Jemand von Ur ("1 neue Mitteilung erhalten") ================================================================================ Kapitel 1: Wettrennen --------------------- »Kim, hörst du mir eigentlich zu?« »Hm?« Ich fürchte, ich habe nicht zugehört. Ich bin mir nicht mal sicher, über welches Thema ich mit meiner besten Freundin eigentlich gerade rede. Vielleicht ging es um die nahende Englischklausur, aber es könnte genauso gut ein empörtes Gespräch darüber sein, dass die Wissenschaft Pluto seinen Status als Planeten aberkannt hat. Ich hab einfach keinen blassen Schimmer. Der Grund dafür heißt Lelo und ist wahrscheinlich mit Abstand der am besten aussehende Junge in unserem Jahrgang. Und der beliebteste. Er ist immer von einem Schwarm Leuten umgeben, alle wollen ihn auf ihre Partys einladen und selbst die Lehrer scheinen seinem Charme erlegen zu sein. Es ist ein Alptraum. Umso trauriger, dass ich auch nicht immun bin gegen seine engelsgleiche Erscheinung und sein leicht schiefes Grinsen, seine braunen Locken und die dunkelbraunen Augen, die immer ziemlich schelmisch funkeln. »Oh Gott, starrst du ihn schon wieder an und stellst dir vor, wie er nackt aussieht?«, fragt Manu mich und ich kann ihren herablassenden Unterton nur zu gut verstehen. Ich finde mich selbst auch echt peinlich, weil ich Lelo so wunderbar finde. Normalerweise sind Manu und ich sehr bemüht, nicht all die blöden Dinge cool zu finden, die andere Leute cool finden. Die Leute aus unserem Jahrgang sind einfach größtenteils ätzend. »Vielleicht nicht ganz nackt«, gebe ich schuldbewusst zurück und werfe meiner besten Freundin einen Blick zu, die die Augen verdreht. »Ich versteh nicht, was an dem Kerl so toll sein soll«, sagt sie und schaut hinüber zu Lelo und seinen Kumpels, die über irgendeinen Witz lachen. Vermutlich einen, den Lelo erzählt hat. Hatte ich erwähnt, wie lässig seine Jeans auf seiner Hüfte sitzt? Manus Haare sind ganz kurz geschnitten und vor einer Woche waren sie noch lila. Jetzt sehen sie ziemlich ausgewaschen aus und man sieht einen blonden Ansatz. Mal sehen, welche Farbe sie als nächstes reinhaut. Sie hat mehrere Piercings und trägt eine rotgrün-karierte Hose und schwarze, ausgelatschte Stiefel. In diesem Jahrgang ist sie eindeutig der einzige Mensch, den ich ertragen kann. Dass sie wiederum die meisten Menschen nicht ausstehen kann, scheint die anderen Leute nicht zu stören. Vielleicht merken sie es auch nicht. Sie finden Manu cool und laden sie unermüdlich zu Feiern ein. Sie geht allerdings nie hin. Vielleicht ist es mittlerweile eine Art Sport geworden. Zu wessen Party kommt Manu? Auf eine merkwürdig verdrehte Weise ist sie beinahe so beliebt wie Lelo. Aber eher so, als wäre sie ein exotisches Tier, das man gern ausstellen möchte. Mich will keiner ausstellen. Ich hab schwarze Haare und meine Klamotten sind genauso schwarz. Andere Farben sind eher nicht so mein Ding. Außer, wenn ich daheim Kleider trage. Die sind meistens bunt. Aber das weiß hier in der Schule niemand außer Manu. Ich hab eine Vorliebe für Nieten und Bandshirts. Die meisten Leute, die mich sehen, finden mich gruselig und merkwürdig. Dabei bin ich eigentlich ganz nett. Glaub ich. Aber weil alle in meinem Jahrgang mich komisch finden, hab ich kein Interesse daran, mich mit ihnen abzugeben, und Manu ist als Gesellschaft auch völlig ausreichend. Wir schauen gern Star Wars ohne Ton und improvisieren eigene Dialoge dazu, spielen Pen and Paper Rollenspiele in einem Kreis auserwählter Freunde und machen mit erschreckender Regelmäßigkeit Hotdog-Wettessen. »Ich weiß auch nicht, was mich reitet. Aber wenn ich ihn ansehe, möchte ich ihn in Schokosoße tunken und ablecken«, gebe ich verträumt zurück. Manchmal glaube ich, Lelos Bewundererkreis hat Angst, dass ich mich auf ihn stürzen und ihn Satan opfern könnte, weil ihnen auch schon aufgefallen ist, wie ich ihn immer anstarre. Allerdings interpretieren sie das nicht als sexuell motivierte Peinlichkeit, sondern als Bedrohung. Zwei seiner Verehrerinnen haben mich auch schon mal ganz empört gefragt, wieso ich ihn immer so angaffe. »Ich stell mir vor, wie er sich auf meinem Opferaltar machen würde«, hab ich ihnen gesagt. Vielleicht kommt daher ihre Angst um ihren Jahrgangschampion. Tatsache ist allerdings, dass ich nicht vorhabe, Lelo irgendeinem Gott zu opfern. Auch wenn ich nichts dagegen hätte, ihn irgendwo anzubinden. Alles mit gegenseitigem Einverständnis natürlich. Sicherlich würde er sich in meinem großen Bett mit Metallrahmen super machen. Handschellen. Ah, ich sollte nicht daran denken. »Bitte, hör auf«, sagt Manu mit einem Stöhnen und ich tue ihr den Gefallen und reiße meinen Blick von Lelo weg. Lelo ist ein entzückender Spitzname für einen so coolen Typen. Eigentlich heißt er Leonard. Manchmal sag ich den Namen laut, wenn ich allein zu Hause bin. Er klingt ziemlich gut, find ich. Aber ok, vielleicht bin ich bei Namen auch einfach echt anspruchslos, weil ich selbst Kim Vincent Eilers heiße und der Name einige Wünsche offen lässt. »Wenn du tatsächlich jemals dazu kommst, ihn zu vögeln, dann hoffe ich ein bisschen, dass er eine Niete im Bett ist«, gesteht Manu mir und ich muss lachen. »Also, in meinen Gedanken ist er ‘ne Granate«, versichere ich ihr scheinheilig und sie stöhnt erneut und lässt den Kopf hängen. »Ok. Seien wir ehrlich. Wenn du ihn kennenlernen würdest und er immer noch cool wäre und du ihn immer noch vögeln willst und von mir aus auch, wenn du dann mit ihm Händchen haltend durch die Gegend laufen und Herzchenkonfetti spucken wirst, würde ich mich für dich freuen. Weil ich total selbstlos bin«, erklärt sie mir. Ich grinse breit und buffe sie mit meiner Schulter an. »Ich weiß. Aber du beschwerst dich auch einfach gern. Also musst du meinetwegen nicht damit aufhören«, gebe ich zurück und sie streckt mir die Zunge raus, sodass ich ihr Zungenpiercing sehen kann. Ich liebe sie wirklich sehr. * Der Sportunterricht und ich haben eine kleine Hassliebe zueinander. Ich steh wahnsinnig auf Turnen und Leichtathletik, aber Ballsportarten sind mir ein Greuel. Ein Pluspunkt ist selbstredend auch, dass ich Lelo halbnackt sehen kann, wenn wir uns in einer Kabine umziehen. Und der Vorteil daran, dass die Jahrgangsleute denken, man sei ein irrer Satanist – weil man schwarz trägt und gern Metal hört, meine Fresse –, ist, dass man auch fürs interessierte Zusehen beim Umziehen nicht fertig gemacht wird. Manchmal frage ich mich, ob die Maskulinität dieser Jugendlichen tatsächlich so gefährdet und schwächlich ist, dass sie vom Blick eines Nieten tragenden Bisexuellen zerstört werden kann. Besonders Jan wirkt immer sehr hektisch, wenn er sich neben mir umzieht. Vielleicht ist er insgeheim auch an Kerlen interessiert und will sich dieser Wahrheit nicht stellen. Ich will gar nicht wissen, was die alle denken würden, wenn sie wüssten, dass ich Lippenstift super finde. Dieses Schuljahr hat Gott sei Dank mit Bodenturnen angefangen und entgegen vieler Schüler beurteilen die meisten Lehrer mich nach meinen Leistungen – und die sind besonders in Deutsch, Englisch, Sport und Philosophie ziemlich gut. Eine Ausnahme bildet mein Physiklehrer, der offenbar genauso viel Angst vor mir hat wie seine Schüler und sich deswegen weigert, mich in seinem Unterricht aufzurufen, als würde ich bei der ersten Gelegenheit zu sprechen den Teufel beschwören. Lelo ist ebenfalls sehr gut im Sport. Er rockt auch Ballsportarten sehr viel mehr als ich, aber in Turnen und Leichtathletik sind wir meist gleichauf. Wenn ich nicht sogar ein bisschen besser bin. In der Umkleide nebenan lärmt der Sportkurs, der heute in der größeren der beiden Sporthallen Unterricht hat, während wir in der kleinen Halle sind. Ich bin als einer der Ersten fertig mit dem Umziehen, werfe noch einmal einen kurzen Blick auf mein Handy, dann auf Lelos umwerfende Bauchmuskeln und dann gehe ich in die Halle. Manu hockt bereits an einer der Wände und sieht jetzt schon schlecht gelaunt aus. Sie kann Sport überhaupt nicht leiden. Zu viel Interaktion mit anderen. »Würdest du mir eine blutige Nase schlagen, damit ich nicht mitmachen muss?«, stöhnt sie, als ich mich ihr nähere. Ich grinse. »Nein, ich fürchte nicht«, erwidere ich und lasse mich neben ihr nieder. Bodenturnen für Leute, die es nicht so gut können, oder Angst davor haben, muss echt furchtbar sein. Vor allem, weil man es vor so vielen anderen Leuten tun muss, die einem beim Versagen auch noch zusehen. Nicht, dass Manu sonst Probleme damit hat, angesehen zu werden, sonst würde sie nicht wie ein bunter Hund herumlaufen. Aber der Sportunterricht ist eindeutig etwas anderes. »Nächste Woche kann ich meine Ma vielleicht wieder dazu überreden, dass meine Unterleibskrämpfe zu schlimm sind, als dass ich hingehen kann«, sagt sie und gibt ein unzufriedenes Kehlgeräusch von sich, als unser Sportlehrer – Herr Böckmann – reinkommt und in seiner sehr engen Radlerhose zum Davonlaufen aussieht. »Guten Tag, Herrschaften!«, dröhnt Herr Böckmann hochmotiviert und ich denke mir, dass Sport noch mehr Spaß machen würde, wenn unser Lehrer nicht der letzte Armleuchter wäre. »Zack, zack, zack, zehn Runden zum Aufwärmen!«, ruft er und klatscht zu jedem ›Zack‹ laut in die Hände. Manu wirft ihm einen Blick reiner Abscheu zu und setzt sich mit mir gemeinsam in Bewegung. Ich laufe extra langsam neben ihr her, damit sie nicht allein rennen muss, aber als Lelo mich überholt und mir im Vorüberlaufen tatsächlich einen herausfordernden Blick zuwirft, entkommt mir ein Geräusch, das zwischen Empörung und Sehnsucht schwankt. Manu schnaubt und wedelt mit ihrer Hand, womit sie mir bedeutet, dass ich ruhig vorlaufen kann. Ich lasse mich nicht lange bitten und lege einen Zahn zu. Es dauert nicht lange, bis ich mit Lelo gleichauf bin und er wirft mir einen amüsierten Seitenblick zu. Ein Grund, aus dem ich Lelo mag, ist, dass er mich nicht behandelt wie einen aussätzigen Leprakranken. Oder einen wahnsinnigen Satanisten. Natürlich ist das auch ein bisschen erbärmlich, dass ich dankbar den Menschen anhechele, der mich nicht beängstigend findet. Aber gut, ich kann es nicht ändern. Wir laufen in einem Tempo nebeneinander her, das alle anderen in den Schatten stellt. Für ein paar Aufwärmrunden ist es auch eindeutig übertrieben, aber so ein Wettrennen mit Lelo macht schon Spaß. Ich habe sonst so gut wie nie Kontakt zu ihm, deswegen genieße ich diese seltene Gelegenheit. »Nicht schlecht«, keucht Lelo, als wir in die siebte Runde gehen. Mein Herz hämmert und ich fühle mich richtig euphorisch vor lauter Adrenalin und Beglückung darüber, dass ich neben Lelo herlaufen kann, während alle seine anderen Bewunderer nur hinterher schnaufen können. »Nicht quatschen, rennen«, gebe ich nicht minder außer Atem zurück, werfe ihm ein Grinsen zu und lege noch einen Zahn zu. Er lacht atemlos und versucht Schritt zu halten, aber ich gewinne am Ende um eine halbe Runde. »Alter Schwede.« Lelo keucht immer noch und stützt seine Hände auf seine Knie. Ich betrachte voller Faszination eine Schweißperle, die kurz an seiner Nasenspitze hängen bleibt und dann auf den Boden tropft. Meine Fresse, wie gern würd ich ihn auch mal mit anderen Dingen so außer Atem bringen. Ich möchte ihm erklären, dass ich so ein Wettrennen auch gern in einem privateren Umfeld wiederholen würde, aber da pfeift der Böckmann uns auch schon zu sich, damit wir Matten raustragen. Weil Bodenturnen mir Spaß macht und Manu mir Leid tut, komme ich den Rest der Sportstunde nicht mehr dazu, irgendwie mit Lelo zu interagieren. Stattdessen gebe ich Manu Hilfestellungen, die niemand anderen – und schon gar nicht den Böckmann – an sich ranlassen möchte und ich darf zweimal vorturnen. Am Ende werden ich und Jan dazu verdonnert, die Matten wieder wegzuräumen und Jan wirkt etwas panisch angesichts der Tatsache, dass er mit mir allein sein soll. Ich kann über ihn nur die Augen verdrehen und ziehe kurz in Erwägung, unverständliche, lateinisch anmutende Worte vor mich hin zu murmeln, damit er vielleicht schreiend von dannen rennt und Manu und ich dann später etwas zu lachen haben. Aber weil ich meistens nett bin, verkneife ich es mir und bin der letzte, der in die Umkleide zurückkommt, um sich umzuziehen. Lelo ist natürlich schon weg. So ein Mist. Aber immerhin kann ich jetzt ein paar Tage in der Tatsache schwelgen, dass Lelo mit mir ein Wettrennen gestartet hat und er sogar derjenige war, der angefangen hat. Awesome! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)