Jemand von Ur ("1 neue Mitteilung erhalten") ================================================================================ Kapitel 6: Eigeninitiative -------------------------- Eine Woche. Ich gebe mir eine Woche, um diese Sache mit Jemand über den Haufen zu schmeißen. Allerdings habe ich im Zuge dessen auch beschlossen, dass ich diese Woche dringend zu so viel Kontakt wie möglich nutzen sollte, um meine offenbar ausgehungerten Zuneigungsbatterien aufzuladen. Nach dem Desaster mit meinen Tränendrüsen vor zwei Tagen habe ich Solo viermal versichert, dass er nicht schuld an meinem Ausbruch war, was ja eigentlich auch stimmt. Letztendlich bin ich der einzige Mensch, der Schuld an irgendwas hat. Ich bin immer noch am Wanken, was Manus Vorschlag wegen Freitag angeht, weil ich nicht weiß, ob ich es über mich bringe, mit irgendjemandem rumzumachen. Ich sehe es kommen, dass ich mir sowieso wieder nur Lelo dabei vorstelle. Aber gut, wenn der andere Mensch trotzdem auf seine Kosten kommt, sollte das ja egal sein. »Was machst du am Wochenende?«, fragt Jemand Donnerstagabend, während ich mit Chewbacca auf der Schulter sitzend Deevan gegen einen Drachen kämpfen lasse. »Es ist queer kollektiv Party im Nörgelbuff, vielleicht geh ich mit Manu dahin«, antworte ich und denke unweigerlich wieder an Manus Vorschlag. Ich könnte in voller femininer Montur dahingehen. Das ist das Schöne an diesen Feiern. Es ist ein sicherer Raum für Leute wie mich, um mich auszutoben. Selbst wenn ich niemanden aufreiße, sollte ich dringend da hingehen. Findet selten genug statt. »Es ist ein Zeugnis unseres Kontakts, dass ich weiß, was queer bedeutet!«, kommt die ziemlich stolz klingende Antwort und ich muss unweigerlich lächeln. »Ich bin sehr stolz, dir das beigebracht zu haben«, tippe ich als Antwort. Deevan hat es nicht leicht mit mir, seit Jemand sich in mein Leben geschummelt hat. Dauernd klebe ich an meinem Handy, wenn ich ihn eigentlich Aufträge für die Gefährten erledigen lassen und Drachen töten sollte. Ich hoffe, mein Lieblingsargonier wird mir verzeihen. »Darf ich total indiskret fragen, was du zu solchen Partys anziehst?« Ich grinse. Deevan muss weiterhin warten, während ich mich von meinem Stuhl erhebe und kurzerhand sehr übermütig meinen weiten Pullover und meine schwarze Hose loswerde. Noch so eine Sache. Unterwäsche. Unterwäsche ist super. Es gibt Tage, an denen ich mir Brüste wünsche, weil Brüste sogar noch besser als Unterwäsche sind. Und Brüste in Unterwäsche… ich denke, es ist klar, worauf ich hinaus will. Ich werfe einen Blick in den Spiegel und betrachte meine blasse Haut und die sorgfältig rasierten Beine, die momentan in schwarzer Strapse stecken. Ich wiege meinen Kopf von rechts nach links und denke daran, dass in den nächsten Tagen irgendwann der Zeitpunkt kommt, an dem ich mich von Jemand verabschieden muss. Also jetzt oder nie. Sorgfältig darauf achtend, dass mein Gesicht nicht mit auf dem Foto ist, knipse ich meinen nackte Oberkörper und die schwarze Unterwäsche, die heute unter meinen labbrigen Klamotten steckt. Dann gehe ich zu meinem Kleiderschrank und wühle das Outfit hervor, das ich Freitag mit großer Wahrscheinlichkeit tragen würde. Einen schwarzen Rock, unter dem man noch die Spitzenränder der Strümpfe sehen kann und ein mit Nieten besetztes, ebenfalls schwarzes Oberteil. Tatsache ist, dass ich mir in femininen Klamotten am besten gefalle. Ich betrachte die beiden Bilder und stelle fest, dass sie mit entsprechenden Schuhen noch sehr viel cooler aussehen würden, also steige ich in das einzige paar hoher Schuhe, das ich besitze, und mache beide Bilder noch mal mit Schuhen. Dafür, dass ich eher klein bin, sehen meine Beine mit diesen Dingern kilometerlang aus. Ich schreibe Manu eine SMS. »Ich werde gleich leicht bekleidete Bilder von mir verschicken.« »Du kleiner Abenteurer ;-)« Ich kichere und schicke dann die Bilder an Jemand. Ich stelle mir vor, wie er – wem will ich was vormachen? In meinem Kopf ist es Lelo – die Bilder ansieht und rot wird und einen halben Herzinfarkt bekommt. Und vielleicht einen Ständer. Das wäre super. Zufrieden summend kicke ich die Schuhe quer durchs Zimmer und ziehe den Rock und das Oberteil wieder aus. Es klopft an meiner Tür. »Ja?«, rufe ich und meine Mutter steckt den Kopf herein. »Schicke Unterwäsche«, sagt sie anerkennend und ich nicke. »Hat mich auch ein halbes Vermögen gekostet.« »Dafür kriegst du genug Taschengeld«, sagt meine Mutter schmunzelnd und ich muss ihr seufzend Recht geben. Meine Eltern sind wirklich mehr als großzügig. Ich ziehe mir wieder den großen Pullover über den Kopf und greife nach der Jeans. »Möchtest du Bohnen oder Möhren zu den Frikadellen?«, will sie dann wissen. »Ist mir egal. Aber Paps will doch sicher lieber Möhren. Dann mach Möhren«, gebe ich zurück. Sie nickt und verschwindet aus dem Zimmer. Dumpf denke ich darüber nach, dass die meisten Eltern nicht auf diese Art reagiert hätten, wenn sie ihr bei der Geburt als Jungen deklariertes Kind in femininen Kleidern finden würden. Ein Hoch auf meine Eltern. Mein Handy vibriert und ich werfe mich zurück auf meinen Schreibtischstuhl, fest entschlossen, die Erwiderung auf meine Fotos erst einmal liegen zu lassen und diesen elenden Drachen zu besiegen. Ich schaffe es tatsächlich und bin ausgesprochen stolz auf mich. Nachdem ich dem Drachenskelett alles an Gold abgenommen habe, pausiere ich das Spiel – Deevan sieht sehr episch aus, wie er mit seiner schweren Rüstung neben dem Drachenskelett steht – und greife nach meinem Handy. »Ich war nie ein besonders versauter Typ. Und jetzt hab ich mir grad zum ersten Mal in meinem Leben mit einer Vorlage einen runtergeholt. Fuck. Du machst mich fertig.« Spitzenhöschen haben den Nachteil, dass sie im Gegensatz zu Boxershorts zwar wesentlich geiler aussehen, aber auch sehr viel enger sind. Ich gebe ein würdeloses Gurgeln von mir und frage mich dunkel, mit welcher krassen Geschwindigkeit Blut wohl durch den Körper reist, wenn ich von null auf hundert einen solchen Ständer kriegen kann. Der Mensch ist doch wirklich ein Wunder der Natur. Ich kaue nervös auf meiner Unterlippe herum. Ein paar Tage noch, Kim, dann ist alles vorbei. »Und worüber genau hast du nachgedacht, während du dir das Bild angeschaut hast?« Kim, du gehst eindeutig zu weit. Potentiell bist du ein echtes Arschloch. Wenn Jemand nicht Lelo ist – was sehr wahrscheinlich ist, da Lelo ein Sonnengott und wahnsinnig beliebt ist, auch wenn er weiterhin auf der Liste steht – dann machst du ihn sehr unglücklich, wenn du in ein paar Tagen einfach den Kontakt abbrichst. So zumindest der rationale Teil meiner Gedanken. Der andere Teil ist momentan mit dem Rohr in meinem schicken Höschen beschäftigt und denkt demnach überhaupt nicht nach. Fuck. Ich grübele kurz darüber nach, dass es in etwa einer Viertelstunde Essen gibt, aber egal. Meine jugendliche Libido wird nie wieder derartig auf der Höhe ihrer Potenz sein wie jetzt. Mit ziemlich fahrigen Fingern öffne ich meine Jeans erneut und muss mich halb aus dem Stuhl erheben, um sie und mein Höschen ein stückweit loszuwerden. Die Strapse verhindert, dass ich mein Höschen komplett runterziehen kann, allerdings muss das ja auch nicht sein. Für meinen Zweck – und der wird sicherlich keine Minute dauern – reicht es vollkommen. »Ich musste daran denken, wie du gesagt hast, dass du gern auf Knien Blow Jobs verteilst.« »Heißt das, du hättest das gern?« »Naja, du hast einen sehr schönen Mund. Und mit der Unterwäsche sähe es sicher verboten gut aus.« »Oh Mann. Wenn du wüsstest, was ich alles mit dir anstellen könnte…« »Du machst mich total nervös! Und ich bin grad erst vor drei Minuten gekommen!« Mir ist ziemlich warm geworden und es ist ja nicht so, als hätte ich mir nicht schon gefühlte hundert Mal vorgestellt, vor Lelo zu knien und ihm einen zu blasen, aber die Fantasie wird eindeutig nie alt und ich schlucke, ehe ich meine Finger hastig über das Display meines Handys schicke. Die Tatsache, dass ich Jemand so nervös mache, turnt mich ziemlich an. Oh man, Kim. »Wenn du jetzt schon so nervös bist, würde ich gern mal erleben, wie nervös du erst bist, wenn ich direkt vor dir stehe und dir all diesen Kram ins Ohr flüstere.« Ich kann leider Gottes nicht auf eine Antwort warten, dafür sind meine Gedanken allzu sehr am rotieren und ich schiebe meine Hand entschlossen zwischen meine Beine. Bilder von Lelo huschen vor meinem inneren Auge herum, während ich mich anfasse und mein Kopf nach hinten auf die Lehne meines Schreibtischstuhls sackt. Wenn Jemand mich jetzt so sehen könnte… und das nach einer zweiminütigen Unterhaltung per SMS. Ich stelle mir vor, wie Lelo mir mit fester Stimme befiehlt, mich aufs Bett zu knien, nur um mir dann mit flacher Hand auf den nackten Hintern zu schlagen. Beinahe kann ich das schmerzhafte Kribbeln spüren, das mein Herz automatisch noch schneller wummern lässt. Lelos Stimme geistert durch meine Gedanken. »Wenn du artig bist, lass ich dich später vielleicht kommen.« Ich bin sehr dankbar, dass ich weder meine Strapsen noch meinen Pullover einsaue, als ich mit einem unterdrückten Keuchen komme. Ich entschuldige mich etwas benebelt bei Deevan, der immer noch neben dem Drachenskelett steht und vermutlich nicht mehr weit kommen wird, wenn ich mich nicht endlich zusammen reiße. Ich angele schwer atmend nach einem Taschentuch und ziehe mich anschließend wieder vernünftig an. Nach einem großen Schluck Cola aus der Flasche auf meinem Schreibtisch greife ich erneut nach meinem Handy und öffne die neuste Nachricht. »Ich bin auch so schon immer total nervös, wenn du vor mir stehst. Wahrscheinlich sterbe ich bei jeglichem sexuellen Kontakt an einem Herzinfarkt (entschuldige die mangelnde Erotik, aber ich fühle mich sehr unsicher in all diesen Dingen und generell dir gegenüber, weswegen ich ja überhaupt diese blöde SMS-Aktion gestartet habe).« Ich schniefe ein wenig und starre die SMS an. Lese sie etwa zwölf Mal. Und lege dann das Handy beiseite. Oh Gott. Wie wahnsinnig süß ist das denn? Der Mensch am anderen Ende hat ja so eindeutig jemand Besseren verdient als mich. Mein Herz fängt wieder an zu klopfen. Toll, Kim. Verliebt in ein Phantom. Hättest du es noch beschissener einrichten können? »Kim! Essen ist fertig!«, tönt die Stimme meiner Mutter aus Richtung der Küche und ich seufze leise, ehe ich mein Handy zurück auf den Schreibtisch lege und zu meinen Eltern gehe, um voll von Liebeskummer Frikadellen, Möhren und Kartoffeln zu essen. * »Es geht so nicht mehr.« »Ich hab dir ja gesagt, dass du das klären solltest…« »Ja, hat Lelo mir auch gesagt.« »Siehst du. So viel weises Input. Dann kläre es!« »Aber… aber…« »Kein Aber! Du machst dich nur unglücklich!« Manu sieht mich streng an und ich kann natürlich nicht anders, als ihr Recht zu geben, weil es nun einmal alles stimmt, was sie gesagt hat. Ich habe ihr auch die niedliche SMS von gestern gezeigt und jetzt sind wir auf dem Weg zum Sportunterricht und Manu hat offensichtlich die Notwendigkeit gesehen, mir eine Standpauke zu halten. Sie hat es manchmal schon echt nicht leicht mit mir. »Was du natürlich auch tun könntest«, sagt Manu und ich sehe, wie sie angesichts der Turnhalle das Gesicht verzieht, »ist, einfach mal klingeln lassen, wenn keiner in der Umkleide ist und hoffen, dass dein Jemand sein Handy auf Vibration gestellt hat.« Ich schlucke und nicke. Ja, vielleicht kann ich das mal versuchen. Dann muss ich mich nicht auf ein klärendes Blind-Date oder gar ein scheußlich dramatisches Gespräch einlassen. Kim, du bist ein kleiner Feigling. Wer hätte das gedacht. Ich schalte auf Autopilot und ziehe mich um, während ich tief in Gedanken bin und mein Herz bei der Aussicht hämmert, womöglich gleich herauszufinden, wer Jemand ist. Außerdem muss ich an Lelo denken und dass er immer noch auf der Liste steht, dass er mich einfach so nach Hause gebracht hat, obwohl wir uns gar nicht wirklich kennen und dafür sogar seinen Unterricht hat sausen lassen. Ich laufe beinahe gegen Jan, der einen übergroßen Satz macht, um mir auszuweichen. Ungnädig schnaubend schiebe ich mich an ihm vorbei und mein Blick fällt auf Lelo, der dreinschaut, als wäre ihm gerade zum ersten Mal aufgefallen, dass andere Leute mich wirklich nicht besonders gut leiden können. Seine dunklen Augen ruhen kurz auf Jan und er hat die Stirn gerunzelt. Ich schlucke schwer und versuche erst einmal nicht weiter darüber nachzudenken, dass ich in etwa zwanzig Minuten in die Umkleide zurückkehren und Jemand anrufen werde. Fuck! Herr Böckmann ist schrecklich wie immer und wie in jeder Sportstunde habe ich großes Mitleid mit Manu, die sehr miesepetrig dreinschaut. Ich beobachte sie eine Weile bei den Aufwärmübungen und sie sieht vollkommen baff aus, als Pia – quasi das weibliche Äquivalent zu Lelo in unserem Jahrgang – sie informiert, dass das Schild ihres Shirts oben heraus schaut und es ihr richtet. Manu schaut zu mir herüber und es ist lang her, dass ich sie sprachlos erlebt habe. Ich zucke mit den Schultern und zeige ihr einen gestreckten Daumen, um sie zu ärgern. »So, die Herrschaften, Schluss mit ausruhen! Matten raus, zack, zack, zack!«, dröhnt Herr Böckmann und Manu sieht aus, als würde sie gleich einen Mord begehen. Ich kann es ihr nicht verübeln. »Und dann will ich ein paar Handstände mit Überschlag sehen! Auf geht’s, ein bisschen zackiger, wenn ich bitten darf!« Ich greife nach einem Ende einer Matte und sehe kurz auf, um zu schauen, wer die Schlaufen auf der entgegengesetzten Seite genommen hat, als mir beinahe die Spucke wegbleibt, da ich Lelo erkenne, der mich anlächelt. »Jan war komisch vorhin, was?« sagt er und ich muss darauf achten, dass ich nicht über meine eigenen Füße stolpere, während Lelo und ich die Bodenmatte in die Halle tragen. Viele mustern uns verwirrt oder überrascht. Wie immer, wenn Lelo irgendwas zu mir sagt, oder sich sonst irgendwie innerhalb eines drei Meter Radius‘ von mir aufhält. »So ist er immer«, sage ich und schüttele mir meine langen Haare aus dem Gesicht. Vielleicht sollte ich mir noch einen Pferdeschwanz machen, bevor es losgeht. Handstand mit Überschlag, kein Problem. »Ist mir vorher noch nie aufgefallen«, gibt Lelo zu und ich kann nicht umhin zu schnauben. Lelo sieht mich fragend an und wir legen die Matte in eine Reihe mit den anderen, die bereits in die Halle getragen worden sind. »Naja, das wundert mich nicht. Ist ja nicht so, als würdest du besonders oft auf mich achten«, meine ich und warte nicht auf eine Antwort. Ich sollte mich einfach von Lelo fernhalten, sonst wird diese ganze Situation nur noch beknackter. Außerdem bin ich in Gedanken tatsächlich so damit beschäftigt, was ich gleich tun will, dass ich einfach keine Kapazität dazu habe mich mit Lelo zu befassen. Der bekommt nämlich immer meine volle Aufmerksamkeit und die kann er momentan nicht haben. »Hast du ihm gerade gesagt, dass du seine Frisur nicht magst, oder wieso sieht er so bedröppelt aus?«, fragt Manu mich leise mit einem Blick hinüber zu Lelo, nachdem wir uns in einer Reihe aufgestellt haben, um mit Herrn Böckmanns Hilfestellung – Manus Gesicht verspricht Zeter und Mordio – Handstand Überschlag zu demonstrieren. Ich erkläre Manu, was Lelo zu mir gesagt hat und wie ich geantwortet habe und sie schüttelt den Kopf. Dann richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die Vorstellung unserer Mitschüler. Ich lache leise, als Jan eine sehr unelegante Bruchlandung hinlegt und dann eine laute und lange Erklärung von Herrn Böckmann bekommt, was er alles falsch gemacht hat. Dann ist Pia dran. Sie trägt ein ziemlich normal aussehendes blaues Shirt, das allerdings hoch rutscht, als sie ihren Handstand macht. Pfiffe und Lachen der Jungs ertönen und ich würde gern jeden einzelnen von ihnen in den Staub treten. Herr Böckmann stemmt die Hände in die Hüfte und ich denke einen Augenblick lang, dass er die Jungs rüffeln würde, aber das war selbstredend ein utopischer Gedanke. Stattdessen erklärt er Pia, dass sie sich gefälligst andere Sportklamotten zulegen soll, damit sie die Jungs nicht ablenkt. Pia ist knallrot im Gesicht und scheint keine Worte zu haben. Ich will mich gerade zu Manu umdrehen, um ihr flüsternd zu erklären, was für ein sexistischer Wichser unser Sportlehrer ist, als ich feststelle, dass sie nicht mehr neben mir steht, sondern sich vor Herrn Böckmann aufgebaut hat. »Das ist ein stinknormales Shirt«, faucht sie ihn an und deutet auf Pia. Totenstille senkt sich über die Halle. Manu ist einen Kopf kleiner als Herr Böckmann, aber sie sieht sehr viel beeindruckender aus als er in seinen peinlichen Radlerhosen. »Es hat gerade offensichtlich zu viel Haut gezeigt und ich kann es nicht gebrauchen, dass die Hälfte des Kurses abgelenkt ist«, sagt Herr Böckmann säuerlich. Manu holt Luft. Oh. Oha. »Dann sollten Sie sich dringend eine neue Sporthose zulegen«, speit sie ihm entgegen. Pias Unterkiefer sackt herunter, ein nervöses Kichern geht durch die Reihen. Herr Böckmann ist sprachlos angesichts dieser offenen Feindseligkeit. »Sie werden mir die Nummer ihrer Eltern dalassen«, donnert Herr Böckmann, offenbar zu baff, als dass ihm eine bessere Antwort einfallen würde. Manu schnaubt und grinst. »Sicher. Aber rufen Sie bitte erst nach fünf Uhr an, vorher ist keiner zu Hause.« Sie starren sich an. Manu hat eigentlich schon gewonnen, obwohl Herr Böckmann hier die Autoritätsperson ist. Ich denke kurz, dass es jetzt vielleicht vorbei ist – Manus Mutter anzurufen und sich bei ihr über Manu zu beschweren, wird Herrn Böckmann sicherlich keine Freude machen – aber nein. »Sehen Sie zu, dass Sie mir ihren Handstand Überschlag zeigen«, blafft Herr Böckmann Manu an, die die Arme vor der Brust verschränkt. »Nicht, wenn Sie Hilfestellung geben«, schießt sie zurück. Es wirkt so, als hätte noch nie eine Schülerin Herrn Böckmann widersprochen, denn er ringt mit Worten und wirkt alles andere als autoritär. »Na schön, Herr Suleri, Sie können Hilfestellung leisten!« Lelo geht nach vorn und Manu schaut ihn von unten herauf mit verengten Augen an. Lelo schaut aus, als würde er gern einen Schritt zurückweichen, aber dann geht Manu an den Anfang der Matten und Herr Böckmann ist immer noch rot am Hals vor lauter Empörung. Pia stellt sich zurück zu ihren Freundinnen und beobachtet Manu. Was für ein Spektakel. Wie zu erwarten ist Manu nicht motiviert einen Überschlag zu machen, weswegen sie sich nach einem mehr oder weniger erfolgreichen Handstand einfach abrollt und dadurch direkt wieder den Zorn von Herrn Böckmann auf sich zieht. Ich beschließe, dass ich diesen Moment nutzen sollte, um zu verschwinden, da alle sehr konzentriert auf all das Drama sind. Mein Herz wummert wie eine Dampflok und ich weiß nicht, ob ich es wirklich durchziehen kann, als ich in der Umkleide ankomme und mit fahrigen Fingern mein Handy hervorkrame. Ich schwanke zwischen der Hoffnung, dass ein Handy vibriert und dass nichts passiert. Mein Finger schwebt über der Nummer von Jemand im Telefonbuch und ich atme mehrere Male tief durch, ehe ich schließlich auf den grünen Hörer drücke und vor lauter Nervosität die Augen schließe. Dann höre ich es. Zuerst denke ich, dass ich es mir vielleicht einbilde, aber je länger ich zuhöre, desto klarer wird es und ich mache zwei Schritte durch die Umkleide, ehe ich vor einer Jeans stehe, aus deren Tasche das Geräusch kommt. Ich brauche nicht lange, um den dazugehörigen Rucksack und das Shirt zu erkennen. Mein Herz springt mir in die Kehle und ich lege hastig auf, ehe ich mein Handy zurück in meinen eigenen Rucksack stopfe und in die Sporthalle haste. Die Stimmung scheint sich mäßig gebessert zu haben. Es gibt mittlerweile zwei Mattenbahnen und die Mädchen üben auf der einen, die Jungs auf der anderen Bahn. Manu ist mittlerweile diejenige, die Hilfestellung leistet und ich bemerke, dass die Mädchen sie gelegentlich bewundernd und verhalten erstaunt ansehen. Ich muss lächeln. Ach, meine Manu. Ich möchte ihr eigentlich sofort sagen, was ich gerade entdeckt habe, aber sie ist beschäftigt und ich bin immer noch einem Herzinfarkt nahe. Als ich aufschaue, sieht Lelo mir direkt in die Augen und ich laufe scharlachrot an. Lelo blinzelt. Und ich kann nicht anders, als ein strahlendes Lächeln aufzusetzen. Lelos Wangen flammen auf und ich würde mich am liebsten auf dem Boden einkugeln und vor lauter Glück anfangen zu weinen. Jetzt muss ich Lelo nur noch irgendwie mitteilen, dass ich Bescheid weiß. Oder, dass ich ihn gern treffen würde. Wie ich das anstelle, kann ich mir aber in aller Ruhe überlegen, da ich jetzt erst einmal Zeit brauche, um der glücklichste Mensch der Welt zu sein. 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