Jemand von Ur ("1 neue Mitteilung erhalten") ================================================================================ Kapitel 9: Absturz ------------------ Nach einer Pause zum Wichteln melde ich mich wieder mit einem neuen Kapitel zurück! Ich hoffe, ihr habt die Wartezeit gut überstanden :) Wie immer freu ich mich sehr über Feedback und wünsche euch einen guten Start in die Woche! ______________________________ Ich schwebe den ganzen Sonntag auf Wattewölkchen durch die Wohnung, sodass Laura irgendwann verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammen schlägt und mich daran erinnert, dass ich ihre Blusen bügeln wollte. Leise vor mich hin summend mache ich mich an die Arbeit, wobei ich misstrauisch von meinen Eltern beobachtet werde, die beide in der Küche sitzen und einen Kaffee trinken, während ich munter und mit völlig unnötigem Enthusiasmus Lauras zahllose Blusen bügele. »Du hasst bügeln«, erinnert meine Mutter mich und nimmt einen Schluck ihres Kaffees. Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie mein Vater zustimmend nickt. Er sieht beinahe ein wenig besorgt aus, so als würde er an meinem geistigen Wohlergehen zweifeln. »Das ist richtig«, zwitschere ich bestens gelaunt und lege die neueste gebügelte Bluse beschwingt zusammen. »Kim ist verliebt. Sprecht am besten nicht mit ihm, er kotzt momentan nur Regenbögen«, ertönt Lauras Stimme aus dem Flur und ich muss über dieses Bild lachen. Es ist ja gar nicht so unpassend, denke ich mir und greife nach der letzten Bluse im Korb auf dem Boden. Neben mir auf der Küchenoberfläche stapeln sich nun ganze elf Blusen. Laura drückt sich immer so lang vor ihrer Bügelarbeit, bis sie keine Blusen mehr im Schrank hat. »Oho!«, sagt mein Vater interessiert und beugt sich am Tisch nach vorn. »Wer ist der glückliche Mensch?« Ich danke wahllosen Gottheiten für meine Eltern und dafür, dass mein Vater gerade eine neutrale Formulierung verwendet hat. Strahlend drehe ich mich zu ihm um und er hebt die Hand vor die Augen und macht ein angestrengtes Geräusch, so als hätte ich ihn geblendet. Ich muss schon wieder lachen. »Er heißt Lelo«, verkünde ich und bügele mit Schwung den linken Ärmel der letzten Bluse, dann stelle ich das Bügeleisen aus und lege die Bluse zusammen. »Ich nehme an, dass du für diesen Lelo gestern so gründlich Staub gewischt hast?«, meint meine Mutter amüsiert und ich nicke grinsend. »Muss ja ein toller Typ sein, wenn du extra für ihn den Staubwedel schwingst«, sagt mein Vater amüsiert. »Das ist er. Ein toller Typ mit einer Stauballergie«, entgegne ich und mir ist selber klar, dass ich so unglaublich schmachtend klinge, dass es fast schon nicht mehr jugendfrei ist. »Kriegen wir ihn denn irgendwann auch zu Gesicht?«, will meine Mutter amüsiert wissen und trinkt ihren Kaffee leer. »Klar. Er ist ein bisschen schüchtern, ich werd sehen, wann er sich dazu durchringen kann«, gebe ich munter zurück, nehme den Stapel Blusen und tänzele weiterhin summend aus der Küche, drücke Laura den Berg Wäsche in die Hand und gehe in mein Zimmer, um mich jetzt schöneren Dingen als der Bügelei zu widmen. Deevan musste gestern den ganzen Tag auf mich verzichten, daher fahre ich meinen PC hoch und reiße das Fenster auf, um die kühle Luft herein zu lassen. Selbst der graue Himmel und der leichte Nieselregen draußen können meine Stimmung nicht trüben. Ich werfe einen Blick auf mein Handy und stelle fest, dass Manu mir eine Nachricht geschrieben hat. Vermutlich möchte sie wissen, wie es mit Lelo gelaufen ist, und ich bereite mich geistig darauf vor, sie mit einem Schwall entzückter Worte zu überhäufen, doch in der SMS steht nur »Ich muss dir noch was erzählen.«, was mich zu verwirrtem Blinzeln veranlasst. »Was gibt’s denn? Alles ok?«, schreibe ich zurück, werfe mich auf meinen Schreibtischstuhl und beobachte meinen Monitor, als würde mein Computer sich dadurch schneller hochfahren. Mein Handy vibriert erneut. »Ich hab Freitag auf der Party jemanden auf dem Klo getroffen, der mich drum gebeten hat, mit keinem drüber zu reden. Aber weil du es bist, muss ich es loswerden und du bist zur Schweigepflicht verdonnert.« Ich starte Skyrim und tippe eine Antwort, während das Spiel lädt. Verwundert frage ich mich, wen um alles in der Welt Manu geheimes auf einem Klo auf der queer kollektiv Party hätte treffen können. Es ist eine queere Party. Wer zum Teufel geht under cover auf eine queer Party in der Hoffnung, dort niemanden zu treffen, den man kennt? Die Antwort kommt postwendend. »Pia.« Mir fällt die Kinnlade in den Schoß. »Was? Pia? Wieso ist Pia heimlich auf der queer kollektiv Party?« »Ich nehme an, weil sie queer ist.« »Haha, sehr scharfsinnig!« »Sie hat erzählt, dass ihre Eltern dafür kein Verständnis haben und sie es deswegen auch vor ihren Schulfreundinnen geheim hält.« Das muss ich erstmal verdauen. Natürlich ist mir eigentlich klar, dass jeder Mensch da draußen potentiell queer sein könnte und man das im Leben nicht an äußeren Merkmalen festmachen kann, aber bei Pia und auch bei Lelo hätte ich es nicht erwartet. Vorurteile, Kim, tadele ich mich sofort. Nur weil sie beliebt sind und viele Dinge mögen, die andere Leute auch mögen, heißt das nicht, dass sie nicht genauso queer sein können wie du. »Wie scheußlich. Aber sie kann sich sicher sein, dass wir es nicht ausplaudern!« »Das habe ich ihr auch gesagt. Sie wirkte echt total aufgelöst. Ich glaub nach unserer Begegnung ist sie auch nach Hause gegangen…« Wir unterhalten uns noch etwas über die unerwarteten Wendungen, die sich in unserer Jahrgangselite ergeben haben, und dann komme ich endlich dazu, Manu gegenüber von meinem gestrigen Tag mit Lelo zu schmachten, während ich mich mit Deevan auf die Suche nach den Bruchstücken von Gauldurs Amulett mache. »Wahrscheinlich krepierst du mir vor lauter angestauter sexueller Energie.« »Das kann gut möglich sein. Aber es wird ein glücklicher Tod sein.« »Lass mich ja nicht alleine, bevor wir das Abi geschafft haben!« Deevan stirbt im Kampf gegen drei Zwergensphären und ich muss neu laden. Während ich mich für den erneuten Kampf rüste, mache ich mir Gedanken darüber, wie ich Lelo morgen in der Schule wohl am besten begrüße. Mit einer Umarmung womöglich? Ich will ihn ja nicht gleich vor allen Leuten überfordern. Es würde mir auch schon reichen, wenn wir uns einfach nur nett Hallo sagen und vielleicht zusammen zu einem unserer Klassenzimmer gehen. Mein Herz fängt bei dieser Vorstellung unweigerlich an zu hämmern und ich kann mir all die verwirrten Blicke und das leise Tuscheln vorstellen. Nicht, dass mich das stören würde, ich bin es ja schließlich gewöhnt. Und Lelo ist vermutlich beliebt genug, um sich so etwas leisten zu können. Während ich darüber nachgrübele und mit Manu weiter Nachrichten über Pia und Lelo tausche, begebe ich mich erneut in den Kampf. Drei Zwergensphären kriegen mich nicht so schnell klein! * Am Montagmorgen bin ich so schnell aus dem Bett, wie meine Eltern es seit Jahren nicht erlebt haben, und beide tuscheln darüber, dass diese neue Verliebtheit mir ja womöglich sehr gut tut, wenn sie dazu führt, dass ich freiwillig Staub wische, bügele und rechtzeitig aufstehe. Ich strecke beiden über mein Frühstück die Zunge heraus und nutze die gewonnene Zeit dafür, besonders viel Zeit vorm Kleiderschrank zu verbringen. Am liebsten würde ich mich ja richtig in Schale schmeißen, aber ich habe nur wenig Lust auf das Gerede und entscheide mich letztendlich für eine schwarze Hose, Nietengürtel und ein kurzärmeliges schwarzes Hemd. Laura wuselt durch die Wohnung und singt dabei laut und mit schmachtender Stimme »Unchained Melody«, was mich abwechselnd zum Lachen und zum Fluchen bringt. »Musst du nicht mal zur Uni? Ich seh dich hier schon seit Wochen rumfaulenzen!« »Keine Sorge, ich hab um zwölf eine Vorlesung.« »Wieso bist du dann jetzt schon wach?« »Um dir Liebeslieder vorzusingen.« »Pah!« Ich erinnere mich an die Zeiten, als Tom noch hier gewohnt und Laura und mich dauernd tadelnd angesehen hat. Ich bin sehr froh, dass meine Eltern genauso verwundert über seine Spießigkeit sind wie Laura und ich. Damit ist er in der Minderheit und meistens überstimmt. Vermutlich ist er aus genau diesem Grund eher selten zu Hause und ich frage mich, ob all seine Freunde genauso langweilig sind wie er. Ich kann es mir eigentlich kaum vorstellen. Den gesamten Weg zur Schule mache ich mir darüber Gedanken, ob eine Umarmung womöglich zu viel des Guten wäre. Vermutlich. Ich sollte es langsam angehen lassen, schließlich ist Lelo noch nicht geoutet und ich werde einen Teufel tun, ihn zwangsweise aus dem Untergrund zu zerren. So ein Mensch bin ich eindeutig nicht. Vorm Eingang der Schule wartet Manu auf mich und ich erkläre ihr, dass ich mich mit mir selbst darauf geeinigt habe, Lelo maximal kumpelhaft auf den Rücken zu klopfen und ihn anzugrinsen. »Wer weiß, vielleicht stört es ihn ja auch gar nicht, sich zu outen. Er schien mir doch sehr offen und verständig zu sein«, meint Manu zuversichtlich und ich würde gern mein hämmerndes Herz beruhigen, während meine Augen durch die Pausenhalle huschen, aber es geht einfach nicht. Ich bin so aufgeregt wie gerade Samstag zum letzten Mal, vielleicht sogar noch ein bisschen mehr. Lelo und ich haben gestern nur ein paar sporadische SMS geschrieben, weil er mit seiner Familie unterwegs war, das heißt, heute haben wir endlich wieder die Gelegenheit uns miteinander zu unterhalten. Ich male mir ausgiebig aus, wie Lelo mich nach der Schule womöglich nach Hause bringt und wir uns vor der Haustür küssen und dann das nächste Treffen für diese Woche vereinbaren und Lelo mir dabei niedliche Dinge sagt, wie zum Beispiel, dass er es unmöglich noch drei Tage ohne mich aushalten kann… »Da vorne ist er«, sagt Manu lächelnd und deutet in eine Ecke der Pausenhalle. Ich spüre, wie mein Herz sich geradezu überschlägt, mein Magen einige Saltos macht und mein Gesicht aufleuchtet, während ich Lelo in einer Traube Menschen stehen sehe. Er lächelt so entzückend wie immer und ich kriege beinahe einen Herzklabaster bei der erneuten Erkenntnis, dass er mich ganz anders anlächelt als all diese Leute. Ich schlucke schwer und fummele nervös an meinem Nietengürtel herum. Manu will mich gerade in Lelos Richtung schieben und macht mir zischend Mut dabei, als Lelo aufschaut und mich entdeckt. Ich bin kurz davor in verliebtes Strahlen auszubrechen, aber Lelo hebt nur kurz die Hand und wendet sich dann wieder seinen Freunden zu. Unter meinen Füßen scheint sich der Boden aufzutun und ich bleibe wie angewurzelt mitten in der Pausenhalle stehen, was dazu führt, dass mehrere Leute mich und Manu anrempeln und Manu eine Gruppe Jungs anschnauzt, die sich daraufhin hastig aus dem Staub machen. Manu manövriert mich durch die Gänge bis hin zu unserem Klassenzimmer und pflanzt mich auf einen Stuhl. »Ich nehme alles zurück, was ich vorhin gesagt habe«, brummt sie ungehalten und sieht so grimmig drein, dass Jens seinen Stuhl ein Stück von ihrem abrückt, als könnte er sich auf diese Art und Weise in Sicherheit bringen. »Ich wollte ja gar nicht, dass er mich vor aller Welt abknutscht«, sage ich kläglich. »Ich weiß.« »Ich hätte nur nicht gedacht, dass ich selbst für einen freundlichen Gruß zu peinlich bin…« »Du bist nicht peinlich, Kim…« »Wie hat er sich das Ganze denn vorgestellt? Als geheime Liebschaft?« »Du bist eindeutig zu schade für eine geheime Liebschaft.« »Und ich Horst hab sogar eine Umarmung in Betracht gezogen…« »Kim…« »Ich komme mir vor wie der bescheuertste Mensch auf der Welt.« »Ok, das reicht, ich gehe ihn würgen!« »Nein!« Ich halte Manu mit einer Hand am Ärmel fest, mit der anderen friemele ich mein vibrierendes Handy aus der Hosentasche. »Ich hoffe, er fleht vielmals um Verzeihung«, knurrt Manu und wartet darauf, dass ich die Nachricht geöffnet habe, aber sie ist nur von Kiki, die fragt, ob wir morgen Abend eine Pen and Paper Runde starten wollen. »Kiki fragt ob wir morgen Abend Zeit haben«, gebe ich niedergeschlagen weiter und Manu sieht aus, als würde sie gleich wie eine Rakete rauchend von ihrem Stuhl abheben und durch die Decke gehen. Ich wäre auch gern sauer, aber stattdessen fühle ich mich wie ein Luftballon, aus dem man alle Luft gelassen hat, nachdem man ihn über mehrere Tage mit Endorphinen und Glück vollgepumpt hat. Als der Unterricht anfängt, kritzele ich nur unmotiviert auf meinem Block herum und frage mich, wie ich so blöd sein konnte zu erwarten, dass Lelo seinen Jahrgangsprinzenstatus wegen mir gefährdet. Vielleicht macht Verliebtheit ja übermütig. Ich schalte mein Handy aus, nachdem ich Kiki für morgen Abend zugesagt habe, und stopfe es nach ganz unten in meinen Rucksack. Von hundertachtzig auf null in weniger als zwei Sekunden. Wow. Stimmungsschwankungen gehören eindeutig nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Der Tag vergeht wie ein besonders zäher Kaugummi und so, als hätte mich jemand in Watte gepackt. Manu bugsiert mich von einem Klassenzimmer ins nächste – wobei sie mich teilweise in Räumen abliefert, in denen sie selbst gar keinen Unterricht hat – und brummelt dabei ununterbrochen darüber, was Lelo sich nur dabei gedacht hat, sich wie der letzte Arsch zu verhalten. Vielleicht komme ich im Laufe des Tages ja auch noch dazu, sauer auf ihn zu sein, aber momentan möchte ich mich eigentlich nur in meinem Bett verkriechen und mir die Decke über den Kopf ziehen. Es wäre mir lieber, wenn ich Bock darauf hätte, meinen nicht vorhandenen Ärger an Untoten in Skyrim auszulassen. »Er braucht gar nicht so besorgt rüber schauen, blöder Sack«, knurrt Manu neben mir, als wir auf dem Weg durch die Pausenhalle nach draußen sind. Ich schaue gar nicht auf um zu sehen, wie genau Lelo hier rüber schaut. Ich lasse mir von Manu den Arm um die Schultern legen und folge ihr hinaus in die kühle Nachmittagsluft, wobei ich darüber nachdenke, wie man vom glücklichsten zum unglücklichsten Menschen innerhalb eines Wimpernschlags werden kann. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)