Ein zweites Leben von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 10: Die Königin ----------------------- Beim Sonnenaufgang des nächsten Tages übte Oscar wie versprochen mit Andre Fechten. So viel Spaß hatte sie schon seit langem nicht mehr gehabt. „Du bist wirklich besser geworden, Andre!“, sagte sie in einer Verschnaufpause und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. „Du bist trotzdem schneller als ich“, erwiderte er mit freudigem Glanz in seinen grünen Augen und durch die Anstrengungen erhitztem Gesicht. „Ich bin einfach zu langsam in meinen Reaktionen.“ „Wie hinreißend er aussieht, wenn er glücklich ist“, meldete sich die Stimme in Oscar verzückt. Sie hatte bisher geschwiegen, als würde sie noch schlafen und jetzt erst erwachen. „Ich habe schon fast vergessen, wie glücklich der meine Andre früher ausgesehen hatte. Und ich habe das nicht einmal gemerkt.“ „Sei still, du bist gerade unpassend!“, beschied sie schnell Oscar in Gedanken. Sie atmete tief ein und aus, als würde sie noch außer Puste sein: „Ich bin zwar du, aber ich begehe nicht den gleichen Fehler was ihn betrifft.“ „Oscar!“, hallte es urplötzlich in der Umgebung. Oscar fuhr überrascht herum und schaute flüchtig zu den Fenstern des Hauses, bis ihr Blick auf ein breit geöffnetes im oberen Stockwerk fiel. „Was gibt es, Vater?“ „Du kannst stolz auf dich sein!“, rief dieser fröhlich: „Ich habe sehr gute Neuigkeiten für dich! Du bist ab heute Kommandant!“ „Ach so! Ich dachte schon, es ist etwas ernstes passiert...“, meinte Oscar in Gedanken. Sie wusste, dass dieser Tag irgendwann kommen würde und war darauf vorbereitet. „Man hat dich befördert?“, staunte dagegen Andre betroffen. Oscar schnitt eine schiefe Grimasse. Normalerweise sollten es ihre Worte sein. „Ich hörte es munkeln, dass es das erste Begehren der Königin war, den König um deine Beförderung zu bitten“, hörte sie ihren Vater weiter begeistert ausrufen. „Jetzt kannst du deine weiße Uniform gegen eine Rote eintauschen.“ Die Stimme in Oscar klang erfreulicher als sonst: „Somit hast du mehr Möglichkeiten in der Nähe von Marie Antoinette zu sein und sie auf den richtigen Pfad zu führen.“ „Dann hast du es also der Königin zu verdanken?“, ertönte es von Andre noch erstaunter als zuvor. „Ja.“ Oscar lächelte noch schiefer. Auch dieser Satz hätte von ihr ausgesprochen werden sollen. Könnte es sein, dass er die gleichen Gedanken hatte, wie sie? Nicht einmal die andere Oscar in ihr fand darauf die Antwort. Oscar begab sich unverzüglich nach Versailles, um der Königin zu danken. „Lass mich das nur machen“, bat sie noch kurz ihr anderes Ich, bevor diese sie mit Ratschlägen überhäufen konnte. Die Königin empfing Oscar mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht. Oscar beugte ordnungsgemäß das Knie vor ihr und Marie Antoinette entließ ihre Hofdamen, um mit Oscar alleine zu sein. „Ich danke Euch für die Beförderung, Euer Majestät“, meinte sogleich Oscar huldvoll. „Nichts zu danken, Oscar.“ Unter vier Augen beliebte Marie Antoinette ohne großartige Förmlichkeiten zu sprechen: „Durch Eure Beförderung könnt Ihr mit mir öfters zusammen sein. Und natürlich habe ich schon dafür gesorgt, dass Euer Sold verdoppelt wird.“ „Majestät...“, Oscar traf es unvorbereitet. Vielleicht sollte sie doch auf die Stimme in ihr hören? Die andere Oscar hatte sie zwar über diese Beförderung oft in Kenntnis gesetzt, aber wie das Gespräch zwischen ihr und der Königin abgelaufen war, hatte sie nie erwähnt. Oscar wollte es ohnehin auf ihre eigene Weise durchziehen. Sie legte die Worte zusammen und sprach betont weiter: „Ich bitte Euch, meinen Sold so zu belassen wie er ist. Frankreich ist nicht sehr wohlhabend und das Volk hungert. Anderenfalls sehe ich mich außerstande die Beförderung anzunehmen.“ „Aber Oscar...“ Eine Weile starrte Marie Antoinette baff drein. Praktisch alle ihre Untertanen plädierten darauf, befördert zu werden und erwarteten eine großzügige Verdopplung, wenn nicht gar Verdreifachung des Soldes. Oscar war die erste und einzige von ihnen, die das ablehnte. Das überraschte die junge Königin und vermittelte ihr gleichzeitig eine Seite in Oscar, die sie offensichtlich unterschätzt hatte: Oscar war unbestechlich. „Ich verstehe...“, fand sie in Kürze ihre Sprache wieder und ihr Gesicht erhellte sich: „Aber wenn Ihr einen Wunsch habt, müsst Ihr ihn mir mitteilen! Ich kann Euch jeden Wunsch erfüllen! Ich bin doch jetzt die Königin von Frankreich!“ „Wenn ich einen Wunsch habe, dann dass Ihr eine großmütige Königin werdet und Euer Volk liebt.“ „Oh, das tue ich, Oscar, das tue ich!“, sagte Marie Antoinette entzückt und Oscar dachte zufrieden, sie stand ihrem Ziel sehr nahe. „In meinem früheren Leben habe ich der Königin das gleiche gesagt, aber es hat nicht viel gebracht“, teilte ihr die Stimme abends mit. Oscar hielt vor ihrem Spiegel inne. Sie war gerade dabei, ihre neue Uniform anzuziehen. Ihr wurde irgendwie unwohl, als sie ihr eigenes Profil in dem kalten Spiegel betrachtete: Stechend blaue Augen, helle Haut, verhärmter Gesichtsausdruck und die schmalen, roten Lippen, die zu einem Strich gezogen waren. „Das war in deinem Leben, Oscar“, redete sie sich selbst ein: „In meinem Leben kann das alles vielleicht anders ausgehen, wenn man bedenkt, was ich so über meine Zukunft weiß.“ „So selbst entschlossen war ich auch“, bekam sie von ihr zur Antwort: „Und nun bin ich am verzweifeln. Du hast bisher nur gewisse Kleinigkeiten geändert. Aber manches scheint mir genauso zu verlaufen wie ich es kenne - trotz all deiner Mühe und deinem Wissen.“ „Soll ich deiner Meinung nach aufgeben?“ Oscar zog ihre Brauen nach oben. „Nein, nicht aufgeben, sondern weiterkämpfen! Denn die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Es ist mir nur so aufgefallen und ich mache mir darüber Sorgen.“ „Die kannst du dir machen, wenn es dazu kommt.“ Oscar fiel diesbezüglich auch schon einiges auf, aber sie stand gerade erst am Anfang. Umso mehr war sie später bestürzt, als die Königin ihr eine Kutsche voll mit Präsenten schickte, um ihr zu ihrer Beförderung zu gratulieren. Hatte Marie Antoinette etwa nichts verstanden? Oscar schickte die Kutsche mitsamt Präsenten zurück. Wenn es weiter so ging, dann würde die andere Oscar Recht behalten! Manche Sachen schienen in der Tat nicht veränderbar zu sein. „Du solltest zu ihr gehen und es ihr noch einmal erklären“, empfahl die altbekannte Stimme in ihr. „Hast du das in deinem Leben auch getan?“ „Nein. Und das war vielleicht mein Fehler.“ Oscar entrann dabei ein schwerer Seufzer. In dieser Nacht schlief sie nicht sonderlich gut. Die meisten Momente ihres wachen Zustandes war sie am Verplanen. Die andere Oscar sparte auch nicht mit Ratschlägen. Dennoch nützte das alles nichts. Marie Antoinette war schon bald mit ihrer neuen Rolle als Königin überfordert. Sie musste Audienzen abhalten und hunderte von Menschen empfangen, deren Gesuch sie erhören musste. Und je nachdem was sie wollten, musste sie auch Entscheidungen treffen. Viele suchten sie mit ihren Anliegen auf. Aber einer kam seit der Krönung nicht mehr zu Besuch: Graf Hans Axel von Fersen! Oscar bemühte sich, der Königin überall beizustehen. Aber sie konnte nicht verhindern, dass ihre Majestät mehr und mehr in Schwermut verfiel. „Versucht nicht an ihn zu denken, Majestät“, empfahl Oscar mitfühlend an einem heißen Nachmittag und bei einer Tasse Tee: „Denkt an die Bürger. Fahrt nach Paris. Zeigt Euch dem Volk und hört deren Belangen an. Die Menschen werden Euch mehr mögen: Für Eure Anteilnahme in ihrem Leben.“ „Ich kann nicht...“, gestand ihr vertraulich Marie Antoinette: „Ich weiß nicht, was mit mir los ist, aber er fehlt mir...“ Oscar dagegen wusste, was mit Marie Antoinette los war: Die Königin hatte bereits ihr Herz an den Grafen von Fersen verloren. Und sie wusste: Ab da ging es Berg ab. Marie Antoinette sagte häufiger die Audienzen ab, empfing nicht mehr als zehn Mann und versank in ihrem Kummer. Oscar scheiterte bei dem Versuch, sie aufzumuntern. Marie Antoinettes engsten Berater konnten auch nicht viel ausrichten. Bis von Fersen eines Tages zu Besuch nach Versailles kam. Sofort erstrahlte ihre Majestät die Königin und lud ihn unverzüglich zu einem Spaziergang im Garten ein. Seit dem besuchte er sie öfters und sie blühte noch mehr auf - was vielen Höflingen nicht in den Kram passte. Die Königin empfing diesen Schweden öfter als ihre eigenen Untergebenen. Man tuschelte schon bald hinter hervor gehaltener Hand über die beiden. Oscar war bestürzter als jemals zuvor. Wieder einmal befand sie sich in ihrem getrauten Heim. Spätabends saß sie noch in ihrem Sessel vor dem Kamin, während alle anderen Bewohner des Hauses schon längst zu Bett gegangen waren. In ihren Händen hielte sie ein Glas mit rotem Wein. Ihre Augen starrten ermüdet in die glühenden Überreste des Feuers und in ihrem Kopf sauste ein Wirbel. „Was mache ich nur falsch?“ „Das habe ich mich auch gefragt“, meinte die Stimme in ihr bedrückt: „Wie es aussieht, kann man die Liebe zwischen dem Grafen und der Königin doch nicht verhindern.“ Oscar seufzte entrüstet. Sie streckte ihre Beine in die Länge und trank einen Schluck aus ihrem halbvollen Glas. „Was hast du eigentlich zu deinen Lebzeiten für diesen Grafen empfunden? Warum hast du dich in ihn verliebt? Ich gebe es zu: Er ist charmant und edelmütig, aber ist das der Grund?!“ „Darüber will ich nicht sprechen!“, blockte die Stimme aufgewühlt ab: „Und wage es nicht, es mir gleichzutun!“ „Das werde ich todsicher nicht!“ Oscar setzte das Glas von ihren Lippen ab und lachte auf. Dabei verschüttete sie etwas Wein. Vereinzelte Tropfen flogen über den Rand und nisteten sich auf dem weißen Stoff ihres Ärmels ein. „Sophie wird bestimmt morgen schimpfen...“, murmelte Oscar kurz angebunden und verstummte prompt. Die kleinen, roten Fleckchen vermittelten ihr düstere Gedanken: „Kannst du mir wenigstens verraten, wo du dir die Tuberkulose eingefangen hast? Ich habe nämlich keine Lust auf diese Krankheit.“ „Wenn ich das nur wüsste...“ Die Stimme in ihr klang bedauerlich: „Doktor Lasonne hatte mir empfohlen aus Armee auszuscheiden, aufs Land zu ziehen und mir viel Ruhe zu gönnen. Sonst hätte ich nur noch sechs Monte zum Leben...“ „Sechs Monate...“, wiederholte Oscar erschaudernd. Sie richtete sich im Sessel auf und stellte ihr Glas auf dem Tisch neben sich ab. „Wusste dein Andre von der Krankheit?“ „Nein, das wusste er nicht.“ „Ich will alles darüber wissen!“ beschied Oscar. Sie erhob sich aus dem Sessel, verließ den Kaminraum und ging durch den Salon in ihr Bettzimmer. „Zeige es mir, während ich schlafe! Und auch die Sache mit Graf von Fersen! Vielleicht fällt mir dabei etwas auf und ich finde dadurch eine Lösung!“ Momente verstrichen, die Stimme in ihr meldete sich nicht. Oscar entledigte sich derweilen ihrer Sachen, zog ihr knielanges Nachthemd über und stieg in ihr Bett. Sie drehte sich von einer Seite auf die andere, zog sich die Decke bis zum Kinn und schloss ihre Augen. „Bitte, zeige es mir, Oscar, mein eigenes Ich. Lass mich nicht lange warten“, murmelte sie schläfrig und glitt schon in die Welt der Träume. „Nun gut...“ gab die Stimme in ihr nach: „Ich werde dir zeigen, was du sehen willst...“ Sie schloss selbst die Augen und erinnerte sich an die Dinge, die sie am wenigsten misste. So entstanden bei Oscar Bilder aus dem früheren Leben. Oscar träumte von einem Attentat auf sie. Graf von Fersen kam ihr zu Hilfe und ab da begann sie Gefühle für ihn zu hegen. Oscar runzelte im Schlaf die Stirn. Was sie sah, missfiel ihr. Zwar war der Graf eine edle und großmütige Persönlichkeit, aber sich in ihn zu verlieben, konnte sie sich schwerlich vorstellen. Von Fersen gehörte zu Marie Antoinette, wie sie zu Andre. Zwei Paare, die unter der verbotenen Liebe litten. Oft versuchte von Fersen die Königin zu verlassen, aber kehrte zu ihr immer wieder zurück - mit leidendem Herzen und unter unerträglicher Liebesqual. Andre dagegen blieb stets bei Oscar, obwohl ihm klar war, dass ihr Herz dem Grafen gehörte. Man kann seinen Gefühlen nicht davonlaufen, egal wie oft man es versucht. So litt Andre weiter stillschweigend an ihrer Seite unter der unerwiderten Liebe. Oscar wälzte in ihrem Bett und sah den Ereignissen mit feuchten Wimpern zu, bis zu der Stelle, wo sie Blut hustete. Unbewusst drückte sie sich ihre geballten Hände gegen den Brustkorb, als würde es ihr genauso ergehen wie in dem Traum. Die andere Oscar, verschonte sie wenigstens mit Bildern vom Tod. Der Traum endete, als Andre ihr Porträt beschrieben hatte und sie bittere Tränen vergoss, weil er kaum etwas erkennen konnte. Oscar, noch völlig schlaftrunken, schlug ihre Augenlider auf. Der Morgengrauen breitete sich schon in ihrem Zimmer aus. Gegenstände wurden sichtbarer. Für Oscar war das die gewohnte Zeit zum Aufstehen: Um sich zu waschen, anzuziehen, zu frühstücken und nach Versailles aufzubrechen. Am Hofe würde sie sich wieder mit der Königin befassen, mit Intrigen herumschlagen und für Ordnung sorgen. Während sie all dies tat, überlegte sie angestrengt nach einer Lösung. Andre wich ihr wie meistens nicht von der Seite. Seine Gegenwart nahm sie als selbstverständlich wahr und fühlte sich insgeheim viel wohler als ohne ihn. „Am Nachmittag fahren wir nach Paris“, teilte sie ihm beim Mittagessen mit, das sie auf ihren Gemächern in Versailles zusammen einnahmen. Es gab eine vorzügliche Cremesuppe mit knusprigen Scheiben vom Weizenbrot und Flasche Wein dazu. Den Wein rührte allerdings Oscar im Dienst nicht an. Andre sah erschrocken zu ihr auf und ließ seinen Löffel mit vorgetäuschter Gelassenheit in den Teller sinken. Sie wollte doch nicht etwa schon wieder die Bastille und die Tuilerien besuchen? „Weshalb willst du nach Paris, Oscar?“ „Graf von Fersen wohnt dort“, erklärte sie und warf ihm einen Seitenblick zu. „Ich will ihm einen Besuch abstatten.“ Sie schob ein letztes Stück Brot in ihren Mund, kaute daran genüsslich und spülte es anschließend mit zwei Löffeln Suppe herunter. Das schmeckte gut. Andre wirkte sichtlich erleichterter und schob seinen Teller beiseite, er war gesättigt. „Und was möchtest du bei dem Grafen, wenn ich fragen darf?“ Ist er etwa eifersüchtig? Oscar schnitt eine Grimasse. „Ich will mich mit ihm wegen der Königin unterhalten und ich bitte dich derweilen in der Kutsche zu bleiben.“ „In Ordnung.“ In Andre stieg ein mattes Gefühl auf und in seinem Kopf entstanden missmutige Fragen: „Wieso will sie ohne mich zum Grafen, wenn es ohnehin um die Königin geht? Wir haben doch keine Geheimnisse voneinander! Oder verheimlicht sie mir doch etwas in auf Bezug Grafen von Fersen?“ Andre konnte sich das Verhalten seiner langjährigen Freundin wieder einmal nicht erklären. Er hoffte, sie würde es ihm später erklären. „Was hast du mit von Fersen vor?“, fragte die Stimme in Oscar neugierig. Bisher hatte sie es ihr noch nicht offenbart. „Nicht das, was du gemacht hast“, bekam sie die gedankliche Antwort von ihr: „Du hast ihn gebeten Frankreich zu verlassen. Ich dagegen werde ihn bitten, in Frankreich zu bleiben! Im heutigen Traum fiel mir auf, dass Marie Antoinette auf seine Ratschläge am meisten gehört hatte. Viel mehr als auf die deinen oder die ihrer engsten Berater.“ „Du willst ihn also ausnutzen...“, stellte die Stimme in ihr fest. „Ich tue das zum Wohle Frankreichs und dafür, dass die Königin von ihrem eigenen Volk gemocht wird.“ „Du bist noch gerissener als ich es jemals gewesen bin, Oscar! Ich bin gespannt, was von Fersen dazu sagen wird.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)