung mehr. Ich wollte dir schon immer sagen, dass du der rechte Mann für sie bist. Nur du kannst mein Kind glücklich machen und das machst du ja auch bereits. Ihr zwei habt meinen Segen und ich freue mich für euch beide. Du bist ein guter Junge, Andre... mein Sohn.“ Reynier ließ sogleich von ihm ab und ging zu seinem Pferd. Auf dem Weg winkte er Girodel zu, ihm zu folgen: „Wir brechen auf!“ „Vater, wartet!“ Oscar lief ihm nach, kaum dass er seinen Fuß in den Steigbügel schob. „Wo wollt Ihr hin?!“ Reynier drehte sich zu ihr um. „In die Normandie zu meiner Frau natürlich! Ich habe deine Mutter schon lange vernachlässigt. Es wird Zeit, dass ich mich um sie kümmere. Wir sind beide nicht mehr jung. Wir werden dort auf euch alle warten. Deine Hochzeit muss schließlich ordentlich nachgefeiert werden!“ „Ich danke Euch, Vater...“, brachte Oscar zutiefst gerührt von sich und fasste sich ans Herz. „...für alles, was Ihr für mich getan und mir heute gesagt habt... Das bedeutet mir viel...“ „Was soll das, Oscar?!“, ermahnte sie Reynier streng, aber mit einem weichen Lächeln auf seinen Lippen: „Du wirst mir doch nicht etwa rührselig, oder?! Das passt nicht zu dir! So habe ich dich nicht erzogen!“ „Ihr seid auch nicht besser, Vater.“ Oscar fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen. Vergeblich versuchte sie ihre kühle Art, eine stramme Haltung und Selbstdisziplin vorzutäuschen. General de Jarjayes tat das Gleiche. Er kämpfte mit seinen Gefühlen und seinen Empfindungen, bis er es nicht mehr aushielt und seine Arme um Oscar legte. Er drückte sie herzhaft an sich. „Mein über alles geliebtes Kind...“, murmelte er und ließ sie gleich wieder aus seiner Umarmung frei. Oscar schaute entgeistert auf ihn, überrumpelt und zugleich überaus glücklich. Reynier nickte ihr kaum merklich zu, verhärmte sein Gesicht wieder und stieg auf sein Pferd. „Es war wieder einmal schön Euch gesehen zu haben, Lady Oscar“, verabschiedete sich Graf de Girodel mit einem matten Lächeln von ihr und folgte dem General. „Was gedenkt Ihr zu tun, da Eure Pflicht mir gegenüber nun erfüllt ist?!“, fragte ihn General de Jarjayes, als sie Oscar und alle anderen weit hinter sich gelassen hatten. „Wenn Ihr erlaubt, geleite ich Euch noch bis in die Normandie und dann kehre ich zu meiner Verwandtschaft ins Ausland zurück“, erwiderte Girodel höflich. Die besagte Pflicht hatte er sich eigentlich selbst vor Jahren auferlegt. In der Zeit, als Lady Oscar nach Schweden verbannt wurde, nahm er sich zur Aufgabe, auf ihren Vater acht zu geben. Er wollte ihr auf diese Weise einen möglicherweise letzten Gefallen tun. „Ich erlaube es Euch, selbstverständlich“, meinte der General heiter und entriss ihn von dem endgültigen gedanklichen Abschied von Oscar. Reynier sprach weiter, ohne davon etwas mitzubekommen: „Ihr habt mich stets treu begleitet und dafür danke ich Euch. Meine Türen stehen Euch immer offen.“ „Habt herzlichen Dank, General.“ Girodel ritt ohne Eile weiter neben ihm einher und unterhielt sich mit ihm über ihre gemeinsamen Erlebnisse. Oscar sah ihrem Vater noch eine Weile nach. Sie war von der letzten Last befreit, die sie all die Jahre noch mit sich getragen hatte. Sie saugte die laue Aprilluft in ihre Lungen, ließ sie in sich wirken und atmete langsam aus. Andre trat hinter sie und legte sachte seine Arme um sie. „Wir haben es geschafft, Liebes...“ „Ja, das haben wir...“ Oscar fasste Andre am Arm und verharrte mit ihm eine kurze Weile in diesem unbeschreiblich schönen Moment. Andre und sie waren nun frei. Ihr Vater hatte ihnen vergeben. Er hatte sie als Tochter in den Armen gehalten und in das Leben einer Frau entlassen - an die Seite von Andre, mit dem ihr ganzes Leben bereits verbunden war. Er hatte ihr und Andre seinen Segen gegeben und das war ein wundervolles Gefühl: Es war der innerliche Frieden, auf den sie so lange gewartet und nach dem sie sich so sehr gesehnt hatte. Das zweite Leben war erfüllt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)