Die Zeit deines Lebens von dattelpalme11 ================================================================================ Kapitel 18: Abrechnung. ----------------------- I can see you now in shades of grey Thousand Needles, Louder. Lea Michele, 2014. 11. Juni 2010. Odaiba, Japan. Studentenwohnheim. Er war fassungslos. Da war er gerade mal eine knappe Woche zurück und schon blühte ihm Ärger. Gewaltigen Ärger. Und er war sich sicher, wem er es zu verdanken hatte. Wütend warf er sich aufs Bett und las immer wieder die gleichen Zeilen. Sehr geehrter Herr Kido, wir möchten Sie daran erinnern, dass Sie bis zum Ende des Monats Ihre Wohnung geräumt haben müssen. Er fühlte sich verarscht, aber was erwartete er auch von seinem Vater? Er akzeptierte wohl nur einen Sohn, der sein Medizinstudium ohne Murren durchzog und die Zähne zusammenbiss. Kaum hatte sich Joe gewehrt, stellte sein Vater prompt die Zahlungen ein. Er konnte sich noch gut daran erinnern, was sein Vater vor wenigen Wochen zu ihm gesagt hatte. „Wenn du das durchziehst, dann verlierst du sämtliche finanzielle Unterstützung! Also überleg es dir gut“. Natürlich hatte er nicht daran geglaubt, dass er es auch wirklich durchziehen würde. Schließlich war er immer noch sein Sohn. Ob er nun Medizin studierte oder nicht. Und jetzt lag er hier. Ende des Monats hatte er kein Dach mehr unter dem Kopf. Wahrscheinlich musste er jetzt unter einer Brücke schlafen und sich sämtliches Geld zusammenbetteln. Das konnte man wirklich mal einen Abstieg nennen. Vom Medizinstudent zum Straßenpenner. Er musste sich dringend etwas einfallen lassen. Doch in seinen alten Job als Auffüller wollte er sicherlich nicht zurückkehren. Auch wenn er damals nicht schlecht verdient hatte, merkte er schnell, dass diese Art von Job nichts für ihn war. Selbst den Rücken, hatte er sich einmal verhoben, als er mehrere Liter flüssiges Waschmittel auffüllen wollte. Einmal und nie wieder, dachte er damals, doch was sollte er jetzt nur tun? Er konnte doch wirklich nicht auf der Straße wohnen. Was sagte überhaupt seine Mutter dazu? Sie konnte es doch nicht befürworten, dass sein Vater seinen eigenen Sohn ins Unglück stürzen wollte. Selbst als er ihm an Weihnachten gesagt hatte, dass er sein Studium vorerst nicht weitermachen wollte, hatte er ihm immer noch die Wohnung und die Lebenshaltungskosten bezahlt. Aber anscheinend war das Ganze zu viel für seinen Vater. Das Fass war übergelaufen und sein Vater zog einen gnadenlosen Schlussstrich, ohne die Konsequenzen nur in Betracht zu ziehen. Für ihn war Joe wohl gestorben. Ohne Chancen auf eine Wiederbelebung. Doch was sollte er machen? Das weitermachen, was ihn Tagtäglich immer unglücklicher werden ließ? Er brauchte diese Pause, um sich klar zu werden, was er eigentlich wollte – auch wenn er bisher nur wusste, was er nicht wollte. Aber nichts desto trotz war es ein Anfang, der ihm neue Wege und Möglichkeiten aufzeigen sollte und keine Wohnungskündigung. Aber da hatte er wohl die Rechnung ohne den Wirt gemacht, der zuhause saß und sich um nichts Sorgen machen musste. Noch nicht mal um seinen Sohn, den er genaugenommen auf die Straße bugsiert hatte. Ein Gewissen? Das hatte sein Vater schon vor langem in die Tonne getreten. Alles was zählte, war eine Normvorgabe, der Joe nicht mehr entsprechen konnte. Nein, ihr nicht mehr entsprechen wollte. Er drehte sich zur Seite und warf das Stück Papier achtlos durch den Raum. Joe stöhnte genervt auf und drückte seinen Rücken noch ein wenig mehr in die Matratze. Wieso musste sein Leben nur so kompliziert sein? Wieso folgte hinter jedem Lichtblick ein neuer Regenschauer? Durfte er denn nicht einmal glücklich sein. Sein Leben so leben, wie er es immer wollte? Er kannte die Antwort und wusste, dass sie nicht „Ja“ sein konnte. Vielleicht wäre das zu einfach. Vielleicht wollte ihn das Leben einfach nur testen. Vielleicht sollte er lernen, was es bedeutete zu kämpfen. Dennoch wünschte er sich nur einen kleinen winzigen Wegweiser, der ihm zeigte, dass er in die richtige Richtung ging. Im Moment hatte er das Gefühl, nur noch Storm abwärts getrieben zu werden. „Wie sauer ist er?“ Er traute sich schon fast gar nicht zu fragen. „Von einer Skala von eins bis zehn. Zehn ist das Schlimmste.“ „Zwölf“, antwortete der Rotschopf trocken und nippte an seinem Kaffee. Matt schnaufte nur laut und ließ sich auf seinen Stuhl zurückfallen. Er hatte die Nacht bei einem Kommilitonen geschlafen, da er sich nicht traute nach Hause zu gehen. Wahrscheinlich hätte Tai ihn im Schlaf eigenhändig erwürgt, ohne das er die Möglichkeit gehabt hätte, sich zu erklären. Gut, er musste schon zugeben, dass die Situation für ihn im Moment nicht sonderlich rosig aussah, doch niemand wollte ihm auch so richtig zuhören. Deswegen hatte er sich mit Izzy in einem Café verabredet. Einer musste ihm doch zuhören. „Man, wie soll ich das nur wieder gerade biegen?“, fragte er sich selbst und raufte sich die Haare. Izzy runzelte die Stirn und kräuselte die Lippen. „Ich versteh wirklich nicht, warum du ausgerechnet was mit Kari hattest! Sie müsste doch fast wie eine Schwester für dich sein, oder habe ich da irgendwas verpasst?“ „So war das doch gar nicht. Wir haben nur geknutscht, da ich gemerkt habe, dass es sich falsch anfühlt“, verteidigte er sich und schlug die Hände dramatisch vor dem Gesicht zusammen. „Und warum hast du dich dann darauf eingelassen? Hast du vielleicht einen Moment an Tai oder TK gedacht?“, hakte Izzy empört nach. Takeru. Jeder hatte wohl in letzter Zeit mitbekommen, wie sehr er an Tais kleiner Schwester hin. Besonders nach der Kari-Ersatz-Geschichte. „Ich habe gar nichts gedacht. Ich habe etwas zu viel getrunken und sie war auch vollkommen drüber und eigentlich wollte ich sie doch nur nach Hause bringen“. „Hat ja prima funktioniert“. „Das brauchst du mir nicht zu sagen“, murmelte der Blonde und schnaubte. „Ich habe scheiße gebaut, aber auch sie hat sich so komisch verhalten“, begann er plötzlich zu erzählen und erinnerte sich an ihr außergewöhnliches Trinkverhalten. „Komisch?“, wiederholte Izzy mit hochgezogener Augenbraue. „Ja, sie hat sich vollkommen zulaufen lassen. Das ist überhaupt nicht ihre Art!“ Matt erinnerte sich auch an ihrer Worte bezüglich seiner Schwester. Es hatte ihn irgendwie mehr getroffen, als er eigentlich zu gab. Er brauchte sie wirklich nicht als Schwester zu bezeichnen, da er ja eine hatte, die er seit ihrer Geburt so gut wie ignoriert hatte. Auch wenn er sich fragte, woher sie diese Information hatte, wusste er, dass er vor seiner Familie nicht ewig weglaufen konnte. Auch TK musste er sich irgendwann stellen. Er war nicht nur wegen Kari sauer, sondern verklickerte ihm klipp und klar, dass er seine Einstellung zum Kotzen fand. Es war das erste Mal, dass sich Matt Gedanken über seine Familie machte. Er hatte sie immer als kaputt und unwiderruflich getrennt gesehen, doch mit Saya änderte sich die Sachlage. Sie war hier. Er konnte sie nicht länger ignorieren. „Hey, hörst du mir überhaupt zu?“, fragte Izzy ihn leicht verärgert und riss ihn aus seinen Gedankengängen. „Tut mir leid“, meinte er entschuldigend. Izzy hatte seinen Kaffee hingestellt und verschränkte die Arme vor der Brust. Natürlich wollte er irgendwie zwischen den beiden vermitteln, da es sich ja um seine Mitbewohner handelte. Doch auch er konnte sich schönere Freizeitbeschäftigungen vorstellen. Auch wenn er vorerst lieber nicht zu Yolei ging. Nachdem Ken sie erwischt hatte, fühlte er sich ganz unwohl in seiner Haut, obwohl ihm Yolei versicherte, dass er nichts sagen würde. Er wusste auch nicht, warum er sich so anstellte. Er mochte Yolei. Sehr sogar. Dennoch hatte er irgendwie Angst. Sie hatten sich auf eine Art Beziehung geeinigt, ohne es als solche zu benennen. Sie wusste, dass Izzy nur begrenzt für sie Zeit haben würde. Deswegen wollte er sie auch nicht gleich seine Freundin nennen, auch wenn es schon länger mit den beiden lief. So oft sahen sie sich gar nicht, um sich wirklich sicher sein zu können, dass es funktionieren würde. Vielleicht sah er auch alles viel zu verkrampft. Im Moment war es doch gut, so wie es war. Er hatte eigentlich keine größeren Probleme, angesehen von seinen Mitbewohnern. „Was hast du jetzt vor zu tun? Willst du noch mal mit ihm reden?“ „Ich weiß nicht, ob das im Moment eine so gute Idee wäre. Aber Tai wird wohl mein geringstes Problem bleiben“, antwortete der Blondschopf niedergeschlagen und spielte somit auf TK an. „Man, wie bescheuert. Wie konnte das Ganze nur eskalieren?“ „Keine Ahnung, aber irgendwas war komisch“, meinte Matt wieder und dachte angestrengt nach, doch er schien zu keiner Lösung zu kommen. Er wusste nicht was, aber etwas irritierte ihn, an Karis Verhalten. Sie wirkte auf ihn so zerbrechlich. Wie sie ihn ansah, so als ob ein Teil von ihr gestorben sei. Dieses Bild brannte sich in seinen Kopf ein und quälte ihn seither. Doch er wusste nicht, was er als Nächstes tun sollte. Zu Tai konnte er nicht gehen, ohne davon auszugehen wieder angefallen zu werden. Bei Takeru war es genauso. Und Kari wollte sicherlich nicht mit ihm reden wollen. Im Moment war er wirklich hilflos. Fast schon planlos. Doch etwas musste ihm doch einfallen. Ihm fiel immer etwas ein und so langsam kam ihm eine Idee, an wen er sich wenden konnte. Sie balancierte zwei Pizzaschachteln geschickt in Richtung Zimmer. Sie kramte ihre Karte hervor und trat ein. „Du liegst ja immer noch im Bett“, fiel ihr auf und musterte ihre Freundin besorgt. Sie stellte die Pizzen auf dem Tisch ab und setzte sich auf die Bettkante. „Willst du nicht mal langsam aufstehen? Gegessen hast du auch noch nicht wirklich was“, meinte sie besorgt und strich ihr über den Rücken. „Ich hab Pizza mitgebracht“. „Ich habe wirklich keinen Hunger“, antwortete sie schwach und merkte, wie schon wieder Tränen in ihren Augen aufstiegen und brannten. Schon den halben Tag lag Hikari im Bett und versuchte die letzten vierundzwanzig Stunden zu verdrängen, was ihr nicht sonderlich gut gelang. Zum Glück hatte Mimi ihrem Bruder ausreden können, sie heute besuchen zu kommen. Sich auch noch Taichi erklären? Dafür hatte sie wirklich keinen Nerv. Bei Mimi war es ihr ja schon schwer gefallen. Wie sollte es dann erst bei Tai werden? „Wirst du eigentlich nochmal mit ihm reden? Also mit Matt?“. Sie zuckte bei seinem Namen zusammen. Mit ihm reden? Niemals. Lieber würde sie schnellstmöglich das Land verlassen, was Mimi jedoch wohl kaum zulassen würde. Doch was sollte sie noch hier? Sie fühlte sich von Matt gedemütigt und bloßgestellt. Aber in Amerika würde es ihr sicher nicht anders gehen, wenn die Sache mit der Schwangerschaft herauskämme. Und es würde sicherlich herauskommen. Da war sich Kari sicher. Jeder war auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Hatte man nur einen kleinen Fehler begangen, wurde er gegen einen gewandt, ob man es nun wollte oder nicht. Am besten ging sie nach Afrika oder Australien. Da kannte sie keiner und sie könnte ohne Vorurteile von vorne anfangen. Doch das war eine Wunschvorstellung, die sich nicht erfüllen ließ. Erst seit sie wieder in Japan war, stellte sie fest, wie unglücklich sie die letzten Monate in Amerika war. Sie hatte sich selbst verloren. Mehr und mehr. Und leider gab es im Leben keinen Reset-Button. Wahrscheinlich würde sie schon vor ihrer Zeit in Amerika, einige Dinge anders machen. Sie hätte Davis damals nie für ihre Zwecke ausnutzen dürfen. Sie hätte Matt am besten gleich von ihren Gefühlen erzählen und sich prompt einen Korb eingefangen sollen. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Manchmal war ein Schrecken mit Ende doch besser, als Schrecken ohne Ende. Im Moment wünschte sie sich nur, aus diesem ellenlangen Alptraum endlich aufzuwachen. Sie ertrug es nicht mehr länger. Sie hatte genug. 12. Juni 2010. Odaiba, Japan. Takerus Zimmer. Davis stand mitten im Raum und schüttelte nur mit dem Kopf. Das Bild des Selbstmitleides, das sich ihm bot, war wirklich nicht mehr zum Aushalten. „Man TK, wie lange willst du noch vor dich hin vegetieren?“ „Davis, lass ihn doch!“, meinte Ken, der sich ebenfalls im Zimmer befand. Auch ihn schien irgendetwas zu bedrücken und Davis ahnte schon mit wem es zusammenhing. Yolei. Wie immer. Diese leidigen Themen. Immer dasselbe. Er war wirklich genervt. Dabei hatte er besonders TK immer wieder vor Kari gewarnt. Ihm gesagt, dass er sich bloß keine Hoffnungen machten sollte. Doch hörte er auf ihn? Hörte überhaupt jemals einer auf ihn? Wohl kaum. Und jetzt hatte er den Salat. Zwei unglückliche Mitbewohner und Yolei, die sich zurzeit nicht zu Hause befand. Er war dementsprechend auf sich alleine gestellt und alles andere als glücklich mit seiner Rolle als Motivationstrainer. Egal was er sagte oder tat, es veranlasste beide nur noch mehr in ihrem Trübsal zu versinken, obwohl er gar nicht wusste, welches Problem Ken eigentlich hatte. Doch sein Gesicht schien wohl wahre Bände zu sprechen. „Och was ist nur los mit euch? Ich will meine gutgelaunten, vor Optimismus sprühenden Mitbewohner wieder“, verlangte der Igelkopf schmollend und ließ sich neben TK nieder, der sein Gesicht in seine Matratze gedrückt hatte. „Wie konnte er mir das nur antun?“, murmelte er und drehte sein Gesicht zu seinen beiden Mitbewohnern. „Er wusste doch, dass ich sie mag“. „Ich weiß“, erwiderte Davis bedrückt. „Aber Kari ist auch nicht unschuldig. Ich meine, wer macht schon mit dem Bruder seines besten Freundes rum?“ „Man Davis“, grummelte der Blonde, „ich wusste doch, dass sie in ihn verliebt war. Das wusste doch jeder von uns“. „Aber hast du mir nicht erzählt, dass irgendwelche Spannungen zwischen euch waren?“ Spannungen. Er spielte auf das Babysitten an. Er hatte wirklich geglaubt, dass wenn Saya nicht geschrien hätte, es tatsächlich zu einem Kuss gekommen wäre. Doch das war wohl bloß Einbildung gewesen. Er bereute es, es ausgerechnet Davis erzählt zu haben. „Ich habe mich wohl verrannt“, gestand er sich ein und sah zu Ken, der auffällig mit dem Kopf schüttelte. „Nein“, sagte er plötzlich bestimmt. „Du weißt gar nicht alle Hintergründe. Davis hat nur einen Bruchteil gesehen, von dem was eigentlich passiert war. Und wenn du sie wirklich liebst, dann kämpfe!“ Davis Kinnlade klappte nach unten und er sah verstört zu seinem besten Freund. „Vergiss das mal schnell wieder! Sie wird dir das Herz rausreißen!“ „Woher willst du das denn wissen?“ „Ähm? Weil sie das Gleiche bei mir auch gemacht hat?“, erinnerte er ihn daran. „Vielleicht ist es bei ihm ja anders und TK meinte ja, dass Matt ihm alles erklären wollte“. „Hat er aber nicht und außerdem war das, was ich gesehen habe ziemlich eindeutig“, brummte er ärgerlich. Takeru verrollte währenddessen nur die Augen. Seine Mitbewohner waren wirklich unverbesserlich. Natürlich kannte er nur die Story, die ihm Davis erzählt hatte, aber Matt hatte es auch nicht abgestritten. Es war also etwas zwischen ihnen passiert. Etwas, was zwischen ihm und Kari wohl nie passieren würde. Er wusste nicht warum, aber es machte ihn nicht nur traurig, sondern auch fürchterlich sauer. Wieder und wieder fragte er sich, was Matt hatte und ihm fehlte. Wieso konnte Kari nicht sehen, dass er der Richtige für sie war? Derjenige, der sie auf Händen tragen würde, weil er so verliebt in sie war, sodass es bereits wehtat. Der Blonde biss sich auf die Unterlippe und merkte einen plötzlichen Umschwung. Er war wütend, aber nicht nur allein auf Matt. „Du solltest mit ihr reden“, schlug Ken vor. „Du solltest ihr die Meinung geigen“, warf Davis ein. Er sah unsicher zwischen beiden hin und her. Kari bedeutete ihm wahnsinnig viel. Natürlich wollte er wissen, ob er sich diese kleinen Signale nur eingebildet hatte und was wirklich zwischen den beiden geschehen war. Vielleicht wollte er auch endlich einen richtigen Schlussstrich ziehen. „Wisst ihr was, ihr geht mir ganz schön auf die Nerven. Ich werde das jetzt mit ihr klären. Sofort“, meinte er leicht aufgebracht, schwang aus dem Bett und verließ zügig den Raum. „Toll gemacht, Ken. Danach wird er sicher als Frack wiederkommen“, meinte Davis bissig und verließ ebenfalls den Raum. Ken sackte auf dem Stuhl, auf dem er die ganze Zeit schon saß, zusammen und schnaubte laut. Hatte denn jeder nur noch Probleme? Konnte man nicht einfach glücklich werden, wenn man es wollte? War das Universum wirklich ein solches Arschloch? „Bitte, ich brauche wirklich deine Hilfe“, bettelte er und wirkte auf sie sehr verzweifelt. „Okay, ich habe gleich Feierabend, aber ich muss noch auf Yolei warten“, meinte sie genervt, da ihre werte Kollegin mal wieder zu spät kam. Schon das zweite Mal diese Worte. Frau Minazuki war mal wieder nicht da und Sora musste den Laden so gut es ging alleine schmeißen, obwohl samstags meist Höchstbetrieb war. Und dann schlug auch ausgerechnet Matt bei ihr auf, der dringend einen Rat von ihr brauchte. Er wirkte nervös und sah so aus, als hätte er die Nacht nicht viel geschlafen. Doch Sora schwirrte immer noch Mimis wirre Idee durch den Kopf, die ihr helfen sollte, endlich Matt ein bisschen näher zu kommen. Jedoch wusste sie nicht, was sie von dieser ganzen Make-over Idee halten sollte. Auch was Matt von ihr wollte, interessierte sie brennend. Was wäre wenn er ihr beichtete, dass er sich in Mimi verliebt hatte? Ihr Herz würde wahrscheinlich augenblicklich versagen und sie in eine tiefe Depression verfallen lassen. Damit konnte sie wirklich nicht gut umgehen. Ihr Pokerface würde sehr wahrscheinlich sofort zusammenfallen und sie müsste sich die Blöße geben, dass er sie augenblicklich durchschauen würde. Und das war, das Letzte was sie wollte. Sie schaute zu Boden und trat leicht gegen ihre braune Tasche, die sie bereits geholt hatte. Wieder sah sie zur Uhr und bemerkte das Yolei eine ganze viertel Stunde zu spät war. Doch irgendwie war sie auch froh, dass sie nicht kam, da sie schon ein wenig Angst vor dem Gespräch mit Matt hatte. Er hatte sich mittlerweile an die Theke gehockt und fuhr sich durch die blonden langen Haare. Dann tippte er nervös mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte. Sie beobachtete ihn kurz und bemerkte recht schnell, dass er sich in einer ganz anderen Welt befand. So geistesabwesend kannte sie ihn gar nicht, doch sie traute sich nicht zu fragen, was los war. Sie schnaufte leicht, als plötzlich die Tür aufging und schnell wieder zugeschlagen wurde. „Tut mir leid, ich hab wohl die Zeit vergessen“, schnaufte eine aus dem Atmen gekommene Yolei. Ihre Ausreden waren so unkreativ wie immer, doch wenigstens hatte Sora jetzt endlich Feierabend und konnte sich auf wichtigere Dinge konzentrieren. Sie wollte gerade ihre Tasche aufnehmen, als Yolei entsetzt an die Theke herantrat. „Das du dich hierher traust ist echt sagenhaft!“, meinte sie entrüstet und starrte Matt wissend nieder. „Lass mich raten du weißt es schon?“ Es wissen? Was soll ausgerechnet Yolei wissen? Soras Augen sprangen geweitet zwischen beiden hin und her. Hatte sie etwas verpasst? „Davis hat es uns erzählt. Wie kannst du TK nur sowas antun? Hast du überhaupt keine Schmerzgrenze?“ „Davis?“, fragte er verwundert. Ach ja, da war ja noch was, erinnerte er sich dunkel. „Ich habe doch schon gesagt, dass es anders war, als es aussah“. „Ach und wie war es wirklich?“, wollte sie empört wissen. „Du hast also nicht mit der Schwester deines besten Freundes geschlafen?“ Sora ließ augenblicklich ihre Tasche auf den Boden fallen und sah sie geschockt an. Schwester seines besten Freundes? Tai… „Du hast mit Kari geschlafen?“, platzte aus ihr heraus, während sie sich geschockt die Hand vor den Mund hielt. „Nein, das habe ich nicht!“, verteidigte er sich lautstark. „Und warum läuft sie halbnackt aus dem Probenraum? Ich weiß, dass Davis nicht die zuverlässigste Quelle ist, aber DAS wird er sich wohl kaum ausdenken“, untermauerte Yolei und verschränkte die Arme vor der Brust. „Es ist aber nicht so weit gekommen! So ein Arsch bin ich jetzt auch wieder nicht!“ „Aber mit ihr rumgemacht hast du, wenn du schon nicht mit ihr geschlafen hast?“, bohrte Yolei weiter und schenkte Sora einen vielsagenden Blick, die sich immer noch in einer Art Schockstarre befand. „Ja, wir sind uns näher gekommen“, gab er schließlich zu. „Aber wir waren auch nicht mehr ganz nüchtern gewesen“. „Man kann nicht alles auf den Alkohol schieben“, sagte der selbsternannte Wirbelwind und verschärfte ihren Blick. Sie sah ihn so an, als wolle sie sein Gehirn röntgen, um festzustellen, ob er wenigstens jetzt die Wahrheit sprach. Doch zu einem Ergebnis kam sie nicht. Sora hingegen versuchte ihre wirren Gedanken zu ordnen, ohne gleich im Chaos zu versinken. Matt hatte etwas mit Kari? Dabei stand er doch auf Mimi, jedenfalls dachte das jeder. Unter diesen Umständen konnte sie nicht mit ihm reden. Nicht jetzt und auch nicht später. „Ähm…ich muss jetzt weg“, stammelte Sora und raffte ihre Tasche vom Boden. „Ich habe noch einen wichtigen Termin. Wir reden später, okay?“ Er sah sie irritiert an, doch sie stürmte schon an ihnen vorbei. „Sora? Jetzt warte doch mal!“, rief er ihr hinterher. Sie durfte jetzt nicht weinen, auch wenn es ihr wehtat. Deswegen beschleunigte sie ihre Schritte und war schon an der Ecke angekommen, als sie abrupt festgehalten wurde. Sie klammerte ihre Tasche fest an ihren Körper und scheute sich ihm in die Augen zu schauen. „Warum läufst du jetzt weg? Ist es wegen der Sache mit Kari? Ich kann das wirklich erklären!“ Sora presste die Lippen aufeinander und unterdrückte den Schmerz, der sich Intervallartig von ihrem Herzen aus ausbreitete. „Wieso hast du das gemacht? Sie ist Tais kleine Schwester!“ Doch sie musste ihn nicht daran erinnern, er wusste dass er Mist gebaut hatte. „Ich weiß. Es ist einfach so passiert“. „Bei dir passiert immer alles nur einfach so“, warf sie ihm an den Kopf und riss sich los. „Wie meinst du das denn?“, fragte er, doch sie hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Wieder lief er ihr hinterher und kam sich allmählich wie ein Dackel vor. „Man Sora! Warum bist du überhaupt so sauer? Ich habe doch gesagt, dass es nicht so war“. „Das sagst du immer“, antwortete sie bissig und drehte sich zu ihm. Sie blieb kurz stehen und fixierte ihn mit ihrem Blick. „Weißt du eigentlich wie viele Menschen du mit deinem Verhalten verletzt? Du stößt immer nur alle von dir und siehst gar nicht welchen Schaden du damit anrichtest!“ Ihre Worte trafen ihn hart, so als hätte sie ihn mit einem Stein beworfen. „Aber ich…“. „Spar´s dir. Ich glaube nicht, dass ich dir aus diesem Schlamassel helfen kann“, sagte sie fast schon flüsternd, doch er verstand jedes einzelne Wort. Sie ging weiter, ohne nochmal etwas zu ihm zu sagen. Matt blieb stehen und blickte ihr hinterher. Er schluckte und fuhr sich mit der Zunge über die Innenseite seiner trockenen Lippen. Das erste Mal seit langem, fühlte er sich allein. Er lief einen langen Flur entlang und stoppte abrupt an einer der vielen Türen. Er hob die Hand und wollte gerade klopfen, als er stoppte und sie wieder sinken ließ. Was sollte er nur sagen? Dass er von ihr und Matt wusste? Dass es ihm das Herz zerriss? Dass er mehr als nur Freundschaft für sie empfand? Takeru presste die Lippen aufeinander und schluckte die Zweifel hinunter. Sie war seine beste Freundin. Sie würde schon ehrlich zu ihm sein. Also klopfte er. Er klopfte ein zweites und auch ein drittes Mal, doch niemand öffnete. Wahrscheinlich war keiner da. Kari war sicherlich mit Mimi unterwegs und würde erst später wiederkommen. Vielleicht hätte er einfach vorher mal anrufen sollen, obwohl er sich ziemlich sicher war, dass sie nicht abgehoben hätte. Ein wenig enttäuscht, drehte er der Tür den Rücken zu und wollte gerade gehen, als sie sich doch öffnete. „TK?“, fragte eine brüchige Stimme. Er drehte sich herum und sah Kari, die ihn mit verweinten Augen ansah. „Was machst du denn hier?“ Der Blonde schob die Hände tief in seine Hosentasche und biss sich auf die Unterlippe. „Ich wollte nach dir sehen“, sagte er monoton, „wegen der Sache mit Matt“. Sie schaute beschämt zu Boden. Von Mimi wusste sie ja bereits, dass er es ebenfalls zu wissen schien. Und jetzt war er hier, gerade als Mimi Essen holen wollte. Super Timing. „Kann ich vielleicht rein kommen?“ Sie nickte nur schwach und ließ ihn, wenn auch wiederwillig, hinein. Als er an ihr vorbei ging, kitzelte sein Parfüm in ihrer Nase, und sie erinnerte sich dunkel daran, dass sie es ihm einmal geschenkt hatte. Kari schloss schwerfällig die Tür, während Takeru sich in dem Zimmer etwas umschaute. Es war nicht besonders wohnlich, sondern eher zweckmäßig eingerichtet. Ein paar Bilder hingen an den Wänden, doch Takeru gefielen sie nicht wirklich. Noch weniger gefiel ihm die Situation, in der er sich jetzt befand. Mimi war nicht da, sie waren also ganz alleine und eine beißende Stille schwebte im Raum. „Wo ist denn Mimi?“, fragte er nur um das Schweigen zu brechen. „Essen holen“, antwortete Kari knapp und schaute zu Boden. „Was willst du hier? Willst du mir eine Standpauke halten?“ „Nein“, antwortete er nüchtern, „aber ich will wissen, was zwischen euch passiert ist.“ „Man TK ich will nicht darüber reden“, zischte sie aufgebracht und unterdrückte wieder die aufkommenden Tränen. „Es war einfach nur demütigend“. „Hast du mit ihm geschlafen?“ „Nein“. „Wolltest du mit ihm schlafen?“ Sein Blick fixierte sie, so als wolle er sie wie ein Lügendetektor scannen, doch sie wich seinen Blicken immer wieder aus. „Warum interessiert es dich? Wir haben es ja schließlich nicht getan!“ „Gut, beantwortest du mir dann eine andere Frage?“, wollte er plötzlich von ihr wissen. Sie sah ihn kurz an. Seine blauen Augen spiegelten Sehnsucht und Traurigkeit wieder, doch sie konnte nur die Traurigkeit erkennen. „Was für eine Frage?“ „Als wir auf Saya aufgepasst haben…“ Sie ahnte schon auf was er hinaus wollte. Ihr Körper begann zu zittern und ihre Handflächen wurden auf einmal ganz feucht. „Was war da zwischen uns?“ Sie presste die Lippen aufeinander und spürte wie sich eine warme Träne ihren Weg an ihrer Wange hinunter bahnte. Was sollte sie sagen? Sie wusste es doch selbst nicht. Sie wollte diesen Nachmittag am liebsten schnell vergessen, weil sie an Dinge dachte, an die sie nicht denken sollte. Und dann auch noch seine Aussage mit der guten Mutter…das war zu viel. „Takeru…wir sind Freunde. Mehr nicht“. Doch noch nicht mal sie, fand ihre Aussage glaubwürdig. An diesem Nachmittag war vieles passiert, dass sie verwirrt hatte, aber nicht wahrhaben wollte. „Gut, das wollte ich nur wissen“, meinte er unterkühlt und wollte gerade an ihr vorbei gehen, als sie seinen Arm festhielt. „Hikari, lass bitte los“, forderte er sie auf und schaute in die andere Richtung. „Warum wolltest du genau das wissen? Bist du etwa…?“ Sie traute sich nicht, den Satz aussprechen. In ihrem Kopf herrschte pures Chaos. Ihr Herz schlug wild, obwohl es eigentlich keinen Grund dazu hatte. „Lass mich bitte los!“ Sein Ton wurde dringlicher. Seine Stimme war fordernd und wirkte kühl. „Nein, erst sagst du mir, ob es stimmt oder nicht!“ Er schnaufte kurz und schüttelte mit dem Kopf. „Ich habe immer gedacht, dass du es eher merkst, aber da war ich wohl auf dem Holzweg!“ Sie ließ ihn abrupt los und ihr Gesicht versteinerte sich. „W-Wie lange?“, stammelte sie verunsichert und versuchte seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Doch er sah sie weder an, noch veränderte seine Mimik. Sein Gesicht blieb starr. „Wie lange?“, wiederholte er und lachte leise. „Du fragst ernsthaft wie lange?“ In ihm wuchs eine unfassbare Wut heran. Er erinnerte sich an den Abend, an dem er ihr seine Liebe gestehen wollte. Die Zeit in der sie „ach so glücklich“ mit Davis zusammen war. An den Tag, an dem sie ihm pitschnass gestand, in wen sie wirklich verliebt war. „Eine halbe Ewigkeit, aber dann bist du mit Davis zusammen gekommen und alles hat sich verändert“. „Mit Davis? Aber das ist doch schon knapp drei Jahre her“, erinnerte sie sich. „Wieso hast du mir nie etwas gesagt?“ „Wann hätte ich denn was sagen sollen?“, brüllte er. „Du warst verdammt nochmal in meinen Bruder verliebt!“ Kari fasste sich an den Kopf und ließ die letzten paar Jahre Review passieren, in denen sie Takeru wegen ihrer unglücklichen Liebe zu Matt die Ohren vollgeheult hatte. Und er hatte sich nicht ein einziges Mal beschwert, sondern ihr immer, bis zum Erbrechen, zugehört. „Es tut mir leid“, murmelte sie geistesabwesend. „Hätte ich es nur gewusst, dann…“ „Dann hätte sich doch auch nichts geändert. Du stehst immer noch auf Matt und ich habe gedacht, dass es sich im letzten Jahr geändert haben könnte“, spottete er und fuhr sich durch die blonde Mähne. „Was hat er denn, was ich nicht habe? Kannst du es mir sagen oder ist es einfach so?“ „TK…ich…“. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Warum stand sie auf Matt? Die Frage hatte sie sich nie wirklich gestellt. Sie hatte sich einfach in ihn verliebt, weil er sie mit seiner Musik berührte und sie ihn vielleicht auch ihr halbes Leben kannte. So wie Takeru. „Diese Frage kannst du mir nicht beantworten, richtig?“ Sie nickte nur und senkte den Kopf. Nach der Sache mit Matt, wusste sie überhaupt nicht mehr, ob sie überhaupt richtig in ihn verliebt war oder nur einer jahrelangen Schwärmerei hinterher jagte. Genaugenommen wusste sie doch gar nicht, was man als Liebe bezeichnen konnte und was nicht. „Ich werde jetzt besser gehen“, eröffnete er ihr und legte die Hand auf die Türschlenke. „Aber wir können das doch nicht einfach so im Raum stehen lassen. Du bist doch mein bester Freund!“ Er umklammerte die Türschlenke noch fester. „Ich weiß, aber im Moment glaube ich, dass unsere Freundschaft so keinen Sinn hat“. Ihre Augen weiteten sich. Hatte er das gerade wirklich zu ihr gesagt? „Was?“, sagte sie fast flüsternd. „Was soll das heißen?“ „Das ich ein wenig Abstand von dir brauche, Hikari“, meinte er, wandte ihr kurz sein Gesicht zu und öffnete die Tür. „Tut mir leid“. Sie stand mit geöffneten Mund vor ihm und suchte nach anständigen Wörtern, um einen Satz bilden zu können. Doch nichts schien passend zu sein. Er lächelte traurig und verschwand aus der Tür, ohne sich von ihr zu verabschieden. Erst als er die Tür hinter sich zuschlug, realisierte Hikari die Situation. Tränen brannten sich ihre Wangen hinunter und tropften auf den hellen Teppichboden. Hatte sie gerade tatsächlich ihren besten Freund verloren? „Wirklich ungewöhnlich, dass ich dich ausgerechnet in der Hotellobby treffe“, meinte sie schiefgrinsend und hielt in ihren Händen zwei Transportboxen mit asiatischem Essen. „Okay, ich geb´s zu. Ich wollte zu Kari und hab dich gerade zurückkommen gesehen. Ich wollte mal sehen, wie es ihr geht“. „Ich konnte sie gestern ein wenig beruhigen, aber trotzdem…“, sie stoppte abrupt. Sollte sie Tai sagen, dass Kari in Matt verliebt war? Würde es etwas an der Situation ändern? „Aber trotzdem?“ „…ist sie noch sehr traurig“, beendete sie den Satz und Taichi hob direkt die Augenbraue. „Manchmal könnte ich ihm wirklich den Hals rumdrehen“, grummelte er angesäuert und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Hast du nochmal mit ihm geredet?“ „Ganz sicher nicht. Wahrscheinlich würde ich mich auf ihn drauf stürzen“, erklärte er alarmierend und wedelte wild mit den Händen. „Aber ich werde sehr wahrscheinlich noch mal mit ihm reden. Auch wenn ich nicht garantieren kann, ihm die Fresse zu polieren“. „Okay, mach mal halblang“, lachte Mimi und zückte die Schlüsselkarte. „Vielleicht redest du wirklich erst mal mit Kari“. Sie hoffte, dass sie ihm ebenfalls die Wahrheit sagen würde. Generell hoffte sie, dass sie sich jemandem anvertrauen würde. Auch wegen der Sache mit dem Baby. Mimi drückte die Tür auf und blieb plötzlich wie angewurzelt im Raum stehen. Auch Tai der direkt hinter ihr stand, machte ein verstörtes Gesicht. „Okay welche Bombe ist denn hier eingeschlagen?“ Überall lagen Klamotten und ein Koffer lag ebenfalls mitten im Raum. Die Schubladen waren aufgerissen und wurden durchwühlt, so als hätte jemand etwas gesucht. Und Mimi konnte sich schon denken, was es war. „Kari?“, rief sie durch das Zimmer und stellte das Essen ab. Sie blickte durch das Zimmer und blieb an der Badezimmertür hängen. Zielstrebig steuerte sie darauf zu und wollte sie gerade öffnen, als sie auf einmal aufgerissen wurde. „Du bist ja schon da“, stammelte sie und blieb direkt vor ihr stehen. Ihre Schminke war leicht verschmiert und ihre Augen waren wieder stark gerötet. Tai bemerkte sie anfangs gar nicht. „Was ist los? Was machst du denn mit deinen ganzen Sachen?“ Mimi deutete auf ihren Kulturbeutel, den sie in ihren Händen trug. Kari verrollte nur die Augen und drückte sich an ihr vorbei. „Ich packe. Ich will hier weg!“ Diese Geschichte schon wieder, dachte sich die Brünette genervt. Warum dachte sie denn immer, dass sie vor ihren Problemen weglaufen könnte? Sah sie nicht, dass sie sie früher oder später einholen würden? „Was machst du da?“, fragte nun auch Taichi, der vollkommen verloren in Zimmer stand und auch endlich von seiner Schwester registriert wurde. „Was machst du denn hier?“, fragte sie fassungslos und ließ ihren Kulturbeutel geräuschvoll in ihren Koffer fallen. „Warum bringst du ausgerechnet Tai mit?“ „Weil er sich Sorgen um dich macht. Du solltest ihm sagen, was wirklich zwischen dir und Matt vorgefallen ist!“ Wirklich? Wie meinte sie das nun schon wieder? Gab es auch unwirkliche Handlungen? Hatte Matt etwa recht gehabt und es war tatsächlich anderes abgelaufen, wie es Takeru beschrieben hatte? „Was ist zwischen euch passiert? Jetzt sag schon!“, meinte er fordernd und starrte sie nieder. „Könnt ihr mich nicht alle in Ruhe lassen?“, brüllte sie und verschluckte dabei ihre eigene Stimme. Warum stand sie plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit? Wieso konnte sich nicht jeder für seinen eigenen Kram interessieren? „Man Kari, wir meinen es doch nur gut mit dir“, versuchte Mimi die Situation zu beruhigen, doch Kari redete sich in Hysterie. „Ich habe aber keine Lust mehr! Du kannst mir nicht immer sagen, was ich zu tun und zu lassen habe“, blaffte sie Mimi an. Dann drehte sie sich Taichi zu. „Und du kannst mich nicht vor allem und jedem beschützen. Ich bin neunzehn und kann alleine auf mich aufpassen!“ Daraufhin lief sie an Mimi vorbei und rannte ins Badezimmer, um sich mal wieder einzusperren. So langsam wurde es eine Art Angewohnheit von ihr. Sie hörte noch wie Tai und Mimi ihren Namen riefen und gegen die Tür hämmerten. Doch sie hielt sich die Ohren zu und sackte die Tür langsam hinunter. Kari ertrug es nicht mehr länger. Ihre Geheimnisse machten sie krank. Wütend stürmte er den langen Krankenhausflur entlang. Gestern war er im OP gewesen, doch heute wollte sich Joe nicht abwimmeln lassen. Zielstrebig lief er zum Büro seines Vaters und öffnete die Tür ohne anzuklopfen. „Na, das ist ja eine Überraschung“, meinte dieser unterkühlt und widmete sich wieder seinem Papierkram. „Eine Überraschung?“, wiederholte Joe augenverdrehend. „Du scheinst wohl in letzter Zeit wirklich, was mit Überraschungen am Hut zu haben“. „Ich weiß nicht, was du meinst“. Er hatte noch nicht mal hochgeschaut. Joes Wut auf ihn stieg ins Unermessliche. Wie konnte er nur so zu ihm sein? Schließlich war er doch sein Sohn. Hatte er für ihn überhaupt kein Stückchen Empathie mehr übrig? „Du hast mir mein Zimmer im Studentenwohnheim gekündigt“, sagte er aufbrausend, versuchte sich jedoch automatisch wieder zu beruhigen. Doch wenn er die Gleichgültigkeit seines Vaters wahrnahm, brachte es sein Blut nur noch mehr zum Kochen. „Du hast dich doch dazu entschieden, nicht mehr weiter zu studieren. Also, wozu brauchst du noch ein Zimmer im Studentenwohnheim?“, fragte er verständnislos und sah kurz auf. „Ich will doch weiterstudieren, nur eben nicht Medizin!“ „Und was willst du stattdessen machen?“ Er hielt kurz inne. Natürlich hatte er sich schon Gedanken gemacht, aber er wusste nicht, ob er sie mit seinem Vater teilen wollte. Wahrscheinlich würde er seine Träume gleich in der Luft wieder zerreißen. „I-Ich dachte daran Psychologie zu studieren“. „Psychologie? Du willst ein Anstandswauwau für Gestörte werden?“ Es ein Spontangedanke. Vielleicht auch nicht. Wahrscheinlich reifte diese Überlegung schon lange in seinem Kopf heran. Maggie, die er auf seiner Fahrt mit dabei war, erzählte ihm, dass sie Psychologie studierte und wie begeistert sie davon war. Er fand die menschliche Psyche auch schon immer sehr interessant und hatte bereits in einigen Medizinvorlesungen darüber etwas gehört. Er hatte es immer mit großem Interesse mitverfolgt. Und vor ein paar Tagen durfte er sogar eine Vorlesung in Psychologie besuchen, die die Thematik einer narzisstischen Störung beinhaltete. Es war sehr interessant zu hören, dass sich solche Störungen meist schon im Säuglingsalter ausbildeten und einen das ganze Leben beeinträchtigten. Jemand, der eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hat, hat meist eine sehr verzerrte Wahrnehmung, ist äußerst arrogant und sieht die Fehler nie bei sich selbst. Auch Beziehungen zu anderen, sind eher schwierig, da man sich meist nur für seine eigenen Bedürfnisse interessiert. Wie sein Vater. „Für Gestörte? Wie respektlos sprichst du über Menschen, die Hilfe brauchen? Ich will nicht wissen, wie du deine Patienten nennst!“ „Hmpf. Joe lass es einfach, du hast nicht das Zeug dazu. Dazu fehlt dir wirklich der Mumm“. „Wie bitte?“ „Und ohne finanzielle Unterstützung wirst du es sowieso nicht schaffen“, tönte er abfällig. „Dann werde ich halt arbeiten gehen“, knurrte er und bemerkte, dass seine Oberlippe vor Wut schon zitterte. Traute er ihm wirklich überhaupt nichts zu? „Arbeiten? Du? Das ist doch wohl ein Witz!“ Joe presste seine zitternden Lippen aufeinander und hoffe nicht gleich wie ein Vulkan zu explodieren. Ja, er war nicht sonderlich stark oder handwerklich geschickt, aber er konnte Arbeiten gehen! Sein Vater sah in ihm wohl eine einzige Enttäuschung. „Wenn du das durchziehst, bist du die längste Zeit mein Sohn gewesen!“, warf er ihm relativ unerwartet an den Kopf. „Was? Willst du mich etwa verleugnen?“ „Ich werde dich auf jeden Fall enterben, wenn du nicht wieder vernünftig wirst“. Vernünftig, was hieß das bei ihm? Nach seiner Pfeife tanzen? Sich als Individuum komplett aufzugeben? So zu werden wie er? Nein. Soweit sollte es nicht kommen. „Dann mach das so, wenn es dich glücklich macht!“, meinte er mit zitternder Stimme. „Ich hatte wohl die längste Zeit einen Vater gehabt, obwohl du nie wirklich für mich da warst.“ Er machte eine kurze Pause und bereitete sich innerlich auf seine letzten entscheidenden Worte vor. „Für mich bist du gestorben!“, eröffnete er ihm mit schwerer Stimme. Sein Vater sah ihn unbeeindruckt an und zuckte beiläufig mit den Schultern. „Gut, wenn du es so haben willst“. Joe sagte daraufhin nichts mehr und verschwand aus seinem Büro. Sein Vater war definitiv ein Narzisst. Doch er hatte es geschafft. Er war frei. Es war früh morgens, als ihn das Klingeln seines Handys aus dem Schlaf riss. Er rieb sich schlaftrunken die Augen, schaute kurz zur Uhr. Kurz vor fünf. Etwas mürrisch hob er ab. „Hallo?“ Er hörte nur ein leises Wimmern am anderen Ende der Leitung. „Wer ist denn da?“, fragte er schläfrig und wollte gerade auflegen, als er Karis Stimme erkannte. „Wallace, ich habe Mist gebaut“, säuselte sie in den Hörer und wirkte auf ihn unfassbar zerbrechlich. „Was ist passiert?“ Sie erzählte ihm unter Tränen die Kurzfassung, bis ihre Stimme komplett abbrach und durch ein lautes Schluchzen ersetzt wurde. Wallace wusste nicht, was er daraufhin sagen sollte. Es war wirklich nur eine Frage der Zeit, bis sie alles einholen und sie komplett durchdrehen würde. „Ich wollte das nicht“, wimmerte sie heiser. „Ich wollte doch nur alles vergessen!“ Doch vergessen konnte sie es nicht. Das wusste Wallace. „Kari…“, wisperte er in den Hörer und bemerkte, dass ihr Schluchzen wieder schlimmer wurde. Er musste sich dringend etwas einfallen lassen. „Wie wäre es, wenn ich nach Japan komme?“, schlug er plötzlich vor und war über seine plötzliche Spontanität selbst sehr überrascht gewesen. Klar, er wollte noch seinen Vater, seine Stiefmutter und seine kleine Halbschwester besuchen kommen, aber eigentlich hatte er seinen Besuch erst für Ende Juli geplant gehabt. „Das würdest du für mich tun?“, fragte sie einen kurzen Moment später. Wallace nickte, obwohl er wusste, dass sie es nicht sehen konnte. „Für dich würde ich alles tun“, sagte er und merkte erst danach, wie bescheuert es sich anhörte. Doch er wusste, dass sie ihn brauchte. Er war einer der wenigen, der die Wahrheit kannte. Und er wusste etwas, was er ihr doch lieber persönlich sagen wollte. Fortsetzung folgt... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)