Rabenkrone von BluejayPrime ================================================================================ Kapitel 2: Verlust und Gewinn ----------------------------- They say the first year after a major loss is the hardest. That’s an understatement; loss is its own brand of insanity and no relief from it. There are no shortcuts and the only way through grief is through it. You just have to get up every day and wait to go to bed every night, then wake up and do it all over again. „Tanz auf Glas“ (Ka Hancock)   ~*~   „Wir bedauern Euren Verlust zutiefst, Thanu men.“ Die Aussage von Dains Herold spiegelte sich nicht unbedingt in seiner Mimik wieder, und Fíli unterdrückte das Bedürfnis, dem Zwerg die Rabenkrone quer in den Rachen zu stopfen. Oder irgendetwas anderes, was er gerade in die Finger bekam. „Wir danken für die Anteilnahme“, antwortete er stattdessen den Satz, den er in den letzten paar Stunden auswendig gelernt hatte, und schaffte es kaum, die Zähne zum Sprechen auseinander zu bewegen. Nals Finger, die sich in seinen Ärmel gruben, spürte er kaum; das blasse Gesicht seines Bruders nahm er nur am Rande wahr. Wir danken für die Anteilnahme. Rukhsul menu, wo war die Anteilnahme eurer beschissenen Soldaten, als sie das Leben meines Onkels hätten schützen sollen?! Aber er hatte die fünf Worte heute so oft wiederholt, gegenüber den Gesandten aus Düsterwald, gegenüber den Gesandten aus Thal und Esgaroth, den Zwergen von den Eisenbergen, Gandalf hatte sein Beileid ein wenig anders formuliert, aber die Botschaft war die gleiche gewesen, und jedes Mal ging die Antwort ihm ein bisschen leichter von den Lippen, bis die Worte in seinem Kopf gar nicht mehr nach Worten klangen, sondern nach einer sinnlosen Abfolge von Silben und Tönen, die viel leichter auszusprechen waren, wenn man nicht an ihren Hintergrund dachte. „Du hast gesagt, es wären nur ein paar Wochen.“ Seine Stimme klang heiser und erstickt, irgendwo zwischen Tränen und Zorn, als er sich wenig später in das Mausoleum geflüchtet hatte, den einzigen Ort, an dem er ein bisschen Ruhe finden konnte, weil niemand aus seinem Hofstaat so taktlos gewesen wäre, dem König von Erebor ans Grab seines Onkels nachzulaufen. „Du hast mich noch nie angelogen!“ Natürlich zeigte das steinerne Abbild seines Onkels, das den Sarkophag tief im Innern des Berges verschloss, keine Regung. Fíli lehnte die Stirn gegen den kalten Stein und schloss die Augen für einen Moment. „Woher soll ich wissen, was ich tun soll?“, flüsterte er. Selbstverständlich kannte er die Antwort, die sein Onkel ihm gegeben hätte. Weil ich es dir beigebracht habe. Er hatte es ihm beigebracht, sein ganzes Leben lang. Fíli hatte kaum laufen und sprechen können, da hatte Thorin angefangen, ihn überall hin mitzunehmen. Er hatte ihn dabei zusehen lassen, wie er mit Pächtern und Gutsbesitzern sprach, wie er Streitigkeiten schlichtete und Urteile fällte, hatte ihm beigebracht, wie man was in welchem Pergament notierte, wie man mit Bittstellern umging und Schmeichler enttarnte, wie man Abgesandten Gehör schenkte und  auf welche Ratgeber man vertrauen konnte. Er hatte ihn Reiten und den Schwertkampf gelehrt, wie man Spuren las oder Schlingen auslegte, wie man Metall bearbeitete, ob für Waffen oder für Schmuck. Er hatte ihn Stammbäume und Wandtafeln voller Daten auswendig lassen, bis dem Jungen der Kopf geschwirrt hatte und er kaum noch die Augen hatte aufhalten können, bis er die Namen der sieben Königshäuser durcheinander geworfen und auf dem Schoß seines Onkels eingeschlafen war, nur, damit das Spielchen am nächsten Tag wieder von neuem losging. Er hatte ihm beigebracht, wie man souverän blieb und Selbstsicherheit ausstrahlte, obwohl einem vor Angst die Knie zitterten, wie man das richtige Maß zwischen Strenge und Mitgefühl fand, wie man für sein Volk sorgte und gleichzeitig sicherstellte, dass dieses Respekt vor seinem König hatte. Respekt vor seinem König… „Ich bin kein König!“ Natürlich bist du das. Ich habe dir beigebracht, einer zu sein. Aber doch nicht jetzt, nicht so früh, nicht so bald nach ihrem Sieg, sie hatten doch gerade erst ihre Heimat zurückerobert, sie hatten gerade eben erst wieder unter dem Berg Fuß gefasst, und dann hatte Thorin beschlossen, die Nachricht ihren Verbliebenen in den Ered Luin selbst zu überbringen, und Fíli hätte darauf bestehen müssen, ihn zu begleiten, anstatt ihn bloß ein paar von Dains Wachen mitnehmen zu lassen, es war seine Schuld, [style type=“italic“]es war alles seine Schuld[/style], das war ja das Schlimme daran. Es war seine Schuld. Er hatte Thorin im Stich gelassen, und jetzt war alles, was sie von ihm gefunden hatten, seine verbrannte Leiche, die kohlschwarzen Finger noch um Orcrist geschlungen. Überall hin hatten sie ihn begleitet, vorbei an Trollen, Goblins und Wargen, an dem Drachen selbst, durch die Schlacht, in der sie alle drei ihren Anteil an Verletzungen davongetragen hatten, und dann, im entscheidenden Moment, waren sie nicht da gewesen… Fíli zog die Knie an die Brust und legte die Stirn darauf, den Rücken gegen den Sarkophag seines Onkels gelehnt. Seine Augen brannten und mit einem leisen, verärgerten Laut presste er die Lider zusammen. Er musste sie nicht wieder öffnen, um zu wissen, wer es war, als jemand nahezu lautlos hereinschlich und sich ohne ein Wort neben ihn setzte, doch schließlich sah er doch auf. „Ich bin König, nadadith“, sagte er leise. Kílis Augen waren gerötet und sein Gesicht war blass; er trug den verletzten Arm noch immer in einer Schlinge, dabei war die Schlacht schon länger als ein halbes Jahr her. Bolgs Streithammer, den er abgefangen hatte, war für Thorin bestimmt gewesen, und sie hatte ihm die Schulter und das Schlüsselbein zerschmettert. Balin, Oin und Gandalf hatten sich darum gekümmert, und Fíli wusste, dass Gandalf seinen Bruder immer noch Übungen machen ließ, damit er den Arm wieder vollständig bewegen können würde, doch bisher hatte er noch keinen Bogen lange genug halten können, um wieder ernsthaft damit zu schießen. Auf die Bemerkung seines Bruders hin nickte der junge Zwerg zögerlich und griff behutsam mit der gesunden Hand nach Fílis. „Du wirst ein guter König sein“, sagte er leise. Fíli lachte und selbst in seinen eigenen Ohren klang es höhnisch; Kíli zuckte kaum merklich zusammen. „Ich will überhaupt kein König sein“, antwortete er trotzig wie ein Kind, „Noch nicht…“ „Onkel war viel jünger, als er König geworden ist“, merkte Kíli an. Seine Stimme zitterte kaum merklich dabei, doch ihm war anzumerken, dass er nicht darauf angesprochen werden wollte. „Und Onkel wollte, dass du König bist. Sonst hätte er dich nicht zu seinem Erben gemacht.“ Fíli schloss die Augen wieder und presste die Lippen zusammen, ließ den Kopf jedoch an die Schulter seines Bruders sinken. „Ich kann das nicht, Ki“, flüsterte er und griff dabei auf die Spitznamen zurück, die sie schon als Kinder füreinander gehabt hatten, „Jeder sieht mich an. Auf den Gängen, im Thronsaal, im Hof, in Thal. Alle Blicke sind auf mich gerichtet, ich kann das nicht.“ Kíli legte ihm den gesunden Arm um die Schultern, spielte sachte mit einem geflochtenen blonden Zopf. „Onkel hätt’s dir nicht beigebracht, wenn er nicht gewusst hätte, dass du’s irgendwann können wirst“, sagte er schließlich, „Ich meine, er w-war vieles, aber kein Dummkopf.“ Sachte zupfte er an der blonden Strähne zwischen seinen Fingern. „Außerdem bin ich ja auch noch da“, fuhr er fort, „Ich kümmere mich mit um alles, wie Mutter das bei Onkel gemacht hat. Ich helf‘ dir auch dabei, Dains Abgesandte oder die Elfen zu verprügeln, wenn sie frech werden. Und Nal wird das gleiche tun…“ Fíli gab ein Geräusch von sich, das irgendwo zwischen einem Lachen und einem Schnauben lag – es war schwerer zu verstehen, weil er das Gesicht immer noch an Kílis Schulter vergraben hatte. Er vermied es dennoch, seinen Bruder darauf hinzuweisen, dass er leider mit ihm niemanden würde verprügeln können. Das gehörte sich vermutlich nicht, genauso wenig wie es sich für den König von Erebor gehörte, Trinkspiele mit seinem Bruder zu veranstalten oder die Wälder unsicher zu machen oder den Wachsoldaten Streiche zu spielen oder…   Nal wartete bereits auf sie, gemeinsam mit Dís, in den königlichen Gemächern. Beide Frauen hatten sich als Zeichen der Trauer die Haare geschnitten und statt mit Schmuck mit schwarzen Bändern geflochten; der Anblick war nach wie vor so unwirklich, dass Fili ein paar Mal blinzeln musste. Sie nahm wie selbstverständlich wieder den Platz zu seiner Linken ein, kaum dass er eingetreten war, und griff nach seiner Hand. „Ist alles in Ordnung?“, fragte sie leise und im selben Augenblick konnte Fili spüren, wie ihr Griff unweigerlich ein bisschen fester wurde, als ihr wohl selbst auffiel, dass die Wortwahl eher ungünstig war. „Nein“, antwortete er müde. Kurz huschte sein Blick zu dem Zwergling hinüber, der sich auf Dís’ Schoß zusammengerollt hatte und selig schlief. Selbstverständlich hatte es gar keine Frage gegeben, was das betraf, und er hatte seinen Sohn nach dem Mann benannt, der ihn großgezogen hatte; jetzt im Nachhinein schien es fast ein schlechtes Omen zu sein. Trotzdem hatte der Junge die Trauerzeremonie tapfer durchgehalten, auch, wenn er wohl nicht wirklich verstanden hatte, worum es dabei gegangen war, und warum er die Haare jetzt in der Kronprinzentracht tragen musste… Unweigerlich fragte sich Dís, ob sie sich jemals an den Anblick ihres Ältesten würde gewöhnen können. Die Zöpfe vor und hinter seinen Ohren, die bis vor wenigen Wochen noch seinen Status als Kronprinzen von Erebor gezeigt hatten, waren gelöst worden; er trug die Haare jetzt seinem Stand angemessen, und sie fielen ihm in blonden Wellen auf die Schultern. Die lederne Weste mit dem Pelzbesatz war verschwunden und einem neuen, leuchtend dunkelblauen Mantel gewichen, die Schnalle seines breiten Gürtels trug sein Wappen, seine neue Rüstung war mit Mithril und Silber verziert. Sie hatte beobachtet, wie ihm beides von Balin angelegt worden war, vor erst drei Wochen, als die Trauerzeit um gewesen und er zum König unter dem Berg gekrönt worden war. Hunderte hatten sich auf den Brücken in und um den Thronsaal versammelt, Gesandte aus verbündeten und anderen, nahestehenden Reichen von den Eisenbergen bis hin zu den Elben aus Düsterwald – selbst Thranduil war erschienen, in Begleitung seines Sohnes. Alle hatten gesehen, wie aus dem Kronprinzen, der vor dem Thron seiner Vorfahren kniete, und den vermutlich nicht wenige der Zwerge, die aus den Ered Luin angereist waren, hatten aufwachsen sehen, die Rabenkrone aufgesetzt worden war. Was sie nicht gesehen hatten – was wohl nur eine Mutter sehen konnte – war, wie seine Schultern kaum merklich herabgesunken waren, als Balin ihm den Mantel angelegt hatte, als sei das Gewicht zu schwer für ihn. Wie er, obwohl er sein bestes getan hatte, um einen neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten, sich auf die Wange gebissen und wie seine Hände gezittert hatten, als er seine Zöpfe gelöst hatte. Wie er beinahe über die eigenen Füße stolperte, als er die wenigen Stufen zum Thron hinaufgestiegen war, wie sein Blick nur für Sekundenbruchteile aber beinahe flehentlich zu seinem Bruder gehuscht war, als dieser, in die dunkelblaue Tunika eines Prinzen gekleidet, seinen Platz zur Rechten des Königs eingenommen hatte. Wie Kili das Gesicht verzogen hatte angesichts der Zöpfe, mit denen er seine Haare nun bändigen musste – er hatte es immer gehasst, sich die Haare flechten zu müssen, schon als er kaum hatte laufen können war er ihr oft genug entwischt, als sie es versucht hatte, und irgendwann hatte sie es aufgegeben… Das alles hatte niemand gesehen, ebenso wenig wie die Tränen, die Dís selbst in die Augen gestiegen waren, als sie an einen anderen jungen Prinzen hatte denken müssen, damals gut zwanzig Jahre jünger als ihr Ältester jetzt war, doch mit derselben Angst in den Augen, obwohl er sonst immer gut darin gewesen war, zu verbergen, was er dachte. Ihr Bruder war so jung gewesen, als er König geworden war, viel zu jung, und sie hatte nicht den Eindruck, dass ihre Söhne auch nur ansatzweise alt genug gewesen wären. Immerhin schien Nal Fili dabei recht gut unter die Arme zu greifen, obwohl sie anfangs auch an deren Alter gezweifelt hatte. Andererseits kannte sie die junge Zwergin, seit die in den Blauen Bergen als die Tochter von Thorins Hofschmied aufgewachsen war; innerlich rief sie sich in Erinnerung, dass es schlimmere Schwiegertöchter hätte geben können (Dain hatte immerhin schon eine politische Heirat mit den Eisenbergen angeregt – erst in Bezug auf Fili, dann in Bezug auf dessen Sohn, und nicht ohne Grund hatten sie ihn zum Teufel gejagt). Sie beobachtete, wie Nal Fili einen Becher Met einschüttete und anschließend den kleinen Thorin seiner Amme übergab, die ihn ins Bett brachte, bevor sie sich neben ihren Mann setzte und wieder nach Filis Hand griff. Sie lehnte sich zu ihm herüber und murmelte ihm etwas ins Ohr; tatsächlich zeigte sich ein schwaches Schmunzeln auf Filis Gesicht, das jedoch schlagartig wieder erstarb, als Dwalin ohne weitere Ankündigung ins Zimmer polterte. „Junge – du musst mit jemandem reden.“ Nals Augenbrauen zuckten ein wenig irritiert bei dieser Anrede, doch Fili richtete sich mit einem leisen Seufzen wieder auf. „Was gibt’s denn…?“ Erst jetzt fiel Dís auf, dass Dwalin nicht allein war; er war in Begleitung einer Zwergin erschienen, die ungefähr in ihrem Alter sein musste. Sie hatte halblange, dunkelbrauen Haare, die sie ebenfalls mit einem schwarzen Stoffband im Nacken zu einem schlichten Knoten geflochten hatte, und moosgrüne, tief liegende Augen, die mit einer Mischung aus Nervosität und Entschlossenheit blickten. Es dauerte eine Weile, bis Dís sich daran erinnerte, woher sie sie kannte – war sie nicht die Schwester eines der Zwergenveteranen aus Bree, die Thorin gelegentlich besuchte? „Hab‘ sie erwischt, als sie in die Halle der Ahnen schleichen wollte“, knurrte Dwalin und nickte zu dem winzigen Bündel, das die Zwergin in den Arme hielt, „Sie hat gesagt-“ „Mein Name ist Delren“, unterbrach ihn die Zwergin, „Tochter des Algrim. Und alles, was ich wollte, war, dass mein Sohn die Gelegenheit bekommt, einen Blick auf seinen Vater zu werfen, und sei es nur das steinerne Abbild auf dessen Sarkophag.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)