Ein zweites Leben von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 13: Viertes Wiedersehen ------------------------------- Für Marie Antoinette brach die Welt zusammen, als sie von Oscar erfuhr, dass Graf von Fersen Frankreich verlassen hatte. „Er hat das Land verlassen? Ohne sich von mir zu verabschieden?“ Oscar fühlte sich miserabel ihr so etwas mitteilen zu müssen. „Ihr müsst jetzt stark sein, Majestät“, empfahl sie ihr mit gebeugtem Knie und gesenkter Haltung - aber mit offenem Blick auf die Königin, die sich mit gebrochenem Herzen und tränenden Augen kaum auf den Füßen halten konnte. „Denkt an das einfache Volk, es braucht Euch. Es wird Euch ablenken, wenn Ihr Eure Pflicht als Königin wieder aufnehmt.“ Das klang hart, obwohl Oscar ein großes Mitgefühl für Marie Antoinette hervorbrachte. „Ich verstehe was Ihr meint und danke Euch dafür, aber es ist ein großes Loch in meinem Herzen...“ Marie Antoinette bedeckte ihr Gesicht mit Händen. „Ich möchte jetzt alleine sein, Oscar...“ „Wie Ihr wünscht, Majestät. Ich bin in der Nähe, falls Ihr mich braucht.“ Oscar folgte schweren Herzens der Bitte der Königin. „Meine arme Königin...“, flüsterte die Stimme in ihr kaum hörbar auf dem Weg nach draußen: „...ich habe das Gefühl, dass sie deinen Ratschlag in ihrer Verfassung nicht annehmen kann.“ „Das Gefühl habe ich auch, aber momentan kann ich nichts tun.“ „Das ist wohl wahr...“, seufzte die Stimme in ihr und verstummte für eine Weile. Sie beide wussten, was das bedeutete und wieder einmal geschah das, was die andere Oscar zu ihren Lebzeiten schon erlebt hatte: Marie Antoinette stürzte sich in die Verschwendungssucht, um ihren Liebeskummer zu tilgen! Und als wenn das nicht schon genug wäre, wollte sie auch noch die Audienzen für das einfache Volk abschaffen, was ihr Oscar zum Glück ausreden konnte. Neben der Sorge um die Königin und das Volk, beschäftigte Oscar noch eine andere Sache: Sie hatte noch eine offene Rechnung mit dem Herzog, der den kleinen Jungen in Paris erschossen hatte. Sie würde sich mit ihm duellieren - dem war sie sich sicher und sie nahm sogar in Kauf, dass sie dafür drei Monate Hausarrest bekommen würde! Und so trug Oscar dazu bei, dass der Herzog sie herausforderte. Das Duell sollte am früheren Morgen bei Sonnenaufgang stattfinden. Am Abend davor, trainierte Oscar im Schießen. Als Zielscheibe dienten ihr aufgestellte Spielkarten in 50 Metern Entfernung. Nichts und niemand konnte sie von ihrem Vorhaben abhalten! Die Nacht brach ein. Oscar hatte bis zu Dämmerung ihre Schießübung perfektioniert und nun gönnte sie sich eine Verschnaufpause unter den Bäumen im Hinterhof des Anwesens. Unter freiem Himmel und unzähligen Sternen lag sie rücklings im Gras und lauschte nachdenklich dem Zippen der Grillen. Ein Bein zog sie an sich und ihre Arme, verschränkte sie hinter dem Kopf. Die Nacht war an sich schön und still. Wie für Liebende geschaffen... Nein, sie gehörte aber nicht dazu! Nicht sie! Ob sie überhaupt fähig war jemals zu lieben? Sie erinnerte sich an die Umarmung mit Andre. Das war ein wohles und angenehmes Gefühl. Das spürte sie immer in sich, wenn er sich in ihrer Nähe aufhielte. Aber war das die Liebe, nach der sich die verstorbene Oscar selbst nach ihrem Ableben immer noch so verzehrte? Oscar wusste keine Antwort. Die Stimme sprach auch nicht - als schliefe sie schon, wie all die Bewohner des Hauses. Oder wollte sie ihr nur das freie Denken überlassen? Sie sollte doch nicht von ihr abhängig werden und ihre eigenen Entscheidungen selbst treffen können. Mit ihren Gefühlen war es genauso. Also ließ Oscar ihren Gedanken freien Lauf, bis jemand urplötzlich auftauchte. Das war Andre. Sie hatte nicht mitbekommen, wie er zu ihr kam. „Was ist? Kannst du nicht schlafen?“, fragte er scheinbar ruhig. Oscar wusste dennoch von seinen Sorgen um sie und überrumpelte ihn damit. „Mache dir meinetwegen keine Sorgen. Ich werde das Duell gewinnen.“ So wie die andere Oscar in ihrem früheren Leben. Das hatte sie aber nicht ausgesprochen - es blieb nur ein Gedankengang. „Wieso Sorgen?“ Andre setzte sich neben sie auf den grasbewachsenen Erdboden und schaute in den Sternenhimmel. „Ich bin auch sicher, dass du das Duell gewinnen wirst.“ „Ich sehe da auch kein Problem“, sagte sie selbstsicher und dachte, sie würde sich wiederholen. Dieses Gespräch hatte die andere Oscar in ihrem früheren Leben auch geführt. Mit ihrem Andre, zu dem sie allerdings zu ihren Lebzeiten keine Gefühlsempfindungen hervorgebracht hatte. Zumindest nicht in diesem Augenblick. Sie hatte nicht gemerkt, dass sie von ihm geliebt wurde. Oscar schüttelte diese Gedanken ab. Sie waren gerade fehl am Platz. Sie war zwar wie ihr anderes Ich, aber im Gegensatz zu ihr, wusste sie über Andres Gefühle Bescheid. Nur war sie noch nicht bereit, ihm die Liebe zu erwidern. Liebe! Schon wieder dieses Wort! Nein, daran durfte sie jetzt auch nicht denken! Morgen stand das Duell bevor und das war der Grund, warum sie jetzt hier lag! „...weißt du noch: Als du sieben warst, hast du dort unter der Eiche einen Schatz vergraben...“, hörte sie Andre reden und warf ihm einen flüchtigen Blick zu. Er zeigte mit seinem Finger auf besagte Eiche und schaute gleich wieder zu ihr. „...du warst ziemlich stolz auf dieses Versteck.“ „Nein, das weiß ich nicht mehr.“ Oscar schloss ihre Augen und rief ihre Kindheit in Erinnerung. Sie sah bildlich vor sich, wie sie und Andre unter der Eiche gemeinsam etwas vergruben und dabei lachten. Hell, fröhlich und unbeschwert. Doch sie erinnerte sich an den Schatz. Und sogar genau was sie damals vergraben hatten. Sie hatte nur schon lange nicht mehr daran gedacht. Das wollte sie eben gegenüber ihrem Freund nicht zugeben. „Es war ein Kreisel aus Blei und ein rotes Messer. Ob sie noch da sind?“ Andre redete weiter und sie hörte ihm entspannt zu. „Nein, ich erinnere mich nicht“, sagte sie halb verträumt und nicht ganz bei der Wahrheit. Sie erinnerte sich genau an den Kreisel und das Messer. Gleichzeitig dachte sie, dass dort etwas fehlte. Außer den zwei Sachen hatte Andre noch eine dritte ausgelassen: Einen Zinnsoldaten. Wollte er sie auf Probe stellen? Oder hatte er das selbst vergessen? Der Zinnsoldat war doch sein Lieblingsspielzeug gewesen! Wie kann man das nur vergessen? „Am besten verschwinden wir morgen früh durch die Hintertür, damit meine Großmutter nichts von alldem mitkriegt“, empfahl ihr Andre fast verschwörerisch. „Girodel ist morgen mein Sekundant. Also brauchst du morgen nicht mitkommen.“ Das klang eine Spur zu gleichgültig. „Na schön, wie du willst.“ Andre war leicht gekränkt darüber, aber zeigte es nicht. Er richtete sich auf. „Trotzdem werde ich dich den Weg begleiten.“ Er wollte gehen. Oscar schien in ihr Vorhaben so versessen zu sein, dass sie an nichts anderes dachte. Er wandte sich zum Gehen. Umso mehr war er überrascht, ihre aufhaltende Stimme hinter sich zu hören: „Andre...“ Er blieb abrupt stehen und drehte sich zu ihr um. Sie klang nicht mehr so kühl wie vorhin. Eher so, als würde sie zwischen zwei Fronten hin- und hergerissen sein. Er wollte sich etwas mehr vergewissern und stellte sie beiläufig auf die Probe: „Was ist? Hast du etwa doch Angst?“ „Angst? Aber nein!“ Oscar saß auf und fasste sich mit der Hand an die Stirn. „Doch ich habe Angst, aber nicht von meinem Gegner. Sondern davor, in eine Situation zu geraten, wo es um etwas sehr wichtiges geht: Nämlich die Würde des Menschen. Der Herzog ist ein bösartiger Mann. Er verachtet die Schwachen und Armen! Wenn wir so einem erlauben sich zu benehmen, wie er will, dann schadet das allen Adligen. Und es wirft auch einen Schatten auf die königliche Familie. Deshalb muss ich etwas unternehmen. Doch es fällt mir nicht leicht, jemanden zu töten, auch wenn er ein schlechter Mensch ist.“ Oscar stand auf und schaute Andre intensiv an. Ihre Blicke trafen sich. Oscar verspürte wieder diese wollige Wärme in sich aufsteigen und Andre hätte sie am liebsten umarmt. Wenigstens freundschaftlich! Auf mehr durfte er sowieso bei ihr nicht hoffen. Aber nicht hier. Das war ihm sehr wohl bewusst. Auch Oscar dachte an eine Umarmung von ihm und verharrte für kurze Zeit reglos. Nein, sie sollten es lieber verschieben. Zu einen andern Zeitpunkt und an einem anderen Ort. „Ich bin müde“, äußerte Oscar stattdessen und senkte vor ihm den Blick. „Ich gehe jetzt schlafen. Gute Nacht.“ Sie ging an ihm vorbei, ohne ihn noch einmal anzusehen. Andre sah ihr wehmütig nach, bevor er selbst auf sein Zimmer ging. Oscar würde sich in ihrer Rolle als Mann niemals ändern. Er verstand auch, dass sie ihre Stellung und Rang ausnutzte, um etwas Gutes für die Welt zu tun. Das war nobel von ihr, aber auch gefährlich. Er würde immer bei ihr sein und sie vor allen Gefahren schützen. Auch wenn ihr das nicht bewusst war, war er doch schon immer an ihrer Seite und so würde es auch weiterhin bleiben. Er liebte sie und obwohl sie es nicht merkte, würde er sie nie im Stich lassen. Oscar hatte am nächsten Morgen das Duell gewonnen, indem sie dem Herzog in die Hand schoss. Dafür bekam sie einen dreimonatigen Hausarrest von der Königin. Zuhause blieb sie aber nicht sitzen und brach mit Andre nach Arras auf. Arras! Wie oft hatte sie es schon in ihren Nachtträumen gesehen. Nun ritt sie wirklich dorthin - um mit eigenen Augen zu sehen, wie es den Bauern dort erging. Und auch um auf Robespierre zu treffen. Vielleicht bestand noch die Hoffnung, dass es nicht so schlimm war, wie die andere Oscar es ihr vermittelt hatte. Doch die Hoffnung zerplatzte, schon als sie dort ankamen. Die Bauern lebten in bitterer Armut. Alles was sie verdienten ging als Steuer an den Königshof und ihnen blieb nur trocken Brot. Die schäbigen Bauernkleider, die finsteren Gesichtsausdrücke und die scheue Zurückhaltung, offenbarten alles. Im Gasthof „Zum alten Allas“ wurden sie und Andre zwar vom Wirt herzlich begrüßt, aber Oscar wappnete sich schon innerlich auf Begegnung mit Robespierre. Aus seinem Mund erklangen die gleichen Worte über die Unterdrückung der Bauern durch Mönche und Adlige, wie sie die Stimme in ihr auf dem Herweg geschildert hatte. Robespierre bereute es, die Gratulationsrede gehalten zu haben und machte das neue Königspaar für die Hungersnot und Armut des Volkes verantwortlich. „Aber den König und die Königin trifft keine Schuld...“, versuchte Oscar einzuwenden, aber Robespierre bekräftigte nur noch seine Aussage: „...ich weiß nicht, ob es Euch überhaupt interessiert, aber das Land stirbt! Die Königin soll über ihre Verhältnisse leben und das heißt, dass der König sie einfach gewähren lässt! Sie ist auch verantwortlich für das Tun der Adligen und Mönche, die das einfache Volk unterdrücken...“ Das Gespräch mit Robespierre bewirkte nichts, egal wie sehr sich Oscar anstrengte. Er verließ das Gasthaus mit den entschlossenen Worten, dass sterbende Frankreich zu retten. Denn sein Herz schlug nur für dieses Land. „Oscar, halte an! Du reitest das Pferd noch zu Schanden!“ Sie hörte zwar Andre nicht weit hinter sich rufen, aber reagierte nicht und trieb ihr Pferd weiter an. Bitterkeit und Zorn wüteten in ihr. Gestern ist wieder das vorgefallen, was sie durch die andere Oscar schon längst vorausgesehen hatte: Zuerst die Unterhaltung mit Robespierre, dann die Erkrankung des Bauernjungen, den sie zuvor mit seinem Vater angetroffen hatte. Sie brachte den Jungen unverzüglich zu einem Arzt und wachte mit seinen Eltern die ganze Nacht über ihn. Heute früh ging es ihm viel besser und er würde wieder gesund werden. Oscar hatte den Arzt bezahlt und der Bauernfamilie noch etwas Geld überlassen. Jedoch wusste sie, dass ihre Mildtätigkeit nur ein kleiner Tropfen auf dem heißen Stein war. „Reite langsamer! Du wirst gleich stürzen!“, warnte sie die Stimme. „Das ist mir gleich!“, beschied Oscar ohne anzuhalten: „Das Volk beginnt sich vom Königspaar abzuwenden! Es wird genauso geschehen wie du es erlebt hast, das ist mir gerade klar geworden!“ „Du kannst es aber noch verhindern! Oder willst du aufgeben?“ „Nein, niemals! Ich werde es weiter versuchen! Ich muss es verhindern, sonst...“ weiter kam Oscar mit ihren aufgewühlten Gedanken nicht. Ihr Pferd rutschte aus und warf sie aus dem Sattel. In einem Bogen flog sie durch die Luft und landete rücklings im Gras. Ein dumpfer Schmerz durchzog ihren Körper. Sie kniff ihre Augen zusammen und verzog schmerzlich ihr Gesicht. „Oscar! Bist du verletzt?“, hörte sie einen Schreckenslaut von Andre und im nächsten Moment, spürte sie schon seine Hände. Sie befühlten ihren Puls an der Halsschlagader. Dann hob er sie auf seine Arme und brachte sie an den nächsten Baum, wo er sich mit ihr niederließ und ihren Kopf auf seinen Schoß bettete. Oscar protestierte nicht, in seinen Augen war sie bewusstlos. „Ach Oscar...“, dachte er wehmütig bei sich: „...an deiner Oberfläche bist du so kalt wie die Eisblumen im Winter, aber in deinem Herzen brennt das Feuer der Leidenschaft. Ich muss zugeben, gerade das gefällt mir so an dir.“ Oscar umgab eine unvermittelte Wärme und Geborgenheit, die sie schon bei seiner ersten Umarmung verspürt hatte. Sie drehte sich auf die Seite um, zog ihre Knie leicht an sich und verdrängte ihre Knochenschmerzen. Andre strich ihr kaum berührend durch das Haar, darauf bedacht, dass sie das nicht merken würde und genoss diesen Moment. Oscar dagegen spürte das, aber ließ es ihm gewähren und verfiel in einem ohnmachtähnlichen Schlaf. - - - Wie aus dem Nichts, sah sie die blondgelockte Frau in den Kleidern, die sie gerade selbst an hatte: Die dunkle Hose, die blass grüne Weste und der braunrote Mantel, waren detailgetreu abgebildet. Die Frau sah an sich verwundert herab. „Das ist doch meine Zivilkleidung!“ Ein grelles Licht umhüllte sie, kaum sie das aussprach. Systematisch bedeckte sie ihre Augen schützend mit dem Armgelenk, um nicht geblendet zu werden. Das Licht ließ nach. Sie bewegte ihren Arm vorsichtig nach unten und erblickte die schöne Landschaft von Arras, wo sie zu ihren Lebzeiten mit Andre eine Rast eingelegt hatte. Dieselben Hügeln, dieselben Bäume und das silberne Flüsschen. Ihr wurde warm vor Rührung. Hier hatten sie zu zweit den Sonnenaufgang beobachtet. Nur sie beide, ganz alleine. Sie legte ihren Kopf in den Nacken und sah nach oben. Anstelle des Himmels und der Sonne, erblickte sie nur grau verhangenen Nebel. „Oscar!“, rief jemand nach ihr. Sie wirbelte um ihre eigene Achse. Auf dem Hügel, vor dem sie gerade mit Rücken gestanden hatte, erschien seine Silhouette. Er trug die gleiche Alltagskleidung wie noch zu seinen Lebzeiten. „Andre!“, hauchte sie und er rannte schon zu ihr den Hügel hinab. Sie fielen sich in Arme und ihre Lippen versiegelten sich im innigen Kuss. Sie kosteten jeden Augenblick ihrer Zweisamkeit aus, denn ihnen war bewusst, dass er von kurzer Dauer sein würde. Und dennoch gab es viele Fragen zwischen ihnen zu klären. Von dem Kuss berauscht und gesättigt, standen sie in einer tiefen Umarmung. Sie lehnte sich an ihn und er hielte sie in seinen Armen. „Andre?“ „Ja, Oscar?“ „Hast du einen Weg zu deinem wiedergeborenen Körper gefunden, so wie ich das bei mir getan habe?“ „Nein, leider nicht. Aber ich werde es weiter versuchen und nicht aufgeben.“ Andre drückte sie fester an sich. Oscar spürte seine kurzfristige Verkrampfung, die Hilflosigkeit darin und sie litt mit ihm. „Irrst du noch immer in der Dunkelheit, Andre?“ „Nein. Nach der Begegnung mit dir, höre ich einen Gewehrschuss und finde mich in dem grauweißen Nebel wieder.“ „Ach, Andre, mein Andre...“ Oscar regte sich schwach in seinen Armen. „Warum können wir nicht einmal im Jenseits zusammen sein? Warum treffen wir uns in den Situationen, die wir schon erlebt haben und werden wieder getrennt?“ „Das ist mir auch nicht klar, meine Liebste...“ In Andre stieg hilflose Wut und Aussichtslosigkeit zugleich auf. „Ich glaube, ich kenne die Antwort“, durchdrang eine weiche Frauenstimme in jungem Alter die Stille zwischen ihnen. „Was?“, alle beide sahen verstört auf, aber entdeckten niemanden. „Es hörte sich nach deiner Stimme, Oscar...“, Andre schaute wieder seine Geliebte an. Oscar erwiderte ihm den Blick, aber ihre Stirn krauste sich dabei. „Das war die Stimme meines wiedergeborenen Körpers.“ „Sie kann uns sehen?“, Andre war überrascht und fühlte sich auf einmal beobachtet. „Ja, ich kann euch sehen, aber nur wenn ich meine Augen zu habe und wenn ich dabei mit meinem Freund in Berührung komme“, erklärte ihm die Frauenstimme anstelle von Oscar, die jetzt auch so staunte wie er. Sie riss ihren Blick von ihm und sah stutzig nach oben, in den grauen Nebel. „Was meinst du damit: Wenn du mit deinem Freund in Berührung kommst?“ „Sei nicht gleich so aufgebracht, Oscar, mein wertes Ich. Ich habe nur festgestellt, dass wenn Andre... ich meine, mein Freund Andre mich berührt oder umarmt und ich dabei meine Augen schließe, dann findet ihr euch in mir zusammen. Und je nachdem, in welcher Stimmung ich mich befinde, ändert sich die Situation und die Umgebung um euch.“ „Ich verstehe...“, seufzte Oscar überlegend. Jetzt leuchtete ihr so einiges ein. „Es sind also deine Empfindungen, in denen wir uns zusammenfinden...“ „Das kann man so sagen...“ „Einen Moment!“, unterbrach Andre sie alle beide. Er stierte verdattert von Oscar nach oben in den Nebel und wieder zurück. „Ich verstehe fast gar nichts mehr! Soweit ich mich erinnere, habe ich zu meinen Lebzeiten nicht gewagt dich zu berühren oder gar zu umarmen, Oscar!“ „Das liegt daran, Andre, weil deine Oscar in ihrem Leben sich eigene Gefühle nicht eingestehen konnte“, klärte ihn die weiche Frauenstimme freundlich auf: „Sie ist zwar nach ihrem Tod in mir erwacht und ich bin sie, aber ich begehe nicht denselben Fehler. Im Bezug auf die Liebe zumindest nicht.“ „Das freut mich zu hören...“, murmelte Andre hin- und hergerissen, zwischen Unglaube und Erleichterung. Seine Oscar dagegen ähnelte dem beherrschten Kommandanten aus ihrem früheren Leben. „Wenn du nicht denselben Fehler begehst, wie du sagst, warum gestehst du dann deinem Andre nicht deine Liebe?“ „Du verlangst von mir zu viel!“ Die weiche Frauenstimme klang verärgert: „Es ist noch zu früh! Ich werde dieses Jahr erst zwanzig und ich kann ihm nicht von heute auf morgen meine Liebe gestehen! Das braucht seine Zeit und ich bin noch nicht bereit dazu! Im Gegensatz zu dir, Oscar, habe ich seine Liebe schon längst bemerkt und erwidere sie vorerst mit Freundschaft!“ „Das freut mich zu hören...“, brummte Oscar vor ihrer ebenfalls. „Ihr zwei passt wirklich zusammen.“ Die weiche Frauenstimme klang wieder sanfter, als würde sie schmunzeln: „Ich lasse euch jetzt alleine. Genießt den Augenblick, denn ich muss gleich aufwachen, sonst wird sich mein Freund unnötig Sorgen machen.“ „Wieso Sorgen?“, wand Andre fraglich ein. „Wir sind in Arras. Ich bin vom Pferd gestürzt, den Rest erklärt dir deine Oscar“, meinte die weiche Frauenstimme von oben abschließend und verstummte. Oscar erklärte ihren Andre noch kurz über die Begegnung mit Robespierre in Arras, die Erkrankung des kleinen Jungen und dem Sturz vom Pferd auf. Andre verstand somit, in welchem Kapitel ihres neuen Lebens sie schon angelangt waren. Zeitgleich begriff er auch, was es für sie beide bedeuten würde, wenn Oscars wiedergeborener Körper erwachen würde. „Wir haben nicht mehr viel Zeit“, sagte er bedauerlich und zog seine Oscar enger an sich. „Ja.“ Auch Oscar verstand. „Wenigstens können wir uns bis zum nächsten Mal verabschieden.“ „Das stimmt.“ Andre lächelte matt und küsste zart ihre Lippen. Der Abschied schmeckte bitter, dennoch bestand die Hoffnung auf ein neues Wiedersehen. Zumindest waren ihre Fragen geklärt. „Auf Wiedersehen, mein Geliebter...“, verabschiedete sich Oscar zuversichtlich. „Auf Wiedersehen, Liebste...“ Andre ließ sie aus seinen Armen los. „Ich werde auf dich warten...“ Dann ging er den Hügel hinauf ohne zurückzuschauen. Oscar blieb wieder alleine, verlassen. Aber nicht mehr mit zerrissenen Gefühlen wie all die andere Male zuvor. Der graue Nebel stieg von oben herab, breitete sich aus und hüllte alles ein. Die Hügel, die Bäume und die ganze Landschaft von Arras verschwanden direkt vor ihren Augen. Ein greller Lichtstrahl brach durch den dichten Vorhang des Nebels und blendete sie. In dem Moment erwachte ihr wiedergeborener Körper aus der Ohnmacht und sie sah wieder mit ihren Augen. - - - „Oscar, endlich!“, hörte die erwachte Oscar ihren Freund und drehte sich auf ihren Rücken. Sie ignorierte den stechenden Schmerz in ihren Knochen und schaute ihn von unten an. „Wie lange war ich weggetreten?“ „So genau kann ich es dir nicht sagen, aber für mich lange genug.“ Andre schenkte ihr sein freundliches Lächeln. Oscar zog ein Bein an sich, überhörte das Knacken ihrer Gelenke und saß auf. „Machen wir uns auf den Heimweg, Andre.“ „Wenn es dir wieder gutgeht...“, wand er vorsichtshalber ein. „Es geht mir gut“, ließ ihn Oscar nicht aussprechen: „Du bist ja bei mir.“ „Ja, Oscar, ich bin bei dir, für immer und ewig...“ dachte Andre bei sich, während er sich hochrappelte und ihr auf die Beine half. Oscar schwankte ein wenig, aber fasste sich gleich wieder. Keine Schwäche zeigen und nicht aufgeben, egal was passiert und wie es ihr dabei ging, gehörten zu ihren Stärken. Nur ein unterdrücktes Ächzen entfuhr ihren Lippen, als sie in den Sattel stieg und ihr Pferd antraben ließ. Vor ihnen lag ein langer Weg und Oscar meisterte ihn gut, selbstsicher und ohne wehklagen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)