Elysium von abgemeldet (Suche nach dem Glück) ================================================================================ Kapitel 4: Sturm und Drang -------------------------- I reach for her hand It's always there *** "Ranma, warum starrst du mich so an?" Verträumt blickte er noch einen Moment mit dem Kinn in seine Hand gestützt zu seiner Verlobten hinüber, ehe er hoch schreckte und den roten Schleier auf ihren Wangen erkannte. "Oh! Ich... ich..." Panik überkam ihn. Was mochte sie jetzt wohl von ihm denken? Eilig kramte er in seinem Kopf nach einer guten Ausrede und zog es sogar für den Bruchteil einer Sekunde in Erwägung, ihr die Wahrheit zu sagen: Er hatte festgestellt wie damenhaft sie doch war, wenn sie ein mal kurz vergaß, sich unnahbar und kalt zu geben. Doch wie so oft endete sein Versuch, das richtige zu sagen im genauen Gegenteil. "Ich habe mich nur gefragt, ob du schon wieder zugenommen hast." Diesmal hatte sie tatsächlich für einen Moment gezögert, ehe sie sich gewaltsam für seine Sticheleien rächte. Etwas unentschlossen schlug sie ihm ihren Pantoffel auf den Kopf. "Autsch! Ich meine... Heute keinen Hammer zur Hand?" "Doch", bemerkte sie überraschend ruhig. "Die kleine Gnade hast du bekommen, weil du mich diesmal zur Abwechslung in einem sehr sanften Ton beleidigt hast. Das war so unheimlich, dass mir der Schock noch immer lähmend in den Muskeln sitzt." Lachend streckte sie ihre Zunge raus und sprang vom Frühstückstisch auf, um sich ihre Schultasche zu schnappen. Baff blieb Ranma mit weit aufgerissenen Augen zurück. Sie hatte recht! Seine Stimme hätte eigentlich etwas bösartiger klingen müssen. Wenn schon beleidigen, dann aber wenigstens richtig. Warum hatte er sie heute früh nicht unter Kontrolle? Irritiert schaute er zu seinem Vater hinüber. Dieser nickte langsam. Sein Blick verriet nichts Gutes. "Ich glaube, du solltest wieder auf Trainingsreise gehen. Vielleicht werden dir dann deine weibischen Angewohnheiten ausgetrieben." Seine Brillengläser funkelten hell auf. "Wir wollen schließlich alle Hindernisse, die sich vor eurer Verlobung auftun, aus dem Weg räumen." Ein herzhaftes Lachen folgte auf die eisige Kälte, mit der Genma soeben den Raum gefüllt hatte. Ranma schluckte und stolperte Akane hinterher. Auf dem ganzen Weg zur Schule hatte er sie keines Blickes mehr gewürdigt. Er war einfach nur stumm auf dem Zaun neben ihr hergerannt. Ein Teil von ihm wollte sie weiter ansehen, wollte wieder diese Seite an ihr entdecken, die er gestern heimlich und unbemerkt gefunden hatte. Letztlich gewann jedoch jener Teil in ihm den inneren Kampf um sein Handeln, der nur ein einziges Ziel vor Augen hatte: Der weltbeste Martial Artist zu werden. Martial Artists zeigen keine Schwäche, Martial Artist denken nicht über das Leben nach oder machen sich darüber Sorgen. Zähneknirschend beschleunigte er sein Tempo mit jedem Schritt, sodass Akane Probleme hatte, mit ihm mitzuhalten. Doch das bemerkte er erst später. Solang er sich bewegte, solang er einfach geradeaus lief war alles gut. Doch sobald er sich für eine Richtung zu entscheiden hatte, kam er ins Stocken und die Probleme nahmen überhand. So rannte er einfach immer schneller, um vielleicht ein paar dieser bösen Gedanken hinter sich zu lassen und wie jeden Morgen in bequemer Lässigkeit das Schultor zu durchqueren. Und tatsächlich zeigte seine Strategie allmählich Wirkung, indem er sich auf halber Strecke bereits ein wenig erleichtert und befreit fühlte. *** Gelangweilt gähnte Ranma, als der Lehrer den strohblonden Austauschschüler aus Deutschland zu sich nach vorne an seinen Pult rief. "Also Martin, diese Stunde wird allein dir zur Verfügung stehen", erklärte er dem leicht unbeholfen wirkenden Schüler. Dann wandte er sich zur Klasse und ermahnte diese in einem weitaus strengeren Ton: "Ihr werdet alle aufmerksam sein Referat mitverfolgen. Wer Unsinn macht, darf die nächsten zwei Wochen Reinigungsdienst übernehmen!" Mit einer winkenden Geste signalisierte er Martin sodann, zu beginnen. "Also..." setzte er schüchtern an und räusperte sich. "Ich werde euch heute ein Gedicht von Friedrich Gottlieb Klopstock ins Japanische übersetzen. Der Titel lautet 'Das Rosenband' - es ist in meinem Heimatland sehr bekannt." Noch einmal räusperte er sich und nahm einen Schluck aus dem ihm bereit gestellten Glas Wasser. "Im Frühlingsschatten fand ich sie; Da band ich sie mit Rosenbändern: Sie fühlt' es nicht, und schlummerte. Ich sah sie an; mein Leben hing Mit diesem Blick an ihrem Leben: Ich fühlt' es wohl, und wußt' es nicht. Doch lispelt' ich ihr sprachlos zu, Und rauschte mit den Rosenbändern: Da wachte sie vom Schlummer auf. Sie sah mich an; ihr Leben hing Mit diesem Blick an meinem Leben, Und um uns ward's Elysium." Mit halbem Interesse lauschten die Schüler seinen Worten. Während Martin sich im Anschluss an die Interpretation und die historische Einbettung machte, hatte Ranma schon längst weggehört. Ihm geisterte eine ganz andere Frage durch den Kopf. "Was zum Teufel soll denn 'Elysiung' sein??" rief er laut heraus und ärgerte sich, dass dieser Streber von Austauschschüler Worte beherrschte, die ihm selbst bis dato vollkommen unbekannt waren. "Elysium...", gab Martin verständnisvoll wieder und lächelte sanft. "Damit wird der Augenblick des vollkommenen Glücks bezeichnet." Er machte eine kurze Pause. "Das Gedicht stammt aus der Epoche der Aufklärung. Zu jener Zeit lernten die Menschen, insbesondere die Künstler, ihre Gedanken ganz offen wiederzugeben, sie ihrer Umwelt zu vermitteln und betont die Liebe an der Natur darzustellen." Ranma stutzte. Dies war ausnahmsweise mal eine halbwegs interessante Unterrichtsstunde. "Liebe an der Natur darstellen - wie soll das denn gehen?" lautete seine aufmerksame Frage, als er für einen Moment seinen Mund von dem Bleistiftende befreite, auf welchem er schon die gesamte Unterrichtsstunde gekaut hatte. "Nun ja... Liebe, Natur und der Widerstand gegen den allgemeinen Rationalismus waren für die Künstler der Aufklärung eben ein Ganzes, das allein nicht bestehen könnte. Zwei der bedeutendsten Gegenströmungen jener Zeit waren der Pietismus und die Vorromantik, an welche Klopstock nicht zuletzt wegen seines stetigen Bezugs auf das Überirdische eigentlich eher anknüpft, da er seine Werke sehr gefühlsbetont verfasste. Jene eigenwilligen Kunstrichtungen behielten es sich zum Ziel, das Subjektive stärker zu betonen als es die Aufklärer taten. Die Dichter, deren Absicht es war, der Aufklärung entgegen zu wirken hielten sich zwar trotz dessen teils an das aufklärerische Gedankengut, weswegen Klopstock sich wohl auch in diese Sparte einfügen lässt, doch durch die feine Abstufung von jener nannten sie ihre Bewegung unter anderem auch 'Empfindsamkeit'; sie widmeten sich eher den emotionalen Aspekten. So wurde ein Liebespaar auf einem Gemälde zum Beispiel gerne in freier Natur gemalt, während Dichter bevorzugt Blumen, Tiere oder ähnliches aus ihrer Umwelt als Metaphern für ihre Emotionen genutzt haben. Sie arbeiteten auch gerne mit Farben. Rot, Gold - alles, was sehr ausdrucksstark war und vor allem Sinnlichkeit darstellte." Vor Schreck fiel Ranma der Stift aus dem Mund. Farben, Natur, Gefühle... Das kam ihm doch alles sehr bekannt vor. Waren also letztlich die Farben, welche er vor nicht allzu langer Zeit von dem Berggipfel aus bestaunt hatte, der Grund für sein unglaublich stark aufgeschwungenes Gemüt als er hoch oben stand und sich dem Himmel so nah, dem Leben so mächtig fühlte? Er konnte Martin zunächst nicht so recht folgen als dieser von der Sache mit den 'Gegenströmungen' erzählt hatte, aber den Rest, meinte er, ganz gut verstanden zu haben. Und einer Sache war er sich ganz sicher: Dieser Klopstock schien echt einiges auf dem Kasten gehabt zu haben. Gefühle, Natur und das Überirdische. Drei Elemente, die sich nur zu einem verschmolzen wirkungskräftig zeigen. Das Überirdische. So wie... Engel? *** Der Schulgong ertönte und entließ die Schüler der Furinkan in die Mittagspause. Lachend stürmten die Jungen und Mädchen aus dem Klassenzimmer, um es sich an diesem sonnigen Tag auf der Wiese des Schulhofs gemütlich zu machen oder sich am Schulkiosk ein Yakisoba-Brötchen zu kaufen; denn die waren am heißesten begehrt und trugen tagtäglich dazu bei, dass die in Harmonie lebenden Schulkameraden zu unerbittlichen Gegnern am Verkaufsstand mutierten. Nur einem blieb es an besagtem Tag verwehrt, sich der Schlacht zu stellen, noch konnte er seinen Körper genüsslich in der Sonne räkeln. "Hey du. Hast du mal eine Minute Zeit?" Mit einem Finger, den er ihm von hinten in den Kragen seiner Schuluniform hakte, hielt Ranma den blonden Austauschschüler davon ab, zur Tür hinauszuspazieren. "Ähhh.... Was ist denn?" fragte Martin leicht verunsichert zurück. "Ich würde gerne etwas mit dir besprechen, wenn's dich nicht stört. Wegen deines... du weißt schon, deines Auftritts von eben." Lässig lehnte Ranma gegen die Wand und schlug erst nachdem er seinen Satz beendet hatte die Lider hoch, um seinem Gegenüber in die Augen zu blicken. Dieser begann allmählich zu zittern, während sein Gesicht von schwacher Bliche befallen wurde. "A-also..." stotterte er verängstigt zurück. "Wenn ich etwas gesagt haben sollte, das dich beleidigt hat oder so, dann tut es mir sehr leid. Aber weißt du, ich bin kein Kampfsportler. Ich habe Asthma, kann also nicht mal den Schulsport mitmachen und--" "Wovon zum Teufel redest du?" Mit nicht geringer Verwunderung fiel Ranma ihm ins Wort und ließ seinen Kragen los. "Ich hab' nicht vor, mich mit dir zu schlagen." "Nicht?" fragte Martin mit großen Augen zurück. Die Erleichterung in ihm machte sich deutlich bemerkbar. Stirnrunzelnd schüttelte Ranma seinen Kopf. "Warum sollte ich?" fragte er schließlich schulterzerzuckend zurück. "Ich schlag' mich nur mit ernstzunehmenden Gegnern. Nichts gegen dich. Was ich eigentlich wollte war, dass... naja..... dass du mir etwas mehr von diesem Elysium oder wie das heißt erzählst. Du weißt schon, der Kram mit den Farben und der Natur und so." Martins Gesicht erhellte sich nun vollends. "Ahhh! Du interessierst dich also für die Epoche der Aufklärung! Hätte ich dir gar nicht zugetraut..." "Was?!" "Nichts!! Ich... ich meine, wenn dich der Bezug zur Natur in der Poesie interessiert, kann ich dir verraten, dass es da noch eine andere sehr interessante Epoche gab. Die... wie heißt das Wort auf Japanisch noch mal...??" Nachdenklich kaute er auf seiner Unterlippe und starrte geistesabwesend an die Decke. Plötzlich hob er mit leuchtenden Augen seinen Zeigefinger. "Ich hab's: 'Sturm und Drang'! Genau, so hieß sie." "Sturm und Drang", wiederholte Ranma langsam. "Das klingt ja fast wie... eine Kampftechnik. Kannst du mir darüber mehr erzählen?" "Ich bin zutiefst erfreut, dass du so viel Interesse zeigst. Gerne will ich dir darum mehr über dieses meiner Lieblingsthemen beibringen." Ranma rollte genervt mit den Augen und winkte ihm müde zu. "Alles klar, alles klar. Aber lass dann bitte dieses geschwollene Gerede sein." Schluckend straffte Martin seine Schultern. "Klar. Wie wär's wenn wir das draußen weiter besprechen?" "Nichts dagegen einzuwenden", antwortete Ranma heiter. *** Hungrig biss Martin in sein Yakisoba-Brötchen und schloss genüsslich seine Augen als er den ersten Bissen hinunterschluckte. "Mmm... lecker schmeckt das. Wegen des ständigen großen Gedrängels am Schulkiosk kam ich noch nie dazu, es zu probieren. Danke noch mal!" "Kein Problem", gab Ranma unberührt zurück. "Eine Hand wäscht die andere. Also dann los." Eifrig nickte der blonde Junge und zog aus seiner Tasche ein Buch hervor. "Also? Wo fangen wir an?" Ranma konnte sich nicht helfen und musste lachen als er dem ausländischen Schüler ins Gesicht schaute - der Mund nicht nur von einem breiten Lächeln, sondern auch von vielen Brotkrümeln umspielt. "Wie wär's mit dem Anfang?" Sie tauschten muntere Blicke aus. "Erzähl mir doch mehr über die Sache mit dem Sturm und Drang." *** Ranma hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Der Schulhof war heute noch belebter als sonst. Grund dafür war das anstehende Schulfest, auf das bereits emsig hingearbeitet wurde. Daher hatten sich die Schüler nach der Mittagspause nicht mehr in den Klassenräumen wiederzufinden, sondern rannten hektisch über das Grundstück der Schule zwecks Aufbauarbeiten, Übermittlungen von Planänderungen an die einzelnen Teamleiter oder Stichkontrollen über gute Arbeit, vorrangig jedoch aufgrund des Übungsdurchgangs des Unterhaltungsprogramms, an dem sich der Großteil der Schüler beteiligte. Martin hatte sich längst von ihm verabschiedet, da er als erster Flötenspieler bei den Orchesterproben nicht fehlen durfte. Er selbst wusste sich keiner Aufgabe zu verschreiben. Wenn es denn keinen guten Kampf mit würdigen Gegnern gegeben hatte, was hätte er da schon großartig anstellen können? Ein starker Kämpfer zu sein, brachte zwar immer wieder Vorteile mit sich, wirkte sich aber in Situationen wie dieser als recht nutzlos aus. Daher zog er es vor, sich so lange den azurblauen Himmel anzusehen, bis jemand auf seine fehlende Anwesenheit aufmerksam wurde. Komplett der Schule fernbleiben wollte er schließlich nicht. Das hätte nur unnötigen Stress, unter anderem mit leicht reizbaren und nicht minder gefährlichen Englischlehrerinnen, gegeben. Still und unauffällig hatte er es sich auf einem Ast bequem gemacht und ging tief in sich. Mit dem ganzen Poesie-Geschwätz hatte er noch nie sonderlich viel anfangen können. Aber aus Martins Mund klang alles sehr logisch und teilweise sogar geradezu faszinierend. Ganz besonders hatten es ihm die Erzählungen um die Zeit der Stürmer und Dränger angetan. Diese sahen in ihrer Kunst, so klärte Martin ihn auf, eine Vereinigung von der Vernunft, dem Gefühl und der Natur, ähnlich einiger Irrwege der Aufklärung. Nur, dass sich in diesem Fall eine stärkere Tendenz zur Utopie abzeichnete. Freiheit und Selbstverwirklichung des Individuums galten als Leitmotiv dieser kurzen, aber dafür umso ausdrucksstärkeren Epoche. Nachdenklich schaute er auf seinen Arm. Die Wunde, die er sich am Vorabend zugefügt hatte, war bereits vollständig verheilt, doch die Erinnerung lag ihm noch immer beängstigend im Mark. Dunkel meinte er sich zu erinnern, dass ein Lehrer ein mal von Leuten erzählt hat, die sich absichtlich selbst verletzen, um sich damit von ihrer Unzufriedenheit mit dem Leben abzulenken, indem sie die Schmerzpunkte auf eine andere Stelle fixieren. Hatte er das getan? War der Grund für seinen kurzzeitigen Aussetzer gewesen, dass ihm schlicht und einfach das Glück in seinem Leben fehlte? Seiner Erziehung gemäß hatte er sich stets bemüht, einzig und allein die Kampfkunst als Lebensmotiv zu haben und sich dementsprechend von keinen Schwächen übermannen zu lassen. Konnte es also sein, dass er durch seine verbissenen Versuche, es seinem Vater recht zu machen, gar nicht bemerkt hatte, wie labil er in Wirklichkeit war? Eigentlich hatte er immer geglaubt, sehr stark zu sein; körperlich wie auch psychisch. Bei genauerer Überlegung begann dieses Bild jedoch zu bröckeln, wenn er seine nervlichen Zusammenbrüche Revue passieren ließ, die allesamt von verlorenen Kämpfen ausgingen. Seufzend erinnerte er sich an seine Empfindungen als er in der vergangenen Nacht Akane weinen gesehen hatte. Würde sie sich ein solches Filmmaterial ansehen, wenn ihr die Erinnerung daran unangenehm oder der Mensch mit dem sie dort zu sehen war, unsympathisch war? Ranma hatte es gespürt: Egal wie sehr sie sich so oft dagegen wehrte, sie mochte ihn. Das Gefühl einer Person so wichtig zu sein, dass sie in einer gemeinsamen Erinnerung mit ihm schwelgend zu weinen beginnt, hatte für ihn eine ungeahnt große Bedeutung gewonnen. Es war nicht einfach nur das Gefühl jemandem etwas zu bedeuten, sondern dieser einen Person. Konzentriert blickte er auf ihre gemeinsame Geschichte zurück und sah schöne wie auch sehr unschöne Bilder vor sich, wobei letzteres deutlich überwog. Sie schlug ihn, beschimpfte ihn, grenzte ihn vom ersten Tag an aus. Dann jedoch zwischendurch erkannte er immer wieder ein winziges Lächeln auf ihrem Gesicht und weg war die Wut. Leider nur so lange bis es zum nächsten Streit gekommen war. Verwirrung befiel seinen Kopf. War es also so, dass in einem Machoweib ein liebenswertes Wesen schlummerte oder wartete eher das Biest in einem auf den ersten Blick unschuldigen Mädchen auf sein Erwachen? Fest stand, Akane besaß die eine und die andere Seite. Fest stand, sie konnte ihn rasend machen, sodass er vor Wut kochte und sich vollkommen vergaß. Fest stand, sie konnte ihn dann und wann aber auch glücklich machen. So wie gestern. Fest stand, auch wenn die Streitereien quantitativ deutlich vorne lagen, überwogen sie jedoch nicht an Bedeutung in ihrer Beziehung zueinander im Gesamtanblick. Sie nervte ihn oft, sie machte ihn wütend und beschuldigte ihn zu Unrecht für alles erdenkliche. Aber dennoch konnte er nicht mit reinem Gewissen sagen, dass er sie nicht mochte. Als er alle Fakten sorgsam gesammelt hatte, überlegte er sich wie die Stürmer und Dränger jenes Problem gelöst hätten. Er konnte ja schlecht ein Gedicht schreiben. Dazu war er nicht... wie sagt man? ... 'kultiviert' genug. Viel mehr musste er sich in das Prinzip eines Gedichts hineinversetzen. Mittels der Natur hatte er vor Kurzem schon einmal zu fast vergessenen Glücksgefühlen gefunden. Ebenso als er das wahre Wesen von Akane erblickte und natürlich auch als er sie in den Armen hielt. Wieder war letzteres auszuschließen. Sie hätte es nur falsch verstanden, wenn er sie plötzlich mit Zärtlichkeiten überschüttet hätte. Oder noch schlimmer: Sie hätte es richtig verstanden. Darum entschied er sich vorerst, sie einfach besser kennen zu lernen, mehr von dieser Seite zu sehen, die ihre Sanftheit und Verletzlichkeit wiederspiegelte. Mithilfe von Martins leicht verständlichen Erklärungen hatte er sich endlich wieder ein neues Ziel setzen können, sah nach langer Zeit wieder einen interessanten Kampf: Er wollte sich Akane nähern und mehr Zeit mit ihr verbringen, um wieder zu jenem undefinierbaren Etwas zu gelangen. Auf dem Gebiet der Faustkämpfe verstand er sich ja bereits bestens. Aber dies hier war härter, schwieriger, komplizierter. Erstmals wurde etwas herausgefordert, was er nie auch nur in Erwägung zog zu trainieren: Gefühlsoffenbarung. Geduldig hatte Martin ihm des weiteren erzählt, dass der erste Schritt, den die Stürmer und Dränger, wie auch die Aufklärer auf dem Weg dazu taten, im inneren Gleichgewicht bestand. In anderen Worten konnte es mit der Gefühlsoffenbarung nur dann funktionieren, wenn man sich seiner Gefühle eindeutig bewusst wurde und nicht länger gegen sie ankämpfte. Dazu gehörte auch das sich Aufbäumen gegen den Absolutismus. Betrachtete er nun also seinen Vater als Gegner und sich selbst als Element des Sturm und Drangs, dann war alles, was er zu tun hatte, all seine bisherigen Gewohnheiten im Umgang mit seinen in diesem Plan bedeutenden Mitmenschen, gemäß der Sturm-und-Drang-Schule der Martial-Arts-Gefühlsoffenbarungs komplett umzukrempeln. Ein zuversichtliches Lächeln platzierte sich auf seinem Gesicht als er sich selbst zunickte. Gerne hätte er seine Pläne weiter ausgearbeitet, doch plötzlich holte ihn eine Stimme unsanft aus seinen Gedanken in die Gegenwart zurück. "Ranma Saotome, du unartiger Junge! Komm da sofort runter und beteilige dich wie alle anderen an den Vorbereitungen für das Schulfest!" Zu sagen, dass Hinako-senseis plötzliche Präsenz ihm unangenehm war, wäre deutlich untertrieben gewesen. Nur in knapper Not hatte er sich auf dem Ast halten können, nachdem er das kleine Mädchen erblickt hatte, welches bereits drohend eine 50 Yen Münze zückte. Sich den Nacken kratzend sprang Ranma vom Baum herunter. "Tut mir leid, aber ich fürchte, ich kann mich nicht wirklich beteiligen. Ich spiel' kein Instrument oder so und wenn irgendjemand mich zwingt, etwas auf einer Bühne zu tanzen, dann--" Genüsslich und laut gähnte die kleine Lehrerin und schaute dann überrascht zu ihm auf. "Oh. Wolltest du noch etwas sagen? Naja, ist ja nicht so wichtig. Dann beteilige dich gefälligst wenigstens an den Aufbauarbeiten, statt hier einfach nur herumzulungern. Andere packen schließlich auch mit an." "Aufbauarbeiten..." Gleichgültig zuckte Ranma mit den Schultern. "Ich denke, das werde ich hinbekommen." "Schön zu sehen, dass du auch mal ein braver, gehorsamer Schüler sein kannst", gab Hinako daraufhin mit glänzenden Augen zurück und fand sich ganz in ihrer Rolle als missionierende Lehrerin wieder. "Schade nur", fügte sie im Anschluss langsam hinzu. "dass du dich nicht genauso wie Akane Tendo beteiligen kannst. Sie ist wirklich eine große Bereicherung für uns alle." Munter lächelte sie ihm zu. Ranma öffnete perplex seinen Mund, um weiter nachzuhaken, doch noch ehe er den ersten Ton herausgebracht hatte, war sie bereits verschwunden. Die Organisatoren des Süßigkeiten-Standes hätten wirklich etwas vorsichtiger sein müssen. *** Die Arbeiten, die er zugeteilt bekommen hatte, waren monoton und alles andere als aufregend gewesen. Körperliche Ertüchtigung hätte man das Schrauben und Drehen nun wirklich nicht nennen können. Und während zwei oder gleich mehrere Schüler sich schwitzend und stöhnend mit dem Transport eines Tisches abquälten, trug Ranma ohne sonderliche Anstrengung einen ganz alleine. War das langweilig. Statt in der öden dunklen Turnhalle herumzusitzen, wäre er viel lieber wieder hinausgegangen. Ihm wäre schon irgendeine Beschäftigung eingefallen bei einem schönen Wetter wie diesem. Genervt vor sich hingrummelnd drehte er gerade eine Schraube in eine Schiene des Reisbällchenstands als wie aus dem Nichts auf einmal wunderschöne Klänge an sein Ohr drangen. Das Kichern und Lachen der Mädchen, die mehr Unsinn als Sinn ins Mikrophon sprachen, hatte er bewusst überhört. Auch zog es nicht weiter seine Aufmerksamkeit auf sich als Akanes Name erwähnt wurde, woraufhin kurz ihre Stimme in kichernden Protesten ertönte. Schließlich verstummten die Lacher jedoch, was Ranma ebenso wenig interessierte, wie der ganze vorherige Heckmeck. Doch jene Klänge, die nun sanft durch die kleinen aufgestellten Lautsprecher drangen, paralysierten ihn für wenige Momente, bis er sich schließlich von seine Starre lösen konnte und sich neugierig herumwandte. Mit geweiteten Augen und offenem Mund sah er Akane leicht verkrampft auf einer provisorischen Bühne aus alten Tischplatten stehen. Schüchtern umfasste sie das Mikrophon mit beiden Händen und sang zaghaft hinein. Er konnte nicht verstehen, was genau sie gesungen hatte, da der Liedtext auf Englisch war. Hinako-sensei wäre vor Freude in die Luft gesprungen, wenn seine Englischkenntnisse Fortschritte aufgezeigt hätten, doch seine Einstellung zum schnöden Pauken blieb mit Ausnahme von Martins knapper Exkursion bislang konstant. Dies änderte jedoch nichts daran, dass die Klänge, die melodisch und glockenklar aus ihrem Mund ertönten, sein Herz sanft berührten, so als zündete jemand ein kleines Lichtlein darin an. Ihre Stimme war nicht sonderlich kräftig, erreichte aber dennoch sehr hohe Töne in leichten, gänsehauteinflößenden Vibrationen. Nach und nach füllte sich die Halle mit einer wohligen Wärme. Ruhe kehrte ein, als schließlich auch der letzte Schüler von seinem Werkzeug abließ, um dem zauberhaften Gesang zu lauschen. Von weitem konnte man die Röte in ihrem Gesicht deutlich erkennen, als sie ihr zunehmendes Publikum bemerkte, doch trotz dessen festigte sich ihre Haltung und die Töne glitten mit jedem Takt fließender und klarer von ihren Lippen. Aus den hohen Fenstern, die in der Wand lagen, fielen vergnügt helle Sonnenstrahlen hinein und ließen Akanes Erscheinung aufleuchten. Geschmeidig umspielte sie das von hinten an sie herandringende Licht und wirkte wie ein Heiligenschein. Ranma schaute sie bewundernd an, offen und ehrlich wie er sie noch nie zuvor in aller Öffentlichkeit angesehen hatte. Wann hatte sie überhaupt gelernt, so zu singen? Oder hatte sie es schon immer gekonnt? Erst jetzt fiel ihm auf, dass er sie noch nie singen gehört hatte. Umso hypnotischer wirkten jene wohligen, weichen Töne in diesem Augenblick. Ihre Stimme zog ihn in ihren Bann und ließ es nicht zu, weiterhin zu verbergen, was in ihm schlummerte. Und da war es wieder. Das Gefühl, das ihn überkam als sie ihm lächelnd unter dem Schirm Platz gemacht hatte, das Zusammenspiel von Sehnsucht und Glück als er sie in der vergangenen Nacht hatte weinen sehen, die Erkenntnis, dass sie das Licht anzog und ihm scheinbar ihre eigene Energie wiedergab. Ihre Stimme floss in seinen Geist wie ein zartes Versprechen. Eines, das ihm sagte, sie werde immer da sein, sie sei es immer gewesen und wenn es jemanden auf der Welt gibt, der es schafft, diese innere Leere und das Gefühl der Sinnlosigkeit von ihm zu nehmen, jemanden, dem er diese Seite von sich zeigen kann, ohne Angst haben zu müssen, dass etwas Schlimmes darauf folgt... dann sei sie es. Denn eigentlich hatte er dies bereits gespürt, als er das erste Mal in ihre Augen sah. Lächelnd schloss er seine Augen, um eins mit jener warmen Empfindung zu werden. *** ... Du erinnerst dich... Wer bist du? ~Das weißt du... ... ~Du warst noch ein Kind. ~Doch erst durch sie lerntest du es. Was lernte ich? ~Was es heißt, Kind zu sein. Wie lehrte sie es mich? ~In dem sie dich einen Teil ihrer farbenfrohen Welt werden ließ. Wer war sie? ~Ein Engel... *** "Akane..." "Huh?" Überrascht drehte sie sich zu ihm um. Ihr erster Blick fiel aus Gewohnheit über die linke Schulter hinweg auf den Zaun, neben dem sie hergelaufen war. Als sie diesen leer vorfand, bemerkte sie erst, dass sie bereits ein paar Schritte weitergegangen war, während er hinter ihr stehen geblieben war. Hinter ihr, nicht neben ihr wie sonst. Mit ihrer Schultasche in der einen Hand und dem Liedtext, den sie gerade in Gedanken auswendig lernte, in der anderen, wirbelte sie herum. Ihre Stimme zog sich von Verwunderung bis hin zu vorsichtiger Sorge. "Was ist los?" Ernst schaute Ranma einfach geradeaus, durch den erhobenen Blick vortäuschend, eine Stärke zu besitzen, zu der er in Wirklichkeit gerade nicht finden konnte. Mit unlesbarer Miene rieb er seine Zähne fest aufeinander, sodass ein leises Knirschen zu vernehmen war und nicht unbedingt rettend der recht misslichen Situation beitrug. Doch dies sollte nicht sein Hauptproblem sein. Mit rasendem Herzen bemühte er sich, all seinen Mut zusammen zu nehmen und sagte schließlich in einem trotzigen Ton: "Ich will noch nicht nachhause gehen." Ihre großen, fragenden Augen forderten ihn auf, weiter zu sprechen. Als sich ihre Blicke für einen Moment trafen, konnte er seine würdevolle Pose nicht mehr lange beibehalten und sein glühendes Gesicht sank zu Boden, um ein paar Grashalme am Wegrand näher zu inspizieren. "Ich... ich... naja.... du weißt schon." Verstohlen schielte er kurz zu ihr hinauf. Sie lächelte? Gut. Sie lächelte. Sehr gut! "Ich...... also, ich habe mich gefragt, ob du vielleicht Lust hast............ auf den Jahrmarkt zu gehen......?" "Mit dir?" fragte sie misstrauisch zurück und zog ihre Augenbrauen hoch. Wortlos nickte er. "Ehm.... Und ich nehme an, ich soll wieder als Begleitung dienen, nicht wahr? Meine Güte, du bist schlimmer als ein kleines Baby. Na gut. Ausnahmsweise mal. Aber wo kriegen wir jetzt..." Kopfschüttelnd drehte sie sich nach allen Seiten um und entdeckte bald einen Wasserhahn an der Grundstücksmauer von Ikeda-san, einer netten alten Dame, die ebenfalls eine treue Patientin von Doktor Tofu war. "Na komm schon her", seufzte sie genervt als sie den angeschlossenen Gartenschlauch aufhob. Ranma sah sie in einer Mischung aus Verwirrung und Entsetzen an. "Wa-was hast du vor?" stotterte er hilflos. "Na... Willst du nicht lieber als Mädchen hingehen?" "WAS??" "Mach mir nichts vor, Ranma. So lange du nicht am Trainieren bist, ist es dir doch immer egal, ob du dich verwandelst. Naja, egal vielleicht nicht. Regen verabscheust du immer noch wie die Pest, ganz gleich wo du bist und was du gerade tust. Aber du verwandelst dich ja oft genug aus freien Stücken." Gleichgültig zuckte sie mit den Schultern. "Dein Appetit ist eben meistens größer als dein Stolz." "Bist du jetzt fertig?!" schrie Ranma sie an, fasste sich aber schnell wieder. "Ich hab' nie vorgehabt, mich zu verwandeln. Eigentlich... e-eigentlich würde ich viel lieber als Mann mit dir... ähm... mit dir auf den Jahrmarkt gehen." Japsend zuckte er zusammen. Nicht weil sie ihn verbal oder nonverbal während des sich anbahnenden Gefechts angriff, sondern weil sie nun übers ganze Gesicht strahlte. Mit ineinander gefalteten Händen und großen glitzernden Augen schaute sie ihn erwartungsvoll an. "Ist das wirklich wahr, Ranma?" "Ähm.... also.... ja... sonst hätte ich ja nicht gefragt. Also......" Puh! War das anstrengend. Was war denn auf einmal in sie gefahren? Ein kleines Wörtchen und sie flippt völlig aus. War das noch normal? Er hatte sie schließlich nur gefragt, ob sie mit ihm auf einen Jahrmarkt gehen würde. Mehr nicht. Oder verstand sie es etwa als Einladung zum Rende-vouz?? Schon wieder machten sich diese fürchterlichen, aufdringlichen Schmetterlinge in seinem Bauch breit. Ängstlich schluckte er den dicken Klos in seinem Hals hinunter. Warum schaute sie ihn noch immer so an? Erwartete sie, dass er etwas hinzufügte? Man, hatte sie ein schönes Lächeln, wenn sie es nur hin und wieder mal zuließ. "Ich... ich..." stotterte Ranma in seiner Verzweiflung. "Ich hab' nur keinen Bock, allein hinzugehen. Das ist alles. A-alleine essen... das wirkt doch armselig." Kichernd legte sie den Kopf schräg. "Manche Dinge ändern sich einfach nie." *** Ranma dankte wie so oft in dieser Woche den Göttern. Diesmal war der Grund jener, dass der Jahrmarkt, welchen er zusammen mit Akane besuchen wollte, nicht allzu weit entfernt von ihrer Schule aufgebaut war. Eine Zugfahrt hätte ihn an diesem Tag wahnsinnig gemacht. Schlimm genug, dass ihn urplötzlich die seltsamsten Gedanken übermannten. Darüber hinaus auch noch Akane an der Seite zu haben, raubte ihm alle paar Minuten aufs Neue die Sinne und drängte sich unaufhaltsam zwischen seinen Stimmbändern und seinem sonst so tüchtigen Gehirn. Und wieder einmal schafften es schnelle, gleitende, luftdurchschneidende und erquickende Bewegungen seinen Geist für eine Weile frei zu machen und ihn etwas aufzulockern. Was hatte er eigentlich zu befürchten? Akane wusste nichts von seinem Plan. Und solang er sich ihr gegenüber wie immer verhielt, vielleicht auch etwas netter als sonst, würde alles glatt gehen. Davon abgesehen hatte er fürs Erste ohnehin nichts weiter geplant, als etwas mehr Zeit mit ihr zu verbringen. Aber allein schon dieser Gedanke bewegte etwas in ihm. Vielleicht waren es auch die Ereignisse der vergangenen Tage, die dieses Gefühl in seinem Bauch verstärkten. Er wusste es nicht. Alles, was er mit Sicherheit behaupten konnte war, dass er sich wieder nach einem Augenblick wie letzte Nacht sehnte. Er wollte Akane ein weiteres Mal ansehen und diese Gewissheit spüren, dieses Gefühl haben, dass sie seinem Leben einen Sinn geben kann und ihn als Mensch, nicht nur als Martial Artist schätzte.... oder sogar... mochte. Seltsamerweise, so meinte er, hatte auch sie sich an diesem Tag etwas anders als sonst verhalten. Vielleicht, weil er sich in kleinen Schritten bemüht hatte, ihre Beziehung zueinander auf andere Art und Weise zu erforschen und ihr mit ungewohnter Nettigkeit gegenüber trat. Vielleicht, weil sie es doch als Rende-vouz ansah und sich ein solches insgeheim immer gewünscht hatte. Dies war zwar äußerst unwahrscheinlich, doch nach dem, was sich in der vergangenen Nacht vor seinen Augen abgespielt hatte, sollte ihn nichts mehr überraschen. Das Prinzip war also ganz einfach. Wahrscheinlich zu einfach, sodass er in der Vergangenheit den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen hatte oder schlichtweg nicht sehen wollte: War er nett zu ihr, war sie es auch zu ihm. So simpel und doch so schwierig... manchmal. Wortlos liefen sie nebeneinander über den belebten Platz, an dem sich Schießbuden, Essensstände und lustige Unterhaltungsshows tummelten. Die Musik der vielen verschiedenen Bühnen, die dort aufgestellt waren, vermischte sich in seinen Ohren zu einem unangenehmen Lärm, doch gleichzeitig war Ranma auch dankbar über die hohe Lautstärke auf dem Marktplatz. Sein Herz trommelte so laut, dass sich alle nach ihm umgedreht hätten, wenn er in ruhigerer Atmosphäre gewesen wäre. Hin und wieder wagte er es, aus dem Augenwinkel einen kurzen verstohlenen Blick auf Akane zu werfen und wunderte sich jedes Mal aufs Neue, weshalb er sich ihr gegenüber nicht einfach so neutral wie immer geben konnte. Es war schließlich nicht so, dass sie alleine wären oder er überstürzt mit irgendetwas Falschem herausgebrochen wäre. Lediglich dieser miese Gedanke in seinem Hinterkopf, welcher ihn an die Geschehnisse um das Videoband erinnerte, ließ ihn nicht los. Und wann immer er all seinen Mut bündeln konnte, um kurz zu ihr hinauf zu schielen, erblickte er zwar das genaue Gegenteil von dem, was ihn letztlich dazu veranlasste, sich auf diesen gemeinsamen Nachmittag einzulassen, doch es war nicht minder schön anzusehen. Bei jeder bunten Laterne, die ihr Auge erhaschte, bei jeder noch so unspektakulären 'Attraktion' für die verrückt gekleidete Moderatoren auf kitschig dekorierten Bühnen warben, bei jedem Teddybären, der vorne an einer Schießbude ausgestellt war leuchteten ihre Augen in schier unbändiger Freude auf. "Schade...", sagte sie plötzlich in leichter Enttäuschung und brach damit die lang angehaltene Stille zwischen ihnen beiden. "Was ist los?" fragte Ranma so gelassen es ihm möglich war. "Ich komme mir etwas fehl am Platze vor." Er entspannte etwas und kräuselte die Stirn. "Ich verstehe nicht, was du meinst." "Schau dich doch mal um." Mit einer Geste deutete sie auf alle sie passierenden Menschen. "Wir hätten uns vielleicht erst zuhause umziehen sollen, ehe wir hierher gekommen wären. Ich hätte so gerne meinen Yukata angezogen." Schon wieder schaffte sie es, ihn zu überraschen. Da behauptete sie also immerzu, sich über Äußerlichkeiten keine Gedanken zu machen und dann das. "Das macht doch nichts", gab er unverständlich in einem Kopfschütteln zurück. "Du siehst auch so g-- Ich meine...... Es geht schon." Sich selbst innerlich rügend presste er seine Lippen zusammen. Glücklicherweise hakte sie nicht weiter nach und nahm seine unvollständige Aussage bloß mit einem dankenden, warmen Lächeln entgegen. "Ich hab' mich ja schließlich auch nicht umgezogen." sprach er hastig weiter, um die Situation zu entschärfen. "Also... warum solltest du dich dann unbedingt... du weißt schon.... umziehen?" "Ich weiß nicht...", gab sie wenige Sekunden später schließlich Antwort auf seine Frage. "Vielleicht... vielleicht ist es manchmal einfach besser, sich auf die ein oder andere Veränderung einzulassen, statt immerzu nur im selben Trott zu schwimmen." Ein weiteres Lächeln strahlte ihm entgegen. Sein Gesicht war wie versteinert. Er wusste ganz genau, dass sie sich auf nichts weiter als ihre Kleidung bezogen hatte, doch für ihn bedeuteten ihre Worte und ihr Lächeln in diesem Moment so viel mehr. Wenn er... es nun einfach zulassen würde? Der Grund für seine stetige Nervosität, wann immer sie sich näher kamen, war vielleicht nur der, dass er noch immer nicht mit sich selbst ins Reine gekommen war; mit sich selbst und seinen Gefühlen ihr gegenüber. Dabei war es doch genau das, was die Künstler des Sturm und Drangs taten, um sich für ihre Werke inspirieren zu lassen - sie lernten zu ihren Empfindungen zu stehen. Auf einmal erschien ihm alles längst nicht mehr so kompliziert. Hier waren nur er und sie; abgesehen von den vielen fremden Menschen. Es war niemand darunter, der sich störend in ihre Beziehung eingemischt hätte. Und so konnte er es einfach genießen, mit ihr zusammen zu sein, anstatt vor lauter Sorge, etwas Falsches zu sagen oder zu tun, fast einzugehen. Als er nur wenige Stunden zuvor auf dem Ast liegend über sein weiteres Vorgehen nachgedacht hatte, glaubte er, endlich ehrlich mit sich selbst geworden zu sein. Aber in Wahrheit kam er diesem Ziel nur ein winziges Stück näher. In Wahrheit nämlich umgab ihre unsichtbare Bindung zueinander noch so viel mehr. "Oh schau mal. Ein Karussell!" rief sie plötzlich in heller Begeisterung. "Was?" fragte Ranma leicht dümmlich mit angehobenen Augenbrauen zurück. Doch da war Akane ihm schon einige Schritte voraus und eilte auf das bunte Fahrgeschäft zu, auf welchem sich hauptsächlich Pferdemodelle an goldgestrichenen, geriffelten Stangen in lustigen Wellenbewegungen im Kreis drehten. ~ Akane... bitte bleib stehen. Ich möchte dein Gesicht sehen. Ich möchte wieder diesen Zauber sehen, diesen Schein. In dir steckt eine so kindliche Seele. Du bist so rein und unschuldig. Wie konnte ich mich durch das, was du hinter deinem harten Auftreten zu verbergen versuchst, nur jemals so täuschen lassen? Wie konnte ich mich täuschen lassen wollen? Was wahr ist, sehe ich nun: Dein klares Lachen, das Funkeln in deinen aufgeregten Augen, deine unglaublich große, unerschöpfliche Gier nach Leben... Akane... Ich möchte wieder glücklich sein. Zeig mir wie es geht. Bitte... ~ Sehnsüchtig hielt er das zarte Band seines Blickes zu seiner Verlobten fest. Fröhlich suchte sie mit einer Hand an einer der Halterungen, die an den Karussellpferden angebracht waren ihr Gleichgewicht. Mit der anderen strich sie sich kichernd ein paar Strähnen, die der leichte Fahrtwind sanft in ihr Gesicht geweht hatte, aus der Stirn. Ranma beobachtete sie direkt von dem benachbarten Karussellpferd aus. Er hatte nicht mal darüber nachgedacht, wo er sich befand, nachdem Akane ihn einfach hinter sich her- und mit hinauf auf das Karussell gezogen hatte. In seinem Kopf drehte sich plötzlich alles, sodass er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. In diesem Augenblick gab es keine Scham darüber, sich wie ein kleines Kind auf einem Jahrmarkt zu amüsieren. Es existierte nicht die Scham, dass er sich wohl fühlte, da wo er gerade war. Das leichte Auf und Ab der wippenden Pferde verursachte eine leichte Übelkeit in ihm. Die vielen Stimmen, die heitere Kindermusik, die von der buntbemalten Karusselldecke her drang, der süße Duft nach gebrannten Mandeln und Zuckerwatte, Akanes Lachen, die vielen Farben, der frische Wind,... alles vermischte sich, geriet in einen riesigen Strudel und wurde in hektischen, verwirrenden Bewegungen darin verschluckt. Facetten eines schönen Tages, eines fast perfekten Augenblicks blieben. Oder war er sogar perfekt? War dies das sogenannte Elysium? Nein... Nicht wirklich. Es gab so vieles, was er ihr sagen wollte als sie beide so da saßen; sie auf einem rosabemalten, er auf einem grünen Karussellpferd. Aber er tat es nicht. *Gefühlsoffenbarung* Hätte er denn das vollkommene Glück finden können ohne diese notwendige Maßnahme? Wahrscheinlich eher nicht. Aber für ihn war dieser Augenblick nichtsdestotrotz kostbar. Verwirrt ließ er seinen Blick von Akane ab und betrachtete seine zu einem riesigen bunten Farblecks verschmolzene Umwelt mit großem Staunen. Er schluckte. Der Wind streichelte ihn so sanft an diesem Abend. Langsam schloss er seine Augen. Ja... dieser Augenblick war kostbar. Denn auch wenn er Akane nicht mehr anschauen konnte, wusste er doch noch immer, dass sie da war. Er hörte ihre mädchenhafte, weiche Stimme, die in einem munteren Lachen erklang, er spürte ihre Anwesenheit, ihre Freude, ihr Lebensgefühl. Und all das reichte für den Augenblick aus, um ein wenig von ihrem Glück auf ihn zu übertragen. Seine Augen hielt er verschlossen. Ganz langsam, aber dennoch sicher führte er seine Hand zu ihr hin. Seine unsichtbare Hand, seine geistige. Und dann schließlich griff er nach ihrer. Physisch hatte er sie nicht berührt. Es waren ihre Auren, die sich in jenem magischen Moment zärtlich umarmten. "Nie wieder" flüsterte er in den Wind. In seinen Lidfalten fühlte er die frische Luft heranwehen und seine unerkannten Tränen trockneten noch ehe sie seine Augen verlassen konnten. "Nie wieder will ich dich loslassen." Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen. Und obwohl er seine Augen noch immer verschlossen hatte, spürte er den selben Ausdruck auf ihrem Gesicht entstehen, als ihr Lachen zaghaft verschwand. ~ Ich habe es gespürt, als ich dich in der Höhle gehalten habe und du meinen Halt erwidert hast. Ich habe es gespürt als ich dich mit einem anderen Mann alleine wusste und dein Kichern hörte. Ich spüre es jetzt. Ganz deutlich. ..................... Ich liebe dich........... ~ --- Danke an alle lieben Leser, die es bis hier hin geschafft haben. ^^ Dieser Teil ist leider viel länger geworden, als ich es eigentlich geplant hatte. Zudem kann es gut möglich sein, dass der ein oder andere Übergang etwas schief in der Geschichte heraushängt. Aber da ich ja versprochen habe, spätestens heute zu posten, blieb mir nicht mehr die Zeit, alle Fehler auszumerzen. Oder anders gesagt: Ich habe mir dieses Kapitel kein einziges Mal komplett durchgelesen. *trief* Hoffentlich ging es trotzdem noch so einigermaßen. Kussi! ~Chiyo-chan Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)