Die Zeit deines Lebens von dattelpalme11 ================================================================================ Kapitel 24: Zusammenbruch. -------------------------- You weren't there, you let me fall. So What, Greatest Hits...So Far. Pink, 2010. 07. Mai 2010. New York, Studentenwohnheim. Ein forderndes Klopfen trieb sie aus dem warmen Bett. Vor wenigen Sekunden hatte sie noch unter der Decke gelegen und auf ihrem Laptop einen kitschigen Liebesfilm geschaut, der sie sehr deprimierte. April war mit Peter ausgegangen und Wallace wollte ihr später noch Gesellschaft leisten. Er hatte sich heute noch mit ein paar Kommilitonen zum Fußballspielen verabredet, doch sie hatte keine Lust mit in den Park zu kommen, da sie sich sehr müde und ausgelaugt fühlte. Für den Moment dachte sie, dass Wallace bereits vor ihrer Zimmertür stand, doch meist klopfte er nur ein einziges Mal und wartete darauf, dass Hikari ihm öffnete. Misstrauisch stand sie davor und erschrak vor der Intensität der Schläge, die ihre Tür aushalten musste. Zögerlich legte sie die Hand auf die Klinke und drückte sie hinunter. Ohne groß darüber nachzudenken, öffnete sie sie und stand einem wutentbrannten Michael gegenüber. „Was machst du denn hier?“, fragte sie verwirrt, als er sich an ihr vorbeipresste und die Tür hinter sich schloss. „Carter weiß von dem Baby und er hat mir erzählt, dass du es behalten willst! Bist du geisteskrank?“ Perplex starrte sie ihn an und zögerte etwas zu sagen. Wieso wusste Carter von dem Baby? Ging dieses Gerücht etwa bereits auf dem Campus herum? „Ich…“, stammelte sie und scheute sich, Michael in die Augen zu sehen. Dieser tobte nur und gestikulierte wie ein Wahnsinniger mit seinen Händen. Wütend stapfte er mit dem Fuß auf und schien die Kontrolle über sich verloren zu haben. „Du kannst dieses Balg nicht behalten! Ich will kein Kind!“ „Aber…“ „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich mich darum kümmern werde?“ Er deutete auf ihren Bauch und Kari legte automatisch schützend die Hände darüber. „Treib’s ab! Das ist besser so. Oder willst du als Assimutter in die Geschichte eingehen“, spottete er überheblich, als sich in Kari auf einmal ein Schalter umlegte. „Ich werde aber nicht abtreiben! Das Baby hat genauso ein Recht auf dieser Welt zu sein wie wir. Auch wenn es ungeplant war! Das du sowas von mir verlangst, ist wirklich unverzeihlich!“ Sie wich ein paar Schritte zurück, hielt sich immer noch den Bauch und fixierte ihn. „Ich werde nicht abtreiben!“, meinte sie standhaft. Michael gab nur einen verächtlichen Ton von sich. „Und wie willst du das machen, wenn es da ist? Dir das Baby um den Bauch binden und so weitermachen wie zuvor? Das wird nicht funktionieren!“ „Das weiß ich selbst! Aber das ist meine Sache! Ich brauche dich nicht, um das durchzuziehen!“, sagte Kari nüchtern. „Du wirst dich noch umsehen! Keiner wird noch mit dir etwas zu tun haben wollen, wenn ich mit dir fertig bin“, drohte er und schritt näher an sie heran. Ihr wurde auf einmal warm, doch sie wollte sich nicht von ihm unterkriegen lassen. Sie würde sowieso nicht hier bleiben. Das einzige Problem, dem sie sich noch stellen wollte, war Mimi. Sie verdiente die Wahrheit, auch wenn sie sie hinterher sehr wahrscheinlich hassen würde. „Ich werde Mimi die Wahrheit sagen“, platzte es aus ihr hervor. Michael erstarrte. „Du willst was?“ „Ich kann sie nicht länger anlügen!“, erwiderte sie ernst genug, sodass Michael die Panik überrollte. „Das kannst du nicht machen“, brüllte er aufgebracht und packte ihren Arm. Er drückte ihn so fest, sodass Kari von der Angst ergriffen wurde und sich schmerzvoll hin und her wandte. „Lass mich los“, schrie sie, als sein Griff immer fester wurde und er auch ihren anderen Arm ergriff. „Nein“, antwortete er nur. Ihre Blicke trafen sich und Kari konnte eine Mischung aus Wahnsinn und Verzweiflung in seinen Augen lesen. Angsterfüllt sah sie ihn an und zuckte zusammen, als er sie wieder anschrie und ihr zu verstehen gab, dass Mimi davon nichts erfahren sollte. Vielleicht hätte sie in diesem Moment einfach kleinbeigeben sollen, damit er sich wieder beruhigen konnte, doch sie konnte sich nicht mehr alles gefallen lassen! Daher schubste sie ihn unsanft von sich weg, sodass er ins Straucheln kam und mit voller Wucht gegen eines der Regale stieß. „Bist du irre?“, fragte er aufgebracht, als er wieder zum Stehen kam. Kari selbst war sehr überrascht über ihre Reaktion gewesen und stand hilflos mitten im Raum, als er wieder auf die zugesteuert kam und erneut packte. Diesmal war sein Griff um einiges fester als das erste Mal und er schüttelte sie leicht, um seiner Verzweiflung Luft zu machen. „Du darfst es ihr nicht sagen. Das kannst du nicht machen! Das würde alles kaputt machen!“, untermalte er felsenfest und das Gerangel der beiden wurde immer intensiver. Kari wimmerte nur vor Angst, da sie merkte, dass er sich kaum noch unter Kontrolle hatte. Wuchtig riss er sie herum, Kari stolperte über ihre eigenen Füße und kam ins Straucheln. Abrupt ließ Micheal sie los, um nicht auch noch auf den Boden zu stürzen. Geräuschvoll landete sie auf dem harten Laminat und blieb benommen liegen. Erschrocken starrte er auf sie hinab und sah, dass sie eine kleine Platzwunde am Kopf hatte, aus der nur ein wenig Blut tropfte. Kari rührte sich leicht, als Michael von erneuter Panik ergriffen wurde, die Tür aufriss und aus dem Zimmer rannte. Die junge Yagami schlug die Augen auf und war noch leicht benommen, als sie sich auf einmal auf dem Boden wiederfand. Langsam versuchte sie sich aufzurichten, als ein plötzlicher Schmerz durch ihren Unterleib schoss und sie in ihren Bewegungen gefrieren ließ. Sie schluckte, doch der Schmerz verschwand nicht. Mühselig robbte sie auf dem Fußboden herum, bis sie ihr Bett erreichte und sich daran hochzog. Der Schmerz wurde unerträglich und hinderte sie am Stehen. Wieder sackte sie zusammen und blieb regungslos sitzen. Sie hielt sich die flache Hand vor den Mund, um nicht lauthals loszuschreien. Mit der anderen Hand hielt sie sich den Bauch und vergrub ihre Fingernägel in ihrem schwarzen Shirt. Ihr Blick richtete sich nach unten. Ihre Augen weiteten sich unter Schock, als sie auf ihrer hellbeigen Jogginghose einen mittelgroßen Blutfleck entdeckte. Tränen brannten sich in ihre Augen, als sie mit dem Finger darüber fuhr und feststellte, dass er frisch war und sich nicht schon vorher auf der Hose befunden hatte. Ihr Körper verkrampfte sich augenblicklich und Panik machte sich in ihr breit. Ihr Baby. Etwas stimmte hier nicht. Schwerfällig robbte sie sich Richtung Badezimmer und schaffte es mühselig auf die Toilette. Sie schaffte es ihre Hose abzustreifen, die ihr nun bis zu den Kniekehlen hing. Ihre Unterhose war blutdurchdrängt. Kari biss sich auf die Unterlippe und war überfordert mit dem, was gerade mit ihr geschah. Was hatte das nur zu bedeuten? Es war definitiv zu viel Blut… Sie sackte zusammen und landete mit heruntergezogener Hose aus dem kalten Fliesenboden. Die Schmerzen breiteten sich intervallartig aus, wurden schlimmer und schlimmer, sodass sie krampfhaft ihren Bauch hielt und schmerzverzerrt nach Luft schnappte. Tränen rannen ihr unkontrolliert über die Wangen, als sie einen Schmerzensschrei ausstieß und auf dem Boden zusammenbrach. Es hatte gerade angefangen zu regnen, als Wallace sein Wohnheim verlassen hatte und den Weg zu Kari einschlug. Alles hatte sich schlagartig verändert. Wallace wusste bereits von Karis Entscheidung und hatte beschlossen, sie zu unterstützen. Auch wenn er immer noch geschockt war, dass sie ausgerechnet mit Michael, Mimis Ex, geschlafen hatte. Etwas störte ihn an dieser ganzen Geschichte. Es war ein Puzzleteil, das nicht dazu passte. Eine winzige Kleinigkeit, die möglicherweise Licht ins Dunkele bringen würde. Doch es war passiert. Die Konsequenzen trug Kari unter dem Herzen. Er war einer der ersten, der von ihrer Entscheidung erfahren hatte. Beim letzten gemeinsamen Mittagessen hatte sie ihn eingeweiht, ihre zukünftigen Pläne verraten und wie sie versuchen wollte, sie umzusetzen. Ein hartes Stück Arbeit lag vor ihr, doch Wallace konnte verstehen, warum sie so handelte. Das Baby war ein Teil von ihr. Auch wenn es nicht geplant war. Kari war ein Mensch, der die Verantwortung übernehmen wollte. Micheal war das komplette Gegenteil. Auch er hatte Mist gebaut, doch ihm waren die Konsequenzen egal. Alles was ihn interessierte, war er selbst. Ein wahrhaftiger Egoist eben. Wallace rannte über den Hof und gelangte etwas durchnässt in den Flur des Mädchenwohnheims. Er stiefelte die Treppen hinauf und bog in den Flur ein, in dem sich Hikaris Zimmer befand. Auf dem Flur erkannte er plötzlich seinen eigenen Mitbewohner, Händchen haltend mit einer hübschen Blondine. Ein Lächeln zog sich über seine Lippen und er holte sie schnell ein. „Hey, seid ihr auch nass geworden?“, fragte er grinsend, als er sie erreicht hatte. Etwas erschrocken drehten sich die beiden zu ihm um. „Man, musst du dich immer so anschleichen?“, fragte Peter etwas patzig und verschränkte die Finger in Aprils. Sanft lächelte sie ihn von der Seite an. „Warst du noch nicht bei Kari?“, vergewisserte sich April überrascht. Wallace kratzte sich unbeholfen am Kopf und erinnerte sich daran, das er beim Fußballspielen komplett die Zeit vergessen hatte. „Ich war gerade auf dem Weg zu ihr. Und ihr? Seid ihr in den Regen gekommen?“ „Hör mir bloß auf“, knurrte April und die drei setzten ihren Gang zum Zimmer fort. „Wir haben kein Taxi bekommen und mussten den ganzen Weg vom Kino aus hierher laufen“. „Das erklärt die durchgeweichten Klamotten“, grinste Wallace und stellte fest, dass er durch ihre Bluse leicht hindurchsehen konnte. Peter entging sein Blick natürlich nicht und er funkelte ihn bösartig an. Schnell wandte Wallace den Blick von ihr und lief etwas rötlich um die Nase an. Er hätte nicht so intensiv starren sollen. Wallace war daher froh, als sie die Zimmertür der beiden Mädchen endlich erreichten und April aufschloss. Nichtsahnend und gut gelaunt traten sie ein, doch das Chaos auf dem Boden entging ihnen nicht. „Was ist denn hier passiert?“, fragte April entsetzt und schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. Einige Bücher waren aus dem Regal gefallen und von Hikari fehlte jegliche Spur. Wallace drückte sich an den beiden vorbei und rief nach ihr, doch er bekam keine Antwort. „Wollte sie noch irgendwo hin?“, wollte er von April wissen, die nur den Kopf schüttelte. „Wo ist sie denn? Und warum sieht es hier so wüst aus?“ April und Peter zuckten nur sprachlos mit den Achseln, während er bereits begann, die Bücher aufzuraffen und sie wieder ins Regal einzuräumen. „Ich werde mal im Badezimmer nachsehen“, schlug April vor und setzte sich in Bewegung. Wallace kramte sein Handy aus der Tasche und rief Karis Nummer an. Erschrocken drehte er sich herum, als es laut klingelte. Ihr Handy lag auf dem Nachttisch und vibrierte lautstark, während eine nervtötende Melodie durch den Raum trällerte. Wallace drückte auf den roten Hörer und wandte fragend den Kopf zu Peter, als April hysterisch zu schreien begann. Sie sahen sich nur kurz an und stürmten zum Badezimmer, doch April zog die Tür zu, bevor die beiden sehen konnten, was passiert war. „Man April was soll das denn jetzt?“, rief Wallace durch die Tür und drückte die Klinke hinunter, nur um festzustellen, dass sie den Riegel umgelegt hatte. Ein leises Wimmern und zwei verschiedene Stimmen waren im Innern zu hören. „Ist Kari bei dir? Warum ist die Tür zu?“, startete Wallace einen neuen Versuch. Man hörte ein Tuscheln und ein lautes Schluchzen als Aprils Stimme ertönte. „Ihr müsst mir einen Gefallen tun“, hörten sie Aprils schwache Stimme durch die Tür. „Ich brauche dringend etwas Frisches zum Anziehen und jemand von euch muss unbedingt ein Taxi rufen!“ „Ein Taxi?“, wiederholte Wallace verwirrt. Noch verwirrter machte ihn die Tatsache, dass er ihr auch frische Unterwäsche bringen sollte. Doch keiner der beiden traute sich nachzufragen und machte jeweils das, was April ihnen aufgetragen hatte. Peter bestellte ein Taxi, während Wallace an Hikaris Schrank ging, um die frische Wäsche zu holen. Etwas Bequemes sollte es sein, laut April. Ein wenig peinlich berührt suchte er im Schrank nach ihrer Unterwäsche, die er letztlich auch in einer Schublade fand. Mit hochrotem Kopf kramte er irgendeine Unterhose heraus und brachte alles zur Tür. Er klopfte wieder und wartete, bis April ihren Kopf zu Tür hinaus steckte. Fordernd nahm sie ihm alles ab und verschloss die Tür hinter sich wieder, bevor Wallace fragen konnte, was eigentlich passiert war. Verwirrt tauschte er mit Peter Blicke untereinander aus, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und April langsam und vorsichtig mit Kari hinaustrat. Sie war weiß wie eine Wand, ihre Augen waren rot unterlaufen und die Tränen liefen ihr immer noch über die Wangen. Krampfhaft hielt sie sich mit der einen Hand den Bauch und klammerte sich schwerfällig an April fest. Jeder Schritt schien ihr immer schwerer zu fallen und ihr größere Schmerzen zu bereiten. April hatte den Arm um ihre Hüften gelegt und sah hilfesuchend zu den Jungs. Wallace reagierte sofort und stützte die andere Seite. Peter hingegen beobachtete die Situation fassungslos. „Was ist hier nur passiert?“ „Sie hat Blutungen“, antwortete April sachte und sah, wie Kari Wallace um den Hals fiel und laut gegen seine Brust schluchzte. Sie hielt sie immer noch fest und fuhr ihr behutsam über den Rücken, während sich vor Peters innerem Auge weitere Fragezeichen bildeten. Doch er traute sich nicht weiter nachzufragen. Kari litt so sehr, sodass sie jeden Augenblick zusammenbrechen könnte. „Das Taxi müsste bald da sein“, meinte er nur und blieb verloren mitten im Raum stehen. „Wir ziehen dir noch schnell eine Jacke an, okay? Draußen regnet es“, erklärte April Kari knapp. Sie nickte nur, hatte aber den Kopf immer noch gegen Wallace Brust gedrückt, der die Arme fester um sie schlang. Er hatte verstanden, was hier los war. Sie hatte das Baby verloren. Tränenverschleiert und vollkommen teilnahmslos saß sie im Behandlungszimmer. Ein leichter Druck auf ihre Hand erinnerte sie daran, dass April sie noch immer hielt. Die Jungs hatten im Wartezimmer Platz genommen. Kari hatte immer noch nicht realisiert, was eigentlich passiert war. Sie erinnerte sich an Michael, das Gerangel und dass sie es danach gerade noch so ins Badezimmer geschafft hatte. Dort wurde sie auch von April gefunden, die sofort einen Krankenwagen rufen wollte, als sie das viele Blut sah. Doch Kari wollte das nicht, redete ihr diesen schwachsinnigen Gedanken wieder aus. Am liebsten wollte sie überhaupt nicht ins Krankenhaus und doch saß sie nun hier und wartete darauf, dass der Arzt ihr das mitteilte, was sie ohnehin schon wusste. Ihre Hand drückte Aprils und sie biss sich fest auf die Unterlippe, während sie versuchte, den aufkommenden Schmerz ihres Herzens zu unterdrücken. Sie fühlte sich so unheimlich schlecht. Besonders nachdem sie das Blut auf ihrer Hose entdeckt hatte. Sie wusste, dass es nicht normal war, Blutungen und Krämpfe während der Schwangerschaft zu haben. Es bedeutete das Ende eines Lebens, das noch nicht mal richtig angefangen hatte, und sie? Sie war erleichtert. Erleichtert, dass diese Last von ihren Schultern genommen wurde. Dass es weg war. Kari presste die Lippen fest aufeinander. Sie schämte sich für diesen Gedanken. Eigentlich wollte sie das Baby doch behalten. Sie liebte Kinder über alles, doch sie war noch nicht bereit dazu, Mutter zu sein. Sie hatte gehofft, dass ein Wunder passierte. Dieses Wunder entpuppte sich jedoch als wahrhaftiger Alptraum. Sie wollte es nicht, aber trotzdem hatte sie vorgehabt, es zu bekommen. Sie war erleichtert, dass sie es verloren hatte, hatte allerdings ein so furchtbar schlechtes Gewissen gegenüber ihrem Baby, es nicht gewollt zu haben. Schon oft stellte sie sich die Frage, ob sie anders darüber denken würde, wenn Michael nicht der Vater wäre. Doch neunzehn war für sie kein Alter, um Kinder zu bekommen. Sie hatte noch so viel vor, wollte ihr Studium beenden, einen tollen Job finden, heiraten und dann irgendwann Kinder bekommen. Es fühlte sich alles falsch an. Sie wollte am liebsten zurück zu ihrer Familie und ihren Freunden, die sie so sehr vermisste, dass es bereits wehtat. Am meisten vermisste sie jedoch Takeru, der immer für sie da war und sie blind verstand. Wallace war zwar ein guter Freund geworden, aber niemand konnte ihren besten Freund ersetzten. Sie wollte sich nicht ausmalen, wie er reagieren würde, wenn er von dem Baby erfuhr. Wie ihre Familie reagieren würde. Und besonders Tai. Doch jetzt gab es kein Baby mehr. All ihre Pläne hatten sich geändert. Sie sah keinen Sinn mehr darin, den anderen die Wahrheit zu sagen, die sie nur verletzen würde. Besonders Mimi, die sie hintergangen hatte. Das Baby war fort. Mit ihm ein Teil ihrer Selbst, den sie nie wieder zurückerlangen würde. Bevor sie einen weiteren Gedanken daran verschwenden konnte, trat der Arzt mit einer abgeklärten Miene ins Behandlungszimmer und sah sie mit diesem mitleidigen Blick an, den sie über alles hasste. Er ließ sich direkt vor ihr nieder und studierte ihren Gesichtsausdruck, der von Schuld und ihrem schlechten Gewissen gekennzeichnet war. „Es tut mir leid, Ihnen das jetzt mitteilen zu müssen“, begann er vorsichtig, während Kari ihre andere Hand gegen ihren Bauch drückte. Die Schmerzen waren immer noch unerträglich, aber sie hatte eine starke Schmerztablette bekommen, die diese lindern sollte. Bisher merkte sie noch nichts davon. Kari spürte jedoch, wie sich ein Panzer um ihr Herz legte und ihr die Luft zum Atmen nahm. Sie tauchte in eine andere Welt ab, nahm die Stimmen nur noch dumpf war, als der Arzt ihr sein Beileid kundtat. Doch was brachte ihr das? Es war vorbei. Sie konnte es nicht mehr ändern. Ihr Baby war tot. Und sie allein war daran schuld. Sie war nicht in der Lage gewesen, es zu beschützen, obwohl sie die Mutter war. Dieser Gedanke setzte sich in ihrem Kopf fest, benebelte ihre Sinne und ließ in ihr etwas zerbrechen, das sie nicht zuordnen konnte. Sie hatte dieses Baby nicht verdient. Und dieser Bestrafung musste sie sich nun stellen. 11. Mai 2010. Japan, Entbindungsstation. Er eilte den Flur entlang und suchte nach der Zimmernummer, die ihm sein Vater am Telefon mitgeteilt hatte. Ein wenig panisch versuchte er die richtige Nummer zu finden, da er genau wusste, dass sie viel zu früh dran war. Seine Schwester sollte doch erst in einem Monat zur Welt kommen. Etwas musste passiert sein, weshalb sie früher kam. Takeru kam direkt von der Uni, als ihn ein Anruf seines Vaters erreichte, dass das Baby unterwegs sei. Matt hatte er auch schon versucht zu erreichen, doch er hatte sein Handy mal wieder aus. Für einen kurzen Moment überlegte Takeru bei ihm vorbeizuschneien, doch er hatte deutlich gemacht, wie sehr ihm diese Familie am Arsch vorbei ging. Seit Silvester hatten beide kaum noch miteinander gesprochen und gingen sich weitestgehend aus dem Weg. Ein paar Mal hatte er ihn über den Campus laufen sehen. Meist war er mit Tai unterwegs. Manchmal sogar allein, doch er hatte die Lust verloren, immer weiter mit ihm zu diskutieren. Es brachte doch sowieso nichts. Er hatte seine Familie längst aufgegeben. Er stoppte abrupt und wandte sich um. Auf der gegenüberliegenden Seite fand er das Zimmer, zu dem er hin musste. Ohne Umschweife steuerte er geradewegs darauf zu und klopfte etwas unbeholfen gegen die massive Tür. Auf der anderen Seite ertönte die Stimme seines Vaters mit einem einfachen „Herein“. Takeru drückte die Klinke hinunter und steckte seinen Kopf zur Tür hinein. Sein Vater lächelte müde, während seine Mutter geschafft im Bett lag und den Neuankömmling bereits in ihren Armen hielt. „Hey“, sagte er leise und trat näher. „Sie ist ja schon da.“ Überrascht ging er zum Bett, während seine Mutter ihn erschöpft anlächelte. „Sie hatte es sehr eilig“, meinte sie lachend. „Ich habe deinen Vater heute Mittag angerufen, da ich Rückenschmerzen hatte. Als er ankam, war die Furchtblase bereits geplatzt und wir sind sofort ins Krankenhaus“. „Deine Mutter wollte ja nicht hören“, warf sein Vater ein und sah besorgt zu ihr. „Was denn? Du wolltest doch den Wickeltisch aufbauen und das eine Teil hat im Weg gestanden. Ich musste es wegräumen“, verteidigte sie sich und sah liebevoll zu dem kleinen Wesen, das in ihren Armen schlief. „Außerdem ist ja noch alles gut gegangen“. Seine Eltern tauschten einen kurzen aber intensiven Blick miteinander aus. Beide lächelten, sahen aber schnell wieder zu ihrem Baby, das einen zarten blonden Haarflaum auf seinem kleinen Köpfchen hatte. Gedankenverloren sah er zu seiner Schwester, die ihre Augen geschlossen hatte und schlief. Seine Eltern sahen so zufrieden aus und für einen Moment erkannte Takeru diesen kleinen, sehr kleinen Hoffnungsschimmer. Sie wirkten wie eine richtige Familie, auch wenn sie schon seit Jahren getrennt waren. Es lag etwas in der Luft, das er nicht benennen aber durchaus spüren konnte. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Wie wollt ihr sie denn jetzt nennen?“, unterbrach er neugierig die Stille. Sie sahen sich kurz an und seine Mutter fuhr ihrer Tochter über den zarten Haarflaum. „Sayuri…“, sagte sie auf einmal und richtete den Blick wieder zu seinem Vater. „Sayuri Ishida.“ Nachdenklich musterte er das Foto, das ihm sein kleiner Bruder geschickt hatte. Seufzend ließ er den Kopf auf den Tresen sinken und erhaschte somit Soras Aufmerksamkeit. „Alles klar bei dir? Was hat Takeru denn geschrieben?“, fragte sie interessiert und reichte ihm seinen Kaffee weiter. Matt hob seinen Kopf an und blickte wieder zu dem gesendeten Foto. „Er hat mir nur ein Bild geschickt“, antwortete er nüchtern und zeigte es Sora. „Oh nein, wie niedlich“, quietschte sie und sah strahlend zu Matt, dessen Miene immer düsterer wurde. „Was ist denn los? Freust du dich denn nicht? Du hast jetzt eine Schwester!“, versuchte sie die Situation zu retten. Sie als Einzelkind hatte sich immer Geschwister gewünscht. Daher konnte sie Matt nicht verstehen, warum er so abweisend gegenüber seiner Familie war. Sie erinnerte sich noch gut an Silvester und den Streit mit Takeru, der sehr an ihm gezehrt hatte. „Ich finde, du solltest sie unbedingt besuchen.“ Misstrauisch zog Matt die Augenbraue nach oben. „Hast du etwa mit Takeru gesprochen?“ „N-Nein“, stammelte sie, „aber sie ist doch deine Schwester. Und Familie ist das Wichtigste, was man hat.“ „Das ist wirklich süß, aber meine Familie ist schon seit Jahren kaputt. Das Baby ändert nichts“, meinte er stur und nippte an seinem Kaffee. „Das weißt du doch gar nicht“, protestierte sie schlagartig. „Sie werden sicher ganz viel Zeit miteinander verbringen, werden sich gemeinsam um sie kümmern und vielleicht…vielleicht verlieben sie sich ja wieder ineinander“. „Ja und Schweine können irgendwann fliegen. Das glaubst du doch nicht wirklich, oder Sora?“ „Naja, warum nicht. Wäre doch schon romantisch“. Verträumt sah sie ihn an und er spürte wie die Hitze in ihm aufstieg. Er wandte das Gesicht von ihr und versuchte sich zu beruhigen. Beschissene Gefühle, schoss ihm durch den Kopf. Warum hatte er sich ausgerechnet in sie verliebt? Es war ganz und gar unmöglich, je mit ihr eine Beziehung zu führen, egal wie sehr er es sich auch wünschte. Tai war sein bester Freund. Sora war seine Exfreundin. Er konnte sich doch nicht auf einmal dazwischen drängen, auch wenn er diese Gefühle schon eine halbe Ewigkeit mit sich herumtrug. Nur deswegen hatte er so viele namenlose Affären. Er wollte seine Gefühle für Sora verbergen, sie ganz tief in einem Panzer einschließen, der allmählich sein Herz ersetzte. Besonders schlimm war die Zeit, als Tai und Sora frisch zusammengekommen waren und er es kaum ertrug, beide miteinander zu sehen. Wie sie miteinander geturtelt hatten, sich in den Armen hielten und küssten. Es machte ihn krank, schürte seine Eifersucht ins Unermessliche, auch wenn er sie niemals zuließ. Lieber versteckte er sich hinter seiner Musik und schrieb die schnulzigsten Lieder, für die ihn reihenweise Mädchen anhimmelten. Doch all diese Lieder waren nur für sie. Doch das würde sie niemals erfahren, egal wie sehr er sie auch liebte. Seinem besten Freund konnte er nicht in den Rücken fallen. 14. Mai 2010. New York, Restaurant. Mimi war fassungslos. Vor ihr saß Hikari, die seelenruhig in der Karte blätterte und sich nicht anmerken ließ, was gerade passiert war. Vor wenigen Tagen war sie zu ihr gekommen und hatte ihr ihre Entscheidung mitgeteilt. Sie wirkte auf sie abgeklärt und niemand schien irgendetwas an ihrer Entscheidung rütteln zu können. Es war endgültig. Und Mimi wusste nicht, was sie davon halten sollte. Immer noch über die Tatsache geschockt, dass Hikari ein Baby erwartete, machte sie ihre Entscheidung noch fassungsloser. Kari liebte Kinder, aber natürlich verstand Mimi ihre Situation. Sie war in New York auf sich alleine gestellt. Mit einem Baby hätte sie die Uni niemals geschafft. Doch ihre eiskalte, abgeklärte Art irritierte sie. Als sie den Eingriff hinter sich hatte, wirkte sie gelöst und kein bisschen traurig. Sie hatte sogar noch vorgeschlagen, etwas essen zu gehen. Wäre Mimi in ihrer Situation gewesen, wäre sie am Tiefpunkt ihrer Verzweiflung angekommen. Erst wurde sie von einem Unbekannten schwanger, der sie mit wer weiß was für Krankheiten hätte anstecken können und jetzt saß sie ihr vollkommen emotionslos gegenüber. So als hätte ihr diese Abtreibung rein gar nichts ausgemacht. Doch Hikari war innerlich wie betäubt. Sie konnte immer noch nicht fassen, was ihr passiert war. Geweint hatte sie nur kurz, direkt nach dem Eingriff. Danach hatte sie sich selbst das Ziel gesetzt, sich zusammen zu reißen. Sie bestrafte sich für ihre Gedanken, die sie gegenüber dem Baby hatte. Als der Arzt ihr vor einer Woche mitteilte, dass sie es verloren hatte, war sie erleichtert gewesen. Als wäre ihr eine unsagbare Last von den Schultern gefallen, doch dem war nicht so. Ihre Schuldgefühle vermischten sich mit ihren Gedanken und quälten sie, sodass sie kaum ein Auge in den letzten paar Tagen zu bekam. Ein Tag nach der Fehlgeburt hatte sie den Termin zur Ausschabung, zu dem sie nur April mitgenommen hatte. Sie musste nüchtern erscheinen, hatte den ganzen Abend geweint und war mit den Nerven vollkommen am Ende gewesen. Nachdem sie die Narkose bekommen hatte, wurde sie in den OP gefahren und bekam von der ganzen Prozedur genaugenommen überhaupt nichts mit. Danach wurde sie auf ein eigenes Zimmer gebracht, in dem April bereits auf sie wartete. Sechs Stunden musste sie zur Beobachtung da bleiben. Wallace und Peter stießen später noch dazu. Mimi hatte sie erzählt, dass sie mit April nach Brooklyn gefahren war, um sich diesen Teil New Yorks näher anzusehen. Sie hatte sich sogar einen Stadtführer besorgt, um ihr von diesem Erlebnis, das nie stattgefunden hatte, zu erzählen. Verdacht hatte sie keinen geschöpft, obwohl es ihr nach dem Eingriff nicht sonderlich gut ging. Sie schob es bei Mimi auf die Schwangerschaft, auf das Baby, das in ihr gestorben war. Immer mehr verstrickte sie sich in Lügen, hatte Angst, dass die Sache mit Michael doch noch rauskommen würde. Jetzt, da das Baby nicht mehr existierte, gab es keinen Grund mehr, Mimi die Wahrheit zu sagen. Deswegen erfand Kari die Abtreibung. Es war die Routineuntersuchung, die nach einer Ausschabung vollzogen wurde. Kari hatte keine Ahnung, wie eine richtige Abtreibung ablief, doch sie war sich sicher, dass es keine zwanzig Minuten dauerte. Doch Mimi war keinesfalls misstrauisch geworden, da sie wohl so wenig Ahnung wie Kari hatte. Sie stellte auch keine Fragen, da sie sie nicht belasten wollte. Kari hingegen fühlte sich so, als würde sie abseits ihres Körpers existieren, da der Schmerz im Inneren zu groß war, um ihn zu ertragen. Deswegen versteckte sie sich hinter dieser Fassade, die sie sich aufgebaut hatte. Alle ihre Pläne wurden komplett über den Haufen geworfen. Das Baby war tot. Es war eine Möglichkeit für sie neu anzufangen. Die Sache mit Michael zu vergessen und nach vorne zu schauen. Doch dieser dumpfe Schmerz in ihrer Brust blieb. Das Gefühl, einen vollkommen falschen Weg zu gehen, stieg in ihr auf. Jedoch ignorierte sie diesen Gedanken, wollte sich nicht damit auseinandersetzen, genauso wenig wie mit dem Tod ihres Babys, an dem sie sich schuldig fühlte. Sie brauchte einfach nur Ablenkung, musste lernen zu vergessen. Allerdings hatte ihr niemand gesagt, wie schwer das sein würde... 20. Juni 2010. Japan, Gästezimmer. Sie war bereits einen Tag bei Wallace und seiner Familie, als sie merkte, dass etwas nicht stimmte. Wallaces Eltern waren ausgegangen und beide waren mit seiner fünfjährigen Halbschwester Kyo alleine zu Hause. Kari wollte gerade ins Bad gehen, während Wallace Kyo ins Bett brachte und ihr noch eine Geschichte vorlas. Im Bad angekommen spürte sie, wie sich der Schmerz, den sie schon den ganzen Tag merkte, sich ausbereitete. Sie hielt sich den Bauch, klappte den Klodeckel runter und setzte sich darauf. Sie atmete angestrengt. Die Schmerzen raubten ihr den Verstand, obwohl sie bereits eine Schmerztablette genommen hatte. Sie wurden nicht weniger und zogen ihr in den Unterleib. Kari verzog schmerzvoll das Gesicht und versuchte, nicht in Tränen auszubrechen, doch diese brannten bereits in ihren Augen. Sie traute sich auch nicht nachzugucken, da sie Angst hatte. Beim letzten Mal war da so viel Blut gewesen, das ihr allein die Erinnerung eine Gänsehaut einjagte. Warum hatte sie nur solche Schmerzen? Bekam sie etwa ihre Tage? Sie wollte gerade aufstehen, als ein starker Schmerz durch ihren Unterleib schoss und sie wieder zum Sitzen brachte. Kari riss die Augen auf und drückte ihre Arme gegen ihren Bauch. Es wiederholte sich alles. Warum wiederholte sich alles? Von Panik ergriffen rief sie, ohne nachzudenken, nach Wallace, der sich nur zwei Zimmer weiter befand. Ihr war egal, dass sie nur in Top und kurzer Hose vor ihm saß. Einen kurzen Moment später stürmte er zu Tür hinein und fand sie immer noch auf dem Klodeckel sitzend vor. „Was ist denn los?“, fragte er irritiert und musterte sie. Ihm entging nicht, dass ihr Gesicht sich schmerzverzerrt zusammenzog. Langsam ging er auf sie zu und kniete sich direkt neben sie. „Hast du Schmerzen?“ Kari biss sich auf sie Lippe und nickte nur. Ihre Arme drückten stärker gegen ihren Bauch, als plötzlich eine Art Blockade löste und sie merkte, dass etwas an ihr hinunterlief. Ihr schockte der Atem und sie sah erschrocken an ihrem Bein entlang. Tatsächlich bahnte sich eine leichte Blutspur ihren Weg hinunter zu ihren Beinen. „Es geht wieder los“, flüsterte sie unter Tränen. Wallace hatte das Blut noch nicht bemerkt und fuhr ihr sachte über den Oberschenkel. „Wovon redest du? Was geht wieder los?“, hakte er verwirrt nach, als Kari die Panik übermannte und sie vom Klodeckel auf den Boden rutschte. „Es passiert schon wieder! Wie kann das sein? Ich will das nicht“, wimmerte sie und erkannte einen deutlichen Blutfleck auf ihrer Hose. Wallace schien immer noch keine Ahnung zu haben, von was sie überhaupt sprach, bis er ihren Blicken folgte und ebenfalls an dem Blutfleck hängen blieb. „Kari…?“, brachte er noch hervor, als sie zusammensackte und wirr vor sich hin stammelte. Er hatte Mühe ihr richtig zu folgen. Etwas mit Baby, Schuld und Lügen wurde quer durch den Raum geworfen. Wie ein Häufchen Elend saß Kari vor ihm, hatte die Beine an sich gedrückt und presste den Kopf gegen ihre Knie. Hilflos beobachtete Wallace, wie sie sich hin und her schaukelte und immer wieder „Ich bin schuld“ vor sich hinmurmelte. Er sprang mit den Augen immer wieder hin und her, als plötzlich seine Schwester im Türrahmen auftauchte und ängstlich zu ihm schaute. „Wallace? Was ist los?“, fragte Kyo und drückte sich gegen den Rahmen. Er sprang auf und versperrte ihr die Sicht, damit sie nicht zu viel mitbekam. „Warum weint sie denn?“, wollte sie wissen, als er sie auf den Flur zog und die Tür nur einen Spalt aufließ. „Ihr geht es nicht so gut, aber dein großer Bruder kriegt das schon hin“, versicherte er ihr und steuerte in ihr Zimmer. „Leg dich jetzt besser hin. Das ist nichts für kleine Mädchen“. „Aber ich will ihr auch helfen“, protestierte sie, als sie wieder in Bett krabbelte. „Morgen, jetzt wird erstmal geschlafen“, meinte er liebevoll und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Kyo lächelte sachte und gähnte herzlich. Leise schlich sich Wallace aus ihrem Zimmer und schloss die Tür. Im Flur pfriemelte er sein Handy aus der Tasche und wählte Mimis Nummer. Mit hochrotem Kopf stand sie vor der Adresse, die ihr Wallace durchs Telefon gesagt hatte. Sie klingelte und richtete kurz ihre Frisur und zog ihr Shirt glatt. Mimi konnte immer noch nicht fassen, was gerade in ihrem Hotelzimmer passiert war. Sie spürte immer noch seine Küsse und Berührungen auf ihrer Haut, sodass ihr automatisch ganz heiß wurde. Sie wusste auch nicht, was sie sich dabei gedacht hatte, doch in diesem Moment fühlte sich alles richtig an. Sie wollte ihm nah sein und das schon seit Ewigkeiten. Es war nicht nur leidenschaftlicher Sex für sie. Sie hatte Gefühle für ihn. Gefühle, die sie all die Jahre durch eine schlechte Beziehung verdrängt hatte. Mimi schnaufte herzhaft und wollte am liebsten wieder in seinen starken Armen liegen, als Wallace ihr die Tür öffnete. Sein Gesichtsausdruck war unbeschreiblich. Er war erleichtert Mimi zu sehen, aber auch gleichzeitig mit Hikari überfordert, die immer noch im Badezimmer saß und weinte. „Du hast dir ja ganz schön Zeit gelassen“, begrüßte er sie harsch und ließ sie rein. Er wollte nicht vorwurfsvoll klingen, aber er hatte eine halbe Ewigkeit auf sie gewartet, sodass er schon befürchtet hatte, dass sie gar nicht mehr auftauchen würde. Mimi lächelte sachte und versuchte ihr schlechtes Gewissen zu verdrängen, als sie gemeinsam mit Wallace nach oben eilte. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, mit Taichi einfach so zu schlafen und Kari warten zu lassen. Doch Mimi ahnte bereits, dass Wallace nur versuchte, sie wieder miteinander zu versöhnen. Wallace hingegen hatte andere Pläne. Heute sollte Mimi die Wahrheit erfahren. Die ganze Wahrheit! Kurz vor dem Badezimmer blieb er stehen und blickte ernst zu ihr. „Bitte mach‘ ihr keine Vorwürfe! Ich habe Angst, dass sie sonst zusammenbricht!“ Verwirrt über seine Worte bemerkte Mimi, dass sie auf Kari eigentlich kaum noch sauer war. Ihr ganzer Hass richtete sich gegen Michael, der schon so viele Mädchen um den Finger gewickelt hatte. Unter anderem auch sie, die ihn einfach nicht verlassen konnte. Ungewiss, was sie erwartete, öffnete Wallace die Tür und schritt als Erster ein. Mimi folgte ihm wortlos und erstarrte. „Kari?!“, fragte sie fassungslos. Vor ihr saß ein Mädchen, das unaufhörlich weinte. Sofort sprang ihr der Blutfleck auf Karis himmelblauen Shorts ins Auge. „Scheiße, was ist hier los?“, platzte es aus ihr heraus und Kari sah erschrocken hoch. „Was machst du denn hier?“, fragte sie mit immer dünner werdender Stimme und wischte sich mit dem Handrücken über ihr Gesicht. „Ich habe sie angerufen“, mischte sich Wallace ein und schloss die Badezimmertür. „Du solltest ihr die Wahrheit sagen.“ Karis Augen weiteten sich, während Mimi perplex das Gesicht verzog. Die Wahrheit? Was kam denn noch? War das mit Michael nicht schon genug? „Ich kann nicht“, brachte Kari hervor und sah entschuldigend zu Mimi. Doch Wallace schien es ernst zu meinen. Er hatte es satt, ihr als Lügenhelfer zur Seite zu stehen, weshalb er ihr ein Ultimatum stellte. „Wenn du es ihr nicht sagst, werde ich es ihr sagen!“ „Mir was sagen? Was geht hier überhaupt vor?“, mischte sich Mimi ein und riss die Augen auf. War sie etwa die Einzige, die nicht eingeweiht war? Allmählich stieg Wut in ihr auf. Was hatte Kari noch alles vor ihr verheimlicht? Was wusste Wallace, was sie nicht wusste? Mit einem strengen Blick fixierte sie Kari, die ihrem Blick nicht standhalten konnte und ihr Gesicht in ihre Knie drückte. „Was ist hier los? Jetzt sag‘ schon“, forderte sie und drohte jeden Augenblick zu explodieren. Sie hasste Geheimnisse, besonders wenn sie die Einzige war, die sie nicht kannte. Doch Mimi merkte schnell, dass sie mit dem Ton bei Hikari nicht weiterkam. Langsam steuerte sie auf sie zu und setzte sich ihr gegenüber. Sie schrak zusammen, als sie Mimis Hand auf ihrem einen Knie spürte. Das erste Mal seit langem sahen sich die beiden in die Augen und Kari überkam ihr schlechtes Gewissen. Die Schuld, mit der sie seit der Fehlgeburt lebte. „Es tut mir so leid“, wimmerte sie und eine einzelne Träne tropfte auf Mimis Handrücken. „Bitte sag‘ mir, was wirklich passiert ist“, meinte sie diesmal mit sanfterer Stimme und tätschelte ihr Knie. „Das Baby…“, brachte Kari hervor, brach kurz danach wieder ab, als sie im Sog der Tränen versank. „Was ist mit dem Baby?“, wollte Mimi wissen und wurde immer ungeduldiger. Doch sie unter Druck zu setzen, brachte nichts. Langsam fand sie wieder zurück und wischte sich über ihre Augen. Ihr fiel es so schwer, es auszusprechen, auch wenn es die Wahrheit war. Wenn sie es sagte, fühlte es sich real an und sie wollte es nicht wahr haben. „Es ist gestorben“, murmelte sie und kniff die Augen zusammen. „Ich hatte keine Abtreibung.“ Mimi wich zurück und sah sie fassungslos an, während Kari qualvoll schluchzte und ihre beiden Beine mit ihren Armen umschloss. Hilflos wandte Mimi sich um und starrte zu Wallace, der sich angespannt durch die Haare fuhr. „W-Wir haben sie damals in ihrem Zimmer gefunden und ins Krankenhaus gebracht“, ergänzte Wallace stammelnd. „Und zu was bin ich mitgegangen?“, fragte Mimi verstört. „Es war nur eine Nachsorgeuntersuchung, die nach einer Ausschabung notwendig ist.“ Bei dem Wort „Ausschabung“ wimmerte Kari und drückte ihr Gesicht fester gegen ihre Knie. Plötzlich spürte sie, wie sich zwei Arme um sie legten. Kari sah auf und hatte bereits rote Abdrücke im Gesicht, die sie allerdings nicht sehen konnte. Mimi sah sie an und drückte sie näher an sich. Ihr Blick war unergründlich. Verzweiflung traf auf Mitleid und Unverständnis, aber auch Erleichterung. Mimi war froh, dass Kari keine Abtreibung hatte. So etwas hätte sich die junge Yagami niemals verziehen, das wusste Mimi. Aber eine Fehlgeburt…das war etwas, das eine Frau niemals durchmachen wollte. Mimi presste den Kopf gegen ihren, während Kari sich etwas lockerte und die Umarmung von Mimi langsam zuließ. „Warum hast du es mir nicht sagt?“, fragte sie verzweifelt. „I-Ich…“, setzte sie an, doch kam nicht weiter. Sie hatte nichts gesagt, weil sie ein Feigling war, der vor ihren Problemen einfach weglief, statt sich ihnen zu stellen. Sie war nicht mehr sie selbst. Das Baby hatte alles verändert. Fortsetzung folgt... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)