Ein zweites Leben von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 24: Schamrot -------------------- Die Kerze in der Laterne brannte längst aus. Das Feuer im Kamin war auch schon erloschen und die Überreste lagen nun starr und kalt unter der grauen Decke der Asche. Die ersten Sonnenstrahlen zeigten sich träge am Horizont, verjagten mit hellen Lichtstrahlen die Nacht und verkündeten den Morgengrauen. Der Tau schimmerte silbrig am Rande der Fensterscheiben und verdunstete durch die Wärme, sobald die Sonne höher stieg. Normalerweise wäre Oscar schon auf den Beinen - aber nicht diesmal. Zum ersten Mal schlief sie länger, friedlicher und in den Armen ihres Geliebten, der sich sowieso mehr Schlaf gönnte als sie. An der Tür im Salon wurde leise geklopft, aber keiner der beiden wurde dadurch geweckt. Zu erschöpft und ausgelaugt waren sie von ihrem nächtlichen Treiben. Die Tür öffnete sich und leise Schritte raschelten auf dem Boden im Salon. Es wurde etwas auf dem Tisch abgestellt und klimperte leise. Es klang nach Geschirr und Besteck. Das Frühstück für Lady Oscar war also schon da und wurde gerade serviert. Der aromatische Duft von angerichtetem Tee und frischgebackenen Croissants drang in das Bettzimmer. Oscar rümpfte im Schlaf die Nase, atmete den altbekannten Geruch ein und erwachte langsam. Im Salon hatte man ihren Hut und die Laterne vom Tisch weggeräumt. Dabei entdeckte man ihren Umhang auf dem Stuhl und die zwei Paare Stiefel neben ihm. Mehr und mehr drangen die Geräusche in das Gehör von Oscar - kreisten in ihrem Geist hartnäckig und zerrten sie aus dem Schlaf. Als Oscar den Geräuschen deutlich gewahr wurde, schlug sie sofort ihre Augenlider auf. Schlagartig wurde ihr dabei bewusst, was das alles bedeutete: Sie hatte verschlafen! Und zu spät hatte sie dadurch die Gefahr realisiert! Man durfte ihren Andre nicht hier bei ihr im Bett und vollkommen nackt erwischen! Wie vom Blitz getroffen saß sie auf, zog mechanisch die Decke über ihre Blöße und in dem gleichen Moment betrat eine Person ihr Bettzimmer. Oscar saß da: Mit weit aufgerissenen Augen, aufgeklapptem Mund und bleich in ihrer Schreckensstarre. Das gleiche Bild gab sie ihr selbst auch. Die Person wollte eigentlich nur den Umhang und die Stiefel auf ihr Zimmer bringen und stieß dabei ahnungslos in die Szene, die sie nie erträumt hätte: Da saß Lady Oscar in ihrem Bett, bedeckte notdürftig ihre Blöße und hinter ihr ruhte ein schlafender Andre! Die Stiefel und der Umhang fielen ihr dabei von alleine aus den Händen und schlugen mit einem dumpfen Aufschlag auf den Boden. Oscar dagegen atmete innerlich erleichtert auf. Diese Person würde sie niemals verraten. Sie ergriff als erste das Wort: „Würdest du bitte im Salon auf mich warten, Rosalie? Ich möchte jetzt aufstehen.“ Die junge Frau erwachte aus ihrer Starre. „Aber natürlich, Lady Oscar... bitte verzeiht mir...“ Beschämt sank sie ihren Blick und huschte zaghaft wieder hinaus. Oscar stieg eilends aus dem Bett und musste sich aber halb verkrümmt wieder hinsetzen. Ein heftiges Ziehen durchzog ihren Unterleib. Dieses Stechen kannte sie nur zugute. Es war ein Zeichen auf ihren Monatsfluss und das Datum stimmte auch noch. Spätestens heute Abend würde sie bluten. Aber darüber würde sie sich Sorgen machen, wenn es soweit sein würde. Jetzt musste sie sich rasch anziehen, Andre wecken und mit Rosalie reden! Das erste ging schnell. Sie brauchte nur ihre Hose und das Hemd anzuziehen. Das Stechen und Ziehen in ihrem Unterleib ließ bereits nach. Nun stand, Andre zu wecken. Dieser drehte sich auf den Rücken und zog sich die Decke bis zum Brustkorb hoch. Sein dunkelbraunes Haar lag ausgebreitet auf den Kissen, sein Atem ging gleichmäßig und ein leises Lächeln umspielte seine Lippen. Oscar blieb an der Seite des Bettes stehen und beugte sich zu ihm vor. Ihre blonde Haarspitzen rutschten ihr von den Schultern herab und fielen ihm ins Gesicht. „Andre, wach bitte auf.“ Von ihm kam keine Reaktion. Wie sollte sie ihn dann wecken? Ihre Haarspitzen kitzelten ihm die Wange. Seine Lippen formten sich zu einem breiteren Lächeln und verrieten ihn: Er schlief nicht mehr! Zur Bestätigung tastete sich seine Hand kaum merklich an ihrem Bein hoch. „Andre, lass das bitte! Rosalie wartet!“ „Was sagst du?“ Da war er sofort hellwach und saß wie gestochen auf. Oscar konnte ihm nicht schnell ausweichen und er prallte mit seinem Kopf gegen ihre Stirn. „Aua!“, zischte sie und taumelte nach hinten. Andre schnappte ruckartig nach ihrem Handgelenk und rettete sie vor dem Fall „Entschuldige, Liebste, das wollte ich nicht.“ „Schon gut, ich verzeihe dir, Geliebter...“ Oscar fing sich rasch und fasste sich an die Stirn. „Steh lieber auf und zieh dich an. Ich rede derweilen mit Rosalie.“ Sie entriss ihm ihr Handgelenk und bevor er etwas nachfragen konnte, war sie schon aus dem Bettzimmer fort und ließ ihn ganz perplex zurück. Keine Liebesworte von ihr, kein warmer Blick - kühl und beherrscht, wie es meistens ihre Art war. Und was hatte sie gesagt? Rosalie wartete auf sie? Hieß das, sie war hier und hatte Oscar mit ihm im Bett gesehen? Das wäre allerdings gar nicht gut! Mit hämmerndem Herzen und mulmigen Gefühlen beeilte sich Andre beim Aufstehen und Ankleiden. „Rosalie...“ Oscar ging auf die junge Frau zu, die an der Tür zum Salon stand und am ganzen Körper zitterte. Ihre Hände faltete sie vor der Brust und in ihren Augen standen Tränen. Sie erinnerte Oscar an ein verängstigtes Rehkitz. „Lady Oscar... ich schwöre Euch, es war nicht meine Absicht... und ich werde es auch für mich behalten...“ „Das glaube ich dir...“ Oscar blieb direkt vor ihr stehen. Ihre Haltung war entspannt und auf ihrem Gesicht lag kein Anzeichen von Zorn oder Wut. Sie hob ihre Hand und wischte Rosalie die Träne unter dem Augenlid mit dem Daumen weg. „Du bist ein herzensgutes Mädchen und ich könnte dir niemals böse sein.“ „Das weiß ich doch, Lady Oscar...“, schluchzte Rosalie und drückte sich unverhofft an sie. Eigentlich war das nichts Neues für sie. Gewohnheitsgemäß legte Oscar tröstend ihre Arme um die junge Frau. „Warum weinst du dann, Rosalie?“ „Ich weine vor Glück, Lady Oscar! Ihr und Andre seid doch so ein schönes Paar!“, schniefte Rosalie in Oscars Hemd. Arme Rosalie! Ihr hatte es bestimmt das Herz zerrissen, als sie Oscar und Andre in einem Bett gesehen hatte! Ihre Worte waren dennoch aufrichtig und rein. Oscar wusste von ihrer Schwärmerei und ihr tat es leid, dass Rosalie in diese Szene hineingeraten war. Sie sprach noch milder auf sie ein: „Weißt du, Rosalie, mir fällt gerade ein: Wir kriegen heute Besuch. Andre und ich hatten ihn gestern zufällig kennengelernt und ich möchte ihn dir bekannt machen. Er heißt Bernard Chatelet und ist ein Gerichtsschreiber.“ „Den kenne ich doch!“ Rosalie entriss sich abrupt aus Oscars Armen. Vergessen waren die Tränen. „Wir sind uns schon einmal begegnet, Lady Oscar! Er stand mir bei, als meine Mutter von der Kutsche überfahren wurde. Er sagte, ich kann jederzeit zu ihm kommen, wenn ich Hilfe brauche.“ Oscar staunte kurzzeitig. Das hatte sie nicht gewusst. Aber gleichzeitig erleichterte es die Sache umso mehr. „Und möchtest du ihn noch einmal sehen, Rosalie?“ „Warum auch nicht, Lady Oscar...“ Was hatte sie denn schon zu verlieren? Lady Oscar gehörte ja zu Andre und sie hätte als Frau ohnehin keine Chance bei ihr gehabt. Insgeheim musste sie zugeben, dass sie sich für Lady Oscar keinen anderen Mann gewünscht hätte, als Andre. Dieser trat gerade aus dem Bettzimmer. Er war in seinen gestrigen Sachen ordentlich angekleidet, doch sein Haar war zerzaust. Beklommen ging er zu ihnen – unschlüssig, was er sagen sollte. Rosalie hatte ihn noch nie mit offenen Haaren gesehen und errötete verlegen. Eigenartig, er kam ihr wie ein anderer Mensch vor: Belebter und unbeschwerter, trotz dass er momentan eher in einer prekären Verfassung war. Vielleicht lag es an der Liebe zwischen ihm und Oscar. „Guten Morgen, Andre“, grüßte sie ihn, als wäre nichts geschehen. „Guten Morgen, Rosalie...“, murmelte Andre, bemüht um seine gefasste Haltung. „Wir haben schon alles geklärt, Andre. Es ist alles in Ordnung.“ Oscar schenkte ihm ein warmes Lächeln. „Das stimmt“, bekräftigte Rosalie ihre Aussage verschwörerisch. Andre fühlte sich schon wesentlich besser und atmete innerlich auf. Er wusste, Rosalie war vertrauenswürdig und sie war Oscar vollkommen ergeben. Aber genauso wusste er von ihrer empfindlichen Seite. Daher hätte es ihm Leid getan, wenn sie wegen dem, was sie gesehen hatte, Tränen vergoss. Umso schöner würde der Tag sein, wenn alles geklärt war und jeder gute Laune hatte. Allerdings blieb noch eine Sache offen. Und die war nicht gerade erbaulich. Andre sah unwohl seine Geliebte an. „Oscar... Kannst du bitte kurz mit mir kommen? Ich... ich muss dir etwas zeigen...“ Er wusste nicht, wie er sich sonst ausdrücken sollte. Zum Glück fragte Oscar nicht weiter nach und folgte ihm in ihr Bettzimmer. Auch Rosalie folgte ihnen, was ihm allerdings nicht auffiel. Alle drei standen im nächsten Augenblick um das Bett herum und stierten auf die weißen Laken. Weiß war nicht mehr ganz richtig. Ein paar kleine, rötliche und vertrocknete Blutflecken verzierten den Stoff direkt in der Mitte der Matratze. Andre senkte beschämt seinen Blick und traute sich nicht mehr hinzusehen. Rosalie lief rot an, so ähnlich wie die linienartigen Streifen auf dem Bettlaken und malte sich aus, woher sie stammen könnten. Einzig Oscar blieb kühl und gelassen. „Es könnte mein Monatsfluss sein. Ich dachte, er kommt erst heute Abend, aber anscheinend habe ich mich verrechnet.“ Andre hob schlagartig seinen Blick und richtete ihn auf Oscar. „Dann war nicht ich... Ich meine... Ich habe doch... Bist du dir sicher?“ Zwei blaue Augenpaare schenkten ihm sogleich ihre Aufmerksamkeit: Das eine schimmernd und sprachlos von Rosalie. Das andere beherrscht und undurchschaubar von Oscar. „Warum soll ich mir nicht sicher sein, Andre? Zerbrich dir nicht den Kopf deswegen. Es ist alles in bester Ordnung. Du solltest dich lieber umziehen gehen, bevor dich deine Großmutter so sieht.“ Besser gesagt: Er durfte nicht noch mehr bei ihr sein - in einem äußerst verdächtigen und zerzausten Zustand. Die versteckte Botschaft begriff Andre schnell und er gab seiner Oscar recht, aber irgendwie konnte er sich nicht gleich von der Stelle rühren. Dagegen aber Rosalie. Sie fand ihre Fassung schneller wieder und ergriff sofort die Initiative. „Ich räume Euer Bett auf, Lady Oscar, und werde die Laken in die Wäschekammer bringen.“ „Eine gute Idee“, bekräftigte Oscar und schenkte ihr ein dankbares Lächeln. Das bewog Andre endlich aus seiner Reglosigkeit zu erwachen. „Und ich gehe dann mal...“ Er zwang sich buchstäblich aus dem Bettzimmer. Dann las er seine restlichen Sachen im Salon auf und war fort. Die rötliche Sonne stieg am östlichen Horizont höher und verjagte endgültig den milchigen Morgennebel, der sich in der Nacht wie eine Decke in der Umgebung ausgebreitet hatte. Der silbrige Tau auf dem Gras und auf den Blättern der Bäume schimmerte beim fallenden Sonnenlicht und glitzerte wie kleine Edelsteine. Die Singvögel begrüßten den anbrechenden Tag mit ihrem Gezwitscher und die Menschen begannen mit ihren gewohnten Tätigkeiten. Oscar hatte sich schon schnell frisch gemacht und flüchtig gefrühstückt, um Rosalie beim Aufräumen nicht im Wege zu stehen. Nun stand sie unter einer alten Eiche im Garten, lehnte sich mit Rücken gegen den massiven Stamm und betrachtete ihr getrautes Heim mit nachdenklichen Blicken. Eine Brise des kühlen Windes rauschte in den Baumkronen und wehte ihr vereinzelte Haarsträhnen ins Gesicht. Oscar schob ihr Haar zurück hinters Ohr und verharrte weiter regungslos an dem Baum. Es war ein Morgen wie jeder andere, aber für sie war er heute anders. Sie hatte ein Glücksgefühl, das sie nicht beschreiben konnte, aber das ihr Herz mit Wärme umhüllte. Sie war wie neu erschaffen - durch die erfüllte und bedingungslose Liebe, die sie gestern mit ihrem Andre geteilt hatte. Wie hatte sie in ihrem früheren Leben nur ohne dieses herrliche Gefühl leben können? Das wusste sie nicht zu sagen. Andre kam in dem Moment aus dem Haus und Oscar löste sich von dem Stamm. Er hatte sich schon seine gewöhnliche Alltagskleidung angezogen, sein Haar mit einer Schleife zu einem Zopf gebunden und sich in Ordnung gebracht. Er sah nicht mehr so zerstreut und zerzaust aus, wie noch vor wenigen Stunden. Gefrühstückt hatte er auch schon. Oscar hatte ihn vor kurzem in der Küche dabei angetroffen und gefragt, ob er nicht mit ihr ausreiten wollte. Andre hatte natürlich zugestimmt und deswegen stand sie jetzt hier an dem Baum. Sie wartete auf ihn, bis er mit essen fertig wurde und aus dem Haus kam, um mit ihm gemeinsam die Pferde zu satteln. Nun war er endlich da und steuerte gerade mit langen Schritten auf sie zu. Oscar kam ihm langsam und beherrscht entgegen. Innerlich herrschte jedoch ein wohliges Kribbeln in ihr, von der Erinnerung an die heutige Nacht. Wenn die Umstände anders wären, hätte sie sich an ihn geschmiegt und sich in seinen starken Armen verloren. Aber das ging nicht. Man könnte sie sehen und sie zusammen erwischen, so ähnlich wie Rosalie, und dann wäre die Hölle auf Erden. Die Liebe zwischen ihnen war verboten und das war beiden bewusst. Sie blieben auf einer kleinen Distanz von zwei Schritten voreinander stehen und tauschten einen winzigen Moment einen liebevollen Blick miteinander aus. „Ich bin soweit“, sagte Andre als erster und beinahe flüsternd: „Wir können nun ausreiten.“ Oscar nickte ihm einvernehmlich zu und setzte sogleich ihre Füße in Bewegung. „Hat deine Großmutter etwas bemerkt?“, fragte sie ihn leise auf den Weg zu dem Stall. Andre verstand den Hintergrund dieser Frage. „Nein, hat sie nicht. Ich konnte noch rechtzeitig auf mein Zimmer schleichen.“ „Das ist gut. Wir sollten ab nun äußerst vorsichtig sein“, erwiderte sie und verstummte, als wäre damit alles zwischen ihnen geklärt. Vielleicht für sie, aber nicht für Andre. Er wollte noch einiges von ihr wissen. Allerdings nicht hier auf dem Hof ihres Anwesens, wo die anderen Bediensteten schon auf den Beinen waren und ihrer Arbeit nachgingen. Beim Ausritt, wenn sie unter sich sein würden, würde sich schon eine günstige Gelegenheit für ein offenes Gespräch finden. Oscar galoppierte auf ihrem weißen Schimmel vornweg und gab Andre keine Möglichkeit den Wettritt zu gewinnen. Wie immer: Dem Wind entgegen und mit dem Gefühl von Freiheit, ritt sie ihr Leben lang gerne aus. Sie trieb ihr Pferd immer schneller an, beugte ihren Oberkörper nach vorn und reckte ihr Kinn dem Naturschauspiel entgegen. Das ließ sie alles um sie herum vergessen und sich unbeschwert fühlen. Andre galoppierte auf seinem Braunen knapp hinter ihr und versuchte Oscar gar nicht zu überholen. Ihr goldblondes Haar flatterte wild nach hinten und gab mehr Sicht auf ihre Gesichtszüge und ihren Hals preis. Andre genoss es, ihr Profil fast von der Seite zu betrachten und sich an ihm zu weiden. Und noch die zusätzliche Gewissheit, dass diese Schönheit die seine war, verursachte ihm ein herrliches und bezauberndes Gefühl nach Wonne und Freude. Sie erreichten geschwind den altbekannten See, der meistens der Zielort ihres gemeinsamen Wettritts war und zügelten an einem uralten Baum ihre Pferde. Oscar hatte wieder einmal gewonnen, aber das machte Andre nichts aus. Hauptsache sie war glücklich. Sie stiegen aus dem Sattel und Andre brachte die Tiere zum See, damit diese ihren Durst stillen konnten. Als er zu Oscar zurückkehrte, saß sie schon unter dem Baum, lehnte sich auf ihre Arme zurück und überkreuzte die Fußknöchel ihrer ausgestreckten Beine. Sie beobachtete jede seiner Bewegungen ausgiebig und ihre himmelblauen Augen glänzten dabei geheimnisvoll. Andre hätte gerne gewusst, an was sie gerade dachte und setzte sich neben sie auf das weiche Gras. „Wie fühlst du dich?“, fragte er mit nachdenklichem Blick auf die tränkenden Pferde am Seerand. Der Moment für ein offenes Gespräch mit ihr, ohne Zuhörer oder Beobachter, schien geradezu ideal zu sein. „Ausgezeichnet.“ Mehr sagte sie nicht. Dennoch klang das aufrichtig. Und warum sollte sie ihn anlügen oder etwas vor ihm verheimlichen? Sie hatte keinen Grund dazu. Andre gab sich dennoch nicht zufrieden. Seine Gemütslage wechselte sich. Beinahe kleinlaut und geknickt, bohrte er vorsichtig weiter nach: „Oscar... Ich habe dir Weh getan. Das wollte ich nicht... bitte verzeih mir...“ Er traute sich nicht, sie anzusehen und stierte stattdessen weiter auf die Pferde. Seine Hand fuhr ziellos durch das Gras neben ihm und zupfte es vereinzelt aus der Erde, um es gedankenverloren wegzuwerfen und dem nächsten Grashalm das gleiche Schicksal zu bereiten. „Wovon sprichst du?“ Oscars fröhliche Ausstrahlung verwandelte sich in einen fragenden Ausdruck. Was hatte er nur auf einmal? Das verstand sie nicht. „Das Blut auf deinem Laken...“, brachte Andre mühevoll hervor und senkte schuldbewusst den Blick auf seine Hand, die schon fast alle Grashalme neben ihm heraus gezupft hatte. „Ich meine, ich frage mich, ob es wirklich dein Monatsfluss war oder ob ich dir das angetan habe...“ Oscar begriff nun, was ihn beschäftigte und seine Sorge rührte sie. „Das ist nicht deine Schuld, Andre“, erklärte sie ihm beruhigend: „Ich erwarte wirklich meinen Monatsfluss. Du hast mich zu deiner Frau gemacht und ich fühle mich bestens, mein Geliebter.“ Andre hob seinen Blick und sah sie nun doch an – unsicher, was er darauf erwidern sollte. Oscar lächelte ihn an und verlagerte ihr Gewicht auf einen Arm, um mit der freien Hand seine Wange zu berühren. Ihre kühlen Finger erzeugten einen leichten Schauer auf seiner Haut und er verharrte reglos, um diesen kleinen Moment auszukosten. „Dann ist alles in Ordnung? Und du bereust es nicht?“ „Ich bereue keine einzige Minute mit dir“, versicherte ihm Oscar mild, wie der Hauch eines Windes: „Ich liebe dich, Andre. Ich bin glücklich mit dir und nur für dich kann ich das sein, was ich wirklich bin: Eine richtige Frau und nicht das, zu dem ich erzogen wurde. Ich bin dankbar dafür, dass es uns gibt und dass wir noch einmal leben dürfen.“ „Ach, Oscar...“, murmelte Andre hin und her gerissen. Ohne den liebevollen Blick von Oscar abzuwenden strich er ihr das Haar hinters Ohr. „Ich liebe dich mit jedem Augenblick und mit jedem Atemzug immer mehr. Du bist mein Herz, mein Leben und mein Sein...“ „Mein Andre...“ Oscars Herz beschleunigte seinen Schlag. Wärme stieg in ihr empor und ihre Hand streifte von seiner Wange zu seinem Nacken hinab. Sein Gesicht näherte sich dem ihren und ihre Lippen trafen sich zärtlich. Oscars Hand arbeitete sich von seinem Nacken zu seinem Brustkorb nach unten und ihre Finger schlossen sich fest um den Kragen seines Hemdes. Ihr Körper senkte sich mechanisch nach hinten und zog Andre mit sich ins Gras. Sie küssten sich lange und innig und dachten nicht daran, dass sie eigentlich für jedermanns Auge sichtbar waren. Entfernte Hufschläge und das Rollen einer Kutsche entrissen sie aus ihrer Liebelei und beförderten sie schlagartig in die Realität zurück. Zum Glück verlief die fahrbare Straße weit von ihnen. Liegend würden sie aus dieser Entfernung nicht auffallen. Andre schob sich dennoch von Oscar herunter und sie wälzte sich gleich auf den Bauch, um auch sehen zu können, wer da fuhr. Es war eine einfache Kutsche und sie steuerte aus Richtung Paris auf das Anwesen zu. „Wer mag das sein?“, fragte Andre schnellen Atems, den er zu beruhigen versuchte. In ihm loderte noch der Rest seiner Leidenschaft. Auch Oscar war noch außer Atem und versuchte ihr heftig pochendes Herz und die unterbrochenen Liebesgefühle niederzuringen. „Vielleicht ist es Bernard...“ Das war mehr eine Vermutung als eine Frage. „Auf jeden Fall sollten wir lieber nach Hause zurück reiten und uns das näher ansehen...“ „In Ordnung“, seufzte Andre bedauernd, aber gleichzeitig auch einsehend. Er hatte auch nicht das Bedürfnis, noch einmal erwischt zu werden. Rosalie hatte ihm heute vollkommen ausgereicht. Die Liebe zwischen ihm und Oscar würde für immer ein Geheimnis vor den Augen der Welt bleiben müssen. Besonders vor den Augen seiner Großmutter, ihrer Eltern und allen anderen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)