Ein zweites Leben von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 9: Zweites Wiedersehen ------------------------------ Noch immer standen Oscar und Andre unter der Brücke. Sie spürte das leichte Gewicht seiner Arme um ihren Körper und seinen warmen, gleichmäßigen Atem an ihrem Scheitel. Sie fühlte sich geborgen und neue Bilder tauchten in ihrem geistigen Auge. Diesmal viel angenehmere Bilder als zuvor: Es herrschte Nacht und ein Fluss schlängelte sich zwischen den Bäumen des Waldes. Eine blondgelockte Frau in der blauen Uniform eines Befehlshabers, saß am Ufer und schaute sich wundert in der Umgebung um sich herum. „Was geschieht jetzt? Und warum trage ich meine letzte Uniform?“ Sie erkannte diese Gegend zweifelsfrei: Das war der Ort, an dem sie ihrem Geliebten ihr Herz geöffnet hatte und sich mit ihm vereinte. Das war die erste und einzige Nacht zwischen ihnen gewesen. Aber warum sie jetzt ohne ihn hier war, konnte sie sich nicht erklären. Die Frau erhob sich mit aufsteigender Freude und Vorsicht. Vielleicht war er hier irgendwo in der Nähe und suchte nach ihr? „Andre, bist du auch hier?“, rief sie in Richtung der dunklen Bäume. „Oscar?“, ertönte es irgendwo hinter ihr. Sie wirbelte auf ihren weißen Absätzen herum, aber erkennen konnte sie nichts als die schwarzen Umrisse der Bäume. „Wo bist du, Andre?“ „Ich bin hier!“, hallte es zurück: „Bleib dort stehen, ich bin gleich bei dir!“ Sie hörte raschelnde, feste Schritte und wie die Zweige von Sträuchern auseinander geschoben wurden. Schemenhaft nahm sie auch Bewegungen zwischen den massiven Baumstämmen wahr. Und wenig später zeichnete sich seine männliche Silhouette vor ihren Augen ab. „Andre!“, hauchte sie und lief in seine Arme. „Oscar, endlich!“ Er umfing sie in einer heftigen Umarmung: „Ich bin wieder deiner Stimme gefolgt...“ „Das erzählst du mir später!“, unterbrach sie ihn schroff, legte ihre Hände um seinen Nacken und zog ihn zu sich. „Küss mich und lasse mich nie wieder los!“ Dass er eine dunkelblaue Soldatenuniform trug, bemerkte sie nicht. „Ach, Oscar, meine geliebte Oscar...“, flüsterte er selig und küsste sie mit voller Leidenschaft. Er würde sie nicht loslassen - egal was auch passieren mochte. Und sollten sie erneut getrennt werden, würde er einfach wieder ihrer Stimme folgen. - - - Bei Oscar unter der Brücke, verstärkte sich das Lächeln, als sie hinter ihren geschlossenen Lidern den beiden zusah. Wie gut passten sie doch zusammen! Und wie glücklich sie miteinander waren! Ihr Freund Andre hielt sie nicht allzu fest in seinen Armen und versuchte den Moment zu genießen, ihn sich einzuprägen - so kostbar war er für ihn. Oscar sollte es für eine freundschaftliche Umarmung halten und keinen Verdacht schöpfen, dass da noch etwas mehr war. Auch ihm geisterten eigenartige Bilder durch den Kopf: Er sah einen Fluss, umgeben von tiefer Nacht und dunklen Umrissen von Bäumen. Nichtsdestotrotz, erkannte er ein Pärchen am anderen Ufer des Flusses. Er runzelte unbewusst mit der Stirn. Etwas stimmte da nicht! Die Zwei sahen aus wie junge, hochgewachsene Männer! Einer hatte langes, blondes Haar, der anderer kurzes, braunes und alle beide trugen Uniformen! Sie standen in einer tiefen Umarmung umschlungen und küssten sich leidenschaftlich! Andre riss erschrocken die Augen auf. Was für ein obszönes Bild! Er hatte sich eigentlich vorgestellt, wie er Oscar küsste, aber da tauchten unverhofft diese beiden Männer in seiner Vorstellung auf! Ein eisiger Schauer überlief ihn und sein Herz hämmerte rasend. Er versuchte sich zu beruhigen, atmete ein paar Male tief durch und verdrängte die gesehene Bilder aus seinem Gedächtnis. Oscar spürte nichts davon. Ihre Stirn legte sich in Falten und ihr Puls beschleunigte sich. Denn die schöne Zweisamkeit der anderen Oscar und ihrem Geliebten verschwand urplötzlich. Auch der Wald, der Fluss und die blaue Uniform, existierten nicht mehr. Die Frau stand wieder ganz alleine in der finsteren Dunkelheit und trug ihr weißes Hemd, braune Hosen und schwarze Stiefel. „Nein!“, schrie sie vor Wut und Verzweiflung: „Warum passiert das schon wieder?! Warum können wir nicht zusammen sein?! Warum?!“ „Es tut mir leid“, sagte Oscar bedauernd in Gedanken und machte ihre Augen auf, um die Frau nicht mehr länger mit grenzenloser Dunkelheit zu quälen. Erst jetzt nahm sie Andres schnell schlagendes Herz wahr. Sie entriss sich von ihm, richtete sich auf und musterte ihn fraglich. „Geht es wieder?“ Andre ließ sich nichts anmerken und strahlte seine gewohnte Freundlichkeit aus. „Ja, es geht mir wieder gut.“ Oscar fand in ihm nichts Außergewöhnliches; kein Anzeichen, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Ungewollt und mit tiefem Bedauern ließ Andre sie aus seiner Umarmung frei. „Es wird bald dunkel. Wollen wir nicht langsam losfahren?“ „Du hast recht“, sagte Oscar knapp und distanzierte sich von ihm. Da war sie wieder: Der kühle und beherrschte Kapitän der königlichen Garde. „Fahren wir weiter!“ In der Kutsche verlor sie kaum ein Wort. Sie passierten die Tuilerien und eine kleine, bescheidene Kirche. Oscar sah lange und nachdenklich aus dem Fenster, bis die Kutsche an ihr ganz vorbeigefahren war. „Dort lag er aufbewahrt, nicht wahr?“, fragte sie ihr eigenes Ich in Gedanken. „Ja...“, meldete sich die verbitterte Stimme in ihr: „Ich saß bis in die Nacht vor der Kirche. Ich konnte mich nicht damit abfinden, dass er tot war. Und das kann ich noch immer nicht. Aber was nützt es mir, wenn ich ihn immer wieder verliere? Diese kurzen Momente mit ihm sind schön und schmerzlich zugleich. Ich wünschte, du würdest nicht das gleiche Los ziehen wie ich. Du hast schon Einiges geändert, aber das Wichtigste ist bei dir gleich geblieben.“ „Wenn du damit Andre meinst, dann täuschst du dich“, dachte Oscar bei sich und verschränkte unbewusst ihre Arme vor sich, ihren Blick weiterhin aus dem Fenster der Kutsche gerichtet. Ohne wirklich darauf zu beachten, woran sie vorbeifuhren, klärte sie die andere Oscar in sich auf: „Ich glaube, ich war noch nie so offen zu ihm wie heute. Dabei sah ich euch beide und fühlte mich sehr glücklich. Ich weiß nicht, ob das die Liebe ist die du meinst, aber eines kann ich dir versichern: Es wird keinen anderen Mann in meinem Leben geben außer ihn!“ „Gratuliere, Oscar Francois! Du machst Fortschritte, die mir nie eingefallen wären!“, bemerkte die Stimme in ihr beeindruckt: „Hut ab! Aber ziehe es nur nicht in der Länge!“ „Ein kleiner Fortschritt ist besser als gar keiner.“ Oscar verzog eine schiefe Grimasse. „Woran denkst du schon wieder, Oscar?“, entriss sie besorgt Andre aus der Zwiesprache mit ihrem anderen Ich: „Du grinst so eigenartig.“ Oscar richtete ihr Augenmerk sofort auf ihn. Im spärlichen Licht in der Kutsche, das die anbrechende Abenddämmerung verlieh, konnte sie seine Gesichtszüge kaum erkennen. Aber wie konnte er dann die ihren erkennen? Oder beobachtete er sie die ganze Zeit so sehr, dass er jede Bewegung in ihr merkte? Oscar rief sich zu Ordnung, senkte ihre Arme auf ihre Oberschenkel und zog ein ernstes Gesicht. „Ich habe nur an unsere früheren Fechtübungen gedacht, Andre. Besonders an deine und ich muss sagen, du hast dich verbessert.“ War das ein Lob? Hatte sie wirklich daran gedacht? Oder war das nur eine Ausrede, damit er nicht weiter nachhakte und ihr womöglich auf die Schliche kam? „Wenn das so ist, dann danke ich dir, Oscar“, sagte er stattdessen; zufrieden, dass sie überhaupt antwortete und ihn nicht mit knappen Worten abblockte. „Und ich finde, wir sollten unsere Fechtübungen ein wenig auffrischen. Das letzte Mal liegt schon lange her.“ „Da gebe ich dir recht, Andre. Wir dürfen unsere Fechtübungen nicht vernachlässigen. Was hältst du von morgen früh, bei Sonnenaufgang? Danach gehen wir gemeinsam speisen und ausreiten?“ „Abgemacht! Das wird bestimmt ein hervorragender Tag!“ Andre konnte man die Freude vom Gesicht ablesen. Und warum auch nicht? Einen ganzen Tag nur mit Oscar verbringen zu können, hatte er schon lange nicht mehr erlebt. „Ja, Andre, das wird bestimmt ein schöner Tag werden“ Oscar gönnte ihm seine Freude aus tiefsten Herzen. „Ich freue mich auch darauf.“ Die Kutsche nährte sich langsam der Bastille. Draußen herrschte die Dämmerung der hereinbrechenden Nacht. Entlang der großen, breiten Straßen leuchteten Laternen. Die Menschen wurden immer weniger. Nur manche Streuner kreuzten ihnen den Weg, auf der Suche nach Essbarem. Die hohen Mauern der Bastille kamen Oscar in der abendlichen Dunkelheit noch bedrohlicher vor als bei Tageslicht. Es erschauderte sie, als die Kutsche an der mächtigen Festung vorbeizog. Sie wollte sich hier nicht anhalten und die grausamen Bilder aus ihren Träumen hervorrufen. Sie glaubte jetzt schon Kanonendonner, Menschenschreie und Gewehrschüsse zu hören. Nein, das durfte nicht geschehen! Sie musste es verhindern! Jede Sehne ihres Körpers spannte sich an. Sie verbot es sich, die Hände zu Fäusten geballt, länger aus dem Fenster hinaus zuschauen. Oscar wollte Andre nicht noch mehr beunruhigen. Endlich bogen sie ab und entfernten sich von der Bastille. Oscar entspannte sich und atmete auf, als sie die Festung weit hinter sich wusste. „Warum tue ich mir das nur an?“, fragte sie sich selbst. „Um nicht zu vergessen, was passieren könnte, wenn du nichts zu ändern versuchst“, meinte die Stimme in ihr wohlwissend. „So könnte es sein...“ Oscar musste ihr recht geben. Sie wurde nicht gezwungen, diese Orte aufzusuchen. Und doch zog es sie hin. Sie ahnte: Wenn sie das weiter machen würde, würde Andre bald vor Sorge um sie umfallen. Sie musste auch an ihn, seine Empfindungen und sein weiches Herz denken. „Ich höre damit auf!“, schwor sie sich entschlossen: „Ich werde diese Orte nicht mehr so häufig aufsuchen! Das tue ich für Andre!“ „Ich werde dich daran erinnern, falls du deinen Schwur brichst“, mahnte die Stimme in ihr. „Ich breche niemals meinen Schwur!“, versicherte ihr Oscar aufrecht in Gedanken. „Anhalten! Haltet bitte an!“, durchdrang urplötzlich eine flehende, mädchenhafte Stimme von draußen. Oscar durchfuhr es durch Knochen und Mark. „Kutscher anhalten!“, befahl sie lauthals und gleich darauf stand die Kutsche still. „Rosalie...“, meldete sich rührend die Stimme in Oscar: „Ich erkenne sie... das arme Mädchen... ich habe sie völlig vergessen...“ „Wer ist Rosalie?“, fragte Oscar baff. „Das erkläre ich dir später“, bekam sie als knappe Antwort von ihrem anderen Ich. Es war ein junges Mädchen, nicht älter als sechzehn oder siebzehn Jahre. In einem zerschlissenen, ärmlichen Kleid und mit einem dunkelblonden Zopf holte sie Kutsche ein. Mit vor der Brust gefalteten Händen und traurigen, verzweifelten Augen schaute sie zu Oscar hinauf. „Möchtet... möchtet Ihr mich für eine Nacht kaufen, mein Herr?“ „Wie bitte?“ Oscar dachte, sie höre nicht richtig und auch Andre sah pikiert drein. Dann brach Oscar in schallendes Gelächter aus und hielte sich die Stirn. „Oh, ist das komisch...“ Sie rief sich gleich wieder zur Ordnung, richtete ihr Augenmerk zurück auf das Mädchen und hob ihren Zeigefinger in die Höhe. „Da hast du aber Pech gehabt, ich bin nämlich eine Frau. Also siehe dir deine Kunden in Zukunft genauer an.“ „Oh, nein...“ Das Mädchen fiel auf die Knie und brach in Tränen aus. Oscar hatte Mitleid mit dem jungen Ding. Sie stieg aus der Kutsche. „Hör mal. Wie bist du eigentlich auf Idee gekommen, dich verkaufen zu wollen? Du siehst gar nicht so aus.“ Sie beugte sich zu ihr vor. Zwar kannte sie bereits ihren Namen, aber Oscar fragte doch vorsichtshalber und aus reiner Höflichkeit nach: „Wie heißt du denn, Kleine?“ „Rosalie...“ Das Mädchen schluchzte heftig in ihre Handflächen. „Meine Mutter ist sehr krank und ich finde keine Arbeit mehr...“ „Also, Rosalie...“ Oscar wartete, bis das Mädchen ihren Blick hob. Dann griff sie sich in ihre Tasche und drückte ihr ein Goldstück in die Hand. „Das wird zwar nicht für lange reichen, aber nimm es trotzdem. Und wenn du deine Mutter liebst: Mache solchen Unsinn nie wieder. Hast du verstanden?“ „Ja, Madame“, hauchte Rosalie tonlos, überwältigt von der Güte dieser adligen Frau. Oscar stieg zurück in die Kutsche und sie fuhren weiter. „Das arme Mädchen muss sich an Männer verkaufen, weil sie nicht weiß, wie sie überleben soll!“, dachte sie bei sich missmutig, während die Kutsche in Richtung Anwesen rollte: „Was für Elend herrscht überhaupt in dieser Stadt?! Und ich dachte, ich habe schon einiges zum Guten wenden können!“ „Das dachte ich auch“, hörte sie die Stimme in ihr sagen. „Also werde ich am Hofe mit mehr Nachdruck arbeiten müssen und Marie Antoinette die Augen öffnen!“, beschloss Oscar für sich und forderte im gleichen Moment von der Stimme in ihr etwas ganz anderes: „Und jetzt erkläre mir, wer Rosalie ist! Was weißt du über sie?“ „Rosalie ist ein nettes, ehrliches Mädchen und ich habe sie sehr gemocht“, berichtete ihr die Stimme ausführlich: „Sie ist von adliger Herkunft, aber wurde von ihrer leiblichen Mutter verlassen und von einer armen, bürgerlichen Frau großgezogen...“ Oscar schloss ihre Augen und sah all die Bilder, die ihr die andere Oscar während der Erzählung zeigte. Andre sah zwar ihren verzogenen Gesichtsausdruck in der finsteren Dunkelheit der Kutsche nicht, aber dafür spürte er, dass sie die Sache mit dieser Rosalie sehr beschäftigte. Er kannte ihre verborgene Gutherzigkeit und fühlte mit ihr. Er hätte ihr gerne geholfen: Sie in seiner Umarmung getröstet, wie vor wenigen Stunden. Aber solange sie sich dies nicht von selbst wünschte, würde er es nicht einmal wagen, solche Taten in Erwägung zuziehen. Zuhause auf ihrem Zimmer und beim Klavierspiel, erdachte sich Oscar ihre neue Ziele. Sie würde Rosalie jederzeit bei sich aufnehmen, genau wie es die andere Oscar in ihrem früheren Leben getan hatte. Mit der leiblichen Mutter des Mädchens würde sie dagegen anders verfahren: Sie würde versuchen, die Freundschaft zwischen der Königin und dieser gewissen Madame zu verhindern. „Ich hoffe, dass es klappt“, meinte dabei die Stimme in ihr vieldeutig: „Der Versuch, die Begegnung zwischen Marie Antoinette und Grafen von Fersen zu verhindern, ist ja zum Scheitern verurteilt gewesen.“ „Wir werden sehen“, murmelte Oscar zuversichtlich: „Und was den Grafen von Fersen und Marie Antoinette angeht: Da werde ich auch noch einen Ausweg finden.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)