Jemand von Ur ("1 neue Mitteilung erhalten") ================================================================================ Kapitel 13: Outings - die Zweite -------------------------------- Das Kapitel war sehr schwer zu schreiben und ich bin mir ziemlich sicher, dass das das Persönlichste ist, was ich je in einer meiner Geschichten geschrieben hab. Ich bin ziemlich aufgeregt und musste beim Schreiben mehrere Pausen einlegen. Ich wünsche allen, die es gefeiert haben, nachträglich frohe Weihnachten und euch allen einen guten Rutsch ins neue Jahr und viel Spaß beim Lesen! ____________________________________________ Ich spüre, wie Kikis Finger sachte durch meine schwarzen Haare fahren und sie sorgfältig sortieren, während sie leise vor sich hin summt. Ich kaue schon seit gut fünf Minuten auf meiner Unterlippe herum und denke darüber nach, wie ich das, was mir unter den Nägeln brennt, am besten ansprechen könnte. »Spuck es schon aus«, sagt Kiki hinter mir und ich zucke ein wenig zusammen. »Was meinst du?«, frage ich und fühle, wie sie mit geschickten Handgriffen einen Teil meiner Haare flechtet und dann an meinem Kopf feststeckt. »Ich sehe förmlich durch deinen Hinterkopf, dass du deine Unterlippe gleich durchgekaut hast. Damit du deinen entzückenden Freund auch weiterhin unbeschadet küssen kannst, solltest du jetzt damit aufhören und dich mir mitteilen«, sagt sie streng und ich grummele leise vor mich hin. »Na schön«, murmele ich und lasse meinen Kopf gehorsam nach vorne sinken, als Kiki leicht mit zwei Fingern gegen meinen Hinterkopf drückt. Ich merke, wie weitere Spangen in meine Haare geschoben werden. »Ich möchte mich eigentlich gern outen. In der Schule. Normalerweise würde ich ja mit meinen engsten Freunden anfangen, aber ich hab in der Schule nur Manu und Lelo und die wissen beide schon Bescheid. Also muss ich die volle Breitseite raushängen lassen. Aber ich will eigentlich auch niemandem von diesen Armleuchtern erklären, was genderfluid bedeutet. Aber wissen sollen sie es trotzdem. Eigentlich möchte ich alles auf einmal«, erkläre ich umständlich und hebe den Kopf wieder nach oben. Der nächste Teil meiner Haare wird rasch geflochten und festgesteckt. »Das geht nicht, fürchte ich«, sagt Kiki schlicht. Ich seufze und spüre, wie mein Magen ein Stück nach unten sackt. »Sich zu outen ist nicht ein großes Event, das man hinter sich bringt. Man outet sich sein ganzes Leben lang. Es gibt immer Leute, die mir blöde Fragen stellen. Für dich ist es vermutlich sogar noch schwieriger als für mich. Die meisten Leute haben schon mal davon gehört, dass ‚Menschen im falschen Körper geboren wurden‘, aber von nicht-binären Geschlechtern? Da hat ja leider kein Schwein eine Ahnung.« Ich schweige und spiele nachdenklich mit meinen Fingern herum. »Ich brauche bei den meisten Menschen auch gar nicht damit anfangen, dass ich mich nicht im falschen Körper geboren fühle. ‘Ne Frau mit Penis gibt’s nicht für die, wenn man trans ist, dann muss man in deren Augen auch automatisch das für sie passende Genital haben wollen. Ich bin ziemlich dankbar, dass ich so feminin aussehe, die meisten Menschen merken nichts davon. Ich will dich ja nicht davon abhalten, dich zu outen, aber ich glaube, du stellst es dir unkomplizierter vor, als es ist. Man ruft ja nicht einmal ‚Hier bin ich!‘ und dann ist alles erledigt. Du kannst im Kleid zur Schule gehen und alle halten dich für einen komischen Vogel. Oder sie denken, du bist transsexuell. Und dann fangen sie an dich über deine Genitalien auszufragen und die Hölle bricht los und jeder hat irgendeine Meinung zu dir. Es gibt auch Arschlöcher, die werden einfach deine Existenz verleugnen. Die sagen dir eiskalt ‚Du bist ein Kerl, weil du einen Schwanz hast, und es ist mir scheißegal, wie du dich fühlst, wenn ich dich als Mann bezeichne‘. Ich find’s toll, dass das alles mit dir und deiner Familie und Lelo und Manu so gut geklappt hat, aber in der Schule wird das vermutlich nicht so laufen. Und wenn du sagst, dass du genderfluid bist, gibt es vielleicht einen Menschen von hundert, der nach Hause geht und das googelt und sich informiert. Die anderen 99 verlangen von dir, dass du es ihnen ausführlich erklärst, statt sich selber hinzusetzen. Ich hab die ganze Scheiße schon mehrmals durchgemacht, das weißt du ja auch. Erst mit meiner trans Identität, dann mit meiner Bisexualität und dann kam auch noch die poly-Beziehung dazu…« Ein paar letzte Klemmen werden in meine Haare gesteckt und dann dreht Kiki mich zu sich herum und sieht mich prüfend von vorne an. Sie richtet hier und da ein paar der Strähnen und lächelt mich dann schief an. »Fertig«, verkündet sie und ich weiß nicht, ob sie meine Frisur oder ihre Erklärungen meint. Ich stehe von meinem Bett auf und stelle mich vor den Spiegel. Die Hochsteckfrisur, die sie mir gemacht hat, sieht toll aus. Ich starre mich selber an und denke darüber nach, was sie gesagt hat. Theoretisch ist mir das alles klar, aber ich merke, wie ein sturer Teil in meinem Kopf weiterhin will, dass es so einfach geht, wie ich es mir wünsche. Dass ich einfach mit so einer Frisur und einem meiner Blümchenkleider in die Schule gehe und die meisten sich denken »Oh, Kim ist also doch kein Junge«. Kiki stellt sich hinter mich. Sie ist ein wenig größer als ich und legt ihr Kinn auf meiner linken Schulter ab. »Ich wünschte, es wäre anders. Aber es wird scheiße sein. Irgendwer wird immer scheiße sein. Ich bin da, wenn du jemanden brauchst, um über all den Mist zu fluchen oder zu weinen«, sagt sie leise. Ich schlucke und nicke. Manu ist meine beste Freundin, aber was mein Geschlecht angeht, versteht Kiki mich einfach besser. Weil wir beide im selben Boot sitzen. Oder zumindest in einem ähnlichen Boot. »Niklas und Jan werden sicher besonders scheiße sein«, sage ich bemüht scherzhaft, aber ich höre selber, dass meine Stimme kratzig ist. Kiki drückt mich noch ein bisschen fester, während wir uns weiter im Spiegel anschauen, als könnten wir so die Welt dazu zwingen, uns durch unsere Augen zu sehen. »Ist Niklas der Kerl, der Lelo und dich schwul genannt hat, beim Bowling?« Ich nicke und schnaube. »Ja, wahrscheinlich. Klingt nicht besonders nett. Und dieser Jan ist der Kerl, der jedes Mal geistig seinen Hintern festhält, wenn du vorbei gehst?« »Wie Dudley Dursley«, bestätige ich. Kiki kichert leise und tritt einen Schritt zurück. »Wenn du willst, schminke ich dich auch noch. Wir können ein paar Fotos zusammen machen«, sagt sie liebevoll und ich strahle sie mit funkelnden Augen an. Für den Moment schiebe ich die Gedanken an mein bevorstehendes Coming Out beiseite und werfe mich aufs Bett, um mich von Kiki in ein künstlerisches Meisterwerk verwandeln zu lassen. * Als ich am folgenden Montag aufwache, ist es noch finstere Nacht draußen und mein Herz hämmert, als hätte es sich schon im Schlaf darauf vorbereitet, was heute auf mich zukommt. Nicht, dass ich das tun muss. Ich könnte mein Abi fertig machen und als Kim-der-komische-Kerl zur Schule gehen, bis ich all diese Armleuchter nicht mehr sehen muss. Aber es fühlt sich falsch und bedrückend an, einen großen Teil meiner Identität in dieser Wohnung zu verstecken und nur manchmal nachts heimlich rauszugehen, wenn eine entsprechende Party stattfindet. Ich horche in mich hinein. Vielleicht ist heute auch gar kein Tag zum Femininsein. Vielleicht sollte ich einfach langsam anfangen. Montags Wimperntusche und ein bisschen Lippenstift, dienstags eine schöne Frisur dazu, mittwochs ein buntes, enges Oberteil… »Scheiß drauf, Kim«, flüstere ich in die Dunkelheit, um mich selbst zu ermutigen und ich schwinge die Beine aus dem Bett. So schnell bin ich nach dem Aufwachen schon lange nicht mehr aufgestanden. Ich knipse das Licht an und blinzele gegen die plötzliche Helligkeit. Verschlafen starre ich in den Spiegel. »Guten Morgen«, sage ich zu meinem Spiegelbild. Der Rest meiner Familie schläft noch und als ich einen Blick auf meinen Wecker auf dem Nachtschrank werfe, stelle ich fest, dass es erst viertel nach fünf ist. Da ich aber ohnehin nicht mehr hätte schlafen können, lasse ich das Licht an. Ich husche durch den dunklen Flur und unter die Dusche und starre an meinem Körper herunter, während mir heißes Wasser darüber strömt. Unweigerlich muss ich daran denken, was Kiki gesagt hat. Eine Frau mit Penis gibt es für die meisten Leute nicht. Aber das hier ist eindeutig nicht der Körper eines Mannes, wenn ich ihn mir anschaue. Es ist mein Körper und ich bin kein Mann. Also ist dieser Körper auch nicht männlich. Außer an manchen Tagen, wenn zufällig einmal alles zusammen passt. Ich seufze und hebe den Blick. Vielleicht ist heute nicht der richtige Tag. Dann wiederum wird es – wie ich eigentlich ganz genau weiß – niemals einen perfekten Tag geben. Ich bleibe eine Viertelstunde unter dem heißen Wasser stehen, bevor ich zu Duschgel und Shampoo greife und mir anschließend fein säuberlich die Beine und das Gesicht rasiere und die Haare unter meinen Armen entferne. Wenn schon, denn schon. Und da ich ohnehin so früh wach bin, kann ich die übrige Zeit auch nutzen. Niemand wird meine Beine heute sehen, aber was macht das schon. Es ist für mich. Was wird Lelo sagen? Wird er überhaupt irgendwas sagen? Nach unserem Bowling-Abenteuer dachte ich eigentlich, dass sich in der Schule vielleicht auch etwas an seinem Verhalten ändern würde, aber wir sind weiterhin strikt platonisch miteinander, wenn wir in der Öffentlichkeit sind. Ich eile zurück in mein Zimmer und fange an, mein Outfit für den heutigen Tag auszuwählen. Eigentlich ist es zu kalt für eins meiner Sommerkleider, aber ich will unbedingt eines davon anziehen und so stecke ich meine frisch rasierten Beine in zwei Strumpfhosen übereinander, damit ich nicht friere. An manchen Tagen wünsche ich mir Brüste, aber heute ist alles in Ordnung mit mir und meinem Körper. Eine Tatsache, für die ich sehr dankbar bin. In meinem ohnehin schon so nervösen Zustand hätte ich mich nicht auch noch mit Dysphorie herumschlagen wollen. Ich hab mal ein ziemlich cooles Tutorial auf Youtube gesehen, wie man sich auch mit flacher Brust ein anständiges Dekolleté binden kann, aber dafür hab ich nicht die richtige Ausrüstung hier und leider Gottes ist dieses ganze Gebinde – ob man sich nun Brüste wegbindet oder welche dazu bindet, wo sie eigentlich nicht sind – ziemlich ungesund. Also hebe ich mir das eher für einen schlimmen Tag auf. Während ich meine nassen Haare kämme und anfange, mein Makeup aufzutragen, summe ich leise »My songs know what you did in the dark« vor mich hin und frage mich, ob ich Lelo eine SMS schreiben soll, um ihn sozusagen vorzuwarnen. Aber dann denke ich mir, dass das heute ganz allein meine Sache ist und ich niemandem eine Erklärung schulde. Als meine Eltern aufstehen, bin ich bereits komplett fertig und sie sehen beide kurz überrascht aus, weil sie mich noch nie vor der Schule so fertig gemacht gesehen haben. Dann grinst mein Vater mir zu. »Meine Töchter sind schon zwei Granaten«, sagt er und ich fange beinahe an zu heulen, so aufgeregt bin ich. »Sag Manu, sie soll jedem einen Kinnhaken verpassen, der blöd schaut«, flüstert meine Mama mir zu, als sie mich umarmt und ich blinzele heftig. Wenn ich jetzt anfange zu weinen, dann verschmiert mein sorgfältig aufgetragenes Augenmakeup! Laura pfeift, als sie in die Küche kommt und mich sieht, und ich wünsche mir beinahe, dass sie mit mir mitgehen könnte. Manu links und Laura rechts an meiner Hand würden mich sehr beruhigen. Mit den beiden ist man vorm Rest der Welt sicher. Ich schwöre, ich bin noch nie so langsam zur Schule gegangen. Ich habe meine schwarzen Boots an, da ich hohe Schuhe für einen ganzen Schultag doch zu anstrengend finde. Meine rote Strumpfhose passt farblich zu dem geblümten Kleid, das jetzt unter meiner Winterjacke und einem dicken Schal halb versteckt war. Für jeden, der mich nicht kennt, sehe ich aus wie ein Mädchen. Ein Hoch auf meine herzlich wenig maskulinen Gesichtszüge und meinen mickrigen Bartwuchs. Als das Schulgebäude vor mir auftaucht, möchte ich am liebsten wieder umdrehen. Panisch frage ich mich, ob die beiden geflochtenen Zöpfe nicht die vollkommen falsche Frisurwahl gewesen sind, doch gerade, als ich kalte Füße zu bekommen drohe, taucht Manu neben mir auf. »Let’s fuck shit up«, sagt sie und nimmt meine Hand. Schon wieder bin ich kurz davor in Tränen auszubrechen. Ich atme mehrere Male tief durch und nicke und wir betreten die Eingangshalle. Ich starre stur geradeaus und wünsche mir, sehr viel selbstbewusster zu sein. Es wird einige Zeit dauern, bis Leute mich überhaupt erkennen, aber trotzdem. Ich hab Beine, die sich anfühlen wie Wackelpudding und bin voller Bewunderung für mich selbst, da ich es ohne Unfall und Ohnmachtsanfall bis zum Klassenzimmer schaffe. Manu sieht sehr entschlossen aus als sie sich neben mich setzt und ich packe mit zittrigen Fingern meine Sachen aus dem Rucksack. Neben mir lässt sich jemand auf den Stuhl fallen und ich zucke unweigerlich zusammen. Manu räuspert sich neben mir und ich wage es aufzuschauen. Pia lächelt mir entgegen. »Schönes Kleid«, sagt sie freundlich und ich schniefe. Meine Tränendrüsen laufen heute auf Hochtouren, denn ich kriege sofort wieder feuchte Augen. »Darf ich hier sitzen bleiben?«, fragt Pia. Ich nicke sprachlos und fühle mich sofort, als wäre ich von einem Schutzschild umgeben. Blöderweise muss ich an Skyrim denken und wie Isran von der Dämmerwacht immer mit einem leuchtenden Schutzschild gegen Vampire kämpft. Ich hoffe, dass Manu mit Pia zusammen kommt und ich den beiden rote Rosen streuen kann. Meine Fresse, Kim, reiß dich zusammen. Richtig unangenehm wird es, als vorm Beginn des Unterrichts wie immer die Namenslesen abgeklappert wird, um etwaige Fehlende ausfindig zu machen. Meine Hand zittert wie ein kalifornisches Erdbeben, als ich sie hebe, sobald mein Name genannt wird. Meine Englischlehrerin sieht einen Augenblick vollkommen verwirrt aus. Sie mustert mich irritiert und ich sehe förmlich, wie es in ihrem Kopf rattert. Dann nickt sie einfach nur und geht die Liste weiter durch. Ich atme erleichtert aus. Mir ist klar, dass es nicht bei jedem Mitglied der Lehrerschaft so glimpflich ausgehen wird. Wenn ich da nur an Physik denke, was wir als nächstes haben, wird mir ganz flau im Magen. Getuschel begleitet mich durch Englisch, während verschiedene Mitschüler und Mitschülerinnen sich gegenseitig auf mich und meine Aufmachung aufmerksam machen und ich sitze steif wie ein Stock auf meinem Stuhl und traue mich zu meiner eigenen Überraschung sogar einmal, mich zu melden. Als ich die Doppelstunde Englisch überstanden habe, fühle ich mich, als wäre ich drei Marathons hintereinander gelaufen. Wow. Wie erwartet läuft es in Physik nicht so glatt. Mein Physiklehrer kann mich ohnehin nicht leiden und außerdem habe ich die Erfahrung gemacht, dass Männer auf Femininität generell sehr viel aggressiver reagieren als Frauen. »Wie sehen Sie denn aus?«, fragt er vollkommen unverfroren, als er mich an meinem üblichen Platz sitzen sieht. »Wir sind hier nicht beim Karneval.« Weiter hinten in der Klasse kichert jemand. Ich schlucke und wünsche mir mein übliches Selbstbewusstsein zurück, aber es hat sich heute Morgen beim Heraustreten aus der Wohnung verabschiedet. »Dann sollten Sie Ihr Hornochsengehabe auch lassen«, sagt Manu herablassend und ich höre, wie die Klasse in einem Zug den Atem anhält. Herr Sickt sieht einen Moment lang aus, als würde er gleich explodieren. Er starrt Manu an, er starrt mich an, er raucht und dampft förmlich aus den Ohren und den Nasenlöchern. Ich erinnere mich, wie er einmal versucht hat, sich bei Manus Eltern über ihre Tochter zu beschweren und dabei eine saftige Abreibung bekommen hat. Lehrer, die ihren Schülerinnen nicht mit Eltern drohen können, sind überraschend machtlos. Mein Magen ist mir irgendwo zwischen die Kniekehlen gerutscht und mein Herz hämmert so heftig, dass es sicherlich gleich meinen Brustkorb sprengt. Schließlich gibt Herr Sickt den Starrkontest mit Manu auf. Manu hat den meisten schon mehrmals erfolgreich die Stirn geboten, darunter natürlich auch Herrn Böckmann und der hat ein viel aufgeblaseneres Ego als Herr Sickt. Er marschiert mit hochroter Birne vor der Klasse herum und ist die komplette Doppelstunde schlecht gelaunt, was sicher daran liegt, das Manu seine Autorität kein bisschen anerkennt und er nichts dagegen tun kann, was ihn vor der Klasse ziemlich dumm dastehen lässt. Selber schuld. Ignoranter Saftsack. Ich sehe super aus in meinem Kleid. Sehr viel besser, als er in irgendeinem Karnevalskostüm jemals aussehen könnte. In der zweiten großen Pause habe ich dank Manu wieder ein wenig Mut gesammelt und wir sitzen an unserem üblichen Platz in der Pausenhalle. Manu verschwindet schnell auf die Toilette und ich kreuze die Beine und esse vorsichtig einen Muffin, darauf bedacht, meinen Lippenstift dabei nicht zu verwischen. Ich frage mich gerade, ob ich mir vielleicht zu viele Sorgen gemacht habe, als Jan vor mir auftaucht. Offensichtlich hat er einen Moment abgepasst, in dem Manu nicht an meiner Seite klebt. Er sieht aus, als hätte ich sein Weltbild einmal komplett herumgedreht. Und zwar nicht auf die gute Art. Ich frage mich, ob ich mich bei Jan erkundigen soll, ob er seine Zunge verschluckt hat, doch im nächsten Augenblick bleibt mir die Luft weg, weil er mich anspuckt. Ich starre zu ihm herauf und kann es nicht fassen. All die Male, die Jan mir verängstigt aus dem Weg gesprungen ist, scheinen vergessen zu sein. Offensichtlich hat er beschlossen, dass er keine Angst vor jemandem in einem Kleid haben muss. Ich öffne den Mund und hebe die Hand zu meinem Gesicht. Direkt auf meiner Wange spüre ich die Feuchtigkeit. Es brennt, als hätte er mir Säure ins Gesicht gekippt. Jan sieht aus, als würde er gleich einen Strom Schimpfworte auf mich herabregnen lassen, aber er kommt nicht dazu. Als Jan herumgewirbelt wird und im nächsten Moment vor Schmerzen stöhnend zu Boden geht, denke ich eine Sekunde lang, dass Manu von der Toilette zurück ist. Aber es ist nicht Manu. Es ist Lelo und er sieht so wütend aus, wie ich ihn noch nie in meinem Leben gesehen habe. Eine riesige Traube an Schülern und Schülerinnen hat sich nun um uns gebildet und ich höre Manu fluchen, die sich von weiter hinten offensichtlich einen Weg bahnen will. Alle starren Lelo an. Jans Lippe blutet und seine Hose ist staubig vom Sturz auf den Boden. Ich sehe, wie Lelo seine Finger mit der anderen Hand festhält. Wahrscheinlich hat er sich bei dem Schlag auch wehgetan. Mein Herz hat sich in Blei verwandelt. Lelo wirft einen letzten angeekelten Blick auf Jan, dann kommt er zu mir herüber und zieht ein Taschentuch aus der Hosentasche. Vorsichtig wischt er mir Jans Spucke aus dem Gesicht. Wenn ich in einer Geschichte mit Magie und Göttern stecken würde, dann wäre Lelo in diesem Moment ein zorniger Sonnengott mit brennend heißer, roter Aura. Ich schlucke. Alle schauen zu. Alle sehen uns an. Manu hat ihren Weg durch die Menge gefunden. Ich höre, wie irgendjemand ihr sagt, was gerade passiert ist. Manu lässt einen Schwall Flüche auf Jan hinunter prasseln und wahrscheinlich hat Jan sich all das etwas anders vorgestellt, als von zwei der beliebtesten Schüler aus unserem Jahrgang fertig gemacht zu werden. Ich höre Pias Stimme irgendwo in der Menge, die den Umstehenden sagt, sie sollen sich gefälligst auflösen und dass das hier keine Theatervorstellung sei. Ich bin immer noch zu geschockt, um irgendetwas zu tun. Selbst meine übervollen Tränendrüsen scheinen vor lauter Entsetzen ausgetrocknet zu sein. »Du bist so mutig«, flüstert Lelo mir zu und lässt das Taschentuch einfach auf den Boden segeln. Im Moment fühle ich mich nicht sonderlich mutig. Ich möchte mich an ihn lehnen oder seine Hand nehmen, aber ich weiß, dass ich nicht darf. Allerdings werde ich überrascht, denn Lelo legt einen Arm um mich und zieht mich an seine Brust, sodass mein Kopf auf seiner Schulter lehnt. Ich kann sein Gesicht nicht mehr sehen, aber sein Ausdruck, als er Jan geschlagen hat, hat sich für immer in mein Gehirn eingebrannt. Seine andere Hand streicht mir vorsichtig übers Haar und Manu und Pia knien sich vor mich auf den Boden und sehen mich besorgt an. »Alles in Ordnung?«, fragt Pia. Ich schüttele nur den Kopf, aber ich weiß auch nicht wirklich, wie ich das Gefühl in Worte fassen soll. Alle um uns herum sind schon wieder am Tuscheln. Diesmal wegen Lelo und mir. Hinter uns rappelt Jan sich endlich auf und ich beobachte, wie er Lelo einen entsetzten und verständnislosen Blick zuwirft. Mich würde es nicht wundern, wenn Lelo anfangen würde zu knurren. Stattdessen passiert etwas vollkommen Abgefahrenes. »Wenn du meinen Freund noch mal anspuckst oder ihn auch nur falsch ansiehst, mach ich dich fertig.« In meinen Ohren rauscht es. Stille fällt über alle, die in unserer Hörweite stehen. Lelo wendet sich von Jan ab und mir zu. Ich rappele mich auf und starre ihn an. Lelo ist knallrot im Gesicht, aber er sieht sehr entschlossen aus. »War das ok? Hätte ich besser Freundin sagen sollen? Ich bin noch nicht ganz sicher, wie ich es mit den Pronomen am besten machen soll«, flüstert er und jetzt ist er wieder ganz Lelo, unsicher und lieb wie ein Hundewelpe. Ich schniefe und schüttele den Kopf. »Freund ist ok. Freund ist super«, krächze ich. Manu und Pia strahlen, Jan flüchtet, und ich kann mich nicht entscheiden, ob das der schlimmste oder der beste Tag in meinem Leben ist. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)