Elysium von abgemeldet (Suche nach dem Glück) ================================================================================ Kapitel 3: Bedeutungsvolle Tränen --------------------------------- She fills my soul with so much love That anywhere I go I'm never lonely With her along Who could be lonely *** Mehr aus der Gewohnheit als aus der Notwendigkeit heraus, wischte Ranma sich mit dem Handrücken über die Stirn. Seine Haut war trocken. Theatralisch seufzend verdrehte er die Augen und rollte Kuno mit seinem Fuß auf die Seite. Nachdenklich schaute er auf den KO geschlagenen Oberschüler herab, ehe er sich zu ihm hinunterbeugte. "Du kannst es einfach nicht lassen, was?" flüsterte er mit einem Kopfschütteln in Richtung seines bewusstlosen Gegners. "Dabei müsstest du es eigentlich schon längst wissen." Arrogant erhob er sich wieder und drehte sich von ihm weg. "Kämpfe mit dir sind in letzter Zeit die reinste Zeitverschwendung. Du stellst nicht mal mehr ansatzweise eine Herausforderung dar." Er vergrub die Hände in den Hosentaschen, als er sich zurück zum Tendo Anwesen begab. Die Fahrt auf der Ladefläche des Pickups war so eintönig und lang gewesen, dass er sich, sobald sie am frühen Abend Nerima erreicht hatten, als erstes etwas loslösen wollte und ziellos durch die Gegend streifte. Chaotisch wie sein Leben nun einmal war, konnte dieser als 'friedlichen Ausklang' geplanter Spaziergang keinesfalls ruhig vonstatten gehen. Mousse und Kuno hatten ihm allem Anschein nach einen Peilsender untergeschoben, denn sie schafften es immer wieder, ihn überall aufzuspüren und ihn dann zu einem Kampf auf 'Leben und Tod' herauszufordern. Natürlich beendete er jeden dieser Kämpfe als Sieger. Und nichts in seinem Leben war so aufregend wie ein Sieg. Jedoch konnte er jene Ausgänge kaum noch als solche bezeichnen. Ihm fehlte ein ernstzunehmender Gegner, das Gefühl, seine Kräfte bis zum Limit zu treiben, Reiz und Nervenkitzel, die aufregende Adrenalinstöße in seinem Körper verursachten. Ihm fehlte... ein Sinn. Etwas, das ihm zeigte, am Leben zu sein. Und da war sie schon wieder: Die Wut. Unaufhaltsam, unkontrollierbar und als wenn eben genanntes nicht schon schlimm genug wäre, zu allem Überfluss auch noch undefinierbar. Mit einem Hops über die Mauer landete er ihm Garten und schlenderte von dort aus schnurstracks in den Dojo. Eine Strohpuppe diente besser zur Abregung als diese Chaoten in Nerima, die sich allen ernstes Martial Artists nannten. War das der Preis dafür, der Beste zu sein? Gähnende Langeweile, weil es weit und breit niemanden gab, der in ihm noch das Feuer eines spannenden Kampfes entfachen konnte? Mit leerem Blick stand er am Eingang der Trainingshalle und rollte von seinen Fußballen auf die Hacken. Durch ein leises Knirschen unter seinen Sohlen wurde er auf einen kleinen spitzen Stein aufmerksam, der am Boden lag. Ruhig hob er ihn auf und schaute sich ihn lange wortlos an, bis er auf einmal seine Brauen ernst zusammenschob. Wie eine Marionette, die von den Fäden eines weit über ihm stehenden Puppenspielers gelenkt wurde, führte er plötzlich die scharfe Kante des Steines an seine Haut heran. Sein Blick veränderte sich nicht, als er mit seinen Fingern den Druck auf den Gegenstand verstärkte und ihn entlang seiner Elle hinunterzog. Blut quoll aus einem langen, feinen Kratzer. Verschlafen blickte er auf das intensive Rot des dickflüssigen Sekrets und spürte seine Mundwinkel leicht zucken. Auf einmal weiteten sich seine Augen in Entsetzen. "Was mach' ich hier eigentlich?!" flüsterte er fassungslos zu sich selbst. "Ranma-kun!" Erschrocken ließ er den Stein fallen und wirbelte herum. "Do-do-doktor Tofu? Was machen Sie denn hier?" Trotz der mangelnden Freundlichkeit in Ranmas Begrüßung behielt der junge Arzt, der mit einem kleinen Koffer in der Hand plötzlich hinter Ranma auftauchte, sein Lächeln im Gesicht. "Hausbesuch. Dein Vater rief mich an, weil er wegen Gelenkschmerzen nicht zur Arbeit kommen konnte. Da ich bereits Feierabend und nichts weiter zu tun habe, dachte ich, ich könnte mal nach ihm sehen." Ranmas Gesicht spiegelte leichte Ansätze von Mitleid gegenüber des viel zu gutgläubigen Mannes wieder. "Wie sie meinen..." Tofu lächelte noch immer. "Und was ist das? Wieder mal Akanes Werk?" "Was? OH! Ähh... nein..." Nervös versteckte Ranma seinen blutenden Arm hinter dem Rücken. "Nicht Akane-- Auf dem Weg hierher hatten mich wieder mal die üblichen Gegner überfallen. Immer im Training, Sie wissen schon." Schluckend spielte er ein Lachen heraus und war nun ziemlich froh, dass Mousse und Kuno ihm heute wieder etwas Zeit gestohlen hatten, da er jetzt wenigstens nicht lügen musste. Nun ja, nicht wirklich. "Verstehe", antwortete er nachdenklich. "Wenn du willst, kann ich es gleich desinfizieren. Alles, was ich brauche, ist--" "Nein nein, schon gut!" Schweißtriefend winkte Ranma ab. "Kommen Sie, ich bring' Sie zu meinem Alten. Der hat medizinische Betreuung nötiger, wette ich." Er war bereits dabei, den Dojo zu verlassen, als Doktor Tofus Stimme ihn für einen weiteren Augenblick zurückhielt. "Ich bin froh." Fragend drehte Ranma sich zu ihm um. "Dass mein Vater Ihre Hilfe braucht? Ihre Praxis läuft doch sehr gut. Ja, ganz ehrlich. Alle in der Gegend sprechen darüber, was für ein zuverlässiger Chiropraktiker Sie sind." Ein sanftes Kopfschütteln unterbrach ihn. "Nein nein, das meine ich nicht. Ich spreche davon, dass es nicht Akane war. Scheinbar hast du allmählich erkannt, was ich dir damals klarmachen wollte." Angestrengt nachdenkend kratzte Ranma sich mit dem Zeigefinger das Kinn. "Was könnte das denn gewesen sein?" Ein leises Lachen ertönte, ehe sein Gegenüber sich abwandte und zum Hauseingang hin marschierte. Ohne sich noch einmal zu dem jungen Martial Artist umzudrehen beantwortete er dessen Frage: "Ich sagte, dass du eines Tages schon erkennen wirst, was für ein süßes, liebes Mädchen sie ist. Und das hast du schon vor einer guten Weile, oder?" Ranma war froh, dass Tofu ihm nicht mehr hinterher sah. Sonst hätte er womöglich die purpurne Röte in seinem Gesicht bemerkt und noch viel lauter gelacht. Grimmig stampfte er in den Sand vor den Treppenstufen des Dojos. "Ich hab' nie gesagt, dass ich sie süß finde..." Schmollend verzog er sein Gesicht. Sein Blick fiel wieder auf den langen Kratzer an seinem Arm. Sein Körper verarbeitete Verletzungen in der Regel sehr schnell. So verheilte auch diese unnatürlich rasch und war kaum noch zu bemerken. Das Blut war mittlerweile geronnen und hatte sich in ein rostiges Braun verwandelt. Nachdenklich inspizierte Ranma den eigentlich noch sehr frischen Schnitt und seufzte, weil er sich einfach nicht erklären konnte, warum er das getan hatte. Nachdenklich schaute er dann auf die kleine weiße Narbe an seiner Hand. Schon seit er ein kleines Kind war, zierte sie die Kuppe seines linken Zeigefingers. Verwunderlich war, dass diese Wunde nie vollständig verheilt war. Vielleicht, weil er es aus irgendeinem Grund selbst nie wirklich wollte. Denn diese Narbe hatte eine Bedeutung. Sie machte ihn glücklich, wenn er sie sich ansah. Glücklich... Blinzelnd fuhr er mit seinem Blick hoch und lief eilig durch den Garten. Schon von weitem konnte er Doktor Tofu erkennen, wie er verwirrt auf einem Teelöffel kaute und zwischendurch an einem Keks nippte. Kasumi schaute ihn erheitert an und kicherte hinter vorgehaltener Hand. Ranmas Schritte verlangsamten sich. Stirnrunzelnd blieb er bald darauf stehen und legte seinen Kopf schief. Die rötliche Abendsonne hatte sich über Nerima gelegt und ließ die beiden jungen Menschen, die er im Blickfeld hatte, wie einen Teil eines schönen, nahezu perfekten Bildes wirken. In diesem Augenblick, in dem er die Schönheit und Harmonie entdeckte, die von ihnen ausging, so verwirrt Doktor Tofu in Kasumis Anwesenheit auch sein mochte, wurde er sich des Grundes für Tofus und Kasumis stetiges Lächeln bewusst. Sie waren glücklich. Sie wussten, weshalb sie glücklich waren. Und vielleicht könnte man sogar so weit gehen zu sagen, dass sie sich darüber bewusst waren, wofür sie lebten. Diese Erkenntnis in sich aufnehmend, verspürte Ranma keine Freude und er fühlte sich auch nicht angetrieben zu lächeln. Denn obwohl er es diesen beiden Menschen von Herzen gönnte, ihr Lebensglück zu finden, sei es gemeinsam, durch das Führen einer Praxis oder das Kochen von köstlichen Mahlzeiten, war er in diesem Moment einfach nur neidisch. *** Akane war zum Abendessen nicht herunter gekommen. Überfürsorglich hatte Soun ihr fürs Erste Bettruhe verordnet, nachdem er sie trotz heftiger Proteste ihrerseits aus dem Pickup bis hinauf in ihr Zimmer getragen hatte. Zwar war Doktor Tofu nicht ihretwegen gekommen und sein Spezialgebiet lag auch nicht in der Allgemeinmedizin, doch von seinem Studium her hatte er sich mit der ein oder anderen Heilungsmethode verschiedener Erkrankungen befasst, behauptete er mit einer für ihn ungewöhnlichen Selbstsicherheit. Und so bestand er darauf, eine seiner treuesten und liebsten Patienten für eine Minute aufzusuchen, um sich zu vergewissern, dass es ihr so weit gut ging. Als Ranma vom Tisch aufgestanden und die Treppe hoch gegangen war, um in seinem Zimmer ein kleines Nickerchen zu halten, hörte er vom Flur aus Akanes Stimme. "Das ist kalt", kicherte sie etwas heiser und brachte damit auch Tofu zum Lachen. Missmutig hob Ranma eine Augenbraue und blieb eine Weile mit dem Fuß auf der letzten Treppenstufe stehen. Auf einmal machte er kehrt und fegte die Stufen wieder hinunter. Mit einem kräftigen Satz landete er kurze Zeit später auf dem Dach und lief hektisch hin und her. "Diese miese-- Vor anderen gibt sie sich ständig so süß und anständig. Ich bekomme immer nur ihre schlechten Seiten zu spüren. Nur weil ich nicht den ganzen Tag so rumgrinsen kann wie dieser Ich-habe-studiert-also-kann-ich-alles-Wunder-Dok." Die Menschen, die an dem Haus vorbeigingen und seine wilden Selbstgespräche mit erschrockenen Gesichtern bemerkten, hatte er in seiner Aufregung gar nicht wahrgenommen. "Ich hab's so satt. Ich hab's so verflucht satt. Bin ich hier eigentlich der einzige, der... der keinen Grund findet zu... lächeln?" Seufzend sank er in die Hocke und rollte sich mit angewinkelten Beinen nach hinten. Fest zusammengekugelt schaute er in den Himmel und fixierte den ersten Stern am Firmament. Mit einer krausgezogenen Stirn fragte er sich, was in Akanes Zimmer gerade vor sich gegangen war und ganz besonders, ob Akane sich für Doktor Tofus Spezialbehandlung frei machen musste. Kopfschüttelnd versuchte er diese Gedanken schnellstmöglich loszuwerden. Doch dieser störende Schmerz in seinem Bauch blieb konstant. Er seufzte ein weiteres Mal. War er etwa eifersüchtig? Auf dieses flachbrüstige, breithüftige, zu kurz geratene Machoweib?? Ganz sicher nicht. Davon abgesehen wusste er schon längst um Tofus unausgesprochene Liebe zu Kasumi. Da bestand also keinerlei Gefahr. Akane hingegen hatte Jahre lang für ihn geschwärmt und könnte ein kleines Tête à Tête als Oben-ohne-Behandlung in ihrem Zimmer durchaus genießen. Ach! Er tat es schon wieder. Er ließ sich schon wieder von derartigen Gedanken mitreißen. Verärgert schlug er sich mit der flachen Hand ins Gesicht. Aus Faulheit, Müdigkeit und fehlender Motivation behielt er seine Hand genau da, wo sie laut an seine Wange geklatscht war und beobachtete weiterhin mit halbem Interesse den soeben aufgegangenen Stern. "Ein Kampf... Ich brauche wahrscheinlich einfach nur wieder einen richtig interessanten Kampf, sonst gehe ich hier vor lauter Langeweile noch ein." Plötzlich drängte sich ein Bild vor das des hell erleuchteten Sterns am Himmel. Es zeigte Doktor Tofu im Wolfskostüm und angelegtem Stethoskop, wie er mit seinen riesigen Klauen nach Akane griff, die sich kichernd auf einem Schafsfell räkelte. Ranmas Augen sprangen heraus. "Lächerlich", flüsterte er hastig als ihm eine dicke Schweißperle die Schläfe hinabrann. "Ist mir doch egal, was die da treiben." Beleidigt schloss er seine Augen. *** ... Du erinnerst dich. Wer bist du? ~Das weißt du. ... ~Als sie dir freundlich zurücklächelte hast du es gespürt und nie verloren. ~Du hast es über die Jahre bloß vergessen. Denn du wolltest vergessen. Was habe ich verloren? ~Das Gefühl, was es heißt glücklich zu sein. Den Sinn. Den Grund. Wie hatte ich damals dazu finden können? ~Indem du es zugelassen hast. ... ~"Weine nicht mehr, kleines Mädchen." - "Du bist sehr lieb." Wer war sie? Ein Engel... *** Fröstelnd öffnete er die Hintertür des Tendo-Hauses und schloss sie im nächsten Moment leise hinter sich. Es schien bereits jeder schlafen gegangen zu sein, denn im ganzen Haus war es stockduster. Er selbst war auf dem Dach eingeschlafen und hatte nun bloß noch zwei Wünsche für den Augenblick: Ein Glas frische Milch, denn seine Kehle war staubtrocken. Und sein warmes, weiches Bett. Leise stöhnend streckte er sich. Seine Gelenke knackten und sein Rücken schmerzte. Hinzu kam, dass sein Kopf sich irgendwie seltsam anfühlte. So als hätte er gerade einen sehr bedeutungsvollen Traum gehabt, doch er konnte sich wie so oft nicht an seine Träume erinnern. Gedanklich vor sich hinschimpfend schlich er zum Kühlschrank und legte gerade eine Hand an den Griff als er durch ein Geräusch aufmerksam wurde, dass aus dem Inneren des Hauses drang. Verwundert drehte er sich um und warf einen Blick auf die kleine Küchenuhr. Sie verriet ihm, dass es bereits nach Mitternacht gewesen war. Nabiki hatte immer alles in ihrem Leben ordentlich und strickt nach Plan ausgeführt. Dazu zählten auch ihre Schlafenszeiten. Darum schloss er sie schon mal ganz klar aus. Kasumi ging auch immer recht zeitig zu Bett, da sie schließlich jeden Tag als erste aufstand, um für alle Frühstück zu machen. Akane... Für Akane fiel ihm auf die Schnelle nichts Passendes ein, allerdings wusste er auch nicht, was sie mitten in der Nacht im Haus zu tun gehabt hätte, zumal am nächsten Tag wieder die Schule für sie beginnen würde. Sein Vater war ohnehin das reinste Faultier und Soun alleine wäre nachts sicher nicht aufgeblieben, um mit sich selbst Go zu spielen; andere Interessen schienen die beiden Herren ja kaum zu haben. Happosai war bereits eine Weile nicht aufgetaucht, seitdem er seine Beutetouren für eine Weile etwas auswärts tätigen wollte, wie er die Tendos freundlichst in einem kurzen Abschiedsbrief informiert hatte. Oder war er wieder zurückgekehrt? Auf Zehenspitzen schlich er durch das dunkle Haus entgegen der Quelle des leisen Geräuschs. Als er die Küche verlassen und den stockdusteren Flur erreicht hatte, erkannte er, dass aus dem Teezimmer ein schwaches bläuliches Licht schien. Mit gekräuselter Stirn streckte er seinen Kopf nach vorne, um möglichst geräuschlos einen Blick von dem nächtlichen Geschehen erspähen zu können. Plötzlich zuckte er zusammen. Jemand hatte geschluchzt - er hatte es ganz deutlich gehört! Dann vernahm er ein Rauschen. Es klang wie Stimmgewirr... oder Bandsalat. Ein leises Knistern mischte sich darunter, dann erklang wieder das zaghafte Schluchzen, ehe dieses von einem kurzen Piepton verdrängt wurde. "Wenn es dir nichts ausmacht, dann... macht es mir auch nichts aus..." Seine Augen weiteten sich bis zum Anschlag. "Was zur--?!" flüsterte Ranma erschrocken als er panisch seine eigene Stimme wieder erkannte. Aber das war doch unmöglich. Er hatte schließlich nicht gesprochen. Oder doch? Es war spät, ja... Aber-- Nein! Unmöglich. Wenn es ein Traum wäre, dann würde er doch... dann würde er doch... Dann würde er wie sonst auch in all seinen Träumen vor einem riesigen gedeckten Tisch sitzen und genüsslich seinen Gaumen mit einer Leckerei nach der nächsten erfreuen. Doch hier war kein gedeckter Tisch. Keine köstlichen Speisen. Alles was sich unmittelbar um ihn herum befand, war der bläuliche Schein, das fast lautlose Rascheln und das leise Schluchzen. Und seine eigene Stimme. Kopfschüttelnd näherte er sich schließlich so unauffällig wie nur irgend möglich der unheimlichen Geräuschquelle. Als er am Türrahmen angelangt war, schaute er vorsichtig in das nur schwach und weder von Lampen, noch von Kerzen beleuchtete Zimmer hinein. In das blaue Licht getaucht erkannte er eine kleine, zierliche Person, die im Dustern nur einen winzigen Schatten darstellte. Als er diese wahrnahm, überfiel ihn kein Schrecken und kein Mitleid. Seine Gefühle waren wie abgestorben und alles, was sein Auge erhaschen konnte, wurde direkt und ohne Umschweife an sein Gehirn weitergeleitet. "Akane", verriet dieses ihm. Allmählich breitete sich leichte Verwirrung in ihm aus und ließ somit wieder ganz sachte, seine Emotionen mit einwirken. "Akane weint", erkannte er, als er die zerknüllten Taschentücher neben ihr liegen sah. "Warum weint sie?" fragte er sich geradezu mechanisch. Zittrig streckte sie ihren Arm aus und betätigte einen Knopf der Fernbedienung. Wieder war dieses unangenehme Geräusch zu vernehmen, das nach einer Mischung aus Stimmgewirr und Bandsalat klang. Dann erst schweifte sein Blick langsam zum Fernseher hinüber, der ihnen kühles, aber dennoch sanftes Licht spendete. Wieder drückte sie auf eine Taste der Fernbedienung und beendete damit den monotonen Lärm. "Verstehe, du willst mich also nicht küssen." Erschrocken fuhr Ranma zusammen. Was hatte Akane da zu ihm gesagt? Und wann hatte sie ihn überhaupt bemerkt? Doch noch ehe er auf ihre ihn stark verwirrende Aussage kontern konnte, hörte er auch schon wieder seine eigene Stimme sagen: "So ist es nicht! Ich meine doch nur... Wenn es dir nichts ausmacht, dann... macht es mir auch nichts aus." Sein Unterkiefer klappte herunter. Er wusste nicht, ob er entsetzt über seine eigene Blödheit sein sollte, weil er es nicht früher bemerkt hatte oder sich vielleicht doch ein wenig... geschmeichelt fühlen sollte durch das, was sich vor ihm abspielte. Akane saß zusammengekauert und eng in eine Wolldecke gewickelt auf dem Fußboden und schaute sich immer wieder das Video an, welches Soun und Genma einst heimlich von Ranma und ihr gedreht hatten. Es spielte an jenem Tag als Ranma von Mikado geküsst worden war und Akane ihm daraufhin beweisen wollte, wie viel gewiefter als er sie doch war. Daraufhin wollten sie sich im Dojo küssen. Sie 'wollten' - aber dazu kam es nie. Denn kurz bevor der große Augenblick stattfinden sollte, ertappten sie ihre äußerst nervigen Väter beim Spannern und weg war die knisternde Stimmung. Knisternd oder irgendwas in dieser Richtung. Jedenfalls war Ranma schon ziemlich seltsam zumute als er so mit ihr da saß und sie ihre Augen schloss, um seinen Kuss über sich ergehen zu lassen. Damals überkamen ihn ganz plötzlich Schuldgefühle. Er wollte diese Situation nicht ausnutzen, wollte ihren ersten Kuss nicht genauso fürchterlich werden lassen, wie seine eigene erste Erfahrung jener gleichen. Kennen gelernt hatte er sie als durchsetzungsfähiges, zähes Mädchen mit einem starken Kampfwillen. Ihre damalige Bereitschaft, von ihm geküsst zu werden, führte er zu jenem Zeitpunkt allein darauf zurück, dass sie nicht als Verlierer den Dojo verlassen wollte. Und dies stimmte ihn ungeahnt nachdenklich. Er verstand nicht viel von Liebe und all dem Hin und Her zwischen Verliebten, die sich gegenseitig ihre Zuneigung ausdrücken wollten. Aber eines wusste er doch zumindest: Einen Kuss sollte man nicht ohne einen guten Grund verschenken bzw. entgegen zu nehmen. Ungeheuerlich starke Gewissensbisse übermannten ihn. Ja, Akane war entschlossen, diesen Kuss zwischen ihnen beiden an diesem Ort und zu diesem Zeitpunkt stattfinden zu lassen. Und ja, er wollte es so gerne. Aber sie erklärte sich ausschließlich aus den falschen Motiven dazu bereit. Und so ließ er ab und stotterte nervös ein paar Worte vor sich hin, um jenen Augenblick herauszuzögern... um Sekunden, Minuten, vielleicht aber auch Monate - solange bis sie beide aus freien Stücken es wollten. So sah es damals aus. Seine Gedanken- und Gefühlswelt brachten ihm stets nur jene Akane näher, welcher er am ersten Tag in Nerima begegnet war. Im Nachhinein betrachtet kam ihm erstmals die Überlegung in den Sinn, dass sie es vielleicht getan hätte, weil sie ihn wenigstens ein ganz klein wenig gern hatte. Zumindest waren Herz und Kopf sich darüber einig, dass die Akane, die er in den vergangenen Monaten näher kennen lernen durfte, durchaus kein oberflächliches Geschöpf war, dass sich so einfach zu undurchdachten Taten hinreißen lassen würde. Im Gegenteil - sie war ein sehr sanfter und gefühlvoller Mensch. Vielleicht zu gefühlvoll für diese kalte Welt, sodass sie all ihre Sanftheit hinter einer harten, gefährlich dreinblickenden Schale gut zu verbergen lernte. Wie er sie nun so vor sich sitzen sah, schluchzend, weinend vor dem Fernseher, wurde es ihm schlagartig bewusst. Sie war kein Machoweib; alles andere als das. In Wirklichkeit nämlich, war sie mädchenhafter als all ihre Freundinnen und Mitschülerinnen. Doch dieser Überschwung an zärtlichen Emotionen war für sie scheinbar gleichzusetzen mit Schwäche. Denn sobald jemand hinter diese Seite kam, sie etwa zum Rende-vouz ausbat, reagierte sie mit Wut und Zorn. Dieses Mädchen hatte Angst davor, weiblich zu sein. Dennoch schien ein Teil von ihr sich immer danach gesehnt zu haben, auf gewisse Art begehrt zu werden. Oder bloß von gewissen Personen? Sticheleien wie "unsexy" brachten sie ganz eindeutig in Rage. Aber warum? Aus welchem Grund befand sie sich in einem solchen emotionalen Zwiespalt? Ranma schluckte und rückte vorsichtig näher an die Wand aus Angst entdeckt zu werden. Die plötzlich aufkommende Furcht konnte er sich ebenso wenig erklären wie zunächst ihre Tränen. Der Gedanke, sie in diesem Augenblick anzusprechend, drückte irgendwie beschämend auf sein Gemüt. Wie oft war er Akane schon in diesem Zimmer begegnet? Wie oft hatte er sich zu ihr gesellt, wenn sie ferngesehen hatte? Sie wohnten nun schon ziemlich lange unter einem Dach und sahen sich Tag ein Tag aus. In dieser breiten Zeitspanne gab es Tage, an denen er am liebsten seine Sachen gepackt hätte, um zu verschwinden. Vielleicht nicht für immer, aber für eine Weile - so wütend machte sie ihn manchmal. Dann erinnerte er sich noch an Momente, in denen eine Peinlichkeit nach der anderen im Zusammenhang mit ihr stattgefunden hatte. Wie etwa die erste Begegnung im Bad. Oder das riesige Chaos rund um die Zeit, als Nabiki ihre Stelle als Ranmas Verlobte angetreten hatte. Und hin und wieder, wenn auch nur ganz selten, gab es Augenblicke, die er am liebsten für immer angehalten hätte. Als sie mit ihm fort gehen wollte, obwohl er seine Kraft durch die Moxibitions-Pressur verloren hatte zum Beispiel. Als sie sich für ihn und gegen die Superkräfte durch den Anzug entschieden hatte. Als er ihr Gesicht seit langer Zeit wieder erblicken durfte, nachdem er von dem Kampf gegen Herb zurück gekehrt war und ihr endlich wieder als Mann gegenüber stehen konnte. Und auch als er sie in der Höhle mit seinem Körper warm gehalten hatte. Aber jene Momente waren zugleich stets gekoppelt mit irgendwelchen tragischen, beschämenden oder schmerzhaften Ereignissen. Und so zog er es vor, sie zu verdrängen und sich nicht mehr an sie zu erinnern. Zweifellos waren es schöne Momente; jedoch nicht von Dauer und wahrscheinlich auch nicht dafür bestimmt, lange anzuhalten. Doch nun in diesem Augenblick, da er sie beobachtete, wie sie vor dem Fernseher saß, sich das Band ansah, dessen Existenz er bereits vergessen hatte, nachdem der Tag, an dem es gedreht worden war, sich dem Ende geneigt hatte, als er ihre Tränen bemerkte und ihre Schluchzer hörte, da meinte er zum ersten Mal, nicht bloß einen winzigen Ausschnitt aus ihrem so tiefen und vielschichtigen Charakter offenbart zu bekommen, sondern zum ersten und vielleicht auch das einzige Mal in seinem ganzen Leben ihr gesamtes, wunderschönes, gebrechliches Wesen in voller Pracht hell aufleuchten zu sehen. Eigentlich hätte es ihn melancholisch stimmen müssen, diese Seite von ihr bei einer Begegnung wie dieser kennen zu lernen und darüber hinaus auf unerklärliche Weise zu verstehen, was der Grund ihrer Tränen war. Aber nun, da er sie so sah wie sie war, da er sie beobachtete, wie sie weinte, verstand, warum sie weinte, sich daran erinnerte, wie Tofu und Kasumi sich noch am selben Abend gegenüber gestanden hatten und einander anlächelten, mischte sich zu dem Schmerz, den er jedes Mal empfand, wenn er Akane weinen sah, noch ein anderes, fast vergessenes Gefühl: Er war glücklich. Glücklich auf eine Art, die er vor langer Zeit schon einmal zu kennen geglaubt hatte. Glücklich nicht allein zu sein. Als er dies erkannte, lehnte er seinen Kopf erschöpft gegen den Türrahmen und flüsterte seine Worte so leise, dass sie Akane nicht erreichen konnten. "Weine nicht... Akane..." ... *Wein nicht mehr, kleines Mädchen* --- Hoffentlich gefällt es euch noch und wird nicht zu schnulzig... oder sogar langweilig. Tut mir leid, ich fürchte, das ist nicht so ganz mein Genre. Ranma verhält sich etwas seltsam, aber ich hoffe, das mittels meiner Erklärungen etwas aufdecken und / oder 'entschuldigen' zu können. ^^ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)