Ein zweites Leben von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 11: Drittes Wiedersehen ------------------------------- „Das ist aber eine Überraschung!“, begrüßte Graf von Fersen seinen Gast am späten Nachmittag: „Seid mir herzlich willkommen, Oscar. Was führt Euch zu mir?“ „Ich will mit Euch über Marie Antoinette sprechen!“, Oscar kam gleich zum Wesentlichen. Sie mochte keine umherschweifenden Reden. Von Fersen lud sie gleich in seinen Salon ein und bat sie, an einem Stuhl am Tisch Platz zu nehmen, was Oscar dankend annahm. Er selbst blieb ihr gegenüber jedoch am geöffneten Fenster stehen. „Ich ahne schon, weshalb Ihr mit mir über sie sprechen wollt. Wird etwa so viel Schlechtes über sie erzählt, dass selbst Ihr darauf reinfallt?“ „Das nicht. Wobei hinter Eurem Rücken schon manches getuschelt wird.“ Oscar musste sich unwillkürlich ein Schmunzeln verkneifen. Diese Szene hatte sie erst heute Nacht in ihrem Traum gesehen. Nun wird sie in Wirklichkeit anders verfahren. Sie richtete sich bequemer auf, stellte ihre Ellbogen auf die Tischkante und faltete ihre schlanken Finger ineinander. „Ich bin aber nicht wegen dem Hofgerede hier. Ich möchte, dass Ihr Marie Antoinette um einen Posten am Hofe bittet. Somit könnt Ihr stets in ihrer Nähe sein, wenn sie Euch braucht.“ „Aber Oscar...“, Von Fersen öffnete seinen Mund vor Staunen. Eine Windböe wehte durch das Fenster herein und schüttelte die Vorhänge, aber das nahm er kaum wahr. „...ich dachte eher, Ihr würdet mir vorschlagen, Frankreich zu verlassen...“ „Glaubt mir, Graf, ich hätte das getan, wenn die Umstände anders wären.“ Oscar lehnte sich etwas zurück. Wie eigenartig es sich doch anfühlte, nicht mehr zu wissen, was als nächstes kommen würde – war sie doch eigentlich das Gegenteil gewohnt. „Wenn ich in die Dienste ihrer Majestät trete, dann muss ich meinem Vaterland abschwören.“ Von Fersen stand der Unglaube ins Gesicht geschrieben. Er stützte seine Hände nach hinten am Fenstersims ab und überkreuzte seine Fußknöchel. „Seid bitte ehrlich, Oscar, aus welchen Grund schlagt Ihr mir so etwas vor?“ „Ich bin Euch gegenüber immer ehrlich, Graf.“ Oscar sah ihn direkt und mit offenem Blick ins Gesicht. „Ihr liebt Marie Antoinette und sie liebt Euch. Diese Liebe macht sie blind. Sie vernachlässigt dadurch ihr eigenes Volk und ihre Pflichten als Königin. Wenn Ihr jedoch immer an ihrer Seite seid und ihr diesbezüglich Ratschläge gebt, dann wird sie für ihr Volk mehr da sein und mehr tun. Das ist der Grund.“ „Aber Oscar...“ wiederholte sich der Graf. Zu seinem leicht geöffneten Mund, gesellten sich geweitete Augen. Seine Finger fassten kräftiger den Fenstersims und in seinem Nacken kribbelte es. „...wie kommt Ihr darauf, dass ich in Marie Antoinette verliebt bin? Und sie in mich?“ „Ich kann es in Euren Blicken ablesen: Wie Ihr sie immer anseht! Und Marie Antoinette geht offen mit ihren Gefühlen. Sie sagt zwar nichts und streitet ab, aber in Eurer Gegenwart blüht sie regelrecht auf.“ „Wenn Ihr das schon seht, dann sieht der Hofstaat solches erst recht!“ Von Fersen war immer noch baff, aber sein Verstand arbeitete wachsam und auf alles bedacht. „Findet Ihr daher nicht, dass Marie Antoinette noch mehr in Verruf geraten würde, wenn ich in ihre Dienste trete und ständig an ihrer Seite zu sehen bin?“ „Man kann eigene Gefühle verbergen“, meinte darauf Oscar kühl. Sie schien auf alle seine Zweifel eine nötige Erklärung parat zu halten: „Es gibt verschiedene Formen der Liebe. Man muss nur wissen, wie man damit fertig wird und welche der Formen am richtigsten ist, um nicht so schnell in Verruf zu geraten oder gar getötet zu werden.“ „Wisst Ihr, Oscar, ich hätte nie im Leben erträumt, ausgerechnet von Euch über so etwas wie Liebe zu hören!“ Jetzt war von Fersen regelrecht verblüfft. „Ihr seid doch immer und zu jedermann unzugänglich, uneinnehmbar. Man könnte das sogar als kaltherzig bezeichnen, wobei ich weiß, dass dem nicht so ist!“ „Das alles verdanke ich meiner Erziehung. Ich habe gelernt, keine Schwäche zu zeigen, keine Gefühle preiszugeben und hartherzig zu sein.“ Oscar wusste nicht, was sie dazu bewog, das alles zu schildern. Das passte nicht zu ihr, aber Graf von Fersen hatte etwas Vertrauenswürdiges an sich. Er war nicht wie die habgierigen und selbstsüchtigen Intriganten am Hofe. „Fühlt Ihr Euch dadurch manchmal nicht einsam, Oscar?“ Etwas Mitfühlendes vernahm sie in der Stimme des Grafen: „Obwohl Ihr die Uniform tragt, seid Ihr eine Frau. Das habt Ihr selbst zugegeben, indem Ihr über die Formen der Liebe spracht.“ „Ich habe mich nie einsam oder unwohl gefühlt. Solange ich denken kann, wurde ich wie ein Mann erzogen, um die Nachfolge meines Vaters anzutreten“, erwiderte Oscar gelassen und aufrichtig: „Und zweitens, habe ich meinen Freund. Er ist eine große Stütze für mich. Er ist immer an meiner Seite und würde mich nie im Stich lassen.“ „Lasst mich raten: Ihr sprecht nicht zufällig von Andre?“ Dem Grafen dämmerte so einiges. „Ja“, bestätigte Oscar schlicht: „Er hat ein goldenes Herz und nimmt mich so, wie ich bin.“ „Verstehe...“, Von Fersen erinnerte sich noch genau, wie aufgebracht Andre war, als Oscar an ihrer Verletzung bewusstlos wurde und die ganze Nacht nicht zu sich kam. Und er erinnerte sich noch zusätzlich, wie Oscar sich zuvor für Andre eingesetzt hatte. Sie beide würden füreinander ihr Leben geben, so stark war das Band ihrer Freundschaft. Nicht einmal der gewaltige Standesunterschied, war ihnen von Belang. Aber war es nur Freundschaft, die sie miteinander verband? Oder streckte womöglich Liebe dahinter? Was hatte Oscar gerade gesagt? Man kann eigene Gefühle verbergen! Traf das auch auf sie zu? Oscar erhob sich langsam von ihrem Stuhl. Sie hatte sich hier länger aufgehalten als beabsichtigt. „Entschuldigt, Graf, aber die Zeit drängt. Verratet mir nur noch Eure Entscheidung, bevor ich gehe.“ „Ich muss noch darüber nachdenken“, meinte von Fersen aus seinen Grübeleien entrissen: „Gebt mir bitte noch etwas Zeit. Ich lasse Euch meine Antwort morgen früh wissen.“ „Ich danke Euch, Graf.“ Oscar ging auf ihn zu und reichte ihm freundschaftlich die Hand. „Wir sehen uns morgen.“ Von Fersen nahm das gerne an und drückte ihre Hand nicht allzu fest. Immerhin war Oscar eine Frau, auch wenn sie Männerkleider trug. Zudem gebot es die Höflichkeit. „Sagt mir nur noch eines, Oscar: Ist Andre nur Euer Freund, oder liebt Ihr ihn?“ Oscar entzog ihm hastig ihre Hand. Die Frage kam unerwartet. Dennoch ließ sie sich weder die Aufregung anmerken, noch senkte sie ihren streng gesonnenen Blick. „Er ist mir teuer. Das ist das einzige, was ich Euch sagen kann. Bis morgen, Graf.“ Sie drehte sich abrupt um und marschierte Richtung Tür. Sie ließ den verdutzten von Fersen einfach stehen. An der Türschwelle hielte sie noch einmal kurz an und sah über ihre Schulter. „Um ihn zu schützen, werde ich mir meine Gefühle nicht eingestehen. Wenn ich das tun würde, würde Schlimmeres passieren als nur Hofklatsch hinter dem Rücken. Das würde als Hochverrat gelten und mir würde der Adelstitel aberkannt. Aber ihm würde noch Schlimmeres zustoßen können und das will ich nicht!“, beendete sie ihren Satz aufrichtig und ging fort. „Du warst wunderbar, Oscar!“, lobte sie anerkennend die Stimme in ihr: „Ich bin so was von beeindruckt von dir!“ „Deine Lobreden kannst du dir sparen“, dachte bei sich Oscar, während ihres festen Ganges nach draußen: „Ich habe von Fersen mehr als nötig von mir verraten. Damit er meinen Ratschlag annimmt und weil ich weiß, dass ich ihm vertrauen kann. Ansonsten beliebe ich nicht über mich zu sprechen.“ „Ganz wie ich“, kommentierte die Stimme in ihr: „Jetzt bleibt noch abzuwarten, welche Antwort dir von Fersen morgen gibt.“ „Und wie war die Unterhaltung, Oscar?“, fragte Andre seine Freundin neugierig in der Kutsche. Sie fuhren durch die abendliche Straßen von Paris zurück nach Hause. Laue Wärme umgab die Luft und viele Menschen waren noch unterwegs. Oscar sah von dem unverglasten Kutschenfenster auf ihn hinüber. „Die Unterhaltung war erträglich, Andre. Wir haben uns angefreundet, über Pflichten der Königin, Intrigen am Hofe und vieles mehr gesprochen.“ Ein gewaltiger Schuss von einer Pistole, zerstörte die friedliche Atmosphäre. Die Pferde scheuten und wieherten, sodass die Insassen der Kutsche durchgerüttelt wurden. „Was war das?“ Oscar lugte mit dem Kopf aus dem Fenster und entdeckte ganz vorne versammelte Bürger und eine adlige Kutsche mittendrin. „Fahre sofort hin! Ich will wissen was da los ist!“ „Jawohl, Lady Oscar!“ Der Kutscher gab den Pferden die Peitsche und das Gefährt rollte schneller. „Oh, nein, das habe ich völlig vergessen! Der arme Junge!“, meldete sich die Stimme in Oscar schuldbewusst und aufgebracht: „An dem Tag, an dem ich von Fersen besuchte, wurde ein kleiner Junge vom Herzog de Germain erschossen...“ „Und das sagst du mir erst jetzt?“ Oscar wurde es flau im Magen. Die Kutsche hielt an. Umgeben von vielen einfachen Bürgern, kniete gebeugt eine arme Frau über den leblosen Körper eines Kindes. Es war ihr Sohn. Sie schüttelte ihn, drückte ihn an sich und rief wehklagend nach seinem Namen. Zwischen all dem Entsetzen und der Trauer, hallte verächtliches Gelächter eines Mannes. „Was ist hier passiert?“, fragte Andre einen der nächststehenden Bürger. „Ein kleiner Junge hat bei Herzog der Germain Geld gestohlen, weil er Hunger hatte und wurde dafür von ihm erschossen“, erklärte ein Mann betrübt. Besagter Herzog achtete nicht mehr auf die Herumstehende. Immer noch lachend, stieg er in seine Kutsche und fuhr los. „Dieses Untier!“, platzte es aus Oscar wütend heraus. Sie wollte aussteigen, ihm nachsetzen, ihn zur Rechenschaft ziehen, wurde aber von Andre aufgehalten: „Nein, Oscar!“ Er griff nach ihr, kaum dass sie die Kutschtür berührt hatte und drückte sie mit aller Kraft auf ihren Platz zurück: „Du kannst ihm nichts anhaben! Niemand kann das! Nicht einmal der König!“ „Lass mich los!“, befahl Oscar außer sich. Sie wehrte sich heftig, versuchte sich aus seinem Griff zu befreien, aber er verstärkte den Druck umso mehr. Die Kutsche wackelte hin und her - es war in ihr wenig Platz für solche Gefechte. „Kutscher, fahre los!“, schrie Andre in Richtung des Fensters und versuchte gleichzeitig die tobende Oscar zu bändigen. Das war nicht leicht, aber als die Kutsche in Fahrt kam, schien sie sich etwas zu beruhigen. Auf ihrem Zimmer ließ Oscar dennoch ihrer Wut freien Lauf. Tränen rollten ihr über die Wangen, die sie nicht wahrnahm. Mit ihren Fäusten schlug sie heftig gegen die Wand. „Warum ist nur diesem feigen Aristokraten alles erlaubt! Verflucht sei der Herzog!“ und innerlich dachte sie verbittert: „Ich hätte es verhindern können! Ich hätte eher da sein sollen! Armer Junge...“ „Es tut mir von ganzem Herzen leid, Oscar...“ Die Stimme in ihr war selbst am verzweifeln: „Ich habe nicht mehr daran gedacht, dass es unbedingt heute passiert!“ „Oscar...“ Andre näherte sich vorsichtig seiner langjährigen Freundin. Sie hörte, wie bedauerlich er klang und drehte sich zu ihm um. Er blieb einen knappen Schritt vor ihr stehen. „...höre mir bitte zu. Ich finde es auch nicht in Ordnung, aber du kannst leider nichts ändern. Der Herzog ist einer der mächtigsten Männern im ganzen Land. Du hast kein Recht, ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Niemand hat das. Begreife das, bitte...“ „Was weißt du schon!“, fauchte Oscar ihn dagegen an. Sie wusste, dass er die Wahrheit sprach, aber seine Einmischung war wie Öl ins Feuer. In ihr loderte es noch mehr als zuvor. Sie hob gegen ihn ihre Fäuste, aber schlug nicht zu. Sie zitterte vor Wut und gleichzeitig versuchte sie, all ihre Empfindungen im Keim zu ersticken. Andre reagierte instinktiv und ohne nachzudenken. Anstatt vor ihr zurückzuweichen und sich vor ihren Fäusten in Acht zu nehmen, schloss er mechanisch seine Arme um sie und drückte ihren Körper fest an sich. Diese Tat überraschte ihn und Oscar gleichermaßen. „Lass mich sofort los!“, befahl sie ihm aufgebracht. Sie sträubte sich, fühlte sich eingezwängt. Ihr Blut kochte und ihr Herz raste, aber er war wesentlich stärker. „Ich schwöre dir, ich werde dich loslassen, aber beruhige dich bitte!“, flehte er sie halblaut an. Was machte er da eigentlich? Andre erkannte sich selbst nicht. Woher hatte er bloß so viel Mut? Er fühlte sich miserabel, Oscar gegen ihren Willen festzuhalten, aber seine Arme lockerten sich einfach nicht mehr, als hätten sie ihren eigenen Willen. Er spürte ihre Gegenwehr, wie sie sich sträubte. Und sie tat ihm aufrichtig leid! Aber er wollte doch nur, dass sie in ihrer Rage nichts Unberechenbares tat, was ihr dann später schaden würde. „Bitte, Oscar...“, wiederholte er besänftigend: „...ich bitte dich...“ „Hör auf, dich zu wehren!“, bat auch die Stimme in ihr: „Er meint es nur gut mit dir...“ weiter kam sie nicht. Dunkelheit umfing sie. „Was geschieht jetzt schon wieder?“ Darauf bekam sie keine Antwort. Wie konnte das sein? Woher kam diese grenzenlose Dunkelheit? Ihr wiedergeborener Körper befand sich doch im wachen Zustand! Oscar erstarrte im Griff ihres Freundes. Ihre Gegenwehr und Wut verschwanden augenblicklich. Ihre Glieder erlahmten, ihr Herz schlug dagegen rasend weiter. Nur mit Mühe hielt sie sich auf den Beinen und lehnte sich mit dem ganzen Oberkörper an Andre. Etwas stimmte hier nicht! Die Stimme in ihr verstummte prompt. Großes Unbehagen breitete sich in ihr aus. Oscar klappte ihre Augenlider zu, um zu sehen, was da los war. Sie sah die blondgelockte Frau in ihrem weißen Hemd und dunklen Hosen, trotz der Schwärze um sie herum. - - - „Oscar, siehst du das?“ Ihr anderes Ich schaute leicht verstört um sich. „Ja, ich sehe dich.“ „Etwas wird mit mir gleich geschehen, das spüre ich...“ Die blondgelockte Frau sprach das nicht einmal zu Ende aus, da wurde sie heftig nach Hinten gestoßen. Von einer undefinierbaren Kraft, die sie weder sehen noch fühlen konnte. Auf dem Rücken liegend, zog sie systematisch ihr Knie an sich und versuchte sich aufzurappeln. Aber jene unsichtbare Kraft zwang sie liegen zu bleiben. Sie kniff die Augen zusammen, atmete tief durch und spürte plötzlich etwas Weiches unter sich. Es fühlte sich nach einer Matratze an! Überrascht schlug sie ihre Augenlider auf. Die Dunkelheit gab es nicht mehr. Auch die unsichtbare Kraft, wich von ihr. Sie starrte zu dem Betthimmel empor, der ihr sehr bekannt vorkam. Ihre Stirn zog sich in Falten. „Wo bin ich diesmal?“ „Oscar!“ Die besorgte Stimme ihres geliebten Andres ließ sie schlagartig aufsitzen. Schwaches Kerzenlicht umgab sie und sie erkannte darin ihr eigenes Zimmer. Sie befand sich auf ihrem eigenen Bett. Und auch er war da! Er saß bei ihr, auf der Bettkante. „Andre!“ Sie schlang ihre Arme um ihn, presste sich an ihn und küsste ihn, als wäre sie ausgehungert. Er zögerte vorerst, dann legte er seine Arme um ihre Mitte und erwiderte den Kuss. Schon bald unterbrach er ihn widerwillig. „Oscar...“ Er schob seine Geliebte etwas von sich. „...es tut mir leid, aber wir müssen miteinander reden, bevor wir wieder getrennt sein werden...“ „Du hast recht“, gestand sie ein. Sie wollte auch klären, was hier eigentlich los war, warum sie nur für kurz zusammen fanden und vor allem: Warum trennte man sie?! Oscar rückte ein Stück von ihm weg und da senkte er beschämend seinen Blick. „Was ist, Andre?“ „Dein Hemd ist zerrissen...“ Ohne auf die hängende Fetzen an ihrem Leib zu sehen, griff er nach der Decke und hüllte sie darin ein. Dann sah er ihr fest in die Augen. „Ich war es aber nicht! Nicht diesmal, Oscar, ich schwöre es!“ Oscar konnte nur einen flüchtigen Blick an sich hinab werfen, bevor sie von ihm in die Decke eingehüllt wurde. Sie erhaschte dennoch zerschlissene Risse, zerfranste Fetzen ihres Hemdes und darunter sichtbare Haut. Jetzt ertastete sie das alles vorsichtig mit ihren Fingerspitzen und schaute ihrem Andre wieder ins Gesicht. Sein Blick sprach Bände: Sie beide erinnerten sich noch ganz genau an den verhängnisvollen Abend in ihrem Leben, der fast ihre Freundschaft zerstört hatte: Andre war aus Verzweiflung beinahe über sie hergefallen. Er hatte seine Tat sofort bereut und ihr seine Liebe gestanden. Oscar hatte es ihm zwar verziehen, aber vergessen konnte sie die Tat nicht. Warum wurden sie dann aber nach ihrem Ableben ausgerechnet in diese Situation zurück versetzt? Was bezweckte das Schicksal damit? Oscar war die erste, die das Wort ergriff: „Andre...“, hauchte sie erstickt: „Mein Geliebter... ich glaube dir, aber wie ist es möglich?“ „Ich weiß es so wenig wie du, Liebes...“ Andre schien ihre Gedanken zu lesen. Hilflosigkeit und Bedauern, saßen tief in ihm fest. „Zuerst begegnen wir uns in dem Rosenfeld, dann an dem Fluss im Wald und jetzt auch noch hier, auf deinem Zimmer! Und die letzten Begegnungen sind identisch mit dem, was wir schon erlebt haben! Ich weiß nicht mehr weiter, Oscar! Was soll ich tun? Jedes unserer Wiedersehen endet mit Trennung...“ „Das tut mir so leid...“ Oscars blaue Augen schimmerten glasig. Sie schälte eine Hand aus der Decke hervor und strich ihm das Haar von seiner blinden Gesichtshälfte. Hier im Jenseits, konnte er sie mit beiden Augen sehen. Aber die schmale Narbe, quer über sein Augenlid und seine Braue, verschwand dadurch nicht. So, wie auch die Narben an ihrem Körper, die sie zu Lebzeiten abbekommen hatte, nicht verschwanden. - - - „Lass mich bitte los, Andre...“, hörten alle beide wie aus dem Nichts eine schwache Frauenstimme. „Erst wenn du dich beruhigt hast, Oscar...“, antwortete gleich darauf eine sanfte Männerstimme. „Ich habe mich schon beruhigt, Andre, ich bin nicht mehr wütend...“ „Bist du sicher?“ „Ja.“ „Dann lass mich dich ansehen.“ - - - Und das war das Ende der Wiederbegegnung zwischen der verstorbenen Oscar und ihrem Andre irgendwo in der Zwischenwelt. Ihre wiedergeborenen Körper trennten sich voneinander auf eine Armeslänge. Die blondgelockte Frau wurde wieder von der unsichtbaren Kraft nach hinten, zurück in die Dunkelheit gestoßen. Ihr Bett, ihr Zimmer und die Decke um ihre Schultern, verschwanden. Ihr weißes Hemd war wieder ganz: Kein einziger Riss, keine enthüllte Stelle ihrer Haut. Und auch keinen geliebten Andre mehr. Wenigstens konnte sie wieder mit den Augen der wiedergeborenen Oscar sehen. - - - Der andere Andre distanzierte sich mit zwei Schritten von seiner langjährigen Freundin und musterte sie zufrieden. „So siehst du schon besser aus, Oscar.“ „Ich danke dir, Andre. Für alles.“ Oscar straffte ihr Rückgrat, glättete ihre rote Uniform an sich und hörte wie die Stimme in ihr bitter schluchzte. „Dafür sind doch Freunde da“, meinte Andre leichthin. „Ja, dafür sind Freunde da...“, bestätigte ihm Oscar geistesabwesend. Es ließ sie nicht das Gefühl los, dass sie die Auslöserin war, warum die verstorbene Oscar und der verstorbener Andre, nur für einen kurzen Moment zueinander fanden. Aber wie allerdings dies zustande kam und wie sie den beiden helfen konnte, wusste sie nicht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)