Ein zweites Leben von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 1: Ein schrecklicher Traum ---------------------------------- Unruhig schlief sie in dieser Nacht. Eigenartige, merkwürdige, beinahe beängstigte Träume suchten sie immer wieder heim. Aber aufwachen konnte sie nicht. Irgendetwas hielt sie darin fest, was sie sich nicht erklären konnte. Ihr ganzes Leben, nur in einem einzigen Traum eingefangen, lief in ihrem Unterbewusstsein ab: Ihre Kindheit war das einzig Friedliche, wovon sie träumte. Sie hatte das Reiten und Fechten gelernt. Spielte mit ihrem besten Freund, der ein überaus treuer Gefährte und Kamerad war - trotz der Standesunterschiede. Sie war adlig, er nicht. Ihre Kindheit endete, als sie den Posten als Kommandant der königlichen Garde antrat. Sie wälzte sich auf die andere Seite des Bettes und der Traum nahm einen anderen Verlauf: Ihr bester Freund wurde zum Tode verurteilt, obwohl er schuldlos war. Durch ihren Einsatz rettete sie ihn, aber das Schicksal trieb sein eigenes Spiel. Ihr Atem ging flacher. Schweißperlen bedeckten ihre Stirn, als sie im Traum erlebte, wie ein Herzog einen kleinen Jungen auf offener Straße erschoss, nur weil dieser aus Hunger gestohlen hatte. Unter dem einfachen Volk fing es an zu brodeln, während die Adligen in Saus und Braus das Leben in vollen Zügen genossen. Die Königin verfiel in Verschwendungssucht, weil ihr Geliebter sie verlassen hatte. Wieder drehte sie sich unruhig von einer Seite auf die andere und umklammerte den Zipfel ihrer Decke fest drückend, als sie weitere Intrige, Verrat und Mord am Hofe sowie die unerwiderte Liebe zu einem Grafen in ihrer Traumwelt erleben musste. Als wäre das nicht schon schrecklich genug, verletzte ein Dieb ihren Freund am linken Auge und er erblindete darauf. „...mit mir nimmt das kein gutes Ende. Erst verliere ich ein Auge, dann verkleide ich mich als schwarzer Ritter, und da fragt mich nicht einmal einer, wofür das alles war...“ sagte er. Er hatte das für sie getan, wurde ihr bewusst. Aber warum? Die Antworten kamen nach und nach zum Vorschein. Er sagte: „Eine Rose wird immer eine Rose bleiben - ob sie will oder nicht. Eine Rose kann niemals eine Distel sein.“ Diese Aussage brachte ihm eine Ohrfeige als Antwort ein. Seines Verstandes verloren packte er sie an ihren Handgelenken und drängte gewaltsam einen Kuss auf ihre Lippen. Eher sie sich versah, warf er sie zu Bett und zerriss ihr das Hemd. Wie konnte es nur dazu kommen? Wo war all die Freundschaft zwischen ihnen? Dann deckte er sie reumütig mit der Decke zu. Er schwor, dass es ihm nie wieder passieren würde und gestand unter den Tränen, dass er sie liebte: „...verstehe mich doch, man kann nicht einfach gegen den Willen der Natur ankämpfen... Zwanzig Jahre lang war ich nur mit dir zusammen... Du warst die Einzige, für die ich etwas empfunden habe... Ich liebe dich! Ja ich habe dich schon immer geliebt... Ich liebe dich aus tiefstem Herzen.“ Wie konnte er nur! Sie waren doch Freunde! Oder etwa nicht mehr? Nach diesem Vorfall bestimmt nicht! Sie entschied sich, es würde besser sein, wenn sie getrennte Wege gingen und einander selten wie möglich treffen würden. Sie verließ das königliche Garderegiment und wechselte zur Söldnertruppe. Aber er ließ sie nicht alleine. Er war auch dort, als Soldat. „Egal was passiert, oder wie du darüber denkst, ich bin der einzige Mensch, der dich beschützen kann!“, sagte er. Ausgerechnet er wollte sie beschützen?! Nachdem er selbst derjenige war, der fast über sie hergefallen ist! Aber was soll`s! Sollte er machen was er wollte! Sie hatte ihn ja aus ihren Diensten entlassen; ihm die Möglichkeit gegeben, sein Leben so zu führen wie er es für richtig hielt! Sie wollte endlich aufwachen, diesen Traum nicht mehr ansehen. Aber er hielt sie in seinen Klauen fest und die Ereignisse überschlugen sich. Es gab einen Volksaufstand. Sie und ihr Freund wurden vom wütenden Mob in der Kutsche überfallen und beinahe getötet, wenn nicht ein gewisser Graf sie alle beide gerettet hätte. Sie war selbst erstaunt, dass sie für ihn keine Gefühle mehr hatte. Sie glaubte ihn jedoch zu lieben! Aber einzig und alleine galt ihre Sorge ihrem langjährigen Freund und da begriff sie, wie vom Blitz getroffen, dass er ihr der wichtigste Mensch auf Erden war. Ohne ihn konnte sie nicht überleben! Es kam ihr vor, als bräche um sie herum alles zusammen! Aus dem Volksaufstand wurde schon bald eine Revolution. Ihr Freund aus Kindertagen, ihr Begleiter und Gefährte seit sie denken konnte, stand ihr auch da zur Seite – trotz dem Schwinden seiner Sehkraft. Und sie hatte die Tuberkulose. Wie passend! Zwei Todgeweihte, die ohne einander nicht leben konnten und bis zum letzten Tropfen Blut kämpfen würden! Aber für was? Für das Volk und die neue Zeit natürlich! Sie wechselte mit ihm die Seiten und gestand ihm ihre Liebe. Nur eine einzige Nacht war ihnen vergönnt, bevor der Tod sie entzwei riss. Er starb, nachdem eine feindliche Kugel ihn mitten ins Herz getroffen hatte. Verbittert und wütend auf sich selbst, weil sie seine Liebe nicht schon früher erkannt und erwidert hatte, sah sie keinen Sinn mehr weiterzuleben. Sie befehligte ihre Soldaten bei dem Sturm auf Bastille und wurde von der gegnerischen Besatzung erschossen. Mehrere Kugeln bohrten sich in ihren Leib. Doch trotz all den Schmerzen fand sie ihren Frieden, denn ihr Freund und Mann wartete schon bereits auf sie. Sie wollte ihn nicht länger warten lassen, nicht wie sie es im Leben getan hatte. Wenigstens im Tod würden sie wiedervereint sein und das auf Immer und Ewig. Im Jenseits, dort wo nichts und niemanden mehr gibt - außer sie beide und die bedingungslose Liebe zueinander. „Adieu!“, hauchte sie und da ließ sie der Albtraum aus seinen Klauen frei. Oscar erwachte schweißgebadet und mit kaltem Schauer am ganzen Körper. Wie gestochen saß sie in ihrem Bett auf und versuchte ihr schnellen Atem und ihr rasendes Herz zu beruhigen. Was für ein Traum! Der Morgengrauen breitete sich langsam in ihrem Zimmer aus und die ersten Sonnenstrahlen kündeten den Beginn des neuen Tages an. Oscar legte ihre noch zittrige Hand auf ihre Stirn und schloss die Augen. Für einen kurzen Moment - um sich zu vergewissern, dass der schreckliche Traum fort war. Er war fort, aber die Fetzen von Qual, Liebe und Tod, nisteten sich fest und unauslöschlich in ihr ein. Die Schreie der Menschen, die Gewehrschüsse und der Kanonendonner, bildete sie sich ein noch immer zu hören. Wie der Nachhall eines Echos, kreiste das alles in ihrem Kopf. Und in all dem Trubel und Massaker gab es da noch seine warme Stimme: Die von ewiger Liebe zu ihr sprach, seine zarten Berührungen an ihrem Körper, seine Küsse und Liebkosungen, die mehr Wert waren, als das ganze Chaos und der Kampf, der ihnen nichts als den Tod bescherte. „Nein!“ Oscar schlug ruckartig ihre Augen auf. „Das war nur ein Traum! Das wird alles nicht geschehen! Niemals!“ Sie stieg aus ihrem Bett und ging zum Fenster, um die Vorhänge auseinander zu ziehen und das bereits hereingebrochene Morgenlicht gänzlich einzulassen. Dabei bekam sie ein Stechen und Ziehen im Unterleib, das sie ignorierte. Sie hatte es schon gestern Abend gehabt. Es würde gleich vergehen. „Guten Morgen, Lady Oscar. Ich bringe Euch Euer Frühstuck.“ Ihre Kinderfrau Sophie betrat mit zwei weiteren Dienstmädchen ihr Vorzimmer und stellte ein beladenes Silbertablett auf dem Tisch ab. Zuvor hat sie Oscar nicht genau betrachtet gehabt und jetzt weiteten sich ihre Augen, als sie einen Blutfleck auf dem knielangen Nachthemd ihres Schützlings entdeckte. „Lady Oscar, Ihr blutet ja!“ Oscar runzelte verwundert mit der Stirn und sah an sich herab. In der Tat entdeckte sie den Blutfleck, unter dem Bauch auf dem weißen Stoff ihres Nachthemdes. Zwischen ihren Schenkeln blutete sie bestimmt auch, dem Spürsinn ihrer Haut zu urteilen. „Hier auf dem Bettlacken ist auch ein Blutfleck!“, hörte sie eines der Dienstmädchen aus ihrem Schlafzimmer rufen, das mit ihrer Kameradin ihr Bett räumte. „Was?“, Oscar eilte verdattert zurück zu ihrem Schlafplatz und musste dem Dienstmädchen recht geben. „Oh, Lady Oscar!“ Sophie kam hinter ihr her und ihr rundes, alterndes Gesicht erstrahlte. „Das ist Euer erster Monatsfluss! Ihr seid jetzt eine Frau geworden!“ Oscar wollte am liebsten vor Wut aufschreien. Sie als Frau, wo sie doch das Leben eines Mannes führte? Nein, niemals! Und plötzlich war sie wie versteinert. Das hatte sie schon einmal erlebt! Heute in ihrem Traum, an dem sie sich schwach erinnern konnte. Da hatte sie wie ein wild gewordenes Tier um sich getobt und alle angebrüllt, die in ihre Nähe kamen. Wie lächerlich sie doch dabei aussah! Nein, sie würde nicht tollwütig um sich toben und ihren Monatsfluss verfluchen! Der Traum hatte sie in dieser Sache aufgeklärt! Sie fühlte sich auf einmal viel reifer und erwachsener als sie es gerade mit ihren vierzehn Jahren war. Sie schnitt eine Grimasse. „Sophie, würdest du mir bitte beim Waschen und Anziehen helfen? Und alles Nötige besorgen, um dieses Zeug so gut wie möglich zu stillen?“ „Aber natürlich.“ Sophie starrte erst einmal überrascht drein, denn sie hatte eigentlich mit Wutausbrüchen gerechnet, aber sogleich hat sie sich wieder gefangen. Sie half ihrem Schützling und klärte sie diesbezüglich ein wenig auf. Ihre Mutter kam noch hinzu, gratulierte ihr. Ohne sich zu wundern sprach sie noch mit ihr darüber, auch wenn sie eigentlich schon alles von Sophie erfahren hatte. Oscar ließ die mütterliche Fürsorge und gutgelaunte Behandlung ihrer Kinderfrau stoisch über sich ergehen. Es war ganz und gar nicht ihre Art, aber sie hatte sich etwas vorgenommen und daran hielt sie sich stur. Frischgewaschen und in ihren bequemen Sachen angekleidet, nahm Oscar später ihr Frühstück ein. Wie gut, dass sie die Hose trug! So konnte sie auf Rat von Sophie mehrere, zusammengenähte Stoffbinden als Unterlage im Hosenschritt auflegen und tragen. Sie musste diese nur häufig wechseln, bis es vorbei war. Oscar verschwendete daran kaum mehr einen Gedanken. Während sie ein Croissant mit weicher Butter bestrich und akkurat aß, dachte sie an den nächtlichen Traum. Was er wohl zu bedeuten hatte? Und sollte sie an das Geträumte glauben? Wie viel Wahrheit steckte überhaupt darin? Sie musste das herausfinden! „Oscar?“ Der braunhaariger Kopf eines Knaben lugte durch die Türöffnung zu ihrem Salon und entriss sie aus ihren Grübeleien: „Darf ich reinkommen?“ „Aber natürlich, Andre!“ Oscar hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass er geklopft hatte. Ihr Freund seit Kindertagen kam leichtfüßig herein, mit einem sonnigen Lächeln und kratzte sich am Hinterkopf, als hätte er dort eine Beule. „Ich hätte dich schon eher besucht, aber Großmutter hatte es mir verboten und erklärt, was du hast. Dann hat sie es mir doch erlaubt, aber nur um das Geschirr nach deinem Frühstück abzuräumen und mir mit ihrem Schöpflöffel eine verpasst, damit ich bei dir nicht lange bleibe.“ „Du Armer. Ich werde mit ihr reden. Du kannst mich jederzeit besuchen.“ Oscars Mundwinkeln zogen sich leicht nach oben. Mit einer Handgeste lud sie ihn ein, gegenüber den Platz am Tisch zu nehmen. „Ich bin zwar mit Speisen fertig, aber ich möchte, dass du bei mir noch etwas bleibst.“ Was war auf einmal mit ihr los? Wo blieb ihre aufrechte Haltung und ihr Stolz? Sie hörte selbst wie weich und sanftmütig ihre Stimme klang. Das durfte nicht sein! Sie war nicht dazu erzogen, ihre Gefühle zur Schau zu tragen! Sie sollte wie ein Mann auftreten und hartherzig bleiben! Andre folgte ihrer Einladung mit sichtlicher Freude. Seine Großmutter hatte ihn gewarnt: Lady Oscar sei schlechtgelaunt - aber dem war nicht so. Ihm schien, sie erfreute sich sogar seines Besuches. Er nahm ihr gegenüber Platz und legte seine Arme übereinander auf der Tischkante. Eine Weile sahen sich beide stumm an. „Was denkt er jetzt?“, fragte sich Oscar und verglich ihn mit dem Andre aus ihrem Traum: Wie Anders sah er doch aus! Kein verletztes Auge, kein kurz geschorenes Haar und vor allem kein Anzeichen, dass er ihretwegen unter Liebesqual litt. Seine grünen Augen strahlten dieselbe Freundlichkeit aus, wie in ihrer Kindheit. „Nein, das war nur ein böser Traum, mehr nicht!“, redete sie sich ein und da breitete sich unverhofft ein dumpfes Gefühl in ihr aus: „Und was ist, wenn es irgendwann so sein wird?“ „Oscar, du bist so still?“, Andre entriss sie erneut aus ihren Grübeleien. „Ach, es ist nichts.“ wedelte Oscar mit einem matten Lächeln ab. „Aber sag, Andre, glaubst du an Träume?“ „Nicht ganz. Wieso fragst du?“ „Ist nicht wichtig. Ich habe nur heute Nacht von viel Blut geträumt und nun habe ich meinen ersten Monatsfluss am Hals. Ist das nicht komisch?“, Oscar lachte freudlos auf. Sie hat sich für eine Notlüge entschieden, gerade rechtzeitig, um ihn nicht mit ihren Albträumen zu belasten. Diese Bürde würde sie alleine tragen, wenn es überhaupt wahr sein sollte. „Wenn du meinst, dass ich dich deshalb auslachen werde, dann täuschst du dich, Oscar! Ich bin doch dein Freund und Freunde machen so etwas nicht.“, sagte Andre zuversichtlich und erhob sich vom Stuhl: „Ich räume lieber das Geschirr ab, sonst wird mich Großmutter wieder mit ihrem Schöpflöffel überfallen. Und du versuchst am Klavier zu spielen. Das hilft vielleicht.“ „Danke, Andre!“ Oscar begleitete ihn mit nichtssagenden Blicken, bis er mit samt des abgeräumten Tabletts hinter der Tür verschwand. Dann zog sie ihre Augenbrauen zusammen. Im Traum hatte er zu ihr auch so etwas Ähnliches gesagt, aber vielleicht bildete sie sich das nur ein... Sie spielte am Klavier, wie er es ihr empfohlen hatte, und vergaß langsam den merkwürdigen Traum. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)