Wenn man vom Teufel spricht... von Anemia (Fortsetzung zu "Der Teufel soll dich holen...") ================================================================================ Prolog: 6:66 ------------ 6:55 Uhr. Jetzt, wo mir diese Zahlen ins Auge fielen, spürte ich umso deutlicher, wie sehr mir die Müdigkeit noch in den Knochen lag. Sie machte meine Lider schwer und schien sogar die Muskeln meines Armes so sehr zu lähmen, dass ich noch nicht einmal dazu in der Lage war, das Radio anzuschalten. Ich konnte wirklich von Glück reden, dass Dad der gleiche Einfall gekommen war und das Gerät für mich betätigte. Manchmal erwiesen sich solche Gedankenübertragungen als äußerst hilfreich. Meist allerdings nervte es, sich mit Menschen zu umgeben, die einen zu gut kannten.   Der äußerst altmodisch wirkende Beat irgendeines Liedes schmetterte aus den Boxen und obwohl ich mit Oldies wirklich nichts anfangen konnte, so war ich im Moment doch ganz dankbar dafür, dass er die ekelhafte Stille durchbrach. Außerdem glaubte ich, so nicht mehr fürchten zu müssen, dass irgendjemand von mir verlangte, in ein Gespräch einzusteigen. Sprechen um diese Uhrzeit, das war wahrlich zu viel des Guten. Leider Gottes sah meine liebe Familie das ganz anders.   "Was bist du denn so still, Lenny?" Die Stimme meiner Schwester. Direkt in meinem Nacken. Irgendein schweres Gefühl ballte sich in meiner Magengegend zusammen. Während ich aus der Frontscheibe starrte, pressten sich meine Backenzähne aufeinander. Sie nervte. Ihre bloße Anwesenheit hätte mich um diese Uhrzeit zum Mörder machen können.   "Lenny ist noch verschlafen", erklärte ihr unser Vater an meiner Stelle, doch die Art, wie er diese Worte aussprach, machte mich noch rasender. Als würde er mich belächeln. Ich hasste es. Ich hasste sie. Nein, nicht wirklich. Aber sie sollten mich in Ruhe lassen. 6:56 Uhr. "Kein Wunder, es ist ja noch mitten in der Nacht", grummelte ich mittlerweile tatsächlich schlecht gelaunt vor mich hin und versuchte, alle möglichen Gefühle aus meinem Körper zu verbannen und mich auf die vereinzelt auftauchenden Autos zu konzentrieren, die uns mit ihren gleißend hellen Scheinwerfern allesamt überholten. Das war immer so. Die anderen waren immer schneller als man selbst. Ein Blick auf den Tacho verriet mir, dass mein Vater einmal mehr im Schneckentempo unterwegs war. Aber wahrscheinlich pennte die Karre noch, genau wie ich.   Mein Gemurmel hatte natürlich niemand auf Anhieb verstanden und ich wäre am liebsten aus dem Korsett gesprungen, als man mich zum zweiten Mal aufforderte, es zu wiederholen. Ohnehin wäre es besser gewesen, ich hätte Stillschweigen bewahrt, denn selbstverständlich setzten drei Stimmen augenblicklich den belehrenden Ton auf. Grr. Hass. Aber ich war nun munterer geworden. Doch meiner lieben Familie dafür danken, nein, das wollte ich nicht.   "Es ist schon fast sieben", merkte Thessi an. Ich konnte ihre Stirn im Frontspiegel erkennen. Ein paar ihrer blonde Haare waren zu kurz, um dass der Haargummi sie am Hinterkopf fassen konnte und so standen sie merkwürdig in alle Himmelsrichtungen ab. Irgendwie erinnerte mich das an ein kleines Kind. "Ja und? Sieben Uhr. Jeder normale Mensch schläft um die Zeit noch." Wahrscheinlich hatte sie mich wieder nicht verstanden, denn ich hielt mir die Hand vor den Mund. Mit dem Pinzettengriff zupfte ich an einem Hautfetzen, der sich von meiner Lippe löste. Ein leichtes Gefühl der Befriedigung floss durch mich hindurch, als ich spürte, wie ich ihn unter einem kleinen, piekenden Schmerz abzog. "Warum hätten wir nicht wenigstens eine Stunde später fahren können?" "Weil es sich dann gar nicht mehr gelohnt hätte, um zu Oma und Opa zu fahren?" Nun mischte sich also auch noch Mom ein. Und sie tat mal wieder das, was sie am liebsten tat: Sie setzte hinter einen stinknormalen Aussagesatz ein Fragezeichen. Das sprengte nicht nur jegliche grammatikalischen Gesetze, sondern auch meine Nerven. Sie stand tierisch auf diese Sache, und sie merkte noch nicht einmal, dass ich immer ganz unruhig wurde vor Wut, wenn sie das machte.   Oma und Opa. Ja. Natürlich. Oh, was würde das für ein traumhafter Tag werden. Kaffeekränzchen samt eklig süßem Kuchen und endlosen Gesprächen über Dinge, die mich nicht die Bohne interessierten. Ich konnte mir einen wahrlich besseren Zeitvertreib am Wochenende vorstellen, aber zum Glück gab es ja Handys. Marko langweilte sich sicherlich auch und er würde mir bestimmt zurückschreiben, wenn ich den ersten Schritt machte. Sexting beim Kaffeeklatsch, das würde mal etwas ganz anderes sein. Dreckiges Grinsen inklusive. Ich übte dieses schon mal, denn ich musste an das letzte Mal denken, als wir in Dirty Talking abgerutscht waren. Es war in der Uni und keine Sau hatte bemerkt, dass ich mich am liebsten hingelegt hätte vor lauter Lachen. Marko war ein begnadeter Gott, was das zweideutige Denken anging. Man durfte nicht etwa annehmen, dass es mich heiß machte, wenn er mir befahl, ich sollte lieber mit seinen Eiern spielen als mit denen des Osterhasen (der Hasi war nämlich vor ein paar Tagen gekommen, pardon, erschienen). Nein, ich fand es lediglich irre witzig. Ob Marko das genauso sah - ich konnte nur spekulieren. Eigentlich war er gar nicht schwul. Nur wenn er einen im Tank hatte, dann kamen ihm schon hin und wieder ein paar hübsche Männer in den Mund. Und bei hübschen Männern meinte ich natürlich vor allen Dingen mich...   6:59 Uhr. "Sieben Uhr ist eine komplett unchristliche Zeit", beharrte ich auf meiner Meinung, allerdings weitaus weniger schlecht gelaunt und einigermaßen aus meiner Trägheit erwacht. "Pff!", schnitt mir meine Schwester das Wort ab und schnaufte empört. "Ich sitze im Gegensatz zu dir faulem Studenten bereits um Sieben in der Schule und schreibe Arbeiten oder halte Vorträge, stell dir vor." Sie redete mit einem hörbaren Lächeln auf den Lippen weiter, welches vor Hohn triefte. "Und dann denke ich an dich, Brüderchen, wie du in deinem Bettchen liegst und feuchte Träume von Marko hast. Und wie dein Arsch immer fetter wird vom Nichtstun." "Mein Arsch wird nicht-" Wenn sie einmal in Rage war, dann konnte sie nichts mehr stoppen. "Dein Arsch wird", beharrte sie bockig auf ihrer Meinung. Meine Eltern hielten sich aus der ganzen Sache heraus. Partei zu ergreifen, das erwies sich bei Geschwistern stets als kontraproduktiv, das hatten sie früh bemerkt. "Und übrigens: Hör auf, von unchristlich zu sprechen. Wir hatten erst letztens das Thema Satanismus und ich sag dir: Das ist ziemlich krank." "Du bist krank", muffte ich lediglich vor mich hin. Aufregen, pah - das brachte ohnehin nichts. "Nee, das ist echt krank. Wirklich." Das war einer der Momente, in denen sie nicht nur wie ein kleines Mädchen aussah, sondern sich auch wie eines benahm. Altklug. Wichtigtuerisch. Meine Mundwinkel zuckten ganz leicht. Vor Mitleid und Amüsement. "Die machen Messen auf Friedhöfen und metzeln Tiere ab. Und sie opfern ihrem ach so großen Herrn Satan Jungfrauen!" "Da hab ich aber Glück, dass ich keine mehr bin", setzte ich gelassen seufzend hinzu und drehte mir ein paar meiner Haarsträhnen um meinen Zeigefinger. Auf meiner Lippe kaute ich jedoch noch immer. Es schmeckte metallisch, wenn ich mit der Zunge über die zerbissene Oberfläche fuhr. "Aber du solltest aufpassen, Thessilein. Sonst kommt er dich holen, der Herr und Meister..." Ich schnaufte und drehte mich verheißungsvoll grinsend zu ihr um. Unsere Blicke trafen sich, und ihre waren so unschuldig, wie die einer Fünfzehnjährigen nur sein konnten. Süß. "Du bist doch noch Jungfrau, Schwesterherz, oder?" Sie kniff nur die Augenbrauen zusammen und schaute aus dem Fenster. Ich hatte sie in Verlegenheit gebracht, eindeutig. Wer mochte es schon, dass solche Gespräche vor den Eltern ausgetragen wurden? Ich konnte ihr nicht verübeln, dass sie nun eingeschnappt war. Aber das war nun mal die Rache für die Sache mit dem feuchten Traum.   Irgendwie fühlte ich mich nun ganz gut. Nachdem ich mein Werk vollendet hatte (Thessi schwieg endlich und hörte auf, mir irgendeinen Mist zu erzählen, Triumph!) drehte ich mich wieder um. Dabei fiel mein Blick rein zufällig auf die Digitalanzeige der Uhrzeit.   Man kannte ja diese Sache, die man auch freud'schen Versprecher nannte und ich glaubte, dass man sich auch auf diese Art verlesen konnte, und deswegen schüttelte ich verwundert über mich selbst den Kopf und schaute noch einmal hin, dieses Mal jedoch genauer. Aber da stand es immer noch. Diese drei gleichen Zahlen, die doch überhaupt nicht existieren durften... Etwas verunsichert blickte ich aus dem Fenster. Angespannt kaute ich auf meiner Unterlippe herum und schielte noch ein paar weitere Male hin zu der Uhr, die jedoch unverändert ein und dieselbe unmögliche Uhrzeit anzeigte. Sie schien mich förmlich anzuschreien, klang schrill in meinen Ohren und die neongrünen Zahlen schossen mir kreischend ins Gesicht. Mir war, als würde ich in einen Abgrund fallen, so sehr erschreckte mich dieses seltsame Hirngespinst. Ich wollte es nicht mehr sehen, wollte mich nicht davon beunruhigen lassen, doch irgendetwas sagte mir, dass das ein Zeichen war. Doch ein Zeichen für was? Dafür, dass Thessi mich mit ihrem blöden Satanismusgequatsche ganz wirr gemacht hatte? Denn auf dem Display stand im Grunde nichts anderes als die Zahl. Die Zahl des Tieres. Die Zahl, die jeder Normalsterbliche mit dem Teufel in Verbindung brachte. 6:66 Uhr.   Mit einem Mal sprang mir das grüne Licht entgegen und ich fühlte nur noch, wie alles seine Dimension zu verlieren schien. Ein Schmerz, der sich durch meinen Rücken biss zerriss mich jäh und irgendwo ganz weit weg vernahm ich einen panischen Schrei.   Und das war auch das Letzte, was mir signalisierte, dass ich unter den Lebenden weilte.     *     "...und möglichst jung sollte sie sein. Sonst taugt sie womöglich nicht lange für den Job." Er widerholte sich. Aber ich ließ mir selbstverständlich nicht anmerken, dass es mich nervte, wie er mich behandelte. Dass er alles fünfmal runterbetete, nur weil er zu dem Eindruck gelangt war, ich wäre ein minderbemittelter Vollidiot gewesen. Deswegen nickte ich brav seine Worte ab und wagte es mir allenfalls ihn anzublinzeln. Doch mir war es lieber, wieder schnell den Kopf zu senken und den Boden zu mustern.   "Ältere Damen haben häufig schon ein Rückenleiden, und außerdem...", er machte eine kurze Pause und auch ohne ihn anzusehen erahnte ich ein Schmunzeln, "bezahle ich lieber junge Mädchen als reife Frauen." Ich sah seine Hand fast vor meiner Nase über den Tisch huschen. "Obwohl das eigentlich auch einen gewissen Reiz innehätte, wenn ich es mir so recht überlege..." Wenn er auf diese Art und Weise sprach, dann fühlte ich mich noch beschissener in seiner Gegenwart. Denn ich hatte keine Ahnung, was ich darauf erwidern sollte. Sicher wäre es ihm sauer aufgestoßen, hätte ich ihm beigepflichtet und seine Worte bestätigt. Ja, natürlich, auch ich empfing hin und wieder diese ganz besondere Bezahlung für meine Arbeit in Form einer seiner Damen. Doch es war auf keinen Fall so, dass wir uns wie alte Kumpels an einem schönen Abend bei Kerzenlicht zusammensetzten und über die Vorzüge der Frauen sprachen. Das hätte mir um ehrlich zu sein auch nicht sonderlich gefallen. Denn ich hatte zu großen Respekt vor meinem Meister, um Privates mit ihm auszutauschen. Und er war sicher auch nicht daran interessiert. Schließlich hielt er mich offenbar für einen Vollidioten. Und der Grund dessen war mein eigenes Versagen. Mein Ungehorsam. Mein eigener Kopf, den ich hatte durchsetzen wollen. Um ehrlich zu sein war dies auch der wichtigste Grund, weswegen ich es nicht mehr wagte, ihm in die Augen zu sehen. Ich hatte mich über den Willen des Meisters hinweggesetzt. Ich hatte ihm André gebracht anstatt des gewünschten Mädchens. Und das nur, weil er mir gefallen hat. Dabei stand es mir nicht zu, die Schönheit eines anderen Mannes oder einer Frau zu schätzen. Ich war sein Diener, und ich war nur sein Diener. Der stumme Ausführer seiner Befehle. Manchmal, ja, manchmal da packte mich so ein gewisses Gefühl, wenn ich mich erneut wie ein hirnloser Soldat behandelt fühlte. Doch ich verbarg es besser in einer tiefen, dunklen Ecke meines Hirns. Es wäre mich nur teuer zu stehen gekommen, hätte ich ihm freien Lauf gelassen. Und doch balancierte ich heute einmal mehr am Abgrund. Hätte ich es gewagt und ihm in die Augen gesehen, womöglich hätte er sehen können, wie dunkel die meinen vor Wut und brodelnder Verachtung schimmerten.   "Also, du hast mich verstanden?" Angespannt rieb ich meine Schneidezähne aufeinander. Es machte ein ekelhaftes, schabendes Geräusch, welches er sicher nicht hören konnte, aber es passte nur zu gut zu meiner derzeitigen Stimmung. Doch ich war ein Mann. Und ein Mann wusste, wie man sich beherrschte. In jeder Lebenslage. Deswegen nickte ich wieder artig, was dazu führte, dass ich mich noch mieser fühlte.   Der Meister schien zum Glück nicht zu bemerken, was sich gerade hinter meinen eisblauen Augen abspielte. Vielleicht wollte er es auch schlichtweg nicht bemerken. Denn er sah in mir keinen Mensch. Hatte noch nie einen in mir gesehen. Ein Stück Vieh, das war ich in Wirklichkeit für ihn. Das waren wir alle. Ja, sogar André. "Gut." Ich blickte ihm scheu ins Gesicht und verfluchte mich selbst dafür, dass ich zu so einem unterwürfigen Würstchen in seiner Gegenwart geworden war. Er musste nicht auf die Uhr sehen, um zu wissen, dass die Zeit reif war. Und er musste auch nichts sagen, ich spürte es in der Luft, dass ich nun gehen sollte. Deswegen erhob ich mich, noch ehe er mich weiterhin wie ein dummes Kind behandeln konnte. Doch ich hatte mich zu früh gefreut. "Und denk daran: Dieses Mal bringst du ein Mädchen und keinen Jungen. Hast du verstanden?" Ich konnte nicht mehr anders. Ich hielt gerade die Türklinke in der Hand, die eiserne Türklinke, aber ich musste nur die Finger ganz fest um sie schließen, damit sie aus der Tür brach. Doch bereits als ich sie lose auf der Handfläche liegen hatte bereute ich es, dass ich mich nicht hatte wie die vielen anderen Male auch beherrschen hatte können. Der Meister sagte nichts. Mein Mundwinkel zuckte. Ob er mich bestrafen würde? Er war mächtig, doch ich war ihm körperlich kein Bisschen unterlegen. Ich würde mich zur Wehr setzen, wenn er irgendetwas mit mir vorhatte. Denn ich war nicht Satans Lämmchen. Physisch vielleicht. Doch im Kopf, da war ich es schon längst nicht mehr.   Mit der Faust stieß ich die Tür auf und hastete durch die Gänge, bis ich den Ausgang des Schlosses erreicht hatte. Über mir erstreckte sich der schwarze Himmel und die roten Schlieren blühten kräftiger als jemals zuvor in ihm. Noch einmal holte ich tief Luft und dann machte ich mich mit großen Schritten auf.   Um den Wunsch des Meisters zu erfüllen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)