Jemand von Ur ("1 neue Mitteilung erhalten") ================================================================================ Kapitel 1: Wettrennen --------------------- »Kim, hörst du mir eigentlich zu?« »Hm?« Ich fürchte, ich habe nicht zugehört. Ich bin mir nicht mal sicher, über welches Thema ich mit meiner besten Freundin eigentlich gerade rede. Vielleicht ging es um die nahende Englischklausur, aber es könnte genauso gut ein empörtes Gespräch darüber sein, dass die Wissenschaft Pluto seinen Status als Planeten aberkannt hat. Ich hab einfach keinen blassen Schimmer. Der Grund dafür heißt Lelo und ist wahrscheinlich mit Abstand der am besten aussehende Junge in unserem Jahrgang. Und der beliebteste. Er ist immer von einem Schwarm Leuten umgeben, alle wollen ihn auf ihre Partys einladen und selbst die Lehrer scheinen seinem Charme erlegen zu sein. Es ist ein Alptraum. Umso trauriger, dass ich auch nicht immun bin gegen seine engelsgleiche Erscheinung und sein leicht schiefes Grinsen, seine braunen Locken und die dunkelbraunen Augen, die immer ziemlich schelmisch funkeln. »Oh Gott, starrst du ihn schon wieder an und stellst dir vor, wie er nackt aussieht?«, fragt Manu mich und ich kann ihren herablassenden Unterton nur zu gut verstehen. Ich finde mich selbst auch echt peinlich, weil ich Lelo so wunderbar finde. Normalerweise sind Manu und ich sehr bemüht, nicht all die blöden Dinge cool zu finden, die andere Leute cool finden. Die Leute aus unserem Jahrgang sind einfach größtenteils ätzend. »Vielleicht nicht ganz nackt«, gebe ich schuldbewusst zurück und werfe meiner besten Freundin einen Blick zu, die die Augen verdreht. »Ich versteh nicht, was an dem Kerl so toll sein soll«, sagt sie und schaut hinüber zu Lelo und seinen Kumpels, die über irgendeinen Witz lachen. Vermutlich einen, den Lelo erzählt hat. Hatte ich erwähnt, wie lässig seine Jeans auf seiner Hüfte sitzt? Manus Haare sind ganz kurz geschnitten und vor einer Woche waren sie noch lila. Jetzt sehen sie ziemlich ausgewaschen aus und man sieht einen blonden Ansatz. Mal sehen, welche Farbe sie als nächstes reinhaut. Sie hat mehrere Piercings und trägt eine rotgrün-karierte Hose und schwarze, ausgelatschte Stiefel. In diesem Jahrgang ist sie eindeutig der einzige Mensch, den ich ertragen kann. Dass sie wiederum die meisten Menschen nicht ausstehen kann, scheint die anderen Leute nicht zu stören. Vielleicht merken sie es auch nicht. Sie finden Manu cool und laden sie unermüdlich zu Feiern ein. Sie geht allerdings nie hin. Vielleicht ist es mittlerweile eine Art Sport geworden. Zu wessen Party kommt Manu? Auf eine merkwürdig verdrehte Weise ist sie beinahe so beliebt wie Lelo. Aber eher so, als wäre sie ein exotisches Tier, das man gern ausstellen möchte. Mich will keiner ausstellen. Ich hab schwarze Haare und meine Klamotten sind genauso schwarz. Andere Farben sind eher nicht so mein Ding. Außer, wenn ich daheim Kleider trage. Die sind meistens bunt. Aber das weiß hier in der Schule niemand außer Manu. Ich hab eine Vorliebe für Nieten und Bandshirts. Die meisten Leute, die mich sehen, finden mich gruselig und merkwürdig. Dabei bin ich eigentlich ganz nett. Glaub ich. Aber weil alle in meinem Jahrgang mich komisch finden, hab ich kein Interesse daran, mich mit ihnen abzugeben, und Manu ist als Gesellschaft auch völlig ausreichend. Wir schauen gern Star Wars ohne Ton und improvisieren eigene Dialoge dazu, spielen Pen and Paper Rollenspiele in einem Kreis auserwählter Freunde und machen mit erschreckender Regelmäßigkeit Hotdog-Wettessen. »Ich weiß auch nicht, was mich reitet. Aber wenn ich ihn ansehe, möchte ich ihn in Schokosoße tunken und ablecken«, gebe ich verträumt zurück. Manchmal glaube ich, Lelos Bewundererkreis hat Angst, dass ich mich auf ihn stürzen und ihn Satan opfern könnte, weil ihnen auch schon aufgefallen ist, wie ich ihn immer anstarre. Allerdings interpretieren sie das nicht als sexuell motivierte Peinlichkeit, sondern als Bedrohung. Zwei seiner Verehrerinnen haben mich auch schon mal ganz empört gefragt, wieso ich ihn immer so angaffe. »Ich stell mir vor, wie er sich auf meinem Opferaltar machen würde«, hab ich ihnen gesagt. Vielleicht kommt daher ihre Angst um ihren Jahrgangschampion. Tatsache ist allerdings, dass ich nicht vorhabe, Lelo irgendeinem Gott zu opfern. Auch wenn ich nichts dagegen hätte, ihn irgendwo anzubinden. Alles mit gegenseitigem Einverständnis natürlich. Sicherlich würde er sich in meinem großen Bett mit Metallrahmen super machen. Handschellen. Ah, ich sollte nicht daran denken. »Bitte, hör auf«, sagt Manu mit einem Stöhnen und ich tue ihr den Gefallen und reiße meinen Blick von Lelo weg. Lelo ist ein entzückender Spitzname für einen so coolen Typen. Eigentlich heißt er Leonard. Manchmal sag ich den Namen laut, wenn ich allein zu Hause bin. Er klingt ziemlich gut, find ich. Aber ok, vielleicht bin ich bei Namen auch einfach echt anspruchslos, weil ich selbst Kim Vincent Eilers heiße und der Name einige Wünsche offen lässt. »Wenn du tatsächlich jemals dazu kommst, ihn zu vögeln, dann hoffe ich ein bisschen, dass er eine Niete im Bett ist«, gesteht Manu mir und ich muss lachen. »Also, in meinen Gedanken ist er ‘ne Granate«, versichere ich ihr scheinheilig und sie stöhnt erneut und lässt den Kopf hängen. »Ok. Seien wir ehrlich. Wenn du ihn kennenlernen würdest und er immer noch cool wäre und du ihn immer noch vögeln willst und von mir aus auch, wenn du dann mit ihm Händchen haltend durch die Gegend laufen und Herzchenkonfetti spucken wirst, würde ich mich für dich freuen. Weil ich total selbstlos bin«, erklärt sie mir. Ich grinse breit und buffe sie mit meiner Schulter an. »Ich weiß. Aber du beschwerst dich auch einfach gern. Also musst du meinetwegen nicht damit aufhören«, gebe ich zurück und sie streckt mir die Zunge raus, sodass ich ihr Zungenpiercing sehen kann. Ich liebe sie wirklich sehr. * Der Sportunterricht und ich haben eine kleine Hassliebe zueinander. Ich steh wahnsinnig auf Turnen und Leichtathletik, aber Ballsportarten sind mir ein Greuel. Ein Pluspunkt ist selbstredend auch, dass ich Lelo halbnackt sehen kann, wenn wir uns in einer Kabine umziehen. Und der Vorteil daran, dass die Jahrgangsleute denken, man sei ein irrer Satanist – weil man schwarz trägt und gern Metal hört, meine Fresse –, ist, dass man auch fürs interessierte Zusehen beim Umziehen nicht fertig gemacht wird. Manchmal frage ich mich, ob die Maskulinität dieser Jugendlichen tatsächlich so gefährdet und schwächlich ist, dass sie vom Blick eines Nieten tragenden Bisexuellen zerstört werden kann. Besonders Jan wirkt immer sehr hektisch, wenn er sich neben mir umzieht. Vielleicht ist er insgeheim auch an Kerlen interessiert und will sich dieser Wahrheit nicht stellen. Ich will gar nicht wissen, was die alle denken würden, wenn sie wüssten, dass ich Lippenstift super finde. Dieses Schuljahr hat Gott sei Dank mit Bodenturnen angefangen und entgegen vieler Schüler beurteilen die meisten Lehrer mich nach meinen Leistungen – und die sind besonders in Deutsch, Englisch, Sport und Philosophie ziemlich gut. Eine Ausnahme bildet mein Physiklehrer, der offenbar genauso viel Angst vor mir hat wie seine Schüler und sich deswegen weigert, mich in seinem Unterricht aufzurufen, als würde ich bei der ersten Gelegenheit zu sprechen den Teufel beschwören. Lelo ist ebenfalls sehr gut im Sport. Er rockt auch Ballsportarten sehr viel mehr als ich, aber in Turnen und Leichtathletik sind wir meist gleichauf. Wenn ich nicht sogar ein bisschen besser bin. In der Umkleide nebenan lärmt der Sportkurs, der heute in der größeren der beiden Sporthallen Unterricht hat, während wir in der kleinen Halle sind. Ich bin als einer der Ersten fertig mit dem Umziehen, werfe noch einmal einen kurzen Blick auf mein Handy, dann auf Lelos umwerfende Bauchmuskeln und dann gehe ich in die Halle. Manu hockt bereits an einer der Wände und sieht jetzt schon schlecht gelaunt aus. Sie kann Sport überhaupt nicht leiden. Zu viel Interaktion mit anderen. »Würdest du mir eine blutige Nase schlagen, damit ich nicht mitmachen muss?«, stöhnt sie, als ich mich ihr nähere. Ich grinse. »Nein, ich fürchte nicht«, erwidere ich und lasse mich neben ihr nieder. Bodenturnen für Leute, die es nicht so gut können, oder Angst davor haben, muss echt furchtbar sein. Vor allem, weil man es vor so vielen anderen Leuten tun muss, die einem beim Versagen auch noch zusehen. Nicht, dass Manu sonst Probleme damit hat, angesehen zu werden, sonst würde sie nicht wie ein bunter Hund herumlaufen. Aber der Sportunterricht ist eindeutig etwas anderes. »Nächste Woche kann ich meine Ma vielleicht wieder dazu überreden, dass meine Unterleibskrämpfe zu schlimm sind, als dass ich hingehen kann«, sagt sie und gibt ein unzufriedenes Kehlgeräusch von sich, als unser Sportlehrer – Herr Böckmann – reinkommt und in seiner sehr engen Radlerhose zum Davonlaufen aussieht. »Guten Tag, Herrschaften!«, dröhnt Herr Böckmann hochmotiviert und ich denke mir, dass Sport noch mehr Spaß machen würde, wenn unser Lehrer nicht der letzte Armleuchter wäre. »Zack, zack, zack, zehn Runden zum Aufwärmen!«, ruft er und klatscht zu jedem ›Zack‹ laut in die Hände. Manu wirft ihm einen Blick reiner Abscheu zu und setzt sich mit mir gemeinsam in Bewegung. Ich laufe extra langsam neben ihr her, damit sie nicht allein rennen muss, aber als Lelo mich überholt und mir im Vorüberlaufen tatsächlich einen herausfordernden Blick zuwirft, entkommt mir ein Geräusch, das zwischen Empörung und Sehnsucht schwankt. Manu schnaubt und wedelt mit ihrer Hand, womit sie mir bedeutet, dass ich ruhig vorlaufen kann. Ich lasse mich nicht lange bitten und lege einen Zahn zu. Es dauert nicht lange, bis ich mit Lelo gleichauf bin und er wirft mir einen amüsierten Seitenblick zu. Ein Grund, aus dem ich Lelo mag, ist, dass er mich nicht behandelt wie einen aussätzigen Leprakranken. Oder einen wahnsinnigen Satanisten. Natürlich ist das auch ein bisschen erbärmlich, dass ich dankbar den Menschen anhechele, der mich nicht beängstigend findet. Aber gut, ich kann es nicht ändern. Wir laufen in einem Tempo nebeneinander her, das alle anderen in den Schatten stellt. Für ein paar Aufwärmrunden ist es auch eindeutig übertrieben, aber so ein Wettrennen mit Lelo macht schon Spaß. Ich habe sonst so gut wie nie Kontakt zu ihm, deswegen genieße ich diese seltene Gelegenheit. »Nicht schlecht«, keucht Lelo, als wir in die siebte Runde gehen. Mein Herz hämmert und ich fühle mich richtig euphorisch vor lauter Adrenalin und Beglückung darüber, dass ich neben Lelo herlaufen kann, während alle seine anderen Bewunderer nur hinterher schnaufen können. »Nicht quatschen, rennen«, gebe ich nicht minder außer Atem zurück, werfe ihm ein Grinsen zu und lege noch einen Zahn zu. Er lacht atemlos und versucht Schritt zu halten, aber ich gewinne am Ende um eine halbe Runde. »Alter Schwede.« Lelo keucht immer noch und stützt seine Hände auf seine Knie. Ich betrachte voller Faszination eine Schweißperle, die kurz an seiner Nasenspitze hängen bleibt und dann auf den Boden tropft. Meine Fresse, wie gern würd ich ihn auch mal mit anderen Dingen so außer Atem bringen. Ich möchte ihm erklären, dass ich so ein Wettrennen auch gern in einem privateren Umfeld wiederholen würde, aber da pfeift der Böckmann uns auch schon zu sich, damit wir Matten raustragen. Weil Bodenturnen mir Spaß macht und Manu mir Leid tut, komme ich den Rest der Sportstunde nicht mehr dazu, irgendwie mit Lelo zu interagieren. Stattdessen gebe ich Manu Hilfestellungen, die niemand anderen – und schon gar nicht den Böckmann – an sich ranlassen möchte und ich darf zweimal vorturnen. Am Ende werden ich und Jan dazu verdonnert, die Matten wieder wegzuräumen und Jan wirkt etwas panisch angesichts der Tatsache, dass er mit mir allein sein soll. Ich kann über ihn nur die Augen verdrehen und ziehe kurz in Erwägung, unverständliche, lateinisch anmutende Worte vor mich hin zu murmeln, damit er vielleicht schreiend von dannen rennt und Manu und ich dann später etwas zu lachen haben. Aber weil ich meistens nett bin, verkneife ich es mir und bin der letzte, der in die Umkleide zurückkommt, um sich umzuziehen. Lelo ist natürlich schon weg. So ein Mist. Aber immerhin kann ich jetzt ein paar Tage in der Tatsache schwelgen, dass Lelo mit mir ein Wettrennen gestartet hat und er sogar derjenige war, der angefangen hat. Awesome! Kapitel 2: Erstkontakt ---------------------- Mein selbstgebastelter Argonier namens Deevan rennt mit schwerer Orkrüstung durch die frostige Weite von Himmelsrand, als mein Handy vibriert. Ich rufe das Menü auf, um Deevan eine Pause zu gönnen und wende mich von meinem Monitor ab, ganz sicher, dass Manu mir eine klagende SMS über ihre Französischhausaufgaben geschrieben hat. Aber nein. Ein mir unbekannter Kontakt, den ich vorher ganz sicherlich nicht eingespeichert hatte, hat mir eine SMS geschrieben. Der Name des Kontakts lautet einfach nur ›Jemand‹. Ich öffne die Nachricht verwirrt und frage mich gleichzeitig, welcher von meinen bescheuerten Jahrgangsmitschülern sich einen dämlichen Scherz erlaubt hat. »Hallo Kim, wie war dein Wochenende bisher?« Ich blinzele verwirrt mein Display an. Jemand – haha –, der sich einfach nur einen Witz erlaubt hätte, würde wohl kaum fragen, wie mein Wochenende bislang war. Dann würde ich eher Nachrichten erhalten, die sich über mich lustig machen. »Wer will das wissen?«, tippe ich zurück. »Jemand, der sich für dein Wochenende interessiert.« Sehr witzig. Das Wortspiel mit ›Jemand‹ ist jetzt schon alt. Mein Argonier möchte wirklich gern die Höhle ganz in der Nähe durchsuchen und dabei ein paar Totenbeschwörer köpfen. Wann zum Teufel – und diese Formulierungen im Zusammenhang mit der Angst meiner Mitschüler werden nie alt – hat irgendwer seine Nummer bei mir eingespeichert und anschließend sich selbst angerufen, um auch meine Nummer zu bekommen? Die einzige Gelegenheit, die mir einfällt, in der ich mein Handy lang genug aus den Augen gelassen hab, ist der Sportunterricht. Toll. »Bisher war mein Wochenende ganz gut«, antworte ich ungehalten. Die Antwort kommt prompt. Aha. Vermutlich jemand mit einer Flatrate. Aber gut, wer hat die heutzutage nicht? »Und wieso ist es jetzt nicht mehr gut?« »Weil irgendein Dödel seine Nummer in mein Handy eingespeichert hat.« »Benutzt du oft das Wort Dödel? :-D« Ich muss amüsiert schnauben. Ok, vielleicht war das ein bisschen witzig. Und wenn der unbekannte Mensch am Ende der Leitung mir irgendwann auf den Wecker geht, dann kann ich die Nummer immer noch blockieren. So ist es womöglich ein kleines Abenteuer. Deevan muss sich noch kurz gedulden. »Nur manchmal, wenn die Situation es verlangt.« »Vielleicht übernehme ich das jetzt auch in meinen Wortschatz. Was hat dein Wochenende bisher gut gemacht?« Ich betrachte mein Handy. Es ist schon eine ziemlich abgefahrene Situation, in der ich mich hier wiederfinde. Aber wieso denn nicht mal ein paar verrückte Dinge tun? Da alle Welt ohnehin denkt, dass ich nachts bei Vollmond Hühner oder kleine Kinder opfere, kann ich mich auch mal ein wenig leichtsinnig verhalten. »Ein Hotdog-Wettessen mit meiner besten Freundin und das Erreichen von Stufe 30 mit meinem Argonier.« »Wer hat das Wettessen gewonnen? Und was ist ein Argonier?« Ich muss lachen und wende mich meinem PC zu, um Deevan in eine besonders beeindruckende Position zu bringen und ihn dann in seiner schweren Rüstung – allerdings ohne Helm – mit meinem Handy zu fotografieren. Für einen Echsenmenschen ist er schon ziemlich heiß. Ich sende das Foto an ›Jemand‹ mit der Unterschrift »Deevan, Stufe 30. (Und ich hab gewonnen!)«. Diesmal dauert die Antwort des Unbekannten ein wenig länger, so als wäre er ein wenig geschockt angesichts der Tatsache, dass ich ihm einen gefährlich aussehenden Echsenmenschen mit einem riesigen Schwert in der Hand geschickt habe. »Verstehe, du spielst irgendein Computerspiel. Ist das eine riesige Echse in einer Rüstung?« »Jap. Er ist resistent gegen Krankheiten und kann unter Wasser atmen. Außerdem ist er total badass, wenn er Vampire mit zwei Schwertern köpft.« »Wie heißt das Spiel? Herzlichen Glückwunsch übrigens zum gewonnenen Wettessen!« »Danke. Es heißt Skyrim. Ist aus der The Elder Scrolls Reihe von Bethesda. Solltest du auch mal probieren. Die Grafik ist awesome.« »Ich werd das mal bei Google suchen. Benutzt du gern englische Wörter?« Ich prüfe die bisherige Unterhaltung und stelle fest, dass ich ›badass‹ und ›awesome‹ geschrieben habe. Awesome ist eins meiner Lieblingsworte. »Viel Spaß dabei. Ja, ich find Englisch super. Sag Bescheid, wenn du Übersetzungen brauchst ;-)« »Ich bin selber eigentlich ganz gut in Englisch, aber danke für das Angebot. Magst du noch andere Dinge, außer Hotdogs, Englisch und Skyrim?« »Schandmaul, meine Ratte Chewbacca, schwarz und Nieten, Sex, Apfelkuchen und Turnen. Und du so?« Eine ganze Weile kommt nichts und ich bin mir beinahe sicher, dass die Information über Sex zu viel für den armen Tropf am anderen Ende war. Ich nutze die Gelegenheit und sprinte mit Deevan bis zu der Höhle, in der sich laut meinem Informanten eine Bande von Totenbeschwörern befindet. Schleichen und Heimlichkeit sind nicht Deevans Sache, er rennt einfach mit erhobenem Schwert mitten ins Getümmel. Das Handy vibriert erneut. Ich ertappe mich bei einer gewissen Neugier dafür, was der seltsame Mensch am anderen Ende wohl mögen könnte. »Spaghetti Bolognese, Hunde, Volleyball, rot, The White Stripes und dich.« Ich starre eine halbe Minute hinunter aufs Display und frage mich, ob ich mir jetzt veralbert vorkommen soll. Aber es klingt nicht so, als würde jemand mich veralbern. Ich meine, der Mensch hat auch andere Sachen aufgezählt. Oder? Einen Augenblick lang überlege ich, ob ich Manu anrufen und ihr davon erzählen soll, aber Manu hasst Menschen und würde mir sicherlich sagen, dass es irgendein irrer Stalker ist, der sich durch nette Worte bei mir einschleimen will, um mich dann in einer dunklen Gasse rücklings niederzuschlagen, sobald ich ihm meinen Wohnort verraten habe. Kurz wünsche ich mir, zu wissen, wer dieser Mensch ist, damit ich besser einschätzen kann, wieso er tut, was er tut, und ob es tatsächlich ernst gemeint sein könnte. Unschlüssig lege ich das Handy beiseite und widme mich wieder Deevan und den Totenbeschwörern. Ich sterbe zweimal, bevor ich sie alle erledigt habe und finde zum Trost für die Mühen immerhin einige nützliche Tränke, Gold und ein nicht zu verachtendes Paar verzauberter Stiefel. Das Handy vibriert erneut, als ich wieder aus der Höhle und in den Schnee trete. »War das zu direkt?« Ich muss glucksen. Die Vorstellung, dass jemand für mich zu direkt sein könnte, ist eigentlich völlig absurd. Aber es stimmt. Die SMS hat mich aus der Bahn geworfen. Menschen mögen mich nicht. Mit Ausnahme von Manu, meiner Familie und meinen wenigen Freunden. Aber sie mögen mich nicht einfach so, ohne mich zu kennen. Und jemanden, den ich näher kenne, kann ich ausschließen. »Nur sehr unerwartet. Glaub ich.« »Wieso? Ist es so unwahrscheinlich, dass jemand dich mögen könnte?« Diese Frage entlockt mir tatsächlich ein Lächeln. Also, wenn irgendjemand versucht mich reinzulegen, dann gibt der Mensch sich ganz schön Mühe dabei. Ich möchte mir allerdings nicht ausmalen, was es über mein Unterbewusstsein aussagt, dass ich wirklich gern glauben möchte, dass da am anderen Ende jemand hockt, der mich gut leiden kann. »Die wenigstens Leute mögen mich«, antworte ich schließlich. Eigentlich hab ich damit ja auch kein Problem, aber wenn ich es so hinschreibe, klingt es so, als würde ich versuchen Mitleid zu heucheln. Was ich nicht tue. Ich kann mich gut leiden. Schulter zuckend schicke ich die SMS ab und wende mich Deevan zu. Es kann ja wohl nicht angehen, dass ich meinen Lieblingsargonier völlig vernachlässige, nur weil ein fremder Mensch mein Handy geklaut und seine Nummer eingespeichert hat. Ich finde auf dem Weg nach Einsamkeit eine Quecksilberader und schürfe geschäftig daran herum, als mein Handy wieder vibriert. Ganze drei Minuten widerstehe ich dem Drang, die neue Nachricht zu lesen, dann muss Deevan doch wieder auf mich warten. »Dann sind die meisten Leute offensichtlich Dödel.« Ich muss lachen. Na toll. Selbst wenn am anderen Ende ein echter Armleuchter sitzt, hat er oder sie es echt drauf, einen netten Menschen zu mimen. »Wenn du in meinen Jahrgang gehst, dann hast du es bisher ja gut verschleiert, dass du mich nicht für einen Hühnerblut trinkenden Satanisten hältst ;-)« Die Antwort kommt wahnsinnig schnell. »Natürlich halte ich dich nicht für einen Hühnerblut trinkenden Satanisten. Aber ich bin sicher, dass du mich beknackt findest.« Wenn ich bedenke, dass ich eigentlich alle Leute aus meinem Jahrgang blöd finde, dann ist die Trefferquote tatsächlich ziemlich hoch. Aber andererseits kenn ich die Leute auch nicht wirklich und finde sie vor allem dämlich, weil sie denken, dass ich kleine Kinder opfere. Dieser Mensch scheint nicht zu denken, dass ich Kinder opfere. Das allein ist ja eigentlich schon mal eine sympathische Eigenschaft. »Das heißt, ich werd solang nicht wissen, wer du bist, bis du mich dazu gebracht hast, dich zu mögen?« »Dass du anfängst mich zu mögen, ist natürlich der Idealfall.« »Magst du Star Wars?« »Ja, schon.« »Dann ist das schon mal eine gute Basis.« »Turnen mag ich auch.« »Es wird immer besser.« Die nächste Antwort dauert wieder länger. Ich hab Deevan beinahe völlig vergessen, während ich auf mein Handy starre und warte. »Und Sex find ich auch gut.« Wenn ich mir rückblickend überlege, bei welchen SMS die Antwort länger gedauert hat, dann kommt mir ein Bild von einem verlegenen, weniger direkten Menschen in den Sinn, der jetzt all seine Register zieht und über seinen Schatten springt. Die Vorstellung von einem verlegenen und hibbeligen SMS-Schreiber ist doch recht entzückend, muss ich sagen. Ich räuspere mich und mein Finger schwebt einen Moment lang dramatisch über dem Display. Manchmal tu ich gern so, als wäre ich in einem Film. »Dann sind wir ja praktisch füreinander geschaffen :-D« Ich frage mich, ob das zu viel des Guten war, aber hey, man lebt nur einmal. Recht energisch schalte ich mein Handy aus und lege es beiseite. Ich sollte mich wirklich wieder um Deevan kümmern. Der unbekannte Handy-Dieb wird mich nicht davon abhalten, bis Sonntagabend Stufe 35 zu erreichen. Kapitel 3: Outings - die Erste ------------------------------ Ich schaffe es nicht bis Stufe 35. Stattdessen verbringe ich den größten Teil meines Wochenendes mit der halbherzigen Erledigung meiner Hausaufgaben und damit, mit ›Jemand‹ SMS zu schreiben. Zwischendurch stelle ich mir vor, wie Deevan leise wimmernd im Schnee steht und darauf wartet, dass ich mich ihm zuwende, aber diese Sache mit dem geheimen Verehrer ist einfach zu verlockend und witzig, als dass ich mich nicht damit beschäftigen könnte. Tatsächlich liege ich Samstagnacht ganze vier Stunden abends im Dunkeln im Bett – nachdem ich meinen Eltern gesagt habe, ich würde heute früher schlafen gehen – und schreibe Nachrichten mit dem unbekannten Handy-Dieb. Ich weiß noch nicht mal, ob es ein Mädchen oder ein Junge ist. Aber da ich mich gleichermaßen für beides begeistern kann, ist es mir eigentlich auch ziemlich egal. Manu hab ich immer noch nichts von der Sache erzählt. Sie wäre sicher empört, wenn sie wüsste, dass ich seit mehreren Tagen geheime Dinge tue, von denen sie nichts weiß. Vielleicht erzähle ich es ihr am Montag. »Es ist irgendwie blöd, dich die ganze Zeit ›Jemand‹ zu nennen. Aber deinen richtigen Namen verrätst du mir ja sowieso nicht.« »Was ist dein Lieblingscharakter bei Star Wars?« »Han Solo. Wieso?« »Nenn mich halt Solo ;-)« Da musste ich giggeln und hab den Kontakt tatsächlich in ›Han Solo‹ umgeändert. Samstagabend, unter meiner Bettdecke. Immerhin weiß ich jetzt einige Dinge mehr über Han Solo als noch am Samstagvormittag. Solo hat eine kleine Schwester, isst nicht gern Fisch und ist allergisch gegen Hausstaub, was die Möglichkeit für ein etwaiges Treffen in meinem Zimmer eindeutig stark verringert. Außerdem findet er Manu einschüchternd, meine langen Haare gut und möchte irgendwann mal Bungeejumping machen. Wir lästern gemeinsam über Herrn Böckmann, was immerhin die Hälfte meines Jahrgangs ausschließt, weil die bei Frau Ahrens Sportunterricht haben – die glücklichen Schweine. Seine oder ihre kleine Schwester Sophia hat einen Hamster namens Balu und die Familie hat einen riesigen Neufundländer, den alle nur Hund nennen und der auch auf diesen Namen hört, was ich ziemlich witzig finde. Ich erzähle von meinen großen Geschwistern – meiner Schwester Laura, die noch bei uns wohnt und angefangen hat, Architektur zu studieren und meinem Bruder Tom, der schon nicht mehr bei uns wohnt und im Auftrag der Telekom ungeduldigen Leuten ihren Internetanschluss installiert – und dass ich, wenn es nach mir ginge, einen ganzen Zoo voller Ratten halten würde. Meine Eltern haben sich allerdings nicht erweichen lassen, mir mehr als eine zu erlauben. »Kommst du gut mit deinen Geschwistern aus?«, fragt mich Solo irgendwann mitten im Gespräch. Ich denke kurz darüber nach und habe beinahe schon vergessen, wie seltsam es ist, dass ich solche Details aus meinem Leben mit einem Fremdem teile. »Mit Laura besser als mit Tom. Der ist mir manchmal ein wenig zu langweilig und spießig. Und bei dir?« »Sophia ist in der Pubertät, das ist ein wenig anstrengend. Aber eigentlich sind wir ziemlich eng miteinander. Was verstehst du unter spießig?« »Jemand, der seine Handtücher bügelt und klassische Musik für das einzig Wahre hält.« »Wow, krass. Wahrscheinlich ist er mit dir überfordert, was?« »Allerdings. Ich geb mir aber auch viel Mühe ;-)« Es ist wirklich einfach mit Solo zu reden. Ich meine, würde ich sonst ein paar Stunden in meinem Bett im Dunkeln liegen und bei Schreibpausen, die sich über zwei Minuten hinziehen, ungeduldig hin und her rutschen? Manu wird mir ja dermaßen dafür auf den Schenkel hauen. Nicht, dass mich das stören würde, ich mag das Zwiebeln auf der Haut. Aber das tut ja nichts zur Sache. »Willst du mir übrigens wenigstens verraten, welche Pronomen ich benutzen darf, wenn ich über dich mit Manu reden werde?«, tippe ich meiner letzten SMS hinterher und kaue wartend auf meiner Unterlippe herum. Ich sollte mich wirklich nicht allzu sehr in diese Sache hinein steigern, aber wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, bin ich jetzt schon viel zu aufgeregt über jedes erneute Aufleuchten meines Handys… Mist. Offensichtlich lechzt mein Unterbewusstsein nach Zuneigung. Und es ist ja schon ziemlich spannend, einen geheimen Verehrer oder eine Verehrerin zu haben. Auch wenn die Sache mit dem Handyklau natürlich nicht ok war. Die Antwort dauert ganze drei Minuten und siebenundzwanzig Sekunden. »Er. Also, wenn du mit Manu über mich redest, kannst du ‚er‘ sagen. Ist das ok?« Ich muss lachen. Stimmt, meine Jahrgangskollegen wissen eigentlich nicht wirklich, dass ich bisexuell bin. Wahrscheinlich fänden sie es nicht verwunderlich, wenn es herauskäme, aber ich muss wieder daran denken, wie viel Überwindung es Solo gekostet haben muss, diese SMS zu schreiben, wenn er sich gar nicht sicher war, ob ich Jungs gut finde. Mutiger Kerl. Und ziemlich niedlich. »Absolut. Ich schwing in viele Richtungen :-P Magst du nur Jungs? Oder auch Mädchen? Oder alles querbeet?« Beinahe hätte ich queerbeet geschrieben und über mich selbst gelacht. Ich schicke die SMS ab. Keine Ahnung, wie lange ich hier schon herumliege, aber von früh schlafen kann jedenfalls keine Rede mehr sein. Wenn morgen früh um halb sieben der Wecker klingelt, werde ich vermutlich ziemlich gerädert sein, aber meine Güte. Ich bin jung und wild und ungezähmt! Kein Problem! »Ich weiß es nicht so genau. Ich war noch nie verknallt. Und ich fand bislang auch nur ein Mädchen interessant. Und dich. Habe also nicht viele Anhaltspunkte für eine klare Aussage. Und was genau meinst du, wenn du querbeet sagst?« Ich muss mich erst mal ein paar Momente lang beruhigen, bevor ich die Antwort tippen kann. Der Grad an Nervosität, der sich in mir breit macht, wenn ich solche netten Dinge lese, ist unglaublich peinlich und ich möchte mich am liebsten aus dem Bett kugeln und meinen Kopf auf den Fußboden hauen. Wie konnte das nur innerhalb von zweieinhalb Tagen passieren? Ich bin völlig wahnsinnig geworden. Bevor ich antworte, atme ich einmal tief durch. Natürlich hätte mir irgendwie klar sein müssen, was für ein riesiges Fass ich aufmache, wenn ich von nichtbinären Geschlechtern rede, aber na gut. Bevor ich mich ernsthaft verknalle, sollte ich ein paar grundlegende Dinge abklären, damit es nicht zu Wutausbrüchen und riesiger Enttäuschung kommt. »Ich empfehl hiermit den englischen Artikel ‚gender‘ auf Wikipedia.« Das klingt knapper, als ich es eigentlich beabsichtigt habe, aber ich bin wirklich kein König, wenn es darum geht, sich gut ausdrücken zu können. Demnach überlasse ich es anderen Menschen, diese Dinge zu erklären. Diesmal dauert es über eine Viertelstunde, bis eine Antwort kommt. »Wow. Das ist… neu. Aber total einleuchtend, wenn man es so liest. Womit identifizierst du dich? Darf ich das fragen? Ist das zu persönlich? Bitte sag Bescheid, wenn ich mich wie ein Trottel verhalte, ich kenne mich nicht aus. Aber ich verspreche, alles zu googlen!« Vielleicht muss ich ihn heiraten. Wenn ich jetzt aufstehe und ins Wohnzimmer gehe, sitzen meine Eltern da sicher noch und ich kann ihnen verkünden, dass ich bald in die Flitterwochen fliegen werde, mit einem mir bislang eigentlich unbekannten, männlichen Individuum. Oh Gott. Mein Herz hämmert tatsächlich mit zunehmender Begeisterung ich möchte unwahrscheinlich gern mein Display knutschen. Allerdings sollte ich doch noch einen Fetzen meiner Würde bewahren, also räuspere ich mich in die Stille hinein und öffne eine Antwort. »Das ist ok. Immer nur raus mit den Fragen. Ich identifiziere mich vor allem als bi, aber ich hab, was gender angeht, so meine fluiden Tage. Hab mich da allerdings nicht für ein label entschieden. Männliche Pronomen sind absolut ausreichend! Danke, dass du so cool bist.« Es kommt nicht alle Tage vor, dass man einem fremden Menschen erzählt, dass man sich geschlechtstechnisch manchmal weder bei maskulin noch feminin einordnet, weil der Mensch unglaublich entzückend nachgefragt hat. Wenn ich Manu morgen davon erzähle, muss ich zusehen, dass ich vor lauter Grinsen keinen Krampf in den Wangen kriege. »Dafür musst du dich nicht bedanken. Wenn wir uns je richtig treffen, dann werd ich hoffentlich viel nachgelesen haben. Ich freu mich aber trotzdem ziemlich, dass du mich cool findest.« Ja, denke ich mir und nicke in die Dunkelheit hinein, du bist in der Tat cool. Und ich war noch nie in meinem Leben so neugierig auf irgendetwas. Nicht mal als Kind vor Weihnachten. Es juckt mich sehr in den Fingern noch mal zu fragen, wer denn nun eigentlich dahinter steckt, aber letztendlich tu ich es nicht. Allein schon deswegen, weil ich Schiss habe, dass es jemand total Blödes ist. Jan zum Beispiel. Um Gottes Willen, hoffentlich ist es nicht Jan! »Vielleicht siehst du mich dann auch mal im Kleid, wenn wir uns privat treffen. Ich sehe tatsächlich ziemlich gut aus in Kleidern ;-)« Ich kann es mir einfach nicht verkneifen, auf diese Sache weiter einzugehen, nur um sicher zu sein, dass mein unbekanntes Gegenüber wirklich so großartig ist, wie es den Anschein hat. Mein Bruder hat sich mittlerweile dran gewöhnt, dass ich manchmal, wenn er zu Besuch kommt, in Röcken oder Kleidern herumlaufe. Aber er findet es schon merkwürdig. »Hattest du schon mal eins zur Schule an? Das wäre mir dann entgangen! Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.« »Was kannst du dir nicht vorstellen? Mich im Kleid?« »Nein. Dass mir das nicht aufgefallen wäre. Eigentlich achte ich immer sehr aufmerksam auf dich.« Ich fühle mich wie in einem sehr kitschigen Film, während ich breit grinsend und mit kribbelnden Gliedmaßen im Bett liege und durch die Dunkelheit an die Decke starre. All diese plötzliche Zuneigung bekommt mir nicht, ich drehe vollkommen durch, wie es scheint. Am liebsten würde ich ein paar Runden um den Block laufen, um meinen Überschuss an Hibbeligkeit abzubauen. Unweigerlich denke ich an den Sportunterricht und das Wettrennen mit Lelo. »Wenn du so weiter machst, lenkst du mich bald erfolgreich von meinem Crush ab! (Und ich hatte noch nie ein Kleid zur Schule an, die Leute finden mich so schon komisch genug…)« Die Antwort dauert diesmal sehr lange und ich denke erst, dass ‚Jemand‘ vielleicht eingeschlafen ist. Aber dann leuchtet mein Handy doch noch mal auf und ich öffne hastig die Antwort. Mann, Kim, du bist doch total bescheuert… »Weil ich ein Dödel bin, wünsche ich mir gerade sehr, dass ich sowieso dein crush bin. Schlaf gut, wir sehen uns morgen.« Ich starre auf das Display. Abgesehen davon, dass ich bei dem ersten Satzteil schmunzeln musste, weil Solo das Wort ‚Dödel‘ aufgegriffen hat, wird mir plötzlich wieder klar, dass er mich ja mag. Ach ja. Das heißt, ich habe ihn gerade total vor den Kopf gestoßen, als ich meinen crush erwähnt habe. Wenn Lelo der Mensch am anderen Ende wäre… Aber das ist Unsinn. Der würde sicherlich nicht solche Heimlichkeiten starten. Und überhaupt kann er jeden haben, was soll er da mit mir wollen? Ich betrachte die Nachricht noch einige Momente, dann drehe ich mich auf die Seite, um zu schlafen. Aber wie erwartet klappt es nicht und ich liege stattdessen noch ewig wach. Blöder Jemand. Kapitel 4: Matheprobleme ------------------------ »Meine Fresse!« »Ich wollte es dir eigentlich schon Samstag erzählen, aber…« »Dass sowas hier an unserer kleinen Scheißschule passiert!« »Er ist wirklich sehr, sehr cool, glaube ich.« »Was denkst du, wer es ist?« Manu ist überhaupt nicht sauer. Sie ist eher aufgeregt und ungläubig darüber, dass so etwas hier passiert, weil unser Jahrgang für gewöhnlich nicht zu Abweichungen von der gesellschaftlichen Norm neigt. Ich habe ihr jedes kleinste Detail berichtet, ihr Passagen aus der Unterhaltung vorgelesen und mehrmals empörte Blicke eines Lehrers auf mich gezogen, weil ich meine Erzählungen auch zischelnd während des Unterrichts fortgesetzt habe. Allerdings ermahnt mich niemand. Es ist das alte Satanistenproblem. »Keine Ahnung«, gebe ich zurück und lasse meinen Blick durch die Pausenhalle schweifen. Natürlich ist Lelo auch da. Und er sieht wie immer entzückend aus. Trotz der Unterhaltungen mit Jemand hat sich nichts an meinem Wunsch geändert, Lelos Bauchmuskeln abzulecken und mich von ihm in die nächstbeste Matratze vögeln zu lassen. Ein Dilemma sondergleichen. »Ich hatte den schrecklichen Gedanken, dass es Jan sein könnte«, füge ich schließlich hinzu und auf Manus Gesicht spiegelt sich blankes Entsetzen wieder. »Oh nein. Das wäre ein Alptraum! Andererseits würde es erklären, wieso er immer vor dir flieht. Also, es wäre ein anderer Grund als der, von dem wir eigentlich ausgehen«, meint sie und ihre Augen suchen unweigerlich die Halle ab, bis sie Jan und seine Gruppe von Freunden gefunden hat. Skeptisch mustert sie seinen beknackten Haarschnitt, die teuren Markenturnschuhe und sein blödes, schiefes Grinsen. »Nein. Nein, es kann nicht Jan sein. Der wäre nie zu so netten Dingen fähig«, meint sie schließlich und ich bin dankbar, dass Manu das denkt, denn wenn es Jan wäre, würde jegliche Anziehung, die ich für Jemand empfinde, im Wind verpuffen und es wäre sehr unangenehm. »Ich glaub, er ist einfach ein heterosexistischer Arsch«, sagt Manu. Ich nicke. »Ja. Ja, du hast Recht. Er kann es nicht sein.« Als wüsste Jan, dass wir über ihn reden, dreht er sich in diesem Moment zu uns um, sieht mich und läuft scharlachrot an. Ich schlucke. »Herrje, bitte lass es nicht Jan sein…« Manu ist tatsächlich ziemlich beeindruckt davon, dass Jemand so bereitwillig den Wikipedia-Artikel gelesen und sich so offen dazu geäußert hat. Und dass er sofort Lernbereitschaft verkündet hat und es nicht komisch fand, dass ich manchmal gern Kleider trage. »Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, wer von all unseren beknackten Mitschülern so nett sein sollte«, meint sie kopfschüttelnd und lässt erneut den Blick schweifen. Ich hüstele und spüre, wie ich rot werde. »Du hoffst, dass es Lelo ist, oder?«, fragt Manu amüsiert und ich schnaube verlegen und lasse den Kopf hängen. Als würde Lelo mich gut finden. Das wäre utopisch. Unweigerlich schau ich zu ihm hinüber. Seine Locken sind so entzückend. Und sein Schmollmund. Herrje, mein Herz hämmert automatisch ein paar Takte schneller und ich hoffe, dass Manu mich nicht immer noch beobachtet. Ehrlich gesagt kann ich mich gar nicht daran erinnern, wann genau das mit uns beiden angefangen hat… »Schreib diesem Jemand doch mal, und schau, wer sein Handy vorkramt«, schlägt Manu vor und mein Herz hört sofort auf zu schlagen und sinkt zwischen meine Knie. »Nein«, sage ich panisch und schüttele sie ein wenig. Manu lacht. »Aber wieso nicht? Bevor du dich Hals über Kopf verknallst, wäre es doch gut zu wissen, wer es ist. Dann kannst du schauen, ob du den Kontakt weiter haben willst.« Was sie sagt, klingt natürlich total vernünftig, aber ich weiß nicht, ob ich mich traue, es jetzt schon herauszufinden. Es ist dämlich, aber ich hätte nichts dagegen, meine Utopie – dass es Lelo ist – noch ein wenig länger zu erträumen, statt jetzt schon ernüchtert zu werden. Seufzend ziehe ich mein Handy heraus. Manu hat Recht. Lieber jetzt ein wenig enttäuscht, als am Ende dramatisch und mit zertrümmertem Herzen endend. Gut, dass Manu meine theatralischen Gedanken nicht lesen kann. »Aber es haben sowieso total viele ihr Handy draußen. Wahrscheinlich fällt es gar nicht auf«, gebe ich kläglich zu bedenken und Manu sieht mich streng an, sodass ich unverständlich vor mich hin murmelnd anfange, eine SMS zu tippen. »Ich werde Lelo und Jan besonders im Auge behalten«, verspricht Manu und rutscht ein wenig in ihrer Position herum, als würde sie sich tatsächlich körperlich darauf einstellen, aufmerksam zu sein. Ich atme tief ein und lese noch einmal den Text, den ich geschrieben hab. »Guten Morgen! Ich hoffe, du hattest einen guten Start in den Tag :-) Ich hab gleich Mathe und bin ziemlich unmotiviert.« Es ist jetzt das erste Mal, dass ich mit dem Kontakt anfange. Ich meine, klar, wir schreiben sowieso noch nicht besonders lange, aber es fällt mir trotzdem auf. Ob sich Jemand freut, dass ich von mir aus schreibe? Oder ist er von gestern immer noch gekränkt, weil ich von meinem crush erzählt hab? »Hm… keiner von beiden holt sein Handy raus«, sagt Manu und ich schaue mich ebenfalls um. Aber das muss ja nichts heißen. Viele haben in der Schule das Handy auf lautlos. »Kevin und Mehmet haben ihr Handy draußen. Oh, und da hinten ist noch Miguel, und… äh… hier. Dingens. Tobi. Tobi mit den blonden Haaren, nicht Tobi mit den O-Beinen.« Ich muss lachen und lasse meine Augen ebenfalls durch die Pausenhalle schweifen. Lelo unterhält sich bestens gelaunt mit Caro und Sabrina und Jan und seine Kumpels haben ein Hacky-Sack ausgepackt. Ich wusste nicht, dass es immer noch Leute gibt, die diese Teile haben. Wow. Hatte ich schon erwähnt, dass ich sehr hoffe, dass es nicht Jan ist? Ich meine, die Leute aus meinen Jahrgang sind mir ja größtenteils eher egal, aber letztens hab ich mitgehört, wie er über Nina gelästert hat, weil sie angeblich zu fett ist. Mal abgesehen davon, dass Nina mit großer Wahrscheinlichkeit Kleidergröße 36 oder 38 trägt, wäre es auch nichts Schreckliches, wenn sie tatsächlich dick wäre. Ich habe Jan sehr kräftig angerempelt und zuerst war er sauer, aber als er gesehen hat, dass ich es war, sah er eher verängstigt aus. Ich bin wirklich nicht besonders beängstigend. Die ein Meter siebzig Knochen und latente Muskeln können doch keinen beeindrucken. »Er ist es nie im Leben«, sage ich und stopfe mein Handy wieder in die Hosentasche. Meine Augen hängen an Lelo. Wenn er lacht, dann hat er Grübchen in den Wangen und Fältchen um die Augen herum. Manu grummelt leise und schaut sich weiter um, aber niemand packt sein Handy aus, tippt, und bringt damit mein Handy zum Vibrieren. Erst, als es zur Pause klingelt und Manu und ich schon auf dem Weg zu Mathe sind, vibriert mein Handy und ich ziehe es hastig heraus. »Ich mag Mathe auch nicht besonders. Guten Morgen! Wahlloser Kommentar am Rande: Deine Haare sehen immer so weich aus.« Ich spüre, wie ich rot werde und halte Manu das Handy hin. Sie lacht und wuschelt mir durch die Haare. »Sie sehen nicht nur weich aus«, meint sie schelmisch und ich möchte gerne etwas Geistreiches antworten, aber ich muss die ganze Zeit daran denken, dass Lelo das geschrieben haben könnte. Die Vorstellung ist… oh Mann. Mein Gehirn ist sowieso nicht besonders fähig, wenn es um Mathe geht, aber seit dieser SMS geht es noch mehr bergab. »Jetzt kann ich mich nicht mehr auf den Unterricht konzentrieren!«, klage ich per SMS und fahre mir peinlicherweise dauernd durch die Haare, nur um immer wieder zu testen, ob sie wirklich weich und flauschig sind. Sie sind schon ziemlich weich. Ich will, dass Lelo durch meine Haare fährt. Und dann kann er fest dran ziehen und mich an die nächstbeste Wand drücken… »Das werte ich als positives Zeichen :-) Wenn du dich schon nicht auf Mathe konzentrierst, worüber denkst du dann nach?« »Frag lieber nicht, ich schrecke dich doch nur ab«, tippe ich sehr schnell zurück und schlucke schwer. Es ist eindeutig nicht awesome im Matheunterricht rallig zu werden und sich Sexszenarios in großer Detailfülle auszumalen, bis sich in der Hose etwas regt. Es ist so ätzend ein hormongesteuert Teenager mit Penis zu sein. »Versuch’s doch mal ;-)« Ich atme tief durch und tue für einen kurzen Moment so, als würde ich angestrengt nachdenkend die Tafel mustern, während die Augen des Lehrpersonals mich streifen, dann richte ich meinen Blick auf das Display meines Handys und denke mir: Mensch, Kim, du bist schon so wagemutig gewesen, jetzt kannst du auch noch einen Schritt weiter gehen. Also tippe ich, was ich denke. »Ich steh wahnsinnig drauf, wenn man mir an den Haaren zieht, und ich stell mir vor, wie du genau das machst und mich dabei an die nächstbeste Wand drückst. Weil ich ein notgeiler, hormongesteuerter Teenager bin.« Ich ärgere mich darüber, dass ich heute eine meiner engeren, schwarzen Hosen angezogen habe, in der man meinen Hintern gut bewundern kann. Eitelkeit. Falls Jemand / Solo mir mal auf den Arsch schaut. Ich bereue diese Outfitwahl jetzt, weil die Enge der Hose unbequem wird, je länger und ausführlicher ich über die Szenerie mit dem Haareziehen nachdenke. Verfluchter Mist. Ich sollte mehr masturbieren. »Fuck.« Ok, das ist nicht hilfreich. Erstens ist es nicht aussagekräftig, zweitens bringt es mein Gehirn nur noch mehr zum Rattern, falls es nicht negativ gemeint ist. Denn abgesehen von Haareziehen und anderen Dingen, steh ich wahnsinnig auf dirty talk. Mein Gehirn bastelt einen Strom schmutziger Worte mit Lelos Stimme gesprochen. Ich glaube, ich sollte das Klassenzimmer verlassen und mich auf dem Klo beruhigen. Aber so, wie ich jetzt hier sitze, kann ich auch nicht aufstehen. Verflucht sei meine enge Hose! Mein Handy vibriert erneut. »Ich hatte erst mit zwei Mädchen Sex und die standen nicht auf so ausgefallene Dinge wie das.« Ich muss schmunzeln und kaue nervös und ziemlich erregt auf meiner Unterlippe herum. »Das ist ja noch gar nicht so ausgefallen. Ich steh noch auf ganz andere Dinge.« »Ich kann mich jetzt auch nicht mehr auf den Unterricht konzentrieren, scheiße.« Ich muss schmunzeln und lecke mir über die Lippen. Mein Kopf spuckt eine Menge Szenarien aus. Nur allzu gern würd ich vor Lelo auf die Knie gehen und es ihm mit dem Mund besorgen. Mathe war nie weniger spannend. Es vibriert wieder. »Auf was stehst du sonst noch?« »Ich bin gern gefesselt, gebe voller Begeisterung Blowjobs auf den Knien, mag es, wenn man mir dreckigen Kram sagt, alles mit Beißen und Kratzen ist super… und ich find es ziemlich geil, wenn man mir die Luft abdrückt.« Ich lese die SMS durch. Wahrscheinlich ist ihm das alles zu gruselig. Oh Mann. Ein Hoch auf meine Vorlieben im Bett. Aber ich kann nichts dafür, dass ich einen Hang zum BDSM habe. Soll ich das abschicken? Ich meine, er hat gefragt. Und er fand die Sache mit den Haaren offenbar nicht allzu schrecklich. Manu sitzt neben mir und meldet sich tatsächlich mal. Sie ist ziemlich gut in Mathe. Wir leben in einer Symbiose. Sie hilft mir vor Mathe- und Physikklausuren und ich mache mit ihr Hausaufgaben in Deutsch und Englisch. »Sag ja oder nein«, wispere ich ihr zu. Sie schaut mich nicht an und grinst nur verhalten. »Ja.« Mist. Vielleicht hat sie gesehen, wie ich die SMS getippt hab? Keine Ahnung. Ich bin froh, dass ich am Fenster sitze und nur Manu neben mir habe. Augen zu und durch, Kim! Ich drücke auf ‚senden‘ und atme tief durch. Wenn ihm das zu gruselig ist, hätte es mit uns ohnehin nicht funktioniert. »Fuck, fuck, fuck!« Ich unterdrücke ein Lachen und stopfe mein Handy erst einmal in meine Hosentasche. Bevor es zur kleinen Pause klingelt, sollte ich das Problem in meinem Schritt in den Griff bekommen haben. Der Gedanke daran, dass Lelo hinter dem mysteriösen Jemand steckt, macht es allerdings schwer, die Gedanken zu vertreiben. Die Vorstellung daran, dass er mich ans Bett fesselt und mit seinen umwerfenden Händen meinen Hals zudrückt, bringt mein Blut nur noch mehr in Wallung. Ah, Kim, wie weit bist du gesunken? Im Matheunterricht einen Ständer, wirklich? Fünf Minuten später habe ich mich einigermaßen beruhigt und traue mich, mein Handy erneut heraus zu holen. »Ich hab keine Ahnung, ob ich gut darin wäre, aber ich würde es gern mit dir ausprobieren.« Scheiße! Von wegen beruhigt. Ich dreh durch. Wenn ich mit Manu am Wochenende weggehe, sollte ich mir dringend jemanden – haha – zum Rummachen suchen, bevor meine Hormone noch überschäumen und mich zu einem hirnlosen Wackelpudding mit explodierender Libido verwandeln. Aber immerhin, denke ich mir und nehme mir vor, das Handy nun endgültig beiseite zu legen, so aufregend war der Matheunterricht lange nicht mehr. Kapitel 5: Eskalation --------------------- »Verflucht nochmal, du bist so heiß«, wispert Lelo in mein Ohr und vergräbt seine schlanken Finger tief in meinen Haaren, zieht, bis meine Kopfhaut kribbelt und ich unter ihm meinen Rücken biege, um mich näher an ihn zu pressen. Seine dunklen Locken und seine braune Haut sehen im Kontrast zu meiner weißen Haut ziemlich gut aus. Lelo zieht fester und ich kann nicht umhin, erregt aufzustöhnen. Er hat gut reden. Wenn einer von uns beiden heiß ist, dann er. Die Finger der anderen Hand legen sich fest um meinen Hals und drücken zu. Meine Augenlider flattern und ich komme den Fingern noch entgegen, um Lelo zu signalisieren, dass er fester drücken kann. Oh Gott. Ich bin nach wahnsinnig kurzer Zeit schon so geil, dass ich wahrscheinlich gleich in mein Spitzenhöschen komme. Wenn Lelos dunkle Augen mich nur noch einmal so begierig anschauen wie gerade schon mal… »Kim! Raus aus dem Bett, es ist viertel nach sieben!« Die Stimme meines Vaters donnert durch meinen Traum wie ein Kanonenschuss und ich komme eigentlich ganz gut mit meinen Eltern aus, aber gerade würde ich meinen Vater gern aus dem Fenster werfen. In meiner Hose zeichnet sich ein unangenehm hartes Problem ab und ich seufze der dunklen Zimmerdecke entgegen. Toll. Es ist zu spät, um noch zu duschen und mich dieses Rohrs zu entledigen, also kann ich nur hoffen, dass es beim Zähneputzen beschließt, dass der Traum nicht heiß genug war, um den ganzen Tag mit Anwesenheit zu glänzen. Shit, Shit, Shit. Verflucht sei mein Gehirn. Manu merkt sofort, dass ich nervös und hibbelig bin, aber sie ist gnädig und fragt nicht nach, sondern wartet stattdessen, bis ich in der zweiten großen Pause endlich platze und ihr alles von den Sex-SMS und dem Traum berichte. »Wow. Experimentierfreudig ist er also auch noch? Wer hätte gedacht, dass wir so einen Rohdiamanten hier in unserer Scheißschule haben?«, meint sie anerkennend und lässt den Blick durch die Pausenhalle schweifen. Ich bin sehr bemüht nicht Lelo anzustarren und mir nicht seine raue Stimme ins Gedächtnis zu rufen, die mir heiser ins Ohr flüstert, was er alles mit mir anstellen will… Fuck. »Kim, denk an Brot«, sagt Manu gelassen und dann tut sie mir einen riesigen Gefallen und steckt mir einen Finger ins Ohr – so ziemlich die unerotischste Geste, die ich mir vorstellen kann. Ich schüttele den Kopf und kriege eine Gänsehaut an den Unterarmen. Und zwar nicht eine der guten. »Danke. Brot ist gut«, nuschele ich und schließe seufzend die Augen. Wenn Lelo nicht Jemand ist, dann werden wir beide unglücklich, soviel steht fest. Ich bin so besessen von der Vorstellung, dass Lelo der geheimnisvolle Verehrer sein könnte, dass eine Alternative überhaupt nicht mehr in Frage kommt. Körnerbrot. Heidebrot. Karottenbrot. Kürbisbrot. Fitnessbrot. Kartoffelbrot. Leinsamenbrot. Weißbrot. Schwarzbrot. Gerstenbrot. »Ich hab übrigens mal ein bisschen recherchiert«, erklärt Manu und kramt aus ihrer Hosentasche einen Zettel hervor. Ich beäuge ihn misstrauisch und verscheuche fürs erste meine beruhigenden Gedanken an Brot. »Was hast du recherchiert? Wie man Besessenheit kuriert? Hast du eine Wunderlampe gefunden, von der ich mir was wünschen kann? Bitte zeig mir jetzt nicht die Adresse von einem Bordell. Ich weiß, wo in unserer Stadt der Puff ist, ok? Und so schlimm ist es ehrlich noch nicht!« Manu zieht eine ihrer Augenbrauen hoch und sieht mich streng an. Ich verstumme und fahre mir mit zwei Fingern über den Mund, um zu signalisieren, dass ich brav die Klappe halten werde. »Ich hab mal eine Liste von allen Kerlen aus unserem Jahrgang erstellt, die bei Herrn Böckmann Sport haben. Dann habe ich direkt die drei gestrichen, die den Sportunterricht abscheulich finden. Und dann habe ich ganz tief in meinem Hinterstübchen gekramt und darüber nachgedacht, wer von denen immer besonders laut stöhnt, wenn wir Turnen haben, denn das finden du und dein Jemand ja super.« »Du weißt nicht zufällig, wer von den übrig gebliebenen Typen eine kleine Schwester namens Sophia und einen Hund namens Hund hat, oder?«, frage ich und lasse mir die Liste in die Hand drücken. Zehn Namen. Ist ja gar nicht mehr so viel eigentlich. Manu schnaubt. »Ich war echt beeindruckt von mir, dass mir überhaupt alle Namen eingefallen sind«, erklärt sie und ich kaue nervös auf meiner Unterlippe herum, während ich die Liste mustere. Jan steht noch mit darauf. »Ich kann eigentlich alle Leute streichen, die von dieser Liste hier mit bei uns in Mathe sitzen«, sage ich und strenge mein Gehirn so gut es geht an. Leider Gottes kann ich nur zwei weitere Namen streichen, sodass immer noch acht übrig sind. Jan steht bedauerlicherweise weiterhin mit auf der Liste und ich strecke seinem Namen die Zunge heraus. »Lass uns doch Freitag feiern gehen und dann kannst du dir jemanden aufreißen und dich ein bisschen abreagieren«, schlägt Manu vor und beobachtet, wie ich die Liste zusammenfalte und sie in meine Hosentasche stecke. Lelo lacht gerade über irgendetwas, das ein Mitglied seines Anhangs gesagt hat. Er sieht so gut aus. Wenn er wirklich Jemand ist, dann muss ich mich zwei Monate auf einer einsamen Insel mit ihm verschanzen und ihn den ganzen Tag nur ansehen, küssen und schmutzige Dinge mit ihm tun. Womit ich wieder beim Brot wäre. Vollkornbrot. Bauernbrot. Sonnenblumenkernbrot. Roggenbrot. »Vielleicht sollte ich das tun«, sage ich seufzend und beschließe, die Liste weiterhin mit dem ‚Wer ist bei mir im Unterricht‘-Auschlussverfahren zu verkleinern. Als nächstes haben wir Physik. Leider sind die einzigen Fächer, in denen ich gemeinsam mit Lelo sitze, Englisch und Sport. Es ist ein Trauerspiel und gleichzeitig ein Rätsel, wie ich es auf diese Art überhaupt geschafft habe, mich dermaßen in diesen Kerl zu vergucken, als würde ich schon seit zehn Jahren tiefschürfende Gespräche mit ihm führen. Fuck. Manu glänzt in Physik. Es ist ihr liebstes Fach und es würde mich nicht wundern, wenn sie später irgendwas Angefahrenes wie Astrophysik studieren würde. Ich bin sehr stolz und voller Liebe, was meine beste Freundin angeht. »Wie beunruhigend ist es, dass ich seit unserer letzten Unterhaltung einiges über BDSM (und den Begriff hab ich auch neu gelernt!) gelesen habe?« Ich starre auf mein Handy und möchte anfangen zu weinen. Es ist zu spät für mich. Ich bin Hals über Kopf in diese fiktive Verschmelzung von Lelo und Jemand verschossen und es gibt kein Zurück mehr für mich. Ich muss dieses Drama beenden, bevor ich noch vollends durchdrehe und den Rest meiner Schuljahre mit Sabbern und Wimmern verbringe, weil ich so unglücklich bin. »Kein bisschen. Ich bin sehr beeindruckt und kann Physik vielleicht bald zur Liste der Fächer hinzufügen, in denen ich notgeil geworden bin. Hast du Dinge gelesen, die du spannend fandest?« Ich starre auf mein Handy und kritzele nebenbei geistesabwesend kleine Totenköpfe auf meinen Collegeblock, etwas, das von Manu amüsiert beäugt wird. »Es waren ziemlich viele spannende Sachen dabei. Sorry, wenn ich mich total zum Deppen mache, aber wie stehst du zu spanking?« Ich halte die Luft an, um nicht ein lautes Quietschen von mir zu geben und atme mehrere Male tief durch. Ganz ruhig, Kim. Tief durchatmen. »Ich hab’s noch nie ausprobiert, aber es steht definitiv weit oben auf meiner To-do-Liste.« »Du hast eine to-do-Liste?« »Jap. Du etwa nicht?« »Erst seit unserem Gespräch letztens O:-)« Ich lege meine Stirn auf die aufgeschlagene Seite meines Collegeblocks, was dazu führt, dass ich zwei schwache Abdrücke von schwarzen Totenköpfen auf der Stirn habe, die Manu mir wenige Minuten später in der kleinen Pause mit Spucke wegwischen muss. »Was ist denn jetzt wieder los?«, will sie wissen und sieht mich gespannt an. Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, schließe ihn wieder, öffne ihn und zu meinem Entsetzen und obwohl wir auf dem Gang stehen, um Luft zu holen – der Naturwissenschaftstrakt ist immer besonders stickig – und gefühlte hundert Leute vorbei gehen, fange ich an zu heulen. Scheiße. Manu sieht erschrocken aus und nimmt mich sofort in den Arm, wodurch die Welt um mich herum in ihrem schwarzen, riesigen Pullover verschwindet und ihre Hände mir behutsam den Rücken tätscheln. Ohne es zu sehen, kann ich förmlich spüren, wie sie jeden, der vorbei geht, finster anstarrt, so als hätten die umstehenden Menschen meine Tränen verursacht. Aber ich bin selber schuld, weil ich ein offensichtlich total verzweifelter, liebestoller Trottel bin, der vergessen hat, was das Wort Realität bedeutet und jetzt nach einer Woche Unterhaltung mit einem unbekannten Menschen in riesigen Liebeskummer verfällt, weil der unbekannte Mensch mit großer Wahrscheinlichkeit nicht Lelo heißt. Awesome. Mein Handy vibriert und ich möchte einerseits sofort danach greifen und es andererseits aus dem Fenster werfen, weil damit alles Unglück angefangen hat. Hätte ich nicht einfach weiter Wettrennen mit Lelo laufen können, ohne mir Gedanken darüber zu machen, ob er mich auch mag, weil das einfach immer super unrealistisch gewesen ist? Wieso hab ich mich überhaupt in diesen Kerl verguckt? Mist, Mist, Mist. Gedanken an Brot helfen mir jetzt auch nicht weiter und als es zum Ende der kleinen Pause klingelt, beschließe ich den Rest der Stunden zu schmeißen und heim zu gehen. Vermutlich zerreißt sich mittlerweile der halbe Jahrgang das Maul über mich. Manu drückt mir einen Kuss auf die Stirn und verspricht mir, später mit Hausaufgaben und Schneidezähnen meiner Lästerer bei mir vorbeizuschauen. Ich schultere meinen Rucksack und schlurfe tieftraurig und endlos sauer auf mich selbst die mittlerweile stillen Gänge entlang. Ich höre Schritte hinter mir und hoffe, dass es einfach nur ein mir unbekannter Nachzügler ist, aber die Schritte gehen direkt neben mir weiter und ich hebe den Kopf, um trotzig und verheult zu meinem schadenfrohen Schatten aufzuschauen, als ich einen mir sehr bekannten Lockenkopf, fast schwarze Augen und eine besorgte Miene entdecke. Scheiße. Mein Leben ist ein sehr schlechter Witz. Noch schlechter als die Witze, die anfangen mit »Kommt eine Blondine in einen Friseursalon…«. »Ist irgendwas Schlimmes passiert?«, fragt Lelo. Ich starre ihn an. Meine Augen sind sicher rot und geschwollen und meine Wangen auch und ich kann mir einige Momente vorstellen, in denen ich ihn lieber treffen würde. Aber wieso ist er überhaupt besorgt? Wieso geht er hier neben mir? Wir reden sonst auch nie wirklich miteinander und er kennt mich überhaupt nicht und ich fasse es nicht, was aus meinem Leben geworden ist. »Nicht wirklich. Ich bin nur ein peinlicher Volltrottel«, sage ich also schulterzuckend und vergrabe meine Hände in den Hosentaschen. Heute habe ich nicht meine enge, schwarze Jeans an, in der Lelo meinen Hintern bewundern könnte, wenn er Interesse daran hätte. Ich fühle mich wie ein Häufchen Elend und fasse es nicht, dass ich mitten in der beknackten Schule dermaßen die Beherrschung verloren habe. Hormone, Alter. Hormone sind der Feind. »Willst du darüber reden?«, fragt Lelo leise und ich weiß echt nicht, wieso er so nett ist. Ich sehe ihn von der Seite an. Vielleicht macht er sich über mich lustig? Sieht nicht danach aus. »Seit wann interessierst du dich dafür, wie’s mir geht?« Super, Kim. So wirst du ihn für dich gewinnen. Mit Charme und einem strahlendem Lächeln. Lelo sieht ein wenig aus wie ein getretener Hund und ich möchte mir am liebsten die Zunge abbeißen. Scheiße. »Sorry. Die meisten aus unserem Jahrgang und ich verstehen uns nicht so gut. Ich bin immer misstrauisch, wenn irgendwer doch mal kein Arsch ist«, murmele ich peinlich berührt und stelle mit großer Verwirrung fest, dass Lelo mit mir das Schulgebäude verlässt. »Kein Grund, misstrauisch zu sein. Ich wollte nur sehen, ob alles ok ist«, sagt Lelo und die Ehrlichkeit in seiner Stimme bringt mich beinahe um. Die Situation ist derartig surreal, dass ich mich gern in den Oberschenkel kneifen würde, um zu sehen, ob ich träume. »Ok. Das ist… echt nett. Und unerwartet.« »Weil alle anderen Arschlöcher sind?« »Weil du du bist und ich ich bin.« »Was heißt das?« »Es heißt, dass du… du weißt schon. Dir scheint die Sonne aus dem Arsch und alle lieben dich. Und ich bin der Satanist, der Kinder opfert.« Lelo gluckst leise. »Mir hat noch keiner gesagt, dass mir die Sonne aus dem Arsch scheint«, erklärt er mir und ich ziehe die Schultern hoch. Wie weit will er denn noch mit mir gehen? Aus lauter Aufregung und Verwirrung ziehe ich mein Handy hervor und lese die SMS, die Jemand mir während meines Ausbruchs geschickt hat. »Oh nein, wieso weinst du? Bin ich schuld? Hab ich was Falsches gesagt? Tut mir echt Leid!« Mit einem verzweifelten Schnaufen stopfe ich mein Handy zurück und sofort brennt es schon wieder in meinen Augenwinkeln. Lelo kaut auf seiner Unterlippe herum und mustert mich von der Seite. Hatte ich erwähnt, dass er gut einen Kopf größer ist als ich? Und wie gut sich das bei einer Umarmung anfühlen muss? »Schwänzt du grad wegen mir die Schule?«, frage ich und blinzele dem Himmel entgegen, um die Tränen loszuwerden. Es hilft nur so mäßig gut, weil sie jetzt einfach loslaufen. Super. »Äh, vielleicht. Brauchst du ein Taschentuch?« Ich wische mir energisch über die Augen und nehme das Tempo, das Lelo mir reicht. Lelo schwänzt wegen mir die Schule. Mein Herz hämmert. Wie viel Gefühlschaos soll ich denn heute noch ertragen? »Genau aus diesem Grund denken die Leute, dass dir die Sonne aus dem Arsch scheint«, erkläre ich ihm und Lelo gluckst erneut bei dem Ausdruck. Fuck, er sieht so gut aus. Seine Stimme lässt sich am besten mit von einem Löffel tropfenden Honig beschreiben. Ich bin so durch mit meinem Leben, und das mit zarten siebzehn Jahren. »Und ich bin nicht mal insgeheim ein arroganter Saftsack«, erklärt Lelo grinsend und ich stöhne empört auf. »Ein Alptraum«, sage ich und schüttele den Kopf. »Dir muss doch klar sein, dass sowas unerlaubt ist.« Lelo zieht die Schultern hoch, als würde er sich gern dafür entschuldigen, dass er kein Armleuchter ist. Ich seufze innerlich. Jetzt weiß ich wieder, wieso ich ihn so mag. Und mir ist klar, dass Manu dauernd nölt und die Augen verdreht, aber sie kann mir nicht erzählen, dass sie an Lelo irgendwas nicht ok findet, abgesehen davon, dass er dauernd von diesen Trotteln aus unserem Jahrgang umringt ist. »Du denkst nicht, dass mir die Sonne aus dem Arsch scheint«, meint Lelo dann und wir biegen in die Straße ein, in der ich wohne. Wow. Plötzlich weiß Lelo, wo ich lebe. Komischer Gedanke. Fast noch komischer als die Tatsache, dass er den Unterricht sausen lässt, um mit mir nach Hause zu gehen. Weil es mir schlecht geht. Wenn er nicht zu allen Leuten so nett wäre, würde ich mir beinahe was darauf einbilden. »Ich denke über keinen Menschen, dass ihm Sonne aus dem Arsch scheint«, gebe ich zurück und halte vor dem gelben Backsteinhaus, in dem sich im zweiten Stock die Wohnung meiner Familie befindet. Vielleicht werde ich mich erst eine Stunde in der Badewanne einweichen und dann in meinem Kleiderschrank nach den Klamotten forsten, die ich nicht zu Schule trage. Aber das Zeug zu tragen muntert mich häufig auf. Vielleicht das bunt geblümte Kleid? Oder eher den grauen Falten-Minirock? Hm. Lelo mustert mich. Wie er so vor mir steht, komme ich mir vor wie eine Ameise im Angesicht des Sonnengottes. Gut, dass niemand meinen Gedanken lauschen kann. Es wäre mir wirklich sehr peinlich, wenn die Welt erführe, wie ich über Lelo denke. »Kann ich dich irgendwie aufmuntern?«, erkundigt Lelo sich mit schief gelegtem Kopf. Küss mich ins nächste Leben, denke ich schmachtend und räuspere mich. »Glaub nicht. Keine Ahnung. Es sei denn, du bist abgesehen von deiner Nettigkeit auch noch super weise und kannst mir wasserfesten Rat in Bezug auf unerreichbare Verknalltheiten geben«, sage ich und komme mir ausgesprochen kühn vor. Lelo fährt sich durch die Haare und ich beobachte, wie die Muskeln seines Oberarms sich leicht dabei anspannen. Fick Adonis, man sollte lieber tausend Mamorstatuen von Lelo bauen. »Ich könnte es mal versuchen. Vielleicht ist irgendwo in mir ein Funken Weisheit versteckt«, sagt Lelo schmunzelnd. Ich frage mich, ob ich wirklich so dumm sein soll, Lelo meine dramatische Liebesgeschichte zu berichten, ohne ihm zu sagen, dass ich von ihm spreche. Ich könnte ihm auch einfach gestehen, dass ich ihn gern ablecken würde, aber dann müsste ich die Schule wechseln und das will ich eigentlich nicht. Es kann nur abwärts gehen. An dieser Schule kennen und fürchten mich wenigstens schon alle. »Ok, also. Es gibt diesen Menschen, den ich seit… äh… peinlich langer Zeit aus der Ferne angeiere und ziemlich toll finde, aber ich glaube, wenn der Mensch das wüsste, dann würde er schreiend vor mir wegrennen. Und dann ist da dieser andere Mensch, der… ähm… vielleicht an mir interessiert ist, aber ich weiß nicht, wer es ist, weil er mir nur anonyme Nachrichten schreibt. Und jetzt bin ich besessen von dem Gedanken, dass die beiden ein und dieselbe Person sind und wenn sie es nicht wären, dann wäre ich totunglücklich, und der Mensch am anderen Ende der anonymen Nachrichten womöglich auch, weil ich ihm dann auch gar keine faire Chance geben könnte«, erkläre ich relativ umständlich. Da ich es sehr neutral formuliert habe, dürfte ich mich eigentlich nicht gerade geoutet haben. Aber gut, es wäre mir eigentlich auch egal, wenn es so wäre. Ist schließlich nur Lelo. Was würde er schon tun, wenn ihm das komisch vorkommt? Mich mit Wattebällchen bewerfen vielleicht. »Ah. Das klingt kompliziert«, sagt Lelo und räuspert sich. Ich grinse schief und fahre mir durch die langen, heute offenen schwarzen Haare. Unweigerlich denke ich daran, dass Jemand findet, dass meine Haare weich aussehen. Nicht wieder heulen, Kim. Reiß dich zusammen. »Ich fürchte, ich hab keine Weisheit anzubieten, außer dich mit dem… äh… anonymen Menschen eventuell auszusprechen.« Ich schniefe und fange doch wieder an zu heulen. Toll. Lelo sieht endlos überfordert aus mit sich und seinen breiten Schultern und seinen dunkelbrauen Rehaugen. »Ok, darf ich dich vielleicht umarmen? Wäre das total komisch?«, sagt er und klingt ein wenig panisch dabei. Ich muss unter meinen Tränen lachen und möchte ihm sagen, dass er doch bitte bitte ein Arschloch zu mir sein soll, damit ich anfangen kann, ihn nicht mehr zu mögen, was mein Problem auch signifikant verkleinern würde. »Ok. Ich bin auch nicht ansteckend«, piepse ich mit viel zu hoher Stimme und im nächsten Augenblick werde ich in eine sehr feste Umarmung gezogen. Lelos Körper ist sehr warm und sehr fest und ich wimmere innerlich in Gedanken an all die Muskeln und die nackte Haut. »Also, es beruhigt dich wahrscheinlich nicht, wenn ich das sage. Aber ich glaube nicht, dass du ein Kinder opfernder Satanist bist«, murmelt Lelo und ich schlucke laut, bevor ich mich traue, die Umarmung zu erwidern. Das hier das Merkwürdigste, was mir je passiert ist. Noch merkwürdiger als der Kerl auf dieser einen Social-network-Seite, der wollte, dass ich ihm meine getragene Unterwäsche schicke. »Bist du dir sicher?«, krächze ich und muss mich wirklich sehr zusammenreißen, um mich nicht total an Lelo festzukrallen und im nächsten Moment anzufangen, mich an ihn zu schmiegen und um Küsse zu betteln. Fuckfuckfuck. Für eine Umarmung zwischen zwei eigentlich eher fremden Menschen stehen wir ziemlich lange hier. »Ziemlich sicher, ja.« »Das heißt, wenn ich dich jetzt überwältigen und auf einen Altar binden will, wärst du ein leichtes Opfer?« Ich löse mich widerwillig von Lelo. »Schon, ja.« Er sieht mich recht merkwürdig an. Ich starre zurück. Ein sehr großer Teil von mir möchte ihm mitteilen, dass er der Mensch ist, den ich seit Ewigkeiten aus der Ferne anstarre. Stattdessen schweige ich und krame meinen Schlüssel hervor. »Danke fürs Bringen«, sage ich peinlich berührt und fahre mir erneut durch die Haare. »Gern geschehen«, antwortet Lelo lächelnd. Meine Fresse, ich hasse ihn so sehr. »Ich drücke dir die Daumen, dass die beiden Menschen derselbe Mensch sind«, fügt er dann noch hinzu und ich nicke matt, ehe ich mich der Haustür zuwende und sie aufschließe. Kurz bevor sich die Tür hinter mir schließt, sehe ich, dass Lelo immer noch dort steht, wo ich ihn zurück gelassen habe. Kapitel 6: Eigeninitiative -------------------------- Eine Woche. Ich gebe mir eine Woche, um diese Sache mit Jemand über den Haufen zu schmeißen. Allerdings habe ich im Zuge dessen auch beschlossen, dass ich diese Woche dringend zu so viel Kontakt wie möglich nutzen sollte, um meine offenbar ausgehungerten Zuneigungsbatterien aufzuladen. Nach dem Desaster mit meinen Tränendrüsen vor zwei Tagen habe ich Solo viermal versichert, dass er nicht schuld an meinem Ausbruch war, was ja eigentlich auch stimmt. Letztendlich bin ich der einzige Mensch, der Schuld an irgendwas hat. Ich bin immer noch am Wanken, was Manus Vorschlag wegen Freitag angeht, weil ich nicht weiß, ob ich es über mich bringe, mit irgendjemandem rumzumachen. Ich sehe es kommen, dass ich mir sowieso wieder nur Lelo dabei vorstelle. Aber gut, wenn der andere Mensch trotzdem auf seine Kosten kommt, sollte das ja egal sein. »Was machst du am Wochenende?«, fragt Jemand Donnerstagabend, während ich mit Chewbacca auf der Schulter sitzend Deevan gegen einen Drachen kämpfen lasse. »Es ist queer kollektiv Party im Nörgelbuff, vielleicht geh ich mit Manu dahin«, antworte ich und denke unweigerlich wieder an Manus Vorschlag. Ich könnte in voller femininer Montur dahingehen. Das ist das Schöne an diesen Feiern. Es ist ein sicherer Raum für Leute wie mich, um mich auszutoben. Selbst wenn ich niemanden aufreiße, sollte ich dringend da hingehen. Findet selten genug statt. »Es ist ein Zeugnis unseres Kontakts, dass ich weiß, was queer bedeutet!«, kommt die ziemlich stolz klingende Antwort und ich muss unweigerlich lächeln. »Ich bin sehr stolz, dir das beigebracht zu haben«, tippe ich als Antwort. Deevan hat es nicht leicht mit mir, seit Jemand sich in mein Leben geschummelt hat. Dauernd klebe ich an meinem Handy, wenn ich ihn eigentlich Aufträge für die Gefährten erledigen lassen und Drachen töten sollte. Ich hoffe, mein Lieblingsargonier wird mir verzeihen. »Darf ich total indiskret fragen, was du zu solchen Partys anziehst?« Ich grinse. Deevan muss weiterhin warten, während ich mich von meinem Stuhl erhebe und kurzerhand sehr übermütig meinen weiten Pullover und meine schwarze Hose loswerde. Noch so eine Sache. Unterwäsche. Unterwäsche ist super. Es gibt Tage, an denen ich mir Brüste wünsche, weil Brüste sogar noch besser als Unterwäsche sind. Und Brüste in Unterwäsche… ich denke, es ist klar, worauf ich hinaus will. Ich werfe einen Blick in den Spiegel und betrachte meine blasse Haut und die sorgfältig rasierten Beine, die momentan in schwarzer Strapse stecken. Ich wiege meinen Kopf von rechts nach links und denke daran, dass in den nächsten Tagen irgendwann der Zeitpunkt kommt, an dem ich mich von Jemand verabschieden muss. Also jetzt oder nie. Sorgfältig darauf achtend, dass mein Gesicht nicht mit auf dem Foto ist, knipse ich meinen nackte Oberkörper und die schwarze Unterwäsche, die heute unter meinen labbrigen Klamotten steckt. Dann gehe ich zu meinem Kleiderschrank und wühle das Outfit hervor, das ich Freitag mit großer Wahrscheinlichkeit tragen würde. Einen schwarzen Rock, unter dem man noch die Spitzenränder der Strümpfe sehen kann und ein mit Nieten besetztes, ebenfalls schwarzes Oberteil. Tatsache ist, dass ich mir in femininen Klamotten am besten gefalle. Ich betrachte die beiden Bilder und stelle fest, dass sie mit entsprechenden Schuhen noch sehr viel cooler aussehen würden, also steige ich in das einzige paar hoher Schuhe, das ich besitze, und mache beide Bilder noch mal mit Schuhen. Dafür, dass ich eher klein bin, sehen meine Beine mit diesen Dingern kilometerlang aus. Ich schreibe Manu eine SMS. »Ich werde gleich leicht bekleidete Bilder von mir verschicken.« »Du kleiner Abenteurer ;-)« Ich kichere und schicke dann die Bilder an Jemand. Ich stelle mir vor, wie er – wem will ich was vormachen? In meinem Kopf ist es Lelo – die Bilder ansieht und rot wird und einen halben Herzinfarkt bekommt. Und vielleicht einen Ständer. Das wäre super. Zufrieden summend kicke ich die Schuhe quer durchs Zimmer und ziehe den Rock und das Oberteil wieder aus. Es klopft an meiner Tür. »Ja?«, rufe ich und meine Mutter steckt den Kopf herein. »Schicke Unterwäsche«, sagt sie anerkennend und ich nicke. »Hat mich auch ein halbes Vermögen gekostet.« »Dafür kriegst du genug Taschengeld«, sagt meine Mutter schmunzelnd und ich muss ihr seufzend Recht geben. Meine Eltern sind wirklich mehr als großzügig. Ich ziehe mir wieder den großen Pullover über den Kopf und greife nach der Jeans. »Möchtest du Bohnen oder Möhren zu den Frikadellen?«, will sie dann wissen. »Ist mir egal. Aber Paps will doch sicher lieber Möhren. Dann mach Möhren«, gebe ich zurück. Sie nickt und verschwindet aus dem Zimmer. Dumpf denke ich darüber nach, dass die meisten Eltern nicht auf diese Art reagiert hätten, wenn sie ihr bei der Geburt als Jungen deklariertes Kind in femininen Kleidern finden würden. Ein Hoch auf meine Eltern. Mein Handy vibriert und ich werfe mich zurück auf meinen Schreibtischstuhl, fest entschlossen, die Erwiderung auf meine Fotos erst einmal liegen zu lassen und diesen elenden Drachen zu besiegen. Ich schaffe es tatsächlich und bin ausgesprochen stolz auf mich. Nachdem ich dem Drachenskelett alles an Gold abgenommen habe, pausiere ich das Spiel – Deevan sieht sehr episch aus, wie er mit seiner schweren Rüstung neben dem Drachenskelett steht – und greife nach meinem Handy. »Ich war nie ein besonders versauter Typ. Und jetzt hab ich mir grad zum ersten Mal in meinem Leben mit einer Vorlage einen runtergeholt. Fuck. Du machst mich fertig.« Spitzenhöschen haben den Nachteil, dass sie im Gegensatz zu Boxershorts zwar wesentlich geiler aussehen, aber auch sehr viel enger sind. Ich gebe ein würdeloses Gurgeln von mir und frage mich dunkel, mit welcher krassen Geschwindigkeit Blut wohl durch den Körper reist, wenn ich von null auf hundert einen solchen Ständer kriegen kann. Der Mensch ist doch wirklich ein Wunder der Natur. Ich kaue nervös auf meiner Unterlippe herum. Ein paar Tage noch, Kim, dann ist alles vorbei. »Und worüber genau hast du nachgedacht, während du dir das Bild angeschaut hast?« Kim, du gehst eindeutig zu weit. Potentiell bist du ein echtes Arschloch. Wenn Jemand nicht Lelo ist – was sehr wahrscheinlich ist, da Lelo ein Sonnengott und wahnsinnig beliebt ist, auch wenn er weiterhin auf der Liste steht – dann machst du ihn sehr unglücklich, wenn du in ein paar Tagen einfach den Kontakt abbrichst. So zumindest der rationale Teil meiner Gedanken. Der andere Teil ist momentan mit dem Rohr in meinem schicken Höschen beschäftigt und denkt demnach überhaupt nicht nach. Fuck. Ich grübele kurz darüber nach, dass es in etwa einer Viertelstunde Essen gibt, aber egal. Meine jugendliche Libido wird nie wieder derartig auf der Höhe ihrer Potenz sein wie jetzt. Mit ziemlich fahrigen Fingern öffne ich meine Jeans erneut und muss mich halb aus dem Stuhl erheben, um sie und mein Höschen ein stückweit loszuwerden. Die Strapse verhindert, dass ich mein Höschen komplett runterziehen kann, allerdings muss das ja auch nicht sein. Für meinen Zweck – und der wird sicherlich keine Minute dauern – reicht es vollkommen. »Ich musste daran denken, wie du gesagt hast, dass du gern auf Knien Blow Jobs verteilst.« »Heißt das, du hättest das gern?« »Naja, du hast einen sehr schönen Mund. Und mit der Unterwäsche sähe es sicher verboten gut aus.« »Oh Mann. Wenn du wüsstest, was ich alles mit dir anstellen könnte…« »Du machst mich total nervös! Und ich bin grad erst vor drei Minuten gekommen!« Mir ist ziemlich warm geworden und es ist ja nicht so, als hätte ich mir nicht schon gefühlte hundert Mal vorgestellt, vor Lelo zu knien und ihm einen zu blasen, aber die Fantasie wird eindeutig nie alt und ich schlucke, ehe ich meine Finger hastig über das Display meines Handys schicke. Die Tatsache, dass ich Jemand so nervös mache, turnt mich ziemlich an. Oh man, Kim. »Wenn du jetzt schon so nervös bist, würde ich gern mal erleben, wie nervös du erst bist, wenn ich direkt vor dir stehe und dir all diesen Kram ins Ohr flüstere.« Ich kann leider Gottes nicht auf eine Antwort warten, dafür sind meine Gedanken allzu sehr am rotieren und ich schiebe meine Hand entschlossen zwischen meine Beine. Bilder von Lelo huschen vor meinem inneren Auge herum, während ich mich anfasse und mein Kopf nach hinten auf die Lehne meines Schreibtischstuhls sackt. Wenn Jemand mich jetzt so sehen könnte… und das nach einer zweiminütigen Unterhaltung per SMS. Ich stelle mir vor, wie Lelo mir mit fester Stimme befiehlt, mich aufs Bett zu knien, nur um mir dann mit flacher Hand auf den nackten Hintern zu schlagen. Beinahe kann ich das schmerzhafte Kribbeln spüren, das mein Herz automatisch noch schneller wummern lässt. Lelos Stimme geistert durch meine Gedanken. »Wenn du artig bist, lass ich dich später vielleicht kommen.« Ich bin sehr dankbar, dass ich weder meine Strapsen noch meinen Pullover einsaue, als ich mit einem unterdrückten Keuchen komme. Ich entschuldige mich etwas benebelt bei Deevan, der immer noch neben dem Drachenskelett steht und vermutlich nicht mehr weit kommen wird, wenn ich mich nicht endlich zusammen reiße. Ich angele schwer atmend nach einem Taschentuch und ziehe mich anschließend wieder vernünftig an. Nach einem großen Schluck Cola aus der Flasche auf meinem Schreibtisch greife ich erneut nach meinem Handy und öffne die neuste Nachricht. »Ich bin auch so schon immer total nervös, wenn du vor mir stehst. Wahrscheinlich sterbe ich bei jeglichem sexuellen Kontakt an einem Herzinfarkt (entschuldige die mangelnde Erotik, aber ich fühle mich sehr unsicher in all diesen Dingen und generell dir gegenüber, weswegen ich ja überhaupt diese blöde SMS-Aktion gestartet habe).« Ich schniefe ein wenig und starre die SMS an. Lese sie etwa zwölf Mal. Und lege dann das Handy beiseite. Oh Gott. Wie wahnsinnig süß ist das denn? Der Mensch am anderen Ende hat ja so eindeutig jemand Besseren verdient als mich. Mein Herz fängt wieder an zu klopfen. Toll, Kim. Verliebt in ein Phantom. Hättest du es noch beschissener einrichten können? »Kim! Essen ist fertig!«, tönt die Stimme meiner Mutter aus Richtung der Küche und ich seufze leise, ehe ich mein Handy zurück auf den Schreibtisch lege und zu meinen Eltern gehe, um voll von Liebeskummer Frikadellen, Möhren und Kartoffeln zu essen. * »Es geht so nicht mehr.« »Ich hab dir ja gesagt, dass du das klären solltest…« »Ja, hat Lelo mir auch gesagt.« »Siehst du. So viel weises Input. Dann kläre es!« »Aber… aber…« »Kein Aber! Du machst dich nur unglücklich!« Manu sieht mich streng an und ich kann natürlich nicht anders, als ihr Recht zu geben, weil es nun einmal alles stimmt, was sie gesagt hat. Ich habe ihr auch die niedliche SMS von gestern gezeigt und jetzt sind wir auf dem Weg zum Sportunterricht und Manu hat offensichtlich die Notwendigkeit gesehen, mir eine Standpauke zu halten. Sie hat es manchmal schon echt nicht leicht mit mir. »Was du natürlich auch tun könntest«, sagt Manu und ich sehe, wie sie angesichts der Turnhalle das Gesicht verzieht, »ist, einfach mal klingeln lassen, wenn keiner in der Umkleide ist und hoffen, dass dein Jemand sein Handy auf Vibration gestellt hat.« Ich schlucke und nicke. Ja, vielleicht kann ich das mal versuchen. Dann muss ich mich nicht auf ein klärendes Blind-Date oder gar ein scheußlich dramatisches Gespräch einlassen. Kim, du bist ein kleiner Feigling. Wer hätte das gedacht. Ich schalte auf Autopilot und ziehe mich um, während ich tief in Gedanken bin und mein Herz bei der Aussicht hämmert, womöglich gleich herauszufinden, wer Jemand ist. Außerdem muss ich an Lelo denken und dass er immer noch auf der Liste steht, dass er mich einfach so nach Hause gebracht hat, obwohl wir uns gar nicht wirklich kennen und dafür sogar seinen Unterricht hat sausen lassen. Ich laufe beinahe gegen Jan, der einen übergroßen Satz macht, um mir auszuweichen. Ungnädig schnaubend schiebe ich mich an ihm vorbei und mein Blick fällt auf Lelo, der dreinschaut, als wäre ihm gerade zum ersten Mal aufgefallen, dass andere Leute mich wirklich nicht besonders gut leiden können. Seine dunklen Augen ruhen kurz auf Jan und er hat die Stirn gerunzelt. Ich schlucke schwer und versuche erst einmal nicht weiter darüber nachzudenken, dass ich in etwa zwanzig Minuten in die Umkleide zurückkehren und Jemand anrufen werde. Fuck! Herr Böckmann ist schrecklich wie immer und wie in jeder Sportstunde habe ich großes Mitleid mit Manu, die sehr miesepetrig dreinschaut. Ich beobachte sie eine Weile bei den Aufwärmübungen und sie sieht vollkommen baff aus, als Pia – quasi das weibliche Äquivalent zu Lelo in unserem Jahrgang – sie informiert, dass das Schild ihres Shirts oben heraus schaut und es ihr richtet. Manu schaut zu mir herüber und es ist lang her, dass ich sie sprachlos erlebt habe. Ich zucke mit den Schultern und zeige ihr einen gestreckten Daumen, um sie zu ärgern. »So, die Herrschaften, Schluss mit ausruhen! Matten raus, zack, zack, zack!«, dröhnt Herr Böckmann und Manu sieht aus, als würde sie gleich einen Mord begehen. Ich kann es ihr nicht verübeln. »Und dann will ich ein paar Handstände mit Überschlag sehen! Auf geht’s, ein bisschen zackiger, wenn ich bitten darf!« Ich greife nach einem Ende einer Matte und sehe kurz auf, um zu schauen, wer die Schlaufen auf der entgegengesetzten Seite genommen hat, als mir beinahe die Spucke wegbleibt, da ich Lelo erkenne, der mich anlächelt. »Jan war komisch vorhin, was?« sagt er und ich muss darauf achten, dass ich nicht über meine eigenen Füße stolpere, während Lelo und ich die Bodenmatte in die Halle tragen. Viele mustern uns verwirrt oder überrascht. Wie immer, wenn Lelo irgendwas zu mir sagt, oder sich sonst irgendwie innerhalb eines drei Meter Radius‘ von mir aufhält. »So ist er immer«, sage ich und schüttele mir meine langen Haare aus dem Gesicht. Vielleicht sollte ich mir noch einen Pferdeschwanz machen, bevor es losgeht. Handstand mit Überschlag, kein Problem. »Ist mir vorher noch nie aufgefallen«, gibt Lelo zu und ich kann nicht umhin zu schnauben. Lelo sieht mich fragend an und wir legen die Matte in eine Reihe mit den anderen, die bereits in die Halle getragen worden sind. »Naja, das wundert mich nicht. Ist ja nicht so, als würdest du besonders oft auf mich achten«, meine ich und warte nicht auf eine Antwort. Ich sollte mich einfach von Lelo fernhalten, sonst wird diese ganze Situation nur noch beknackter. Außerdem bin ich in Gedanken tatsächlich so damit beschäftigt, was ich gleich tun will, dass ich einfach keine Kapazität dazu habe mich mit Lelo zu befassen. Der bekommt nämlich immer meine volle Aufmerksamkeit und die kann er momentan nicht haben. »Hast du ihm gerade gesagt, dass du seine Frisur nicht magst, oder wieso sieht er so bedröppelt aus?«, fragt Manu mich leise mit einem Blick hinüber zu Lelo, nachdem wir uns in einer Reihe aufgestellt haben, um mit Herrn Böckmanns Hilfestellung – Manus Gesicht verspricht Zeter und Mordio – Handstand Überschlag zu demonstrieren. Ich erkläre Manu, was Lelo zu mir gesagt hat und wie ich geantwortet habe und sie schüttelt den Kopf. Dann richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die Vorstellung unserer Mitschüler. Ich lache leise, als Jan eine sehr unelegante Bruchlandung hinlegt und dann eine laute und lange Erklärung von Herrn Böckmann bekommt, was er alles falsch gemacht hat. Dann ist Pia dran. Sie trägt ein ziemlich normal aussehendes blaues Shirt, das allerdings hoch rutscht, als sie ihren Handstand macht. Pfiffe und Lachen der Jungs ertönen und ich würde gern jeden einzelnen von ihnen in den Staub treten. Herr Böckmann stemmt die Hände in die Hüfte und ich denke einen Augenblick lang, dass er die Jungs rüffeln würde, aber das war selbstredend ein utopischer Gedanke. Stattdessen erklärt er Pia, dass sie sich gefälligst andere Sportklamotten zulegen soll, damit sie die Jungs nicht ablenkt. Pia ist knallrot im Gesicht und scheint keine Worte zu haben. Ich will mich gerade zu Manu umdrehen, um ihr flüsternd zu erklären, was für ein sexistischer Wichser unser Sportlehrer ist, als ich feststelle, dass sie nicht mehr neben mir steht, sondern sich vor Herrn Böckmann aufgebaut hat. »Das ist ein stinknormales Shirt«, faucht sie ihn an und deutet auf Pia. Totenstille senkt sich über die Halle. Manu ist einen Kopf kleiner als Herr Böckmann, aber sie sieht sehr viel beeindruckender aus als er in seinen peinlichen Radlerhosen. »Es hat gerade offensichtlich zu viel Haut gezeigt und ich kann es nicht gebrauchen, dass die Hälfte des Kurses abgelenkt ist«, sagt Herr Böckmann säuerlich. Manu holt Luft. Oh. Oha. »Dann sollten Sie sich dringend eine neue Sporthose zulegen«, speit sie ihm entgegen. Pias Unterkiefer sackt herunter, ein nervöses Kichern geht durch die Reihen. Herr Böckmann ist sprachlos angesichts dieser offenen Feindseligkeit. »Sie werden mir die Nummer ihrer Eltern dalassen«, donnert Herr Böckmann, offenbar zu baff, als dass ihm eine bessere Antwort einfallen würde. Manu schnaubt und grinst. »Sicher. Aber rufen Sie bitte erst nach fünf Uhr an, vorher ist keiner zu Hause.« Sie starren sich an. Manu hat eigentlich schon gewonnen, obwohl Herr Böckmann hier die Autoritätsperson ist. Ich denke kurz, dass es jetzt vielleicht vorbei ist – Manus Mutter anzurufen und sich bei ihr über Manu zu beschweren, wird Herrn Böckmann sicherlich keine Freude machen – aber nein. »Sehen Sie zu, dass Sie mir ihren Handstand Überschlag zeigen«, blafft Herr Böckmann Manu an, die die Arme vor der Brust verschränkt. »Nicht, wenn Sie Hilfestellung geben«, schießt sie zurück. Es wirkt so, als hätte noch nie eine Schülerin Herrn Böckmann widersprochen, denn er ringt mit Worten und wirkt alles andere als autoritär. »Na schön, Herr Suleri, Sie können Hilfestellung leisten!« Lelo geht nach vorn und Manu schaut ihn von unten herauf mit verengten Augen an. Lelo schaut aus, als würde er gern einen Schritt zurückweichen, aber dann geht Manu an den Anfang der Matten und Herr Böckmann ist immer noch rot am Hals vor lauter Empörung. Pia stellt sich zurück zu ihren Freundinnen und beobachtet Manu. Was für ein Spektakel. Wie zu erwarten ist Manu nicht motiviert einen Überschlag zu machen, weswegen sie sich nach einem mehr oder weniger erfolgreichen Handstand einfach abrollt und dadurch direkt wieder den Zorn von Herrn Böckmann auf sich zieht. Ich beschließe, dass ich diesen Moment nutzen sollte, um zu verschwinden, da alle sehr konzentriert auf all das Drama sind. Mein Herz wummert wie eine Dampflok und ich weiß nicht, ob ich es wirklich durchziehen kann, als ich in der Umkleide ankomme und mit fahrigen Fingern mein Handy hervorkrame. Ich schwanke zwischen der Hoffnung, dass ein Handy vibriert und dass nichts passiert. Mein Finger schwebt über der Nummer von Jemand im Telefonbuch und ich atme mehrere Male tief durch, ehe ich schließlich auf den grünen Hörer drücke und vor lauter Nervosität die Augen schließe. Dann höre ich es. Zuerst denke ich, dass ich es mir vielleicht einbilde, aber je länger ich zuhöre, desto klarer wird es und ich mache zwei Schritte durch die Umkleide, ehe ich vor einer Jeans stehe, aus deren Tasche das Geräusch kommt. Ich brauche nicht lange, um den dazugehörigen Rucksack und das Shirt zu erkennen. Mein Herz springt mir in die Kehle und ich lege hastig auf, ehe ich mein Handy zurück in meinen eigenen Rucksack stopfe und in die Sporthalle haste. Die Stimmung scheint sich mäßig gebessert zu haben. Es gibt mittlerweile zwei Mattenbahnen und die Mädchen üben auf der einen, die Jungs auf der anderen Bahn. Manu ist mittlerweile diejenige, die Hilfestellung leistet und ich bemerke, dass die Mädchen sie gelegentlich bewundernd und verhalten erstaunt ansehen. Ich muss lächeln. Ach, meine Manu. Ich möchte ihr eigentlich sofort sagen, was ich gerade entdeckt habe, aber sie ist beschäftigt und ich bin immer noch einem Herzinfarkt nahe. Als ich aufschaue, sieht Lelo mir direkt in die Augen und ich laufe scharlachrot an. Lelo blinzelt. Und ich kann nicht anders, als ein strahlendes Lächeln aufzusetzen. Lelos Wangen flammen auf und ich würde mich am liebsten auf dem Boden einkugeln und vor lauter Glück anfangen zu weinen. Jetzt muss ich Lelo nur noch irgendwie mitteilen, dass ich Bescheid weiß. Oder, dass ich ihn gern treffen würde. Wie ich das anstelle, kann ich mir aber in aller Ruhe überlegen, da ich jetzt erst einmal Zeit brauche, um der glücklichste Mensch der Welt zu sein. Kapitel 7: Offenbarung ---------------------- »Ok, also… irgendein Kerl hat seine Nummer in dein Handy eingespeichert und ihr habt miteinander geschrieben und jetzt hat sich rausgestellt, dass dieser Kerl der Kerl ist, auf den du seit Monaten abfährst?« Ich nicke strahlend, während meine Schwester Laura vor mir im Schneidersitz hockt und mich mit schief gelegtem Kopf ansieht. Sie und ich sehen aus wie kleine Klone unserer Mutter, wohingegen Tom ganz und gar nach Paps kommt. Von welchem der beiden Tom seine merkwürdige Spießigkeit hat, weiß ich allerdings nicht. Lauras Haare sind leuchtend rot gefärbt und sie hat ein ziemlich cooles schwarzes Gothic Lolita Kleid an, das ich mir wahnsinnig gern mal ausleihen würde, wenn Laura nicht Kleidergröße 42 hätte. Ich als Spargeltarzan würde im Leben nicht da rein passen. »Das klingt ziemlich abgefahren«, meint sie und nimmt sich ein paar Erdnüsse aus einer Schale, die unsere Mutter uns vor zehn Minuten in mein Zimmer gebracht hat. »Ja, ist es auch. Und jetzt muss ich mir überlegen, wie ich ihm am besten sagen kann, dass ich Bescheid weiß«, erkläre ich und greife ebenfalls nach ein paar Erdnüssen. Gesalzene Erdnüsse rocken. »Würd ich gar nicht machen. Warte doch drauf, dass er sich outet. Kann ja auch nicht in seinem Interesse sein, immer nur SMS mit dir zu schreiben«, meint Laura und zwinkert mir amüsiert zu, was mich unweigerlich an die Masturbationssache gestern denken lässt. Tja. »Vielleicht hast du Recht«, sage ich kauend. »Natürlich hab ich Recht. Ich bin die große Schwester«, meint Laura feixend und ich schnaube. »Du bist auch nicht die größte Schwester. Tom ist älter als du«, erinnere ich sie. Sie zuckt mit den Schultern. »Aber Tom ist auch ein Horst, auf dessen Rat ich keinen Pfennig geben würde, also hab ich Hoheitsgewalt«, erklärt sie nüchtern. »Auch wieder wahr«, nuschele ich um eine neuerliche Portion Erdnüsse in meinem Mund, als mein Handy vibriert. Ich kriege einen halben Herzklabaster, jetzt sogar noch mehr als vorher, weil ich ja weiß, dass es Lelo ist. Oh Gott, Lelo sitzt in seiner Freizeit bei sich zu Hause und schreibt mir SMS. Und masturbiert auf ein Bild von mir. Und findet, dass meine Haare weich aussehen. Ich muss eventuell sterben. Nur am Rande nehme ich wahr, dass es an der Tür klingelt und öffne die neue Nachricht. »Ich wollte dich noch was fragen wegen letztens, als du in der Schule geweint hast. Wie kam es eigentlich, dass Lelo dich heim gebracht hat? Ihr habt ja sonst nicht so viel miteinander zu tun, oder?« Ich starre die SMS an. Meine Zimmertür schwingt auf und Manu kommt rein. »Hey Manu«, sagt Laura und ich höre, wie die beiden sich unterhalten, während ich mein Handy anglotze, als wäre mir gerade die Apokalypse angekündigt worden. Vielleicht ist es doch nicht Lelo? Vielleicht hab ich mich in der Hose und der Tasche geirrt, weil ich so dringend wollte, dass es Lelo ist? »Hey, Kimmi, alles gut?«, will Laura wissen, während Manu sich zu uns aufs Bett schmeißt und sich auch ein paar Erdnüsse nimmt. »Weiß nicht«, sage ich unsicher und halte den beiden die Nachricht unter die Nase. Manu schnaubt und winkt ab. »Mach dir keinen Kopf. Er versucht doch nur rauszufinden, wie du ihn findest«, meint sie. Mein Herz hüpft. »Denk ich auch«, sagt Laura. »Ist ja nur so mäßig unauffällig. Er kann froh sein, dass er ‘nen Aufhänger gefunden hat, um nach sich selbst zu fragen.« Ich lese die Nachricht noch mal durch. Will Lelo wirklich wissen, wie ich ihn finde? Oder ist Jemand doch irgendwer anders und ich hab mich heute in der Umkleide total geirrt? Nachdenklich fange ich an, eine Antwort zu tippen. »Ich hab mich auch gewundert, wieso er mich nach Hause gebracht hat. Aber ich fand es echt nett von ihm.« Ich lese die Antwort noch mal durch und lasse sie von Manu und Laura absegnen, bevor ich sie abschicke. Während Laura und Manu über Piercings und ihre unterschiedlich langen Heilungszeiten reden, kaue ich nervös auf meiner Unterlippe herum und starre mein Handy an. Ein Hoch darauf, dass Manu und Laura es mir nicht übel nehmen, wenn ich nicht so richtig ansprechbar bin. Normalerweise gehöre ich nicht zu den Leuten, die am Handy hängen, wenn sie Besuch haben, aber da ich Manu und Laura sowieso jeden Tag sehe und mein Seelenheil von dieser Jemand-Sache abhängt, gestatte ich mir diesen Ausrutscher. »Vielleicht kann er dich ja auch gut leiden.« Ich verschlucke mich an einer Erdnuss und es dauert zwei Minuten, bis ich mit tränenden Augen wieder atmen kann. »Aalglatt der Kerl. Ich bin fast beeindruckt. Vielleicht solltest du die Bombe doch platzen lassen, damit er sich nicht noch vollends zum Horst macht«, meint Laura und tätschelt mir den Rücken, während ich mich von meinem Erstickungsanfall erhole. »Kann ich mir nicht vorstellen. Lelo mag einfach jeden. Er besteht quasi aus Sonnenschein und Wattebällchen«, tippe ich zur Antwort. Ich hab keine Ahnung, wohin dieses Gespräch führen wird, aber ich will mich eigentlich nicht als wissend outen. »Und weil er jeden mag, magst du ihn nicht besonders, was? ;-)« Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Theoretisch ist das natürlich nicht ganz falsch. Ich finde Leute merkwürdig, die mit jedem klar kommen und von allen gemocht werden wollen. Aber Lelo ist ein netter Kerl und es ist ziemlich schwierig irgendwas an ihm zu finden, das nicht liebenswert ist. Vielleicht eröffnet sich irgendeine scheußliche Macke, wenn man ihn näher kennt, aber da das bei mir nun einmal nicht der Fall ist… Manu schaut mir über die Schulter. »Ach, alles oder nichts. Sag’s ihm halt«, meint sie und wuschelt mir durch die Haare. Ich schlucke und meine Finger zittern ein bisschen, während ich die Antwort tippe. Wenn Jemand nun wirklich nicht Lelo ist, dann habe ich total verschissen. Wenn doch… dann sterbe ich heut doch noch an einem Herzinfarkt. »Tatsächlich mag ich ihn sogar sehr.« Nachdem ich diese SMS abgeschickt habe, stehe ich von meinem Bett auf und fange an, in meinem ziemlich kleinen Zimmer herum zu geistern. Manu und Laura mustern mich. Ich werfe ihnen einen kläglichen Blick zu und bin froh, dass ich zu dieser kritischen Stunde nicht allein bin. Laura zeigt mir beide Daumen hoch, was mich zum Lachen bringt. »Wie geht’s Deevan?«, will sie wissen und ich bin ein wenig dankbar für die kurze Ablenkung, da die Antwort auf meine letzte SMS offenbar länger braucht. Ich berichte ihr also von einem scheußlichen Vorfall in Markarth, wo ich in ein ziemlich gruseliges Haus geraten bin. »…und dann musste ich diesen Mann umbringen, um aus dem Haus rauszukommen und dabei wollte ich das gar nicht!« Mein Handy vibriert und ich lasse es beinahe fallen, als ich es aus der Hosentasche ziehe. »Tja, Molag Bal ist halt ein ekliger Typ. Du musst den Quest ja nicht machen«, tröstet Laura mich, die eine wahre Skyrim-Expertin ist und das Spiel schon mit mehreren Charakteren durchgespielt hat. Mein Nahkampf sieht gegen ihren aus wie eine schiefgelaufene Tai-Chi Stunde. Ich öffne nervös die neue Nachricht. »Hast du zufällig noch Zeit, bevor du zu dieser Party gehst?« Mein Herz bleibt stehen. »Oh Gott«, sage ich und Manu und Laura legen gleichzeitig fragend den Kopf schief, was mich kurz mit Liebe für die beiden erfüllt, ehe ich wieder in Panik verfallen. »Was denn?«, will Manu wissen. »Ich glaube, er fragt mich grad, ob wir uns treffen können. Jetzt«, antworte ich und werfe das Handy aufs Bett, um hinüber zu Chewbakkas Käfig zu gehen, ihn herauszuholen und dann zu streicheln. Chewbakka zu streicheln beruhigt mich immer. Laura greift nach meinem Handy und liest die Nachricht. »Ah, er weiß, dass du zur queer-kollektiv-Party willst, was? Tja. Sind ja noch ein paar Stunden, bis wir los wollen. Wenn du es schaffst, dich in einer halben Stunde fertig zu machen, hast du noch bis neun Zeit.« Oh Gott, oh Gott, oh Gott. Ich weiß nicht, ob ich dazu bereit bin, Lelo zu treffen. Oder jemanden anderes als Lelo. Ich möchte mich gern auf meinem Bett einrollen und mir von Manu die Haare kraulen lassen, während Chewbakka an meinem Laken knabbert. Ist das zu viel verlangt? »Kraul deine Ratte, ich tippe eine Antwort für dich«, sagt sie amüsiert und ich tigere mit Chewbakka in den Händen auf und ab, während meine Schwester eine Nachricht für mich schreibt. »Ok. Ihr trefft euch in einer Viertelstunde im Stadtpark beim Spielplatz«, erklärt sie mir nach einigen Minuten und ich wimmere leise. Scheiße, Scheiße, Scheiße. »Was soll ich anziehen? Hab ich überhaupt noch Zeit, was anderes anzuziehen? Fuck«, stammele ich vor mich hin und reiche Chewbakka an Manu weiter, wo er sich zufrieden in der Tasche ihres übergroßen Pullovers einrollt. »Bleib doch einfach so angezogen. Er kennt dich schließlich in so ziemlich allem, außer in Kleidern«, meint Manu grinsend und ich stelle mir kurz vor, wie ich in kompletter Aufmachung im Park erscheine und Lelo mich nicht erkennt. Keine gute Idee. Ich schaue kurz in meinen Spiegel und befinde, dass ich in meiner schwarzen Hose, dem Schandmaul-Shirt und dem Nietengürtel durchschnittlich genug aussehe. Hastig binde ich mir einen Pferdeschwanz und schlüpfe in meine schwarzen Boots. »Wir klauen dein Makeup, während du weg bist«, informiert Laura mich und ich wedele mit der Hand in ihre Richtung, während ich hastig meine Lederjacke anziehe. »Tut, was ihr wollt, aber lasst Deevan in Frieden«, rufe ich noch, dann verschwinde ich aus dem Zimmer. Kurz vor der Haustür drehe ich noch einmal um und stecke den Kopf erneut in mein Zimmer. »Danke, ihr seid die Besten!« Laura und Manu drücken schmunzelnd ihre Fäuste aneinander und winken mir noch zu, ehe ich wieder zur Haustür eile. »Ich bin noch mal kurz unterwegs!«, rufe ich in Richtung Wohnzimmer. »Viel Spaß!«, kommt es synchron von meinen Eltern zurück und ich würde gern wimmernd vor der Tür liegen bleiben, aber meine Beine bewegen sich fast von alleine die Treppe hinunter, die Straße entlang und in Richtung Stadtpark. Es ist bereits dunkel und ich bin normalerweise nicht besonders erpicht darauf, nachts allein durch den Park zu rennen, aber heute kann ich ja mal eine Ausnahme machen. Ich trage immerhin kein Kleid. Ah, die Privilegien, die man als männlich wahrgenommenes Individuum in dieser Gesellschaft genießt… Ich habe mir noch keinen Plan zurecht gelegt für den Fall, dass es tatsächlich nicht Lelo ist, der mich auf dem Spielplatz erwartet. Vielleicht drehe ich dann einfach wieder um und gewinne eine Medaille fürs Arschloch des Jahres. Mit hämmerndem Herzen gehe ich noch einmal die Liste mit den acht Namen durch, die Manu und ich erstellt haben. Wenn es Jan ist, muss ich eventuell sterben, einfach weil ich ihm ein leicht bekleidetes Bild von mir geschickt habe. Und wenn es Lelo ist, muss ich ganz sicher auch sterben, weil ich nicht damit umgehen kann, dass Lelo mich gut findet. Es ist ein Teufelskreis. Ein paar abendliche Spaziergänger mit Hunden kommen mir auf meinem Weg entgegen und ich weiß nicht, ob ich dankbar oder nervös angesichts der Tatsache sein soll, dass hier überall noch Laternen stehen, die immerhin spärliches Licht spenden. Das heißt, dass der Mensch, der mich auf dem Spielplatz erwartet, mich auch erkennen kann. Und andersherum. Ich ziehe die Schultern hoch angesichts der kühlen Luft und denke darüber nach, ob ich nicht lieber einen Kapuzenpulli hätte anziehen sollen. Mir ist nämlich ziemlich kalt. Als ich den Spielplatz vor mir auftauchen sehe, ist er ziemlich ausgestorben. Weiter hinten auf einem der Klettergerüste grölen ein paar Jugendliche herum und ich zögere, weil ich nicht weiß, ob ich Lust hab, mich mit denen rumzuschlagen. Aber dann seh ich eine einsame Gestalt auf einer der Schaukeln sitzen und mir fällt das Herz zwischen die Füße. Oh Gott. Den Lockenkopf würde ich überall erkennen. Vermutlich selbst in kompletter Finsternis. Ich spüre quasi Lelos Aura. Vielleicht drehe ich langsam durch. Tief ein- und ausatmend setze ich einen Fuß vor den nächsten. Ich glaube, es war noch nie so schwer, aufrecht zu gehen und nicht mit puddingartigen Beinen zusammen zu brechen und vor lauter Nervosität zu kotzen. Dumpf hoffe ich, dass ich Lelo nicht aus Versehen vor die Füße kotze. Oder noch schlimmer, auf die Füße. Wie bei ‚Zehn Dinge, die ich an dir hasse‘. Lelo sieht auf, als er mich bemerkt und ich schlucke, als unsere Blicke sich treffen. Scheiße. Was soll ich denn sagen? Worüber soll ich mit ihm reden? Hey Lelo, du bist also derjenige, der mein Handy geklaut und auf mein Foto masturbiert hat, cool. Ich bleibe vor ihm stehen und stopfe meine Hände in die Hosentaschen. »Hey«, sagt Lelo und ich meine ein leichtes Zittern in seiner Stimme zu hören. Wow, krass. Er ist auch nervös. Wer weiß, vielleicht sogar noch mehr als ich, weil er die ganze Zeit dachte, dass ich ihn blöd finde und weil er noch nie vorher einen augenscheinlich männlichen Menschen gut fand und… »Hey«, gebe ich zurück und beiße mir auf die Unterlippe, um nicht total dümmlich-verknallt grinsend hier zu stehen und mich zum Horst zu machen. Lelo schaut mich an, als könnte er es nicht so recht fassen, dass ich hier vor ihm stehe. »Es hat sich rausgestellt, dass die beiden Menschen, von denen ich erzählt hab, derselbe Mensch sind«, sage ich schließlich und Lelo lächelt verlegen. »Was für ein Zufall«, antwortet er und fährt sich durch die dunklen Locken. Ich mustere ihn und schwanke zwischen dem Bedürfnis, ihn beduselig zu knutschen und mit ihm zu reden. »Wann gehst du auf die Party?«, fragt Lelo und schaut mir zu, als ich mich auf die Schaukel neben ihn setze und anfange, vor und zurück zu schwingen. Wenn man schon auf einer Schaukel sitzt, sollte man die Gelegenheit nutzen. »Um neun muss ich wieder bei mir sein. Laura und Manu sitzen in meinem Zimmer und plündern mein ganzes Makeup«, erkläre ich und öffne mit einer Hand meinen Zopf, damit meine Haare ein wenig im Wind herum wehen können. Immer, wenn das passiert, komme ich mir besonders melodramatisch vor. Es ist komisch, Lelo einfach so diese Dinge zu sagen und zu wissen, dass er genau darüber Bescheid weiß, wer Laura ist und dass ich Makeup benutze und dass ich nachher auf eine queere Party gehe. Auch wenn ich mir die ganze Zeit gewünscht habe, dass Lelo und Jemand dieselbe Person sind, muss ich mich doch erst daran gewöhnen, dass es tatsächlich so ist. »Ich glaub, ich komm immer noch nicht damit klar, dass du mich magst«, sagt Lelo und mustert den Boden zu seinen Füßen. Ich halte die Schaukel an und sehe zu ihm hinüber. »Das kann ich so zurückgeben«, entgegne ich etwas heiser. Lelo lächelt mich an und mein Magen schlägt ein paar Saltos. »Schon ziemlich lange, eigentlich. Seit der Zehnten, glaub ich. Da bist du mir zumindest zum ersten Mal richtig aufgefallen«, sagt er und mein Herz sprengt sicherlich gleich meinen Brustkorb. Schon so lange. Wow. »Warte mal… war das in der Zeit, als du plötzlich angefangen hast, mich auf dem Gang zu grüßen? Ich war total misstrauisch, weil ich dachte, dass du irgendeinen fiesen Plan hast mich bloßzustellen!«, erkläre ich erstaunt und Lelos Augen weiten sich. »Aber wieso sollte ich das tun?«, fragt er verwundert und ja, es ist eine gute Frage, aber die beliebten Leute aus unserem Jahrgang sind halt größtenteils nicht besonders nette Menschen und ich konnte mir nicht vorstellen, dass Lelo einfach nur nett zu mir sein wollte. Das erkläre ich ihm auch. »Ich war total deprimiert, weil du mich wochenlang ignoriert hast, immer wenn ich mal den Mut hatte, hallo zu sagen«, gesteht er mir und ich halte einen Moment die Luft an. In meinem Körper kribbelt alles. Ich erinnere mich noch ziemlich gut daran. Zwei oder drei Monate später hab ich angefangen, Lelo zu beobachten und langsam aber sicher zu mögen. »Und wann bist du auf die Idee gekommen, mein Handy zu klauen?«, frage ich und kann nicht anders als breit zu grinsen. Lelo sieht verlegen aus. Weiter hinten auf dem Spielplatz fangen die Jugendlichen an irgendein ziemlich geschmackloses Lied zu singen. Es ist fast stimmungsvoll. »Es war tatsächlich eine Kurzschlussreaktion. Nach unserem Wettrennen hatte ich irgendwie die Nase voll davon, dich… äh… immer nur aus der Ferne zu beobachten und bin in die Umkleide gegangen, um meine Nummer in dein Handy einzuspeichern«, erzählt er peinlich berührt und es ist zu dunkel, um es klar zu sehen, aber ich stelle mir vor, dass er ziemlich rot angelaufen ist. »Wollen wir vielleicht noch ein Stück gehen und hoffen, dass anderswo nicht gesungen wird?«, meint Lelo mit einem Blick über die Schulter hinüber zu den Jugendlichen. Ich schmunzele. »Ich verlasse diese Schaukel ja nur ungern. Aber für dich mache ich eine Ausnahme«, entgegne ich und Lelo räuspert sich verlegen. Dann stehen wir auf und schlendern durch den dunklen Park. Ich werde später drauf bestehen müssen, dass er mich zum Parkausgang bringt. Allein latsche ich hier sicherlich nicht durch. »Bist du sauer, weil ich nicht früher damit rausgerückt bin, wer ich bin?«, will Lelo wissen und ich ziehe die Schultern hoch. Es ist echt schweinekalt. »Nee, ich glaub nicht. Ich versteh auch, wieso du nichts gesagt hast«, antworte ich leise und Lelo sieht im Neonlicht einer Laterne ziemlich erleichtert aus. Wir hocken uns auf eine Parkbank und ich spiele nervös mit meinem Nietengürtel herum. Ich frage mich, ob Lelo den verpassten Anruf auf seinem Handy gesehen und sich gewundert hat, wieso ich das gemacht hab. Oder er hat vielleicht schon zwei und zwei zusammengezählt. »Entschuldige die blöde Frage, aber darf ich deine Haare anfassen?«, platzt es plötzlich aus Lelo heraus und ich muss lachen. Dann nicke ich und seufze leise, als er mit vorsichtigen Fingern durch meine langen Haare streicht. Wenn ich schnurren könnte, würde ich es tun. »Sie sind genauso weich, wie ich sie mir vorgestellt hab«, nuschelt Lelo leise und ich schaue zu ihm hinüber. Ach, Scheißdreck. »Entschuldige die Frage, aber… darf ich dich küssen?«, murmele ich und mein Herz explodiert garantiert jeden Augenblick. Lelo zieht laut die Luft ein. »Oh Gott, ja bitte«, kommt die heisere Antwort und das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Ich hocke mich rittlings auf seinen Schoß, was Lelo ein überraschtes Aufkeuchen entlockt, nehme sein Gesicht in beide Hände und schaue ihn einen Herzschlag ganz aus der Nähe an, bevor ich meine Lippen auf seinen Mund presse. Seine Lippen sind auch genauso weich, wie ich sie mir vorgestellt hab, und ich drücke mich so dicht gegen Lelo, wie ich nur kann. Seine Arme schlingen sich um meinen Oberkörper und es wirkt ganz so, als könnte ich gar nicht nah genug an ihm dran sein, so fest hält er mich an sich gedrückt. Als unsere Zungen sich treffen, mache ich ein ausgesprochen zufriedenes Geräusch und vergrabe eine meiner Hände in Lelos Haar. Wow. Mein Herz bollert wie eine Dampflok in meinem Brustkorb und mir ist auf einmal kein bisschen mehr kalt. Die heftige Knutscherei veranlasst meine Körpermitte sich sehnsüchtig zu melden, aber ich ignoriere es so gut wie möglich. Lelos Hände streichen über meine Haare, meinen Nacken und Rücken und eine von ihnen bleibt zögerlich oberhalb meines Hinterns liegen. Ich löse den Kuss und Lelo macht ein protestierendes Geräusch. »Du darfst mich anfassen, wo immer du magst«, flüstere ich Lelo ins Ohr und er schaudert merklich und lehnt seine Stirn schwer atmend gegen meine Schulter. »Du machst mich fertig«, krächzt er und ich denke kurz an meine Erektion, die recht nachdrücklich gegen meine Jeans drückt, und möchte Lelo gern sagen, dass das eindeutig auf Gegenseitigkeit beruht, aber stattdessen murmele ich ein leises »Gut« in sein Ohr. Er hebt den Kopf und zieht mich wieder nach unten, um mich erneut zu küssen und diesmal wandert seine Hand ein Stück weiter nach unten und kommt auf meinem Hintern zum Liegen. Ich werde wochenlang an diesen Moment denken, während ich mir einen runterhole, soviel steht fest. Meine Fresse, Lelo ist so heiß, das gehört verboten. »Hast du morgen Zeit?«, nuschelt Lelo gegen meine Lippen. »Sobald ich ausgenüchtert bin auf jeden Fall«, entgegne ich und knabbere sachte an Lelos Unterlippe. Ich will nie wieder was anderes tun als ihn zu küssen. Und anzufassen. Und Sex mit ihm zu haben. Oh Gott, Sex mit Lelo ist plötzlich um hundert Prozent wahrscheinlicher geworden. Krass. »Gut. Darf ich vorbeikommen?« »Unbedingt.« »Schreibst du mir, wenn du fertig bist mit Ausnüchtern?« »Hmhm…« Und dann habe ich wirklich keine Zeit mehr zum Reden, weil ich Lelo noch so lang wie möglich beduselig küssen will, bevor ich wieder nach Hause muss. Kapitel 8: Entdeckungen ----------------------- Hallo ihr Lieben! Entschuldigt bitte die Verspätung diesmal, das Leben hat ein bisschen dazwischen gefunkt ;) Mit diesem Kapitel möchte ich außerdem eine kleine Pause ankündigen. Sie wird nicht allzu lang sein - hoffentlich nur einen Monat - da ich am Frühlingswichteln teilnehme und bis Ende Juni mein Projekt fertigstellen muss, das jetzt erst einmal Vorrang hat. Ich hoffe, dass wir uns dann im Juli wiederlesen und freu mich bis dahin sehr über eure Kommentare und Nachrichten Viel Spaß beim Lesen und großartiges Wochenende wünsche ich euch, eure ______________________________ Vor lauter Enthusiasmus angesichts der neusten Entwicklung mit Jemand alias Lelo – meine Fresse, ich kann es immer noch nicht fassen, dass er es tatsächlich ist – trinke ich ziemlich viel und bin den ganzen Abend ganz hervorragender Laune. Diese Laune wird durch zwei SMS von Lelo nur noch gesteigert, der mir erst mitteilt, dass er ja schon vorher kaum an was anderes gedacht hat, als an mich, und nach unserem Parktreffen jetzt überhaupt nicht mehr zurechnungsfähig ist. Und in der zweiten SMS, – die um drei Uhr nachts mein Handy zum Vibrieren bringt – dass er nicht einschlafen kann, obwohl er seit sieben wach ist und dass er mich wirklich gern noch mal küssen würde. Manu und Laura müssen nicht erst fragen, wieso ich so breit und strahlend und dümmlich verknallt vor mich hin grinse, sie verdrehen nur amüsiert die Augen und beide besorgen mir dauernd neue Drinks und wenn Manu betrunken ist, wird sie ziemlich anhänglich und gegen halb vier hat sie mich gefühlte hundert Mal gedrückt und mir verkündet, dass ich der beste Freund auf der Welt bin und mir versichert, dass sie sich sehr für mich und meine scheußlich-kitschige Liebesgeschichte freut und dass sie gleich morgen anfangen wird, mit ihrem Locher buntes Konfetti auszustechen, um mich und Lelo am Montag damit zu bewerfen. Hatte ich schon erwähnt, dass ich Manu wirklich sehr sehr liebe? Laura ist etwas schroffer in ihrer Art mich zu beglückwünschen und erklärt mir, dass sie noch jede Menge Kondome in ihrem Zimmer rumfliegen hat und ich nur fragen müsste, wenn ich welche bräuchte, wenn Lelo morgen zu Besuch kommt, und dass sie diese Frage dann direkt als Anlass nehmen könnte, sich ihre Kopfhörer aufzusetzen und so laut wie möglich Nightwish zu hören, damit sie uns nicht »beim Vögeln zuhören muss«. Auch sie verkündet mir im Zuge dieser kurzen Unterhaltung, dass sie mich wirklich sehr liebt und dass sie froh ist, wenigstens ein cooles Geschwisterkind zu haben, dass sie aber eindeutig bis an ihr Lebensende darauf verzichten möchte, mich jemals beim Sex zu hören. Ich versichere ihr, dass es mir genauso geht. Alles in allem kann man von einem ausgesprochen gelungenen Abend reden. * Als ich aufwache, scheint mir die Sonne übermäßig grell ins Gesicht. Ich hab gestern Nacht in meinem Suff vergessen, die Vorhänge zuzuziehen und blinzele dem Licht etwas verwirrt entgegen, bevor meine Augen den Radiowecker auf meinem Nachttisch finden, der zwölf Uhr siebzehn anzeigt. Ich stöhne angestrengt und reibe mir die Augen. Mit großer Wahrscheinlichkeit bin ich immer noch betrunken und ich krebse untermalt mit leidenden Geräuschen und einem Geschmack nach Tod im Mund in Richtung Badezimmer. Das gut gelaunte »Morgen!« meiner Schwester erwidere ich nur mit einem Ächzen. Es ist nicht so, dass ich wirklich Kater bekomme, wenn ich was getrunken habe. Mir ist am nächsten Tag meistens nur ziemlich gammelig und träge zumute und ich wende als erstes eine viertelstündige lauwarme Dusche an, um diesen Zustand zu verbessern. Als ich anschließend in eine Boxershorts und einen riesigen Pulli gekleidet in die Küche komme, hat Laura mir ein großes Glas Wasser hingestellt und schneidet mir mit einem amüsierten Grinsen einen Apfel. »Oh Gott«, sage ich ohne Kontext und greife nach dem Glas, nachdem ich mich auf einen unserer schlecht zusammenpassenden Küchenstühle hab fallen lassen. »Lass das nicht deine Jahrgangskameraden hören«, gibt Laura zurück und schiebt mir einen Teller mit Apfelspalten hin. »Ich werd diese beiden Worte nicht außerhalb dieser Wohnung verwenden, versprochen«, nuschele ich und setze das Glas an, um es dann in ein paar großen Schlucken auszutrinken. Meine nassen Haare tröpfeln ziemlich unangenehm in meinen Nacken – ein eindeutiger Nachteil von langen Haaren, wenn man nicht drauf steht, Frotteehandtücher auf dem Kopf zu haben. »Wie viele Stunden wirst du brauchen, bevor du deinen Prinz Charming einladen kannst?«, erkundigt sie sich und rührt in ihrem schwarzen Tee herum. Laura sieht empörend frisch, munter und perfekt gestylt aus. Wie fast immer. Also, munter ist sie manchmal nicht, aber perfekt gestylt ist quasi ihr natürlicher Zustand. Ich betrachte kurz ihre nachgezogenen Augenbrauen und die sorgfältig mit dunkelrot umrandeten Lippen. Dumpf frage ich mich, wann sie aufgestanden ist, wenn sie jetzt schon so wach und fertig ist. Immerhin sind wir zur selben Zeit ins Bett gegangen. Die Welt ist ein ungerechter Ort. »Nenn ihn nicht Prinz Charming«, stöhne ich und beiße in eine Apfelspalte. Laura lacht. »Wieso? Möchtest du etwa nicht an den weißen, heteronormativen Armleuchter aus Once upon a Time erinnert werden?«, gibt sie zurück und klaut eine Apfelspalte von meinem Teller. Ich schnaube. »Ungern. Lelo ist ja auch weder weiß noch heteronormativ. Und er sieht in etwa dreitausend Mal besser aus als dieser schmalzige Holzkopf«, antworte ich. Vielleicht sollte ich drei Liter Kaffee trinken, um meine Lebensgeister zu wecken. Einziges Problem daran: Ich finde Kaffee ausgesprochen scheußlich. Ich habe nach einer Staffel Once upon a Time aufgegeben und beschlossen, dass ich nicht noch mehr »es ist die eine wahre heterosexuelle Liebe«-Geschichten ertragen kann. Dabei war die Idee mit den Märchen so gut. Laura und ich bleiben etwa eine halbe Stunde in der Küche sitzen und unterhalten uns über schlechte Fernsehserien und diesen Film namens Noah, den wir beide nicht sehen wollen, allein schon weil der Regisseur »vergessen« zu haben scheint, dass Noah und seine damals lebenden Mitmenschen in seiner Umgebung wohl kaum weiße Europäer waren. Emma Watson in allen Ehren, aber nein. »Wirst du ihm nachher gleich in Strapse die Tür aufmachen?«, fragt Laura schließlich schmunzelnd und ich bekomme prompt Herzrasen bei der Vorstellung. Dann verwerfe ich den Gedanken allerdings sofort wieder, weil ich Lelo ja nicht direkt bei unserem ersten richtigen Treffen – oh Gott ich sterbe vor Aufregung, der Alkoholdunst hat meine Nervosität betäubt, aber jetzt kommt alles wieder zurück – völlig überfordern will. »Auf keinen Fall. Apropos… Wo sind eigentlich die alten Herrschaften?«, frage ich verwirrt, weil bislang noch niemand zu uns in die Küche geschneit ist und schmutzige Witze erzählt hat – eine leidige Angewohnheit unseres Vaters, die ich aber zugegebenermaßen vermissen werde, sobald ich irgendwann ausziehe. »Es ist Samstag. Wie jeden Samstag sind sie beim Brunchen mit Mareike und Regina. Wahrscheinlich gehen sie hinterher noch ins Kino oder so, du musst dir also keine Gedanken wegen Geräuschen machen«, sagt Laura verschmitzt und ich spüre, wie ich gleichsam rot und noch aufgeregter werde. »Vielleicht starte ich einfach einen tageslangen One Piece Marathon mit Kopfhörern, dann laufe ich nicht Gefahr irgendwas zu hören«, meint sie nachdenklich. Ich boxe sie gegen die Schulter. »Du musst ja auch mal aufs Klo gehen«, sage ich grinsend. »Und keine Sorge, ich werde einfach so leise wie möglich sein, sollte es zu irgendwelchen… Dingen… kommen.« Nachdem ich ausgiebig gelüftet, fünf Lieder von Schandmaul laut mitgesungen mehrere kalte Frikadellen gegessen und anschließend Zähne geputzt habe, fällt mir ein, dass Lelo eine Stauballergie hat. Scheiße. »Eigentlich bin ich fertig, aber ich hab deine Allergie vergessen und werd noch eben mein Zimmer putzen!« »Ach, das bisschen Geniese…« Die Antwort kam sehr schnell und ich stelle mir verträumt und mit einem Staubwedel von Swiffer in der Hand vor, wie Lelo schon seit Stunden darauf wartet, dass ich mich bei ihm melde und dabei sehnsüchtig sein Handy anstarrt. Meine Fresse, Kim, reiß dich zusammen! Ich fange an mein Zimmer vom Staub zu befreien. Nach zwanzig Minuten kommt Laura mit dem Staubsauger zu mir rein und macht alle Spinnenweben weg, während ich meinen Schreibtisch entrümpele und den Staub auf meiner Fensterbank entferne. »Dafür bügele ich morgen deine Blusen«, ächze ich dankbar, während ich auf einen Stuhl steige, um auf meinem Kleiderschrank Staub zu wischen. Eine zentimeterdicke Schicht empfängt mich und ich fluche lauthals. »Deal«, sagt Laura und reicht mir das Staubsaugerrohr nach oben, damit ich damit erst einmal das gröbste entfernen kann. Als mein Zimmer endlich vorzeigbar ist, fühle ich mich klapprig auf den Beinen und esse noch zwei Äpfel, ehe ich Lelo schließlich die ersehnte SMS schreibe. »So, der Staub ist weg! Du kannst vorbei kommen :-)« Ich föhne meine Haare und binde sie zu einem Zopf, ändere aber ansonsten nichts an meinem Outfit. Heute ist ein Tag zum gemütlich sein. Zu meiner Überraschung klingelt es kurz nachdem ich mit dem Föhnen fertig bin und ich öffne die Tür, fast sicher, dass dies noch nicht Lelo sein kann. Aber er kommt tatsächlich die Treppe hoch, mit seinen langen Beinen und seinen dunklen Locken und seinem beknackten Schmollmund und… Shit. Shit, shit, shit. Er sieht so verteufelt gut aus, ich sterbe. Jetzt ist es hell und nicht wie gestern im Park bereits dunkel. »Das ging sehr schnell«, sage ich ein wenig heiser, als er vor mir stehen bleibt und seine Augen über meine nackten Beine huschen. Klein Kim, reiß dich zusammen, er hat dich noch nicht mal angefasst! »Ich, äh… war vielleicht unterwegs, seit du geschrieben hast, dass du Staub wischst«, sagt Lelo ein wenig außer Atem und ich trete leicht benommen beiseite, damit er reinkommen kann. »Mit anderen Worten, du hast hier irgendwo gewartet?«, gebe ich zurück. Er fährt sich peinlich berührt durch die Haare. »Ich hab hinten in der Pizzeria was gegessen, während ich gewartet hab«, gibt er zu. Die Pizzeria ist in etwa fünfzig Meter von unserer Wohnung entfernt. Wow. Ich grinse so breit, dass mir die Wangen weh tun. »Es gibt sehr gute Pizza da«, sage ich und gehe Lelo voran in mein Zimmer, dass jetzt so sauber ist wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Nicht, dass ich ein besonders unordentlicher und schlampiger Mensch wäre, aber Staub wischen ist der Feind. Ich hasse Staub wischen. »Ja, meine Pizza Funghi war nicht zu verachten«, erklärt Lelo und sieht sich interessiert in meinem Zimmer um, während ich die Tür hinter ihm schließe. »Ist das deine Lieblingspizza?«, will ich wissen und werfe mich auf mein Bett. Es gibt außer meinem Bett nur einen Stuhl in meinem Zimmer und auf dem sitze ich eigentlich nur, wenn ich Computer spiele. Meine Mutter hat es aufgegeben mich davon zu überzeugen, dass sich Hausaufgaben besser am Schreibtisch als auf dem Bett erledigen lassen. »Ich mag Salamipizza am liebsten, aber der Mann konnte mir nicht hundertprozentig sagen, ob Schwein in der Salami ist, deswegen bin ich lieber auf Nummer sicher gegangen«, sagt Lelo während er interessiert Fotos, Poster und eine Sammlung von Konzertkarten mustert, die die Wand neben meinem Schreibtisch zieren. »Und schon hab ich was Neues gelernt«, sage ich schmunzelnd und beobachte im Gegenzug Lelo, der sich so vorsichtig in meinem Zimmer bewegt, als hätte er Angst, dass eine zu hastige Bewegung eine Traumblase platzen lässt. Er ist so entzückend, ich möchte seine Bauchmuskeln ablecken und schmachtende Liebesoden auf ihn dichten. »Dass ich Salamipizza mag?«, fragt er amüsiert mit einem Blick in meine Richtung. »Das, und dass du religiös bist«, sage ich grinsend. Lelo fährt sich durch die Haare und sieht ein wenig nervös aus. »Ja, schon. Ist das ein Problem?« »Nein, gar nicht. So lang man mich nicht missionieren will und mir meine Menschenrechte lässt, hab ich nichts gegen Religionen«, gebe ich zurück. Lelo sieht tatsächlich ziemlich erleichtert aus und setzt sich behutsam neben mir aufs Bett. Ich vermute, dass er schon öfter schiefe Blicke für seine Religion bekommen hat. »Also bist du Muslim?«, frage ich nach, um Missverständnissen vorzubeugen. Lelo nickt. »Sag Bescheid, wenn ich irgendwann mal ignorante Sachen sagen sollte, ich kenn mich nicht so gut aus, fürchte ich«, gebe ich zurück und Lelo mustert mich kurz mit schiefgelegtem Kopf. Ich könnte seine dunklen Augen stundenlang anstarren. »Werd ich machen«, verspricht er mit einem leichten Lächeln, »dasselbe gilt für dich.« »Keine Sorge.« Ich lasse mich auf den Rücken fallen und Lelo legt sich neben mich, das Kinn in die Hand und den Ellbogen aufs Bett gestützt, die Augen aufmerksam auf mein Gesicht gerichtet. Mein Herz schlägt schon die ganze Zeit schneller als normalerweise und jetzt legt es einen weiteren Zahn zu und bollert gegen meine Rippen, als würde es Lelo direkt in die Arme springen wollen. Lelo lächelt und fährt mir sachte durch die Haare. Ich kann nicht mit ihm zusammen sein, denn dann wird mein bislang noch nicht allzu langes Leben sicherlich viel zu früh enden. »Ich bin etwas hin und her gerissen«, meint Lelo leise und bei dem Unterton in seiner Stimme bekomme ich sofort eine Gänsehaut auf den Unterarmen. Unweigerlich stelle ich mir vor, wie er mir in diesem Ton Dinge befiehlt. Verfluchter Mist, Kim. Reiß dich zusammen! »Zwischen welchen Möglichkeiten?«, versuche ich so lässig wie möglich zu antworten, aber meine Stimme klingt eindeutig heiser. Ein Hoch auf meine unzähmbaren Teenagerhormone. »Mich mit dir über dich zu unterhalten und dich zu küssen.« Tschüss Welt, es war schön mit dir, wenn es ein nächstes Leben gibt, kann ich vielleicht länger hier verweilen. Die Vorstellung über mich zu reden scheint mir im Angesicht der Aussicht auf mehr Küssen wirklich ausgesprochen unattraktiv zu sein, als dass ich diesem Vorschlag nachgehen wollen würde. Also nehme ich Lelos Gesicht in beide Hände – ich kann es immer noch nicht fassen, dass er hier ist und dass ich ihn anfassen darf und dass er mich verflucht noch mal toll findet – und ziehe ihn zu mir herunter, um ihn sehr enthusiastisch auf den Mund zu küssen. Vielleicht können wir reden und küssen ja irgendwie abwechselnd praktizieren, aber momentan ist meine Zunge eindeutig zu begeistert damit beschäftigt, Lelos Zunge voller Hingabe zu erfühlen. Er ist ein sehr guter Küsser. Nicht, dass mich das großartig verwundern würde, immerhin habe ich ihn mir in meinen unanständigen Tagträumen regelmäßig als ausgesprochene Sexbombe vorgestellt, aber ihn tatsächlich so dicht an mir zu spüren ist eindeutig etwas anderes und sehr viel Besseres. Wie schrecklich es gewesen wäre, wenn er sich als schlechter Küsser entpuppt hätte… Ich ziehe Lelo ziemlich ungeduldig auf mich drauf, umschlinge ihn mit meinen Beinen und wickele meine Arme um ihn wie ein entschlossener Oktopus, der sein Opfer in die Tiefe zerren will. Sein muskulöser Körper auf meinem fühlt sich wunderbar schwer und fest an und ich kann der Versuchung nicht widerstehen, meine Finger unter sein Shirt zu schieben und seine nackte, warme Haut zu ertasten. Lelo zieht zischend die Luft ein, als meine Hände seinen nackten Rücken berühren und ich bin mir hundertprozentig sicher, dass ich jeden Augenblick ein sehr auffälliges Rohr in der Hose haben werde, wenn wir uns weiter so küssen, er diese Geräusche macht und währenddessen sein Unterleib unnachgiebig gegen meinen gepresst wird. Heilige Scheiße, ich will eigentlich sofort Sex. Jetzt gleich. Mit viel nackter Haut und lauten Geräuschen und dabei wie auch immer involvierten Geschlechtsteilen. Zu meiner sehr großen Begeisterung spüre ich im nächsten Augenblick, dass Lelo bereits eine sehr deutliche Erektion in seiner Jeans hat. Ha! Ich bin also nicht der einzige hier, der hormongesteuert und stocken notgeil ist. Awesome! Lelo löst seine Lippen schwer atmend von meinen und schaut mit glasigen Augen zu mir herunter, während ich ein empörtes und peinlicherweise ausgesprochen bedürftiges Geräusch von mir gebe. »Für jeden Kuss eine Frage«, sagt Lelo heiser und ich starre ihn ungläubig von unten herauf an, was ihn zum Lachen bringt. Sein Lachen ist so wundervoll, vielleicht komme ich auch einfach gleich davon direkt in meine Shorts. »Du bist unerbittlich«, klage ich und halte mich mit sehr viel Mühe davon ab, Lelo einfach weiterhin zu umklammern, als er sich von mir herunter rollt und wieder neben mir zum Liegen kommt. Ich revidiere: Lelo ist offensichtlich doch nicht so notgeil wie ich, sonst wäre er bereits nackt und sehr viel näher an mir dran. Mein Leben ist hart. »Darf ich dich im Kleid sehen?« Ich blinzele. Lelo ist knallrot im Gesicht und schaut mich aus seinen dunklen Augen an. Mein Herz hämmert weiterhin aufgeregt vor sich hin und ich frage mich, ob es sich für den Rest des Tages nicht mehr beruhigen wird. Oder vielleicht in den nächsten Wochen. Je nachdem, wie lang das mit uns läuft. »Ok«, sage ich ein wenig atemlos und schlucke nervös, ehe ich mich schweren Herzens von Lelo löse und das Bett verlasse, auch wenn in etwa jede Faser in meinem Körper deswegen protestiert. Meine Güte, Kim, reiß dich mal ein wenig zusammen. So nötig hast du es nun auch wieder nicht! Mein Penis protestiert empört von unten herauf und ich grummele leise als Antwort, während ich meinen recht beeindruckenden Kleiderschrank öffne und auf der rechten Seite meine Kleider mustere. »Was machen deine Eltern beruflich?«, fragt Lelo interessiert vom Bett aus und mein Magen schlägt ein paar Saltos allein bei der erneuten Realisierung, dass Lelo – Lelo alias Sonnengott alias Prinz meines Schuljahrgangs – gerade auf meinem Bett liegt und mit mir knutscht und mich im Kleid sehen will und mich nach meinen Eltern fragt. Wie genau ist das noch mal passiert? »Meine Mutter ist Fahrlehrerin und mein Vater unterrichtet Sprachen an der Volkshochschule«, erkläre ich und frage mich fieberhaft, in welchem Kleid ich am besten aussehe. Schwarz ist natürlich ein allzeitiger Klassiker, aber ich trage sonst schon immer nur schwarz. Also entscheide ich mich für mein knallbunt geblümtes Kleid, das entzückende Ähnlichkeit mit einem 50er Jahre Cocktail-Kleid hat. »Oh, wie haben sie sich denn kennen gelernt?«, fragt Lelo und ich bedeute ihm mit einem Wedeln, dass er sich die Augen zuhalten soll, was er ohne zu zögern tut. Ich schlucke und ziehe mich hastig und mit leicht zittrigen Fingern aus. »Mein Vater hat einen Motorradführerschein in der Fahrschule meiner Mutter gemacht und extra viele Fahrstunden wegen ihr genommen. Seine Geschwister haben ihn schon alle ausgelacht, weil er so lang gebraucht hat«, erkläre ich, während ich mir mit aufgeregt kribbelndem Bauch das bunte Kleid über den Kopf ziehe und dann so gut es geht mit meinen zittrigen Fingern einen Zopf flechte. »Kannst gucken«, sage ich ziemlich heiser und ich kam mir noch nie so scheinwerferhaft angestrahlt vor. Meistens trage ich diese Sachen nur hier in der Wohnung, wenn niemand außer meiner Familie oder Manu da ist. Selbst meine engsten Freunde haben mich nur zwei oder drei Mal in voller Montur gesehen. Lelo nimmt die Hände von den Augen und blinzelt kurz gegen das Licht, dann darf ich beobachten, wie sein Gesichtsausdruck sich von interessiert-neugierig in etwas verwandelt, das eindeutig hingerissen und bewundernd aussieht. Mein Herz platzt gleich. Es muss jede Sekunde so weit sein. »Oh«, sagt er sehr leise und ich spiele nervös mit dem Kleidersaum herum und fühle mich blöd dafür, dass ich es nicht schaffe, mein übliches Selbstbewusstsein an den Tag zu legen. Ich beschließe trotz mangelnden Selbstbewusstseins in die Offensive zu gehen und gehe zum Bett hinüber. Lelos Augen werden rund wie Teller als ich aufs Bett gekrabbelt komme, ihn sehr bestimmt auf den Rücken drehe und mich rittlings auf seinen Schoß setze. Ich sehe, wie sein Adamsapfel sich hebt und wieder senkt. »Die Kennenlern-Geschichte deiner Eltern ist ja ziemlich romantisch«, nuschelt Lelo und er sieht aus, als hätte er Schwierigkeiten zu sprechen und seine Hände bei sich zu behalten. »Nicht ganz so romantisch wie unsere, finde ich«, sage ich amüsiert und obwohl mein Herz weiterhin hämmert wie verrückt, kommt durch Lelos Reaktion auf mich und das Kleid einiges an Selbstsicherheit zu mir zurück. Lelo wird angesichts meiner Worte rot. Allerdings, denke ich mir amüsiert und erfreut, könnte sein Erröten auch daran liegen, dass sich eindeutig etwas in seiner Hose regt. Ein Hoch auf Kleider! Und auf die Tatsache, dass ich nichts mehr drunter trage, weil Boxershorts unter Kleidern doch eher grenzwertig aussehen, wie ich finde. »Was für Sprachen unterrichtet dein Vater?«, will Lelo mit krächzender Stimme wissen und räuspert sich verlegen, was mich zum Schmunzeln bringt. Nicht zu fassen, was er für ein Lämmchen ist. Ich muss ihn dringend noch mehr küssen! »Dänisch und Schwedisch.« »Oh, cool. Kannst du auch was davon?« »Ein paar Brocken Schwedisch. Aber ich dachte mir, ich heb mir die Sprachkurse für meine Unizeit auf.« »Was möchtest du lernen?« »Finnisch find ich ziemlich cool. Und Arabisch. Und damit hab ich mir dann auch gleich zwei super schwierige Sprachen ausgesucht und kann wahrscheinlich nichts anderes machen«, sage ich mit einem Seufzen. Sprachen sind so super und ich würde gerne fünfzig auf einmal lernen, aber man kann nicht alles haben. »Wenn du willst, kann ich dir ein bisschen Arabisch beibringen«, sagt Lelo lächelnd. Ich glubsche ihn begeistert an. »Wirklich? Sprichst du es fließend? Sprichst du sonst noch Sprachen?«, will ich gespannt wissen und puste mir eine Strähne meiner schwarzen Haare aus dem Gesicht, die sich aus dem notdürftig geflochtenen Zopf gelöst hat. »Ich kann nur klassisches Arabisch. Also das, was sich vom Koran ableitet. Andere Dialekte versteh ich nicht wirklich. Und Urdu kann ich selber kaum, ich versteh‘s aber, wenn meine Eltern es sprechen«, entgegnet Lelo. Ich bin voller Bewunderung. »Awesome«, flüstere ich begeistert und Lelo lacht leise. Er streckt die Hand aus und streicht mir sachte über die Wange, woraufhin ich die Augen schließe und mich der Berührung entgegen schmiege. »Wie eine Katze«, sagt Lelo amüsiert. Ich schnaube leise. »Ich kratz auch wie eine«, gebe ich mit weiterhin geschlossenen Augen zurück und merke, wie Lelo kurz inne hält, bevor er seine Finger weiter gleiten lässt, bis sie schließlich vorsichtig um meinen Hals herum zum Liegen kommen. Ich halte den Atem an und öffne die Augen. Lelo ist immer noch knallrot im Gesicht und schaut mich von unten herauf unsicher an. »Also, wenn wir… ich meine… wenn wir all das ausprobieren… ich glaube, wir müssen ganz langsam… ähm…« Ich hebe eine meiner Hände und lege sie auf seine. »Keine Sorge. Ganz langsam ist kein Problem«, sage ich ehrlich und lächele ihn ermutigend an. Er sieht sehr erleichtert und ich kann mir vage vorstellen, was für einen Druck Lelo empfinden muss, weil er diesen ganzen BDSM Kram noch nie ausprobiert hat und jetzt so volle Breitseite damit konfrontiert wird. »Wie hast du eigentlich festgestellt, dass du sowas magst?«, erkundigt sich Lelo gespannt und zieht langsam seine Hand von meinem Hals zurück. Die verheißungsvolle Berührung hinterlässt ein angenehmes Kribbeln auf meiner Haut und ich seufze wohlig, ehe ich von ihm herunter krabbele und mich wieder neben ihn aufs Bett fallen lasse. Mein Blumenkleid beißt sich farblich ziemlich mit der rot-orangenen Bettwäsche, auf der wir liegen. Ich hüstele ein wenig verlegen. »Äh, schriftliche Rollenspiele im Internet, glaub ich. Und dann hab ich angefangen Zeug darüber zu lesen und dann hab ich mich mal mit einer getroffen, die ich über die Rollenspielsache kennen gelernt habe und dann… äh… haben wir das alles ausprobiert«, erzähle ich und zupfe an meinem Kissenbezug herum. »Treffen mit fremden Leuten aus dem Internet also«, sagt Lelo grinsend. Ich grummele. »So fremd war sie ja nicht. Ich hab sie vorher über ein halbes Jahr gekannt! Und ich bin eigentlich froh, dass ich das Zeug mit ihr ausprobiert hab, weil sie es echt gut konnte.« Ich bin wirklich erstaunt, wie ehrlich interessiert Lelo an mir ist. Er betont öfter, wie langweilig sein eigenes Leben gegen meins sei und ich versichere ihm, dass das eindeutig nicht der Fall ist und ich merke kaum, wie es draußen dunkel wird zwischen all den Fragen, dem Lachen und den Küssen. Und als Lelo sich gegen halb zehn verabschiedet weiß ich ganz eindeutig, dass ich noch nie in meinem Leben so verknallt war wie in ihn. Kapitel 9: Absturz ------------------ Nach einer Pause zum Wichteln melde ich mich wieder mit einem neuen Kapitel zurück! Ich hoffe, ihr habt die Wartezeit gut überstanden :) Wie immer freu ich mich sehr über Feedback und wünsche euch einen guten Start in die Woche! ______________________________ Ich schwebe den ganzen Sonntag auf Wattewölkchen durch die Wohnung, sodass Laura irgendwann verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammen schlägt und mich daran erinnert, dass ich ihre Blusen bügeln wollte. Leise vor mich hin summend mache ich mich an die Arbeit, wobei ich misstrauisch von meinen Eltern beobachtet werde, die beide in der Küche sitzen und einen Kaffee trinken, während ich munter und mit völlig unnötigem Enthusiasmus Lauras zahllose Blusen bügele. »Du hasst bügeln«, erinnert meine Mutter mich und nimmt einen Schluck ihres Kaffees. Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie mein Vater zustimmend nickt. Er sieht beinahe ein wenig besorgt aus, so als würde er an meinem geistigen Wohlergehen zweifeln. »Das ist richtig«, zwitschere ich bestens gelaunt und lege die neueste gebügelte Bluse beschwingt zusammen. »Kim ist verliebt. Sprecht am besten nicht mit ihm, er kotzt momentan nur Regenbögen«, ertönt Lauras Stimme aus dem Flur und ich muss über dieses Bild lachen. Es ist ja gar nicht so unpassend, denke ich mir und greife nach der letzten Bluse im Korb auf dem Boden. Neben mir auf der Küchenoberfläche stapeln sich nun ganze elf Blusen. Laura drückt sich immer so lang vor ihrer Bügelarbeit, bis sie keine Blusen mehr im Schrank hat. »Oho!«, sagt mein Vater interessiert und beugt sich am Tisch nach vorn. »Wer ist der glückliche Mensch?« Ich danke wahllosen Gottheiten für meine Eltern und dafür, dass mein Vater gerade eine neutrale Formulierung verwendet hat. Strahlend drehe ich mich zu ihm um und er hebt die Hand vor die Augen und macht ein angestrengtes Geräusch, so als hätte ich ihn geblendet. Ich muss schon wieder lachen. »Er heißt Lelo«, verkünde ich und bügele mit Schwung den linken Ärmel der letzten Bluse, dann stelle ich das Bügeleisen aus und lege die Bluse zusammen. »Ich nehme an, dass du für diesen Lelo gestern so gründlich Staub gewischt hast?«, meint meine Mutter amüsiert und ich nicke grinsend. »Muss ja ein toller Typ sein, wenn du extra für ihn den Staubwedel schwingst«, sagt mein Vater amüsiert. »Das ist er. Ein toller Typ mit einer Stauballergie«, entgegne ich und mir ist selber klar, dass ich so unglaublich schmachtend klinge, dass es fast schon nicht mehr jugendfrei ist. »Kriegen wir ihn denn irgendwann auch zu Gesicht?«, will meine Mutter amüsiert wissen und trinkt ihren Kaffee leer. »Klar. Er ist ein bisschen schüchtern, ich werd sehen, wann er sich dazu durchringen kann«, gebe ich munter zurück, nehme den Stapel Blusen und tänzele weiterhin summend aus der Küche, drücke Laura den Berg Wäsche in die Hand und gehe in mein Zimmer, um mich jetzt schöneren Dingen als der Bügelei zu widmen. Deevan musste gestern den ganzen Tag auf mich verzichten, daher fahre ich meinen PC hoch und reiße das Fenster auf, um die kühle Luft herein zu lassen. Selbst der graue Himmel und der leichte Nieselregen draußen können meine Stimmung nicht trüben. Ich werfe einen Blick auf mein Handy und stelle fest, dass Manu mir eine Nachricht geschrieben hat. Vermutlich möchte sie wissen, wie es mit Lelo gelaufen ist, und ich bereite mich geistig darauf vor, sie mit einem Schwall entzückter Worte zu überhäufen, doch in der SMS steht nur »Ich muss dir noch was erzählen.«, was mich zu verwirrtem Blinzeln veranlasst. »Was gibt’s denn? Alles ok?«, schreibe ich zurück, werfe mich auf meinen Schreibtischstuhl und beobachte meinen Monitor, als würde mein Computer sich dadurch schneller hochfahren. Mein Handy vibriert erneut. »Ich hab Freitag auf der Party jemanden auf dem Klo getroffen, der mich drum gebeten hat, mit keinem drüber zu reden. Aber weil du es bist, muss ich es loswerden und du bist zur Schweigepflicht verdonnert.« Ich starte Skyrim und tippe eine Antwort, während das Spiel lädt. Verwundert frage ich mich, wen um alles in der Welt Manu geheimes auf einem Klo auf der queer kollektiv Party hätte treffen können. Es ist eine queere Party. Wer zum Teufel geht under cover auf eine queer Party in der Hoffnung, dort niemanden zu treffen, den man kennt? Die Antwort kommt postwendend. »Pia.« Mir fällt die Kinnlade in den Schoß. »Was? Pia? Wieso ist Pia heimlich auf der queer kollektiv Party?« »Ich nehme an, weil sie queer ist.« »Haha, sehr scharfsinnig!« »Sie hat erzählt, dass ihre Eltern dafür kein Verständnis haben und sie es deswegen auch vor ihren Schulfreundinnen geheim hält.« Das muss ich erstmal verdauen. Natürlich ist mir eigentlich klar, dass jeder Mensch da draußen potentiell queer sein könnte und man das im Leben nicht an äußeren Merkmalen festmachen kann, aber bei Pia und auch bei Lelo hätte ich es nicht erwartet. Vorurteile, Kim, tadele ich mich sofort. Nur weil sie beliebt sind und viele Dinge mögen, die andere Leute auch mögen, heißt das nicht, dass sie nicht genauso queer sein können wie du. »Wie scheußlich. Aber sie kann sich sicher sein, dass wir es nicht ausplaudern!« »Das habe ich ihr auch gesagt. Sie wirkte echt total aufgelöst. Ich glaub nach unserer Begegnung ist sie auch nach Hause gegangen…« Wir unterhalten uns noch etwas über die unerwarteten Wendungen, die sich in unserer Jahrgangselite ergeben haben, und dann komme ich endlich dazu, Manu gegenüber von meinem gestrigen Tag mit Lelo zu schmachten, während ich mich mit Deevan auf die Suche nach den Bruchstücken von Gauldurs Amulett mache. »Wahrscheinlich krepierst du mir vor lauter angestauter sexueller Energie.« »Das kann gut möglich sein. Aber es wird ein glücklicher Tod sein.« »Lass mich ja nicht alleine, bevor wir das Abi geschafft haben!« Deevan stirbt im Kampf gegen drei Zwergensphären und ich muss neu laden. Während ich mich für den erneuten Kampf rüste, mache ich mir Gedanken darüber, wie ich Lelo morgen in der Schule wohl am besten begrüße. Mit einer Umarmung womöglich? Ich will ihn ja nicht gleich vor allen Leuten überfordern. Es würde mir auch schon reichen, wenn wir uns einfach nur nett Hallo sagen und vielleicht zusammen zu einem unserer Klassenzimmer gehen. Mein Herz fängt bei dieser Vorstellung unweigerlich an zu hämmern und ich kann mir all die verwirrten Blicke und das leise Tuscheln vorstellen. Nicht, dass mich das stören würde, ich bin es ja schließlich gewöhnt. Und Lelo ist vermutlich beliebt genug, um sich so etwas leisten zu können. Während ich darüber nachgrübele und mit Manu weiter Nachrichten über Pia und Lelo tausche, begebe ich mich erneut in den Kampf. Drei Zwergensphären kriegen mich nicht so schnell klein! * Am Montagmorgen bin ich so schnell aus dem Bett, wie meine Eltern es seit Jahren nicht erlebt haben, und beide tuscheln darüber, dass diese neue Verliebtheit mir ja womöglich sehr gut tut, wenn sie dazu führt, dass ich freiwillig Staub wische, bügele und rechtzeitig aufstehe. Ich strecke beiden über mein Frühstück die Zunge heraus und nutze die gewonnene Zeit dafür, besonders viel Zeit vorm Kleiderschrank zu verbringen. Am liebsten würde ich mich ja richtig in Schale schmeißen, aber ich habe nur wenig Lust auf das Gerede und entscheide mich letztendlich für eine schwarze Hose, Nietengürtel und ein kurzärmeliges schwarzes Hemd. Laura wuselt durch die Wohnung und singt dabei laut und mit schmachtender Stimme »Unchained Melody«, was mich abwechselnd zum Lachen und zum Fluchen bringt. »Musst du nicht mal zur Uni? Ich seh dich hier schon seit Wochen rumfaulenzen!« »Keine Sorge, ich hab um zwölf eine Vorlesung.« »Wieso bist du dann jetzt schon wach?« »Um dir Liebeslieder vorzusingen.« »Pah!« Ich erinnere mich an die Zeiten, als Tom noch hier gewohnt und Laura und mich dauernd tadelnd angesehen hat. Ich bin sehr froh, dass meine Eltern genauso verwundert über seine Spießigkeit sind wie Laura und ich. Damit ist er in der Minderheit und meistens überstimmt. Vermutlich ist er aus genau diesem Grund eher selten zu Hause und ich frage mich, ob all seine Freunde genauso langweilig sind wie er. Ich kann es mir eigentlich kaum vorstellen. Den gesamten Weg zur Schule mache ich mir darüber Gedanken, ob eine Umarmung womöglich zu viel des Guten wäre. Vermutlich. Ich sollte es langsam angehen lassen, schließlich ist Lelo noch nicht geoutet und ich werde einen Teufel tun, ihn zwangsweise aus dem Untergrund zu zerren. So ein Mensch bin ich eindeutig nicht. Vorm Eingang der Schule wartet Manu auf mich und ich erkläre ihr, dass ich mich mit mir selbst darauf geeinigt habe, Lelo maximal kumpelhaft auf den Rücken zu klopfen und ihn anzugrinsen. »Wer weiß, vielleicht stört es ihn ja auch gar nicht, sich zu outen. Er schien mir doch sehr offen und verständig zu sein«, meint Manu zuversichtlich und ich würde gern mein hämmerndes Herz beruhigen, während meine Augen durch die Pausenhalle huschen, aber es geht einfach nicht. Ich bin so aufgeregt wie gerade Samstag zum letzten Mal, vielleicht sogar noch ein bisschen mehr. Lelo und ich haben gestern nur ein paar sporadische SMS geschrieben, weil er mit seiner Familie unterwegs war, das heißt, heute haben wir endlich wieder die Gelegenheit uns miteinander zu unterhalten. Ich male mir ausgiebig aus, wie Lelo mich nach der Schule womöglich nach Hause bringt und wir uns vor der Haustür küssen und dann das nächste Treffen für diese Woche vereinbaren und Lelo mir dabei niedliche Dinge sagt, wie zum Beispiel, dass er es unmöglich noch drei Tage ohne mich aushalten kann… »Da vorne ist er«, sagt Manu lächelnd und deutet in eine Ecke der Pausenhalle. Ich spüre, wie mein Herz sich geradezu überschlägt, mein Magen einige Saltos macht und mein Gesicht aufleuchtet, während ich Lelo in einer Traube Menschen stehen sehe. Er lächelt so entzückend wie immer und ich kriege beinahe einen Herzklabaster bei der erneuten Erkenntnis, dass er mich ganz anders anlächelt als all diese Leute. Ich schlucke schwer und fummele nervös an meinem Nietengürtel herum. Manu will mich gerade in Lelos Richtung schieben und macht mir zischend Mut dabei, als Lelo aufschaut und mich entdeckt. Ich bin kurz davor in verliebtes Strahlen auszubrechen, aber Lelo hebt nur kurz die Hand und wendet sich dann wieder seinen Freunden zu. Unter meinen Füßen scheint sich der Boden aufzutun und ich bleibe wie angewurzelt mitten in der Pausenhalle stehen, was dazu führt, dass mehrere Leute mich und Manu anrempeln und Manu eine Gruppe Jungs anschnauzt, die sich daraufhin hastig aus dem Staub machen. Manu manövriert mich durch die Gänge bis hin zu unserem Klassenzimmer und pflanzt mich auf einen Stuhl. »Ich nehme alles zurück, was ich vorhin gesagt habe«, brummt sie ungehalten und sieht so grimmig drein, dass Jens seinen Stuhl ein Stück von ihrem abrückt, als könnte er sich auf diese Art und Weise in Sicherheit bringen. »Ich wollte ja gar nicht, dass er mich vor aller Welt abknutscht«, sage ich kläglich. »Ich weiß.« »Ich hätte nur nicht gedacht, dass ich selbst für einen freundlichen Gruß zu peinlich bin…« »Du bist nicht peinlich, Kim…« »Wie hat er sich das Ganze denn vorgestellt? Als geheime Liebschaft?« »Du bist eindeutig zu schade für eine geheime Liebschaft.« »Und ich Horst hab sogar eine Umarmung in Betracht gezogen…« »Kim…« »Ich komme mir vor wie der bescheuertste Mensch auf der Welt.« »Ok, das reicht, ich gehe ihn würgen!« »Nein!« Ich halte Manu mit einer Hand am Ärmel fest, mit der anderen friemele ich mein vibrierendes Handy aus der Hosentasche. »Ich hoffe, er fleht vielmals um Verzeihung«, knurrt Manu und wartet darauf, dass ich die Nachricht geöffnet habe, aber sie ist nur von Kiki, die fragt, ob wir morgen Abend eine Pen and Paper Runde starten wollen. »Kiki fragt ob wir morgen Abend Zeit haben«, gebe ich niedergeschlagen weiter und Manu sieht aus, als würde sie gleich wie eine Rakete rauchend von ihrem Stuhl abheben und durch die Decke gehen. Ich wäre auch gern sauer, aber stattdessen fühle ich mich wie ein Luftballon, aus dem man alle Luft gelassen hat, nachdem man ihn über mehrere Tage mit Endorphinen und Glück vollgepumpt hat. Als der Unterricht anfängt, kritzele ich nur unmotiviert auf meinem Block herum und frage mich, wie ich so blöd sein konnte zu erwarten, dass Lelo seinen Jahrgangsprinzenstatus wegen mir gefährdet. Vielleicht macht Verliebtheit ja übermütig. Ich schalte mein Handy aus, nachdem ich Kiki für morgen Abend zugesagt habe, und stopfe es nach ganz unten in meinen Rucksack. Von hundertachtzig auf null in weniger als zwei Sekunden. Wow. Stimmungsschwankungen gehören eindeutig nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Der Tag vergeht wie ein besonders zäher Kaugummi und so, als hätte mich jemand in Watte gepackt. Manu bugsiert mich von einem Klassenzimmer ins nächste – wobei sie mich teilweise in Räumen abliefert, in denen sie selbst gar keinen Unterricht hat – und brummelt dabei ununterbrochen darüber, was Lelo sich nur dabei gedacht hat, sich wie der letzte Arsch zu verhalten. Vielleicht komme ich im Laufe des Tages ja auch noch dazu, sauer auf ihn zu sein, aber momentan möchte ich mich eigentlich nur in meinem Bett verkriechen und mir die Decke über den Kopf ziehen. Es wäre mir lieber, wenn ich Bock darauf hätte, meinen nicht vorhandenen Ärger an Untoten in Skyrim auszulassen. »Er braucht gar nicht so besorgt rüber schauen, blöder Sack«, knurrt Manu neben mir, als wir auf dem Weg durch die Pausenhalle nach draußen sind. Ich schaue gar nicht auf um zu sehen, wie genau Lelo hier rüber schaut. Ich lasse mir von Manu den Arm um die Schultern legen und folge ihr hinaus in die kühle Nachmittagsluft, wobei ich darüber nachdenke, wie man vom glücklichsten zum unglücklichsten Menschen innerhalb eines Wimpernschlags werden kann. Kapitel 10: Gespräche --------------------- So ihr Lieben, nachdem eine mündliche Prüfung mich in Anspruch genommen hat, kam ich diese Woche endlich wieder zum Schreiben und präsentiere euch hiermit passend zu meinem Ferienanfang das nächste Kapitel :) Ich hoffe, dass es euch gefällt! Liebe Grüße, _______________________________________ »Ist alles in Ordnung bei dir? Du sahst heute so niedergeschlagen aus!« Nachdem ich beim Mittagessen mit meiner Familie insgesamt neun Mal die Frage beantworten musste, ob bei mir wirklich alles in Ordnung ist, verziehe ich mich in mein Zimmer und werfe mich aufs Bett, um dort mein Handy einzuschalten. Die SMS, die ich von Lelo erhalten habe, ist absolut nicht das, was ich erwartet habe, auch wenn ich nicht einmal genau sagen kann, was genau ich eigentlich erwartet habe. Die Nachricht sagt mir, dass Lelo überhaupt nicht klar war, dass irgendetwas an seinem Verhalten niederschmetternd war. Es ist ja nun nicht so, als hätte er mir nicht seit Monaten »Hallo« gesagt, als hätten wir nicht das ein oder andere Wettrennen hinter uns und als hätten wir nicht noch letzte Woche zusammen die Matten im Sportunterricht rausgetragen. Es wäre also keine bahnbrechende Neuigkeit für seine Freunde, dass Lelo ab und an mit mir redet. Und mehr wollte ich ja auch gar nicht. Aber dass er plötzlich so tut, als wäre ich quasi nicht da, das war echt nicht in Ordnung. Finde ich. Ich habe keinerlei Ambitionen ein schmutziges kleines Geheimnis zu sein. Dumpf denke ich mir, dass wir über dieses Thema hätten reden sollen und dafür ein kleines bisschen weniger knutschen, dann wäre meine Laune jetzt nicht unterirdisch und ich müsste Lelo nicht irgendwie erklären, dass sein Verhalten massiv arschig gewesen ist. Was ihm offensichtlich nicht klar ist. Was dachte er denn was ich tun würde? Ihn anspringen, laut »Schatzi!« rufen und ihm das Gesicht ablecken? Pah! Ungnädig stopfe ich mein Handy unter mein Kopfkissen, weil ich jetzt keinen Nerv dafür habe, diese Unterhaltung zu führen. Ich muss mich erstmal wieder beruhigen. Eventuell bin ich mittlerweile an dem Punkt angekommen, wo Abreagieren die richtige Strategie ist. Also fahre ich meinen PC hoch. Es klopft an der Tür und nachdem ich »Herein!« gerufen habe, steckt Laura ihren Kopf ins Zimmer. »Darf ich mich bei dir reinsetzen?« »Klar. Solange es dich nicht stört, dass ich ein paar Draugr den Kopf abschlagen gehe.« »Kein Ding. Ich kann dir Tipps geben, wenn du bei was nicht weiter kommst«, sagt Laura grinsend, lässt die Tür offen und kommt einige Sekunden später mit einem zweiten Stuhl in mein Zimmer, hievt ihn neben meinen vor meinen Schreibtisch und geht zurück, um die Tür zu schließen. Ich bewundere kurz ihr grau-weißes Outfit, das heute besonders nach Steampunk aussieht. In ihren Ohren hängen kleine Schlüsselohrringe und sie hat ihre Haare zu einer ziemlich kompliziert geflochtenen Frisur hochgesteckt. Ich habe noch viel zu lernen von meiner großen Schwester. »Erzähl mir noch mal, wie die ganze Uni dir hinterher hechelt, weil du jeden Tag absolut perfekt gestylt bist«, sage ich, während ich mir meine Tastatur und die Maus zurecht ziehe. Laura lacht. »Es ist nicht so schlimm, wie du dir das vorstellst. Ich habe dieses Semester erst vier Einladungen zu Dates bekommen«, sagt sie mit einem schelmischen Grinsen, während ich meinen letzten Spielstand lade. Ich schnaube gespielt empört. »Und wie viele davon hast du angenommen?« »Eine.« »Du bist sehr wählerisch.« »Ich hab halt Ansprüche. Einer von denen hatte ein Two and a half men Shirt an, ok?« »Oh.« »Und einer hatte einen Schnurrbart!« »Wuah!« »Sag ich doch.« Mit Laura hier zu sitzen und über ihre massenhaften Verehrer und Verehrerinnen zu sprechen entspannt mich und lenkt mich vielleicht sogar noch besser ab, als das alte Hügelgrab mit jeder Menge Untoter darin. Jeder Untote hat »Eiskalte Ignoranz« auf die Stirn geschrieben und ich schlage ziemlich vielen davon die Köpfe ab. Es ist schon ein wenig befriedigend. Bei einem Rätsel um eine Tür zu öffnen, ist Laura mir behilflich, und während ich dann weiter mit Deevan durch das Grab renne, merke ich, dass Laura mich von der Seite ansieht, und seufze. »Ja, ok. Lelo hat mich heute Morgen in der Schule ignoriert und ich bin niedergeschlagen deswegen, weil er mich sonst auch nie in der Schule ignoriert hat und eigentlich all seine Freunde wissen, dass er ab und an mal mit mir redet.« Laura nickt verständnisvoll und beobachtet mich dabei, wie ich mit Deevan einen Draugr-Todesfürsten verhaue. Ich könnte diese Viecher womöglich ernster nehmen, wenn sie nicht diese beknackten Namen hätten, denke ich mir säuerlich, während ich ihm in einem finalen Move den Kopf abschlage. Ha! »Wahrscheinlich ist er einfach total überfordert mit allem«, meint Laura. »Ja, schon. Aber ihm ist nicht mal klar, dass irgendwas komisch gelaufen ist heute Morgen, er hat mir vorhin eine SMS geschrieben und gefragt, ob irgendwas nicht in Ordnung ist.« »Oh.« »Hmhm.« »Na Gott sei Dank hast du von klein auf gelernt, dass Kommunikation das A und O ist, also würde ich vorschlagen, dass du deinen Prinzen über deine Gefühlswelt aufklärst.« »Das will ich ja auch machen, aber grade bin ich noch zu sauer. Ich will ihm nicht irgendwelche Sachen an den Kopf schmeißen, die mir dann später leidtun.« »Du bist so weise in deinen jungen Jahren.« »Ach, halt den Mund, du Kröte.« Laura lacht und knufft mich in die Seite. Das Gespräch mit Laura und das ungezwungene Beieinandersitzen helfen mir enorm dabei, mein aufgewühltes Inneres zu beruhigen und nach drei Stunden werfe ich mich schließlich auf mein Bett und greife nach meinem Handy. »Du warst ein Dödel heute Morgen«, schreibe ich. Auf dem Rücken liegend warte ich auf eine Antwort und beobachte dabei mein Handy, als würde dadurch schneller eine Antwort erfolgen. Laura lackiert sich an meinem Schreibtisch die Nägel und ich frage mich dumpf, ob Lelo und seine kleine Schwester auch manchmal einfach so zusammen sitzen und nichts tun. Wenn sich das zwischen uns eingerenkt hat, werde ich ihn danach mal fragen. Wenn seine Schwester ihm ähnlich sieht, ist sie vermutlich eine ganz schöne Herzensbrecherin. »Oh nein, ich war schuld an deiner schlechten Laune :(« »Ja, schon. Ich meine, sonst ignorierst du mich ja schließlich auch nicht. Ich hätte dich schon nicht vor versammelter Mannschaft abgeschleckt.« »Tut mir wirklich leid. Ich wusste nicht, wie ich mit der Situation umgehen sollte. Eigentlich ist mir ja total klar, dass du mich nicht einfach so outen würdest.« Ich denke an Lelos Locken und sein schüchternes Lächeln und seine Grübchen und die dunklen Augen und argh, ich kann definitiv nicht sauer sein. Nicht, dass ich das zwanghaft wollen würde, aber es beunruhigt mich auch ein bisschen, wie schnell mein Widerstand bröckelt. Frisch verliebt sein ist ein Fluch, soviel steht fest. »Du grinst wie ein Honigkuchenpferd«, informiert Laura mich amüsiert und ich strecke ihr die Zunge heraus, während sie mit einer ihrer fertig lackierten Hände durch die Luft wedelt. Wenn ich gläubig wäre, dann würde ich einen Schrein bauen und welchem Gott auch immer für meine Familie danken. Vielleicht sogar für Tom, den Besen. Wer weiß, vielleicht hat er unentdecktes Potential in sich, das wir bislang nur noch nicht entdeckt haben. »Ich hasse dich«, informiere ich sie und widme meine Aufmerksamkeit wieder meinem Handy. Nicht genug, dass ich Lelo nach null Komma zwei Sekunden verziehen habe, nein. Ich grinse auch einfach so wie der letzte Armleuchter, als hätte er irgendwas Hinreißendes gesagt. Pff, Kim, du bist der größte Dödel von allen. Mein Handy vibriert. »Hast du Zeit? Darf ich vorbei kommen?« Meine Finger schweben kurz über der Tastatur, dann tippe ich eine schnelle Antwort. »Ok.« »Und? Kommt er auf den Knien angekrochen, um deine Vergebung zu erbetteln?«, erkundigt Laura sich verschmitzt und ich werfe ein Kissen nach ihr, was ein lautes, empörtes Quietschen zur Folge hat, da ihr Nagellack noch nicht getrocknet ist und sie sich nicht wehren kann. »Ich lackier dir nie wieder die Nägel!«, ruft sie voller Empörung und eilt aus meinem Zimmer, um ihr Kunstwerk in Sicherheit zu bringen. Ich lache leise vor mich hin, dann trifft mich die verspätete Erkenntnis, dass Lelo gleich vorbei kommt und ich vielleicht irgendwas tun sollte, bevor er eintrifft. Mit arger Verzögerung fängt mein Herz an zu hämmern und ich falle beinahe über meinen eigenen Gliedmaßen, während ich mich aus dem Bett wälze und eher schlecht als recht auf den Füßen lande. Immerhin hab ich heute Morgen genug Zeit gehabt um zu duschen, also muss ich mir nur noch mal die Haare kämmen und sie in einen Pferdeschwanz binden, hastig noch mal Zähne putzen und dann das gröbste Chaos in meinem Zimmer beseitigen. Der Staub wird sich ja hoffentlich seit Samstag nicht wieder zentimeterdick angesammelt haben. Nervös kribbelnd öffne ich die Tür zum Wohnzimmer. »Eh… Lelo kommt gleich vorbei«, informiere ich meine Eltern und bemühe mich dabei so lässig wie möglich zu klingen. Zwei Köpfe schnellen zu mir herum und schauen mich aus beunruhigend neugierigen Augen an und ich bereue ein bisschen meine nicht vorhandene Geistesgegenwart. Ich hätte Lelo sagen sollen, dass wir uns draußen irgendwo treffen können. Für das Vorstellen von Familienmitgliedern sind wir – glaube ich – noch nicht weit genug. Shit. »Bleibt er zum Abendessen?«, will mein Vater sofort wissen. Wahrscheinlich würde er Lelo mit endlosen Anekdoten aus der Schule und aus seinen Skandinavienreisen bombardieren, während meine Mutter ihn fortwährend verbessert und trockene Witze einstreut. Oh Mann. »Weiß ich noch nicht. Überfallt ihn nicht!«, ermahne ich sie und sie schauen beide gekünstelt empört drein, als hätte ich sie tödlich beleidigt. Es ist ja nicht so, als würde ich mich für meine Eltern schämen – und damit bin ich womöglich eine seltene Brut Teenager – aber ich möchte Lelo nicht noch mehr überfordern als er ohnehin schon ist. »Wenn er zum Essen bleiben möchte, ist er jedenfalls herzlich eingeladen«, sagt meine Mutter und ich nicke, ehe ich mich aus dem Staub mache und in Lauras Zimmer stürme. »Er kommt gleich vorbei!«, verkünde ich gerade in dem Augenblick, als es an der Tür klingelt. Laura grinst zufrieden und ich möchte gleichzeitig die Tür aufmachen und Lauras Zimmertür zuhalten, damit sie nicht rauskommen kann. Mein Herz ist mir beim Geräusch der Klingel direkt in die Kehle gesprungen und schlägt dort so heftig, dass ich kaum ein »Hallo« herausbringe, als ich Lelos Lockenkopf am Treppenabsatz erscheinen sehe. Jedes weitere Wort bleibt mir im Hals stecken, weil ich sehe, dass Lelo eine orangene Gerbera in der Hand hat und so reumütig aussieht, dass mein Gehirn dahin schmilzt wie ein Stück Butter in der Sonne. Mir hat noch nie irgendwer Blumen geschenkt. Ich sterbe. Als Lelo oben angekommen ist, höre ich ein schmachtendes Geräusch hinter mir im Flur und als ich mich empört umdrehe, um meine Schwester wegzuscheuchen, sehe ich meine komplette Familie die Köpfe in den Flur stecken, um einen Blick auf Lelo zu erhaschen. »Geht weg!«, schimpfe ich mit hämmerndem Herzen und Lelo lacht und meine Eltern strahlen und Laura sieht so amüsiert aus, dass ich ihr am liebsten die Blume ins Gesicht drücken würde. »Hallo«, sagt Lelo und er klingt so hinreißend schüchtern, dass ich ihn auf der Stelle abknutschen möchte. Ach, ich war heute Morgen noch traurig wegen ihm? Wen interessiert das schon, Hormon- und Stimmungsachterbahn helau! »Möchtest du die Blume?«, fragt Lelo ein wenig verunsichert, weil ich wie der letzte Idiot im Flur stehe, schwankend zwischen Verliebtheit angesichts von Lelos entzückender Erscheinung und Peinlichkeit wegen des beknackten Verhaltens meiner Familie. »Was? Oh, ja! Danke! Sorry! Komm doch rein«, stammele ich wie der letzte Armleuchter und ich mache hastig Platz, damit Lelo eintreten kann. Die Situation ist so bescheuert, weil meine Familie immer noch nur die Köpfe aus den Zimmern steckt, als würde man sie so nicht sehen. Himmel, Arsch und Zwirn. »Freut uns sehr, dich kennen zu lernen«, erklärt meine Mutter von der Wohnzimmertür aus. Lelo hat mittlerweile seine Schuhe ausgezogen und ich möchte gern im Boden versinken. »Nun kommt schon raus da!«, nöle ich ungehalten und sie alle kommen strahlend in den Flur, um Lelo nacheinander die Hand zu geben. »Freut mich auch«, sagt Lelo, der seine Blume an mich losgeworden ist, mit der ich jetzt peinlich berührt im Flur stehe. »Die Farbe steht dir«, informiert Laura mich zwinkernd und Lelo lächelt mit hochroten Wangen. Wenn ich ihn nicht gleich küsse, dann sterbe ich. »Bleibst du zum Abendessen?«, fragt mein Vater. Ich sehe Lelo einen Augenblick zögern. »Was gibt es denn?«, erkundigt er sich. »Ach, nur ein paar belegte Brötchen und Salat«, sagt meine Mutter. Lelo sieht erleichtert aus. »Oh, ja. Dann gerne. Bei Fleisch hätte ich gepasst«, erwidert er erklärend. »Bist du Vegetarier?«, will meine Mutter interessiert wissen. »Eh. Nein. Moslem«, erklärt Lelo und sieht erneut ein wenig unsicher aus. »Ah. Und wie ist das mit dem Fleisch? Kein Schwein, oder?«, sagt Laura. Ich fasse es nicht, dass meine Familie komplett im Flur versammelt steht und Lelo über seine Essgewohnheiten befragt. Lelo sieht allerdings nicht aus, als wäre ihm das unangenehm. »Ja, kein Schwein. Und anderes Fleisch muss speziell geschlachtet worden sein, deswegen esse ich außerhalb von zu Hause eigentlich meistens vegetarisch«, erklärt er bereitwillig mit seinem furchtbar charmanten Lächeln und ich sehe praktisch, wie sein Lelo-Zauber meine Familie in den Bann zieht. Ich trete unruhig von einem Bein aufs andere und beschließe dann, eine Vase zu besorgen. Als ich wieder in den Flur komme, erklärt Lelo gerade, wieso er und seine Schwester keine pakistanischen Namen haben. »Wir sind nach dem Ehepaar benannt, bei dem meine Eltern anfangs gewohnt haben, als sie nach Deutschland kamen. Die waren für uns später auch noch wie ein drittes Großelternpaar…« »Darf ich ihn jetzt entführen?«, frage ich ungeduldig und bekomme die Erlaubnis, nachdem ich versprochen habe, dass wir zum Abendessen in die Küche kommen und nachdem Lelo versichert hat, dass jede Art von Käse völlig in Ordnung für seine Brötchen ist. Als ich endlich meine Zimmertür hinter mir geschlossen habe, seufze ich erleichtert und stelle die schmale, gläserne Vase mit der orangenen Gerbera auf meinen Schreibtisch. Auf meinem Bildschirm ist die Menüansicht von Skyrim zu sehen und ich bemerke, wie Lelo es interessiert mustert. »Deine Familie ist sehr nett«, sagt er lächelnd, als er sich zu mir umdreht. Ich grinse matt. »Ja, meistens schon. Immerhin ist Tom nicht hier, der hätte den Eindruck womöglich etwas geschmälert«, gebe ich zurück und werfe mich aufs Bett. Lelo steht einen Augenblick ein wenig verloren im Raum, dann setzt er sich neben mich. »Ich hoffe, dass du meine Familie auch mögen wirst«, sagt er und verschlingt dabei nervös seine Finger ineinander. »Das Treffen wird ja vermutlich noch ein wenig dauern«, gebe ich scherzend zurück, aber Lelo sieht so geknickt aus, dass ich sofort hastig nachschiebe: »Das macht ja überhaupt nichts! Ich dränge dich bestimmt nicht zu irgendwelchen Outing-Aktionen! Nimm dir so viel Zeit wie du brauchst!« Lelo seufzt leise und betrachtet seine Hände. »Ich hab ein schlechtes Gewissen, weil ich es ihnen noch nicht gesagt habe. Also… nicht wegen dir, sondern weil ich denke, ich sollte darauf vertrauen, dass sie damit kein Problem haben. Aber ich bin mir halt nicht sicher. Sie reden jedenfalls viel über meine zukünftige Ehe und die Kinder und alles«, meint Lelo etwas hilflos und ich muss nicht nachfragen um zu begreifen, dass in diesen Ehevorstellungen seiner Eltern vermutlich eine Frau vorkommt. »Wer weiß, vielleicht finden sie es gar nicht so schlimm, dass ich nicht nur auf Frauen stehe, aber dass du nicht muslimisch bist…« Ich schlucke und friemele mir nervös an meinem Zopf herum. Ich weiß wohl, dass es nicht leicht ist, mich Eltern vorzustellen. Allerdings war meine Religiosität dabei bislang noch nie von Bedeutung. »Du kannst mich ja auch als deine Freundin Kim vorstellen«, schlage ich aus dem Blauen heraus vor und Lelo hebt den Kopf, um mich mit großen Augen anzuschauen. »Gelogen wäre es nicht wirklich«, sage ich schulterzuckend. Ich hab als genderfluider Mensch echt Glück, dass ich problemlos als verschiedene Geschlechter durchgehen kann. Wenn ich mich richtig schminke und die Haare mache, merkt kein Schwein, das mich nicht kennt, dass die Welt mich als Jungen abstempelt. »Nee, das nicht. Aber… du bist ja in der Schule auch nicht geoutet, oder? Also… wäre das nicht komisch, das dann bei meinen Eltern zu machen?« »Da wäre es ja kein Outing, weil sie gar nicht wissen, dass ich Junge und Mädchen und was dazwischen sein kann«, meine ich schmunzelnd. »Ich wäre für sie dann vermutlich einfach Kim die cis-Frau.« »Es käme mir trotzdem gemogelt vor«, sagt Lelo zweifelnd. Da hat er vermutlich Recht. Wir schweigen einen Moment lang und ich denke darüber nach, ob Lelo und ich wohl überhaupt mal so weit kommen, dass wir in der Schule Händchen halten können und er mich seinen Eltern vorstellt. Ich möchte natürlich gerne annehmen, dass wir zusammen das Abi bestreiten und dann in der Abizeitung zum Pärchen des Jahrgangs gewählt werden – nur um meinem Optimismus eine utopische Note zu verleihen. Aber wer weiß schon, ob das klappt. »Bist du noch sauer wegen heute Morgen? Tut mir echt leid, dass ich das verbockt habe«, platzt Lelo schließlich heraus und ich werfe ihm einen behutsamen Blick zu. Ich muss sehr vorsichtig sein, um mich nicht sofort auf ihn zu stürzen, sondern wie ein anständiger Mensch dieses Gespräch zu führen. Reiß dich zusammen, Kim! Seine braunen Augen und der reumütige Blick lassen das allerdings zu einer echten Herausforderung werden. »Nein, bin ich nicht. Ich war einfach ziemlich vor den Kopf gestoßen«, gebe ich zurück. Lelo nickt verstehend und fährt sich durch die dunklen Locken. »Tut mir wirklich leid«, sagt er noch mal. »Ich hätte mich einfach wie immer verhalten sollen. Aber zugegebenermaßen hab ich mir das auch nicht richtig zugetraut. Es ist sehr schwierig in deiner Gegenwart zu sein und dich nicht anzufassen.« Ok, fuck it. Zum Henker mit meiner Selbstbeherrschung, wir haben ja ohnehin alles Wichtige gesagt. Ihm tut es leid, ich war vor den Kopf gestoßen, alles ist bestens. Ich packe Lelo an den Schultern, drücke ihn nach hinten auf die Matratze und küsse ihn sehr enthusiastisch auf den Mund, was ihm ein überraschtes und eindeutig erregtes Aufkeuchen entlockt. Meine Hände vergraben sich in Lelos Locken und ehe ich mich versehe, hat Lelo meinen Zopf mit fahrigen Fingern gelöst und – heilige Scheiße! – zieht an meinen Haaren. Ich mache ein eindeutig nicht jugendfreies Geräusch und presse mich der Länge nach an Lelos Körper. Meine rechte Hand findet ihren Weg unter Lelos Shirt und, alter Schwede, Bauchmuskeln sind einfach echt verdammt sexy. »Kim! Essen ist fertig!«, dröhnt die Stimme meines Vaters durch den Flur und ich fluche unterdrückt gegen Lelos Lippen, während Lelo atemlos lacht und mich mit sanfter Gewalt von sich schiebt. »Ich muss mich noch eine Sekunde beruhigen, bevor ich in die Küche gehen kann«, sagt er mit hochroten Ohren und ich möchte ihn direkt noch mal abknutschen. Wir setzen uns nebeneinander auf die Bettkante und Lelo wirft einen erneuten Blick auf meinen Monitor. »Möchtest du es nach dem Essen mal ausprobieren?«, erkundige ich mich und Lelo grinst etwas peinlich berührt. »Nicht, dass ich deinen Deevan umbringe«, sagt er. Ich möchte ihn dafür küssen, dass er sich den Namen gemerkt hat. »Keine Sorge. Ich hab ja gespeichert. Aber wir können dir auch einen neuen Charakter basteln, wenn du willst«, schlage ich vor und Lelos Augen leuchten richtig. Oh Mann, er ist so entzückend. Zuckerwatte und Sahnebonbons sind nichts gegen sein Lächeln. »Das wäre sehr cool«, antwortet Lelo und ich nicke zufrieden, dann stehe ich auf und durchquere das Zimmer. Mein Magen knurrt, als wüsste er genau, wohin ich gehe. »Kannst du wieder gehen?«, stichele ich und Lelo wird noch ein bisschen röter, nickt aber und steht ebenfalls auf. Wie kann man so sexy und so unschuldig zugleich sein? Schickt Hilfe, ich werde Lelo garantiert nicht überleben! Auf dem Küchentisch steht ein großer Teller mit einem großen Berg belegter Brötchenhälften, eine riesige rote Salatschüssel und bunt durcheinander gewürfeltes Geschirr. Ich hoffe sehr, dass Lelo nichts gegen einen eher ungeordneten Haushalt hat, aber er setzt sich nur gespannt lächelnd auf einem Stuhl neben Laura nieder und ich werfe mich auf den Sitzplatz neben ihn. »Dann mal guten Hunger«, sage ich etwas nervös angesichts der ungewohnten Situation und greife nach einer Brötchenhälfte mit Tomate-Mozzarella-Aufstrich. Lelo nimmt sich eins mit Frischkäse und Laura häuft allen einen Berg Salat auf die Teller. »Und, wie ist das mit euch beiden zustande gekommen?«, erkundigt sich meine Mutter mit einem interessierten Schmunzeln, während sie ein Stück Tomate auf ihre Gabel spießt. Lelo wird rot und betrachtet sein Brötchen. »Ähm… ich hab Kims Handy geklaut und meine Nummer darin eingespeichert und angefangen, anonym mit ihm SMS zu schreiben«, erklärt Lelo dann ziemlich schnell und mein Vater sieht sehr beeindruckt aus, meine Mutter lacht und Laura grinst Lelo breit von der Seite an. »Das ist sehr viel günstiger als die Methode, die ich damals gewählt habe«, meint mein Vater anerkennend. Lelo lacht. »Ja, Fahrstunden kosten schon mehr als SMS. Wie viele mehr als geplant waren es denn eigentlich?« Ich beobachte voller Bewunderung und keiner geringen Portion Erleichterung, wie Lelo eine ungezwungene Unterhaltung mit meinem Vater darüber führt, wie genau die Fahrstunden-Umwerbungstechnik damals funktioniert hat, während meine Mutter immer mal wieder amüsierte Statements einwirft und Unter- oder Übertreibungen meines Vaters verbessert. Es ist, als wäre Lelo schon hundert Mal zum Essen hier gewesen und ich habe mir offensichtlich völlig umsonst Sorgen gemacht. Er wirkt weder überfordert, noch irgendwie unangenehm berührt. Zwischendurch werden auch immer mal wieder Fragen zu Lelos Religion gestellt und ich zappele nervös auf meinem Stuhl herum, bis Lelo schließlich unter dem Tisch meine Hand nimmt und sie beruhigend drückt. Sein Blick sagt »Kein Problem, ehrlich« und ich bin erleichtert, dass es keine komplett blöden Fragen sind. »Möchtest du noch mehr Salat? Oder noch was trinken?«, fragt meine Mutter, nachdem Lelo drei Brötchenhälften und seine beträchtliche Portion Salat verspeist hat. »Nein, danke. Ich bin pappsatt.« »Und ich muss ihn jetzt auch entführen, weil wir dringend Skyrim spielen wollen«, sage ich hastig und entführe Lelo meinen protestierenden Eltern zurück in mein Zimmer, wo ich die Tür schließe und erleichtert aufatme. »Ah, Ruhe«, murmele ich. Lelo lacht und lehnt sich gegen mich. Meine Gedanken spielen direkt wieder verrückt, weil ich jetzt zwischen Lelo und der geschlossenen Tür eingeklemmt stehe und sehr gern hätte, dass er meine Handgelenke packt, sie über meinem Kopf gegen die Tür presst und mich knutscht bis mir die Beine zu Wackelpudding werden. »War es so schlimm?«, fragt Lelo ziemlich nahe bei meinem Ohr und ich kriege eine Gänsehaut an den Unterarmen. »Nee, war ok«, krächze ich und ich bin mir hundertprozentig sicher, dass ich unmöglich noch Wochen aushalten kann, ohne Lelo die Kleider vom Leib zu reißen oder einem Masturbationswahn zu verfallen, der dazu führt, dass ich die Wohnung nicht mehr verlassen kann. Aber wir müssen langsam machen. Langsam, Kim. Ganz langsam. Ich atme tief ein und aus und umarme Lelo. »Skyrim? Oder möchtest du riskieren, dass ich mich auf dich stürze?«, frage ich leise und Lelo lacht gegen meine Haare, erwidert die Umarmung kurz und fest und tritt dann einen Schritt zurück. »Ich übe mich weiterhin in Zurückhaltung«, sagt Lelo und zieht mich am Handgelenk hinüber zum Schreibtisch. Ich seufze leidend auf und trete mir gedanklich in den Hintern. Reiß dich zusammen, Kim! »Was für einen Charakter möchtest du denn erstellen?«, erkundige ich mich und drücke Lelo auf meinen Schreibtischstuhl. »Was gibt es denn noch außer Echsenmenschen?«, will Lelo gespannt wissen, während ich ein neues Spiel lade. »Schau dir erstmal den Vorspann an, ich hole unterdessen einen Stuhl«, meine ich und eile aus dem Zimmer, entgehe einer neuerlichen Befragung meiner Eltern und haste mit dem Stuhl aus der Küche zurück in mein Zimmer. »Sind alle Leute weiß, die nicht Tiermenschen sind?«, erkundig Lelo sich, während er den Anfang des Spiels anschaut. »Nee, es gibt Rotwardonen, die haben dunkle Haut. Aber da in dem Land sind leider die meisten weiß und ziemlich rassistisch gegen alle anderen. Ist an Wikingerkulturen angelegt, soweit ich weiß«, erkläre ich und setze mich neben Lelo. »Dann möchte ich vielleicht so einen Rotwardonen-Charakter machen«, sagt Lelo und sieht tatsächlich ein wenig aufgeregt aus. Er ist der entzückendste Mensch, der jemals auf dieser Erde gewandelt ist. »Ich bin sicher, wen immer du auch bastelst, wird sehr, sehr badass aussehen«, gebe ich zurück und zeige Lelo, wie das Charaktererstellen funktioniert. Nachdem er sich alle Völker einmal angesehen hat, schaltet er zurück zu einer weiblichen Rotwardone und fängt an, mit unglaublicher Detailgenauigkeit die Gesichtszüge zu verändern. Ich bin voller Liebe und übermütiger Zuneigung. »Wenn das ginge, würde ich eine androgyne Rotwardone machen«, sagt Lelo, während er sich eine Frisur für seinen Charakter aussucht. Mein Herz macht angesichts dieser Erklärung einen freudigen Salto. »Ich muss dich eben küssen«, jauchze ich und Lelo sieht kurz verwirrt aus, aber da habe ich sein Gesicht schon in meine Hände genommen und ihn sehr enthusiastisch geküsst. Nach einem viel zu kurzen Moment löse ich den Kuss und schaue ihn peinlich verknallt und sehr schmachtend an. Lelo wird rot. »Wegen der androgynen Rotwardone?«, will er etwas heiser wissen. Ich nicke. »Wenn du sie dir androgyn vorstellen möchtest, kann sie ja auch mit weiblichen Grundeinstellungen androgyn sein«, sage ich und Lelo denkt darüber nach, dann nickt er und wendet sich wieder seiner Aufgabe zu. Am Ende hat er eine sehr schöne Figur mit Irokesenschnitt, Kriegsbemalung und Narben im Gesicht. Lelo nennt sie Samia und sieht zufrieden aus. »Und jetzt?« »Jetzt schauen wir sie uns mal in Aktion an!« Ich beobachte Lelos Gesicht interessiert, während er aus der Ego-Perspektive sieht, wie seine frisch erstellte Samia zum Schafott geführt wird. Er hat Augen groß wie Teller. »Werd ich gleich schon hingerichtet?«, fragt er entsetzt. »Nein, nein«, gebe ich lachend zurück und in dem Moment brüllt der Drache zum ersten Mal. Lelo macht einen kleinen Hüpfer auf dem Stuhl und ich drücke ihn seitlich an mich, weil ich ihn so niedlich finde. »Oh Gott! Drachen! Was muss ich machen?« Ich schiebe ihm die Maus hin und erkläre ihm kurz die Steuerung, dann darf ich voller blubbender Entzückung sehen, wie Lelo sehr hektisch und mit großem körperlichem Einsatz vorm Monitor Samia durch die herabfallenden Steine und das Drachenfeuer manövriert. Einmal ruft er »Woah!« und es wirkt, als würde er fast vom Stuhl fallen und ich lache neben ihm voller Schadenfreude und sekundärer Begeisterung. »Wir müssen von jetzt an eindeutig häufiger Skyrim spielen«, sage ich etwas atemlos vom Lachen und Lelo drückt die Menütaste, um sich ein wenig zu erholen. Er dreht mir den Kopf zu, die Wangen gerötet und mit einem erschöpften aber zufriedenen Gesichtsausdruck. »Ja, gerne. Überhaupt möchte ich gern alles mit dir ausprobieren, was du gerne machst«, sagt er. Mir fällt prompt das Lachen aus dem Gesicht in meinen Schoß, wo es sich schnurrend und verliebt zusammenrollt. »Ok«, krächze ich. Meine Gedanken rasen plötzlich. Lelo und ich haben noch gar nicht wirklich darüber geredet, ob das jetzt ein Ding ist. Mit uns. Es ist, als würde Lelo meine Gedanken lesen, denn er räuspert sich und spielt ein wenig verlegen mit dem Saum seines Shirts. »Also… auch wenn ich heute Morgen ein Dödel war und keine Ahnung hab, wie das alles am besten funktioniert und so… ich fände es schön, wenn wir… was Festes wären. Also… wenn wir das mal probieren könnten. Auch wenn ich noch nicht weiß, wie lange ich brauch für das alles und vielleicht viel falsch mache und hmpf–« »Ok«, murmele ich mehrmals zwischen Küssen und drücke mich so dicht gegen Lelo, wie es in unserer merkwürdigen Position – sitzend auf zwei unterschiedlichen Stühlen – geht. Das heißt, dass wir jetzt tatsächlich ein Paar sind. Ein monogames Pärchen. Zusammen. »Ok.« Kapitel 11: Bekanntmachung -------------------------- Hallo ihr Lieben! Tut mir Leid, dass es mit diesem Kapitel so lang gedauert hat. Das Leben und eine Schreibblockade sind leider dazwischen gekommen, aber ich bin sehr bemüht, diese elende Blockade loszuwerden. Hier ist also das nächste Kapitel und ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen! Liebe Grüße, Ur _______________________________ »Möchtest du meine FreundInnen kennen lernen?« »Sehr gerne!« »Wir treffen uns heute Abend und als ich von dir berichtet habe, wollten alle das Rollenspielen verschieben und stattdessen Mensch-ärgere-dich-nicht spielen, wenn du dafür auch kommst ;-)« »Mensch-ärgere-dich-nicht kann ich :-D« »Super! Du kannst gern schon vorher zu mir kommen. Die anderen kommen so gegen sieben.« »Klar! Bis gleich :-)« Ich hab Lelo heute Morgen vor der Schule noch nicht gesehen, deswegen flattert mein Herz jetzt ganz aufgeregt, als er »Bis gleich!« schreibt, weil ich natürlich hoffe, dass er nach dem gestrigen Desaster vielleicht in der großen Pause mit mir sprechen wird. Ich schreibe Manu in den letzten Minuten unserer Physikstunde einen Zettel und erkläre ihr, dass sich Pen and Paper für heute Abend wegen Lelos Besuch erledigt hat und sie verdreht amüsiert die Augen, nickt aber und malt mir ein paar bunte Herzchen auf meinen Block und schreibt »L + K« hinein. Die Tatsache, dass ich das niedlich finde, zeugt von meinem unzurechnungsfähigen Geisteszustand. Als es endlich zur Pause klingelt, verlasse ich mit hämmerndem Herzen und Manu an meiner Seite das Klassenzimmer in Richtung Pausenhalle. Ich werde mir ganz unverfänglich eine Cola vom Kiosk besorgen und mich dann auf eine der Bänke setzen. Mal sehen, was dann passiert. »Kann ich dich kurz sprechen?« Manu und ich sehen auf, als Pia vor der Bank stehen bleibt, auf der wir uns nieder gelassen haben. Pia schaut Manu an und ich nippe interessiert an meiner Cola während ich versuche Pia nicht mit den Augen zu verraten, dass ich weiß, dass Manu sie auf der queer kollektiv Party getroffen hat. Manu sieht verwirrt aus, nickt aber und steht auf, um mit Pia ein paar Schritte zur Seite zu gehen. »Seit wann tuscheln die beiden miteinander?« Ich zucke erschrocken zusammen und lasse beinahe meine Cola fallen, als ich Lelo direkt neben mir entdecke. Er lächelt mich an und setzt sich zögerlich zu mir auf die Bank. Ich brauche mich nicht in der Pausenhalle umzusehen, um zu wissen, dass ein riesiger Berg Augenpaare hier herüber schaut. Nicht nur Pia und Manu in Kombination, sondern auch noch Lelo und der gruselige Satansverehrer. Für viele geht womöglich grad die Welt unter. Ich strahle Lelo an und beobachte begeistert, wie er rot wird. »Ähm… seit Manu Pia vor Herrn Böckmann gerettet hat vielleicht?«, sage ich und muss es mir sehr verkneifen, Lelo von der Sache mit der Party zu erzählen. Er nickt verstehend scharrt nervös mit den Füßen auf dem Boden. »Ich hab letzte Nacht von Skyrim geträumt«, erzählt er mir schließlich und ich muss lachen. »Also war Skyrim spannender als ich«, gebe ich neckisch zurück. Lelo blinzelt kurz erschrocken und schüttelt dann heftig den Kopf. Ich hebe beschwichtigend die Arme. »Keine Sorge, ich hab nur Spaß gemacht«, sage ich und muss mich wirklich sehr zusammen reißen um nicht näher an Lelo heran zu rutschen oder nach seiner Hand zu greifen. »Was genau hast du denn geträumt?«, will ich wissen. Lelo grinst. »Tatsächlich hab ich geträumt, dass wir beide beim… wie war das Wort? Jarl? Bei dem waren wir eingeladen. Zum Essen. Und diese Frau, Lydia? Die hat sich an dich rangeschmissen und ich habe ihr gesagt, dass du schon vergeben bist und dann wollte sie mich zu einem Duell herausfordern, aber ich hatte gar keine Waffen dabei, sondern nur meinen Gebetsteppich«, erzählt Lelo schmunzelnd und ich muss lachen. »Ich bin sicher, du hättest einen Weg gefunden, mich und meine Ehre damit zu verteidigen«, antworte ich. Mein Herz fühlt sich an, als wäre es auf die doppelte Größe angeschwollen, so glücklich macht es mich hier mit Lelo zu sitzen und ganz normal zu quatschen. Ich bin ihm nicht peinlich. Wir sind ein Paar. Das weiß zwar sonst niemand, aber solange wir beide es wissen, ist es ja völlig ausreichend. Auch wenn ich natürlich absolut nichts dagegen hätte, ihn vor aller Welt abzuknutschen. »Ich bin ein bisschen aufgeregt wegen heute Abend«, gibt Lelo zu und er sieht richtig verlegen aus. Ich wedele mit den Händen. »Das versteh ich. Aber meine Leute sind alle super lieb!« Lelo lächelt mich an und sieht so zärtlich dabei aus, dass ich mir sicher bin, dass ich gleich krepieren muss vor lauter Verknalltheit. Das Kribbeln in meinem Bauch fühlt sich an, als hätte sich dort neuerdings eine Ameisenkolonie eingenistet. »Und… ich hab ein schlechtes Gewissen«, fügt Lelo murmelnd hinzu. »Wieso?« »Naja… Ich kenne schon deine Familie und heute Abend dann auch deine Freunde. Und ich eiere immer noch rum wie der letzte Dödel und trau mich überhaupt nichts.« Meine Hand ist schon auf halbem Weg zu Lelos, als ich sie doch zu meinen Haaren umleite und dort anfange nervös herum zu spielen. »Mach dir keinen Kopf drum. Wir haben doch gestern erst beschlossen, dass wir überhaupt ein… ein…«, ich senke meine Stimme zu einem Flüstern, »Paar sind.« Lelos Mundwinkel zucken und seine Augen leuchten. »Ich hab es nicht eilig, wirklich. Fühl dich bitte nicht unter Druck gesetzt wegen mir!« Lelo nickt dankbar und deutet dann fragend auf meine Cola. Ich reiche ihm die Flasche und er nimmt einen Schluck, ehe er sie mir zurückgibt. »Du bist sehr lieb. Und ich möchte dich eigentlich wirklich gern küssen«, murmelt Lelo und sein Blick ruht einen Moment lang auf meinem Mund. Mir wird ziemlich heiß und ich zwinge mich wieder einmal an Brot zu denken. »Wenn du heute Abend zeitig kommst, können wir das mit dem Küssen noch ausreichend praktizieren, bevor meine Leute antanzen«, krächze ich mit schmachtendem Unterton, der Lelo unmöglich entgehen kann. Er lacht und nickt. »Ich denke, ich kann so ab fünf kommen«, meint er und fährt sich durch die dunklen Locken. Mein Herz hüpft begeistert. »Dann haben wir zwei Stunden Zeit zum Rummachen, ich bin begeistert«, sage ich schelmisch und Lelo läuft erneut rot an und räuspert sich. »Gut. Ich freu mich auf nachher! Werd jetzt mal wieder rüber zu den anderen gehen. Manu sieht auch aus, als würde sie gern mit dir reden wollen«, erklärt Lelo und winkt Manu kurz zu, ehe er aufsteht und zurück zu seinen Freunden schlendert. Ich sehe ihm nach und mein Gesicht ist garantiert das eines hoffnungslos verliebten Dödels. Manu setzt sich neben mich und nimmt meine Cola ohne zu fragen. Ich werfe ihr einen fragenden Blick von der Seite zu. »Pia hat mich zu ihrer Geburtstagsparty eingeladen«, erklärt sie unumwunden und nibbelt an dem Plastikring herum, der sich am Verschluss der Flaschenöffnung befindet. »Du gehst nie auf Partys von Leuten aus dem Jahrgang, zu denen du eingeladen wirst«, erinnere ich sie. Manu nickt nachdenklich und ich kann nicht verhindern, dass mein Kinn herunterklappt und ich sie fassungslos anstarre. Sie grummelt und drückt mir ihre freie Hand ins Gesicht. Dann nimmt sie einen Schluck Cola. »Du willst da hingehen!« »Ich denke darüber nach.« »Allein das ist schon mehr, als jemals zuvor geschehen ist!« »Bitte übertreib nicht.« »Wittere ich da eine kleine, unerwartete Verbindung zwischen euch beiden?«, zwitschere ich mit klimpernden Wimpern und Manu muss gegen ihren Willen lachen und bufft mich mit der Schulter an. Dann gibt sie mir meine Cola zurück und betrachtet ihre ausgetretenen Boots. »Ich weiß nicht. Es wirkt ein bisschen so, als hätte sie gern Kontakt zu jemandem, der Bescheid weiß. Ich käme mir arschig vor, wenn ich sie hängen lasse. Sie ist eigentlich echt nicht übel«, sagt Manu schließlich und ich verkneife es mir sie daran zu erinnern, dass sie meine Zuneigung zu Lelo immer bescheuert fand. Vermutlich ist sie selber auch schon auf diesen Trichter gekommen. »Sie hat gesagt, dass ich dich mitbringen darf«, fügt Manu schmunzelnd hinzu. Ich schnaube. »Auf keinen Fall geh ich da hin! Am Ende verschwindet ihr beide in ihrem begehbaren Schuhschrank und macht da rum und ich steh allein da!« »Lelo kommt sicher auch.« »Der hat seine Freunde dabei und sicherlich keine Zeit für mich.« »Ja, ich weiß. Ich würd auch allein hingehen, denk ich. Ich muss ja nicht lange bleiben.« Ich mustere meine beste Freundin von der Seite. Manu ist grummelig und gegen fast alles und hat eine Schale aus Titan, aber innen drin ist sie ganz flauschig weich und hat ein riesiges Herz. Ich schraube meine Colaflasche zu und umarme sie von der Seite. Sie schnauft überrascht, aber dann lehnt sie sich an mich und grummelt leise vor sich hin. »Wer hätte gedacht, dass neben uns beiden Lelo und Pia die Quote von queeren Leuten in einem Jahrgang erfüllen?« »Ich sicher nicht. Aber jetzt ist es wie in all diesen Liebesfilmen, wo der unbeliebte Hauptcharakter den heißesten Menschen an der Schule abkriegt«, gebe ich breit grinsend zurück. Manu brummt nur und als es zum Ende der Pause klingelt, sehe ich, dass sie Pia nachschaut, die sich mit einigen Freundinnen zum Musikraum aufmacht. * Meine Eltern haben sich gnädigerweise aus dem Staub gemacht, damit meine Freunde und ich das Wohnzimmer in Beschlag nehmen können. Laura hilft mir in der Küche einen Berg Gemüse zu schnippeln und Dips anzurühren. Meine Freunde kommen immer gern zu mir, weil ich mir so viel Mühe gebe. »Lelo kommt gleich«, erkläre ich Laura beiläufig, während ich eine rote Paprika in Streifen schneide und die Streifen auf einen Teller häufe. Laura lacht leise. »Zwei Stunden, bevor die anderen kommen? Meinst du, er braucht noch mentale Vorbereitung?« Ich verkneife mir eine Erwiderung darüber, dass ich dringend Körperkontakt brauche, nachdem ich Lelo heute den ganzen Tag in der Schule gesehen habe und ihn nicht anfassen durfte und nehme von Laura den Quark entgegen, den sie mir reicht. »Bislang hat er alles gut verkraftet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er angesichts einer polyamorösen Beziehung oder eines transgender Menschen die Nerven verliert«, gebe ich zurück und fange an Zaziki anzurühren. Gerade, als ich geraspelte Gurke in die Schüssel werfen will, klingelt es. Ich lasse alles stehen und liegen und husche – verfolgt vom amüsierten Kichern meiner Schwester – zur Tür, um zu öffnen. Lelo trägt ein kariertes Hemd und sieht so gut darin aus, dass ich es ihm direkt vom Oberkörper reißen und mich auf ihn stürzen möchte, um seine Bauchmuskeln abzulecken. »Hey«, sagt er lächelnd und beugt sich zu mir herunter, um mir einen flüchtigen Kuss auf den Mund zu drücken. Meine Lippen kribbeln und ich könnte hier und jetzt ohnmächtig zusammenklappen. Wir sind ein Paar. Paare machen solche Dinge. Oh Gott. Ich werde Lelo in zwei Stunden als meinen festen Freund vorstellen. »Ich bin mit Laura grad noch dabei, Gemüse zu schnippeln«, erkläre und ich versuche nicht wie ein Betrunkener durch den Flur zu torkeln, auch wenn das mit meinen Wackelpuddingbeinen wirklich nicht einfach ist. »Ich mach den Rest fertig! Du kannst dich deinem Liebsten widmen!«, ruft Laura aus der Küche und ich laufe kurz zu ihr, drücke ihr einen Kuss auf die Wange, klaue ein Stück Mohrrübe und ziehe Lelo dann in mein Zimmer. Sobald die Tür hinter uns geschlossen ist, zieht Lelo mich in eine feste Umarmung und drückt seinen Mund auf meine Stirn, meine Wange, mein Haar, und seine Hände wandern unruhig über meinen Rücken. Mein ganzer Körper kribbelt. Heilige Scheiße. »Es ist sehr schwer dich in der Schule zu sehen und dich nicht anzufassen«, murmelt Lelo in der Nähe meines Ohrs und sein Atem verursacht eine Gänsehaut auf meinen Armen. Ich schlucke schwer. »Jetzt kannst du mich gern überall anfassen«, krächze ich und mein Herz hämmert wie eine Dampflok in meiner Brust. Lelo seufzt leise und es klingt ganz wunderbar hingerissen. Er drückt mich noch fester an sich und die Finger seiner rechten Hand vergraben sich in meinen Haaren. Und dann küsst er mich. Ich schmelze in die Umarmung, als wäre ich Butter in der Sonne und klammere mich an Lelo wie ein Ertrinkender auf hoher See. Ich bin sicher, dass Lelo mein pochendes Herz spürt, so dicht stehen wir beieinander. Als meine Knie von dem innigen Kuss nachgeben, hält Lelo mich fest und schaut mich mit schiefgelegtem Kopf und verhangenen Augen an. Ich schlucke. Wie kann man gleichzeitig so heiß sein und diesen niedlichen Hundeblick draufhaben? Es ist mir ein Rätsel. »Alles ok?«, fragt er und klingt ernsthaft besorgt. Ich lache zittrig. »Mehr als ok. Aber meine Knie fühlen sich an wie Wackelpudding«, erkläre ich ein wenig peinlich berührt und Lelos Wangen färben sich rot. Er lächelt verlegen. Von heiß auf entzückend in null Komma drei Sekunden. Fuck. »Dann solltest du dich vielleicht besser hinlegen.« Von entzückend zurück auf heiß in null Komma zwei Sekunden. Ich brauche dringend ein Beatmungsgerät. Lelo zieht mich zum Bett hinüber und gibt mir einen sanften Schubs, sodass ich nach hinten falle und mit einem leisen Ächzen auf der Matratze lande. Er krabbelt nach mir aufs Bett, sodass er nun auf allen Vieren über mir kniet und ich verfluche den Umstand, dass ich schon wieder meine enge schwarze Hose anhabe, weil Lelos Verhalten mir innerhalb kürzester Zeit eine gewaltige Latte beschert hat. Ups. Kims Ausdauer und Widerstand bei Lelo gleich null. Nicht, dass mich das besonders überraschen würde, aber peinlich und vor allem unbequem ist es trotzdem. Lelos Lippen pressen sich wieder auf meine und die Innigkeit, mit der sich seine Zunge gegen meine bewegt und wie schwer er atmet, sagt mir zumindest, dass es ihm ähnlich geht wie mir. Und, dass er mich heute in der Schule wirklich sehr vermisst haben muss. Gott sei Dank ist Lelo doch auch nur ein hormongesteuerter Teenager. Er drückt eins meiner Handgelenke aufs Bett, mit der anderen Hand fährt er durch meine Haare und dann schiebt er sich zwischen meine Beine und sein Unterkörper drückt sich gegen meine Erektion. Das Geräusch, das mir entfährt, ist alles andere als kontrolliert oder jugendfrei. Hier so unter Lelo festgepinnt zu sein macht mich unheimlich kribbelig. »Ich sollte das mit dem Outing wirklich schnell hinter mich bringen«, murmelt Lelo gegen meine Lippen. »Wieso?« »Damit ich dich auch in der Öffentlich anfassen kann. Oder mal bei dir übernachten…« Ich will gerade etwas erwidern, als Lelos Gesichtsausdruck sich plötzlich von ‚ausgesprochen erregt‘ hin zu ‚erregt und interessiert‘ hin verändert und dann greift er fest in meine offenen Haare und zieht. Ich schnappe nach Luft und meine Augen flattern zu. Sprechen ist völlig unnötig. Das leichte Brennen und Ziehen auf meiner Kopfhaut schießt blitzartig in meine Körpermitte und ich presse meinen Unterkörper verlangend gegen Lelos. Ich höre ihn zischend einatmen, aber er macht keine Anstalten sich zu rühren, was mir ein ziemlich erbärmliches Wimmern entlockt. Stattdessen zieht er erneut an meinen Haaren, diesmal sogar noch ein bisschen fester. Die Tatsache, dass ich weiß, dass er dabei mein Gesicht beobachtet, lässt meine Körpertemperatur um etwa fünf Grad ansteigen und ich versuche so gut es geht mich enger an Lelo zu drücken, aber sein Körpergewicht verhindert es, dass ich mich großartig bewegen kann. »Davon hab ich letzte Nacht auch geträumt«, nuschelt Lelo und drückt seinen Unterkörper gegen meinen. Und zieht noch mal an meinen Haaren. Ich beiße mir heftig auf die Unterlippe, um nicht laut aufzustöhnen, weil Laura hier schließlich immer noch durch die Wohnung tigert. Heilige Scheiße. Gestern noch war Lelo darauf bedacht, nicht zu weit mit unserem Rumgemache zu gehen, und jetzt verursacht er hier eine derartige Reizüberflutung, dass ich vermutlich jeden Moment meine Hose einsaue. Fuck, fuck, fuck. »Wenn du so weiter machst und nebenbei auch noch mit mir sprichst, komme ich gleich in meine Hose«, krächze ich. Lelo betrachtet mein Gesicht mit einer Mischung aus Interesse, Verlangen und Erstaunen. »Du findest es gut, wenn ich rede?« Ich lache etwas verzweifelt. »Deine Stimme ist ziemlich heiß. Und wenn sie versaute Sachen sagt, dann dreh ich wahrscheinlich durch«, gebe ich zu und fahre mit meiner freien Hand durch Lelos Locken. »Willst du wissen, was ich noch geträumt hab?«, erkundigt er sich mit einem Lächeln und die Wahrscheinlichkeit, dass meine Hose gleich explodiert, ist nicht klein. Ich wimmere nur zur Antwort. Lelo knabbert leicht an meinem Ohrläppchen, bevor er weiter redet. Sein Unterleib bewegt sich weiter gegen meinen, während er spricht, und ab und an zieht er an meinen Haaren. Die Hälfte meiner feuchten Träume hat sich gerade erfüllt. »Ich hab geträumt wir würden in der Sportumkleide rummachen. Und du hast genauso schöne Geräusche gemacht wie jetzt. Und du hast vor mir gekniet und…« Bilder fluten meinen Kopf und wenn diese Blowjob-auf-den-Knien-Sache nicht eine meiner häufigsten Wichsfantasien darstellt, will ich ab morgen Mönch werden. Scheiße. Lelo kommt nicht dazu weiterzureden. Mit einem erstickten Keuchen komme ich in meine Hose und bleibe schwer atmend unter Lelo liegen. Ausdauer? Was ist das? Kann man es essen? Ich jedenfalls besitze es nicht. Lelo schaut mich an wie das achte Weltwunder. »Hab ich zu doll gezogen?«, fragt er dann plötzlich ganz besorgt. Ich blinzele. »Huh?« Mein Gehirn ist noch nicht wirklich aufnahmefähig und Lelo befreit mein Handgelenk, sodass ich ihn umarmen und komplett auf mich herunterziehen kann. »Hab ich zu doll an den Haaren gezogen? Ich bin wirklich nicht sicher, wie man all diese Dinge richtig macht. Aber du wirktest recht angetan und ich–« »Alles war super«, nuschele ich erschöpft und voll von Post-Orgasmus-Glückshormonen. Ich vergrabe mein Gesicht an Lelos Halsbeuge und sauge seinen angenehmen Geruch ein. Die Tatsache, dass Lelo so unsicher bei all diesem Zeug ist und es gerade einfach probehalber versucht und so gekonnt durchgeführt hat, beeindruckt mich einerseits. Andererseits löst es wieder einen riesigen Berg an liebevollen Gefühlen in mir aus. Lelo ist ganz neu bei all diesem Kram. Selbst sowas wie an den Haaren ziehen ist für ihn vermutlich extremer als alles, was er vorher gemacht hat. »Ich glaub, du bist vielleicht ein Naturtalent«, sage ich. Meine Stimme klingt, als hätte ich jede Menge Alkohol konsumiert. So ist es meistens, wenn ich gekommen bin. Ups. Dann fange ich an zu zappeln. »Jetzt bist du überhaupt nicht… du weißt schon«, sage ich empört und peinlich berührt zugleich. Lelo lacht. »Das ist ok. Falls es dich beruhigt… viel länger hätte es bei mir auch nicht gedauert«, erklärt er mit hochroten Wangen. Ich verteile Küsse überall auf seinem Gesicht und versuche ihn von mir herunterzuschieben. »Ich kann–«, fange ich an, aber Lelo schüttelt nur schmunzelnd den Kopf. »Ich kann nicht in meiner Hose kommen! Du kriegst Besuch und ich hab nichts zum Wechseln dabei«, informiert er mich und landet mit einem leisen »Uff« neben mir auf dem Bett. »Du kannst die Hose gern ausziehen«, biete ich ihm an. Alter Schwede, hätte ich Bock drauf den Gefallen zu erwidern. Aber Lelo bleibt eisern. »Erzähl mir lieber von deinen Freunden, bevor sie hier ankommen.« Ich schnaube ungläubig und steige vom Bett. »Erstmal muss ich mein Dilemma beseitigen gehen. Ich bin gleich wieder da!« Mit frischer Unterwäsche, einer neuen Hose und einem dümmlichen Grinsen im Gesicht mache ich mich auf den Weg ins Bad. Es ist sogar alles noch besser als in meinen Träumen. Awesome! »Bist du sicher, dass ich dir damit nicht behilflich sein soll?«, erkundige ich mich, als ich zurück in mein Zimmer komme und feststelle, dass sich unter Lelos Hose immer noch eine ausgeprägte Erektion abzeichnet. Er kratzt sich verlegen am Hinterkopf. »Nein, schon ok.« Ich schüttele den Kopf und schmiege mich von der Seite an ihn, bevor ich anfange, von meinen Freunden zu berichten. »Kiki, Gerrit und Rosa sind zusammen.« »Zu dritt?« »Jup. Also, Kiki und Gerrit waren zuerst zusammen und dann haben sie sich beide in Rosa verguckt und beschlossen, dass sie das mal ausprobieren wollen und jetzt läuft es in der Dreierkombi schon über ein Jahr und funktioniert total gut. Die Drei mögen prinzipiell all die Dinge, die Manu und ich auch mögen, nur dass Rosa auch gern strickt, töpfert und backt. Kiki ist diejenige, die mir neben Laura beigebracht hat, mich anständig zu schminken. Sie will später soziale Arbeit studieren. Gerrit will Piercer werden. Und Rosa weiß nicht so richtig, was sie will, aber sie muss grad ohnehin eine Klasse wiederholen, also hat sie noch mehr Zeit, sich darüber Gedanken zu machen…« Lelo hört aufmerksam zu und ich weiß, dass er jedes Stückchen Information aufsaugen und behalten wird. Vielleicht muss ich ihn heiraten. * »Möchtest du auch von dem Zaziki?«, erkundigt Kiki sich strahlend bei Lelo. Ich beobachte zufrieden, wie meine Freunde Lelo genauso entzückend finden wie ich. Außerdem ist es das erste Mal, dass Manu und Lelo privat Zeit miteinander verbringen und sie hat sich direkt neben ihn gehockt und bietet ihm nun dauernd abwechselnd Kohlrabi und Salzstangen an. »Ähm, nein danke. Ich will morgen Abend mit meiner Familie in die Moschee, da ist Knoblauch heute nicht so cool«, erklärt Lelo verlegen und nimmt sich stattdessen den Kräuterdip ohne Knoblauch. »Man darf nicht nach Knoblauch riechen, wenn man in die Moschee geht?«, erkundigt sich Gerrit interessiert. »Es wird als unhöflich empfunden, wenn man eine total krasse Knoblauch- oder Zwiebelfahne hat und dann die anderen auf engem Raum beim Beten damit… naja… belästigt ist vielleicht ein zu hartes Wort… Aber es stört eben manche und beim Beten soll man sich anständig konzentrieren«, erklärt Lelo bereitwillig und Gerrit nickt verständnisvoll. »Kann ich tatsächlich ziemlich gut verstehen. Meine beiden Damen haben nichts gegen Knoblauch, aber ich krieg die Krise, wenn ich selber keinen gegessen hab und eine von ihnen eine Fahne hat«, gibt er zurück. Kiki streckt ihm die Zunge raus. Ich mustere die Leute, die hier mit mir zusammen im Wohnzimmer meiner Eltern sitzen. Laura und Manu, die sich zwischendurch mit Salzstangen bewerfen und in einem anderen Universum vielleicht ein Paar wären, wenn meine Schwester nicht so hetero wäre, Lelo in seinem karierten Hemd und mit einem Stück Kohlrabi im Mund, Kiki mit den langen, blonden Locken und dem perfekt sitzenden Lidstrich, Gerrit mit seinem Undercut und dem Commander Spock T-Shirt und Rosa mit ihren kurzen Stoppelhaaren und dem roten Mund und dem scheinbar selbstgestrickten Pullover, der ihr halb über eine Schulter hängt. Die Tatsache, dass ich Lelo als meinen Freund vorgestellt habe und jetzt all meine Lieblingsmenschen zusammen in einem Zimmer sitzen und sich total gut verstehen, bringt mein Herz dazu, auf die doppelte Größe anzuschwellen und sich schnurrend in meiner Brust zusammenzurollen. »So, wer hat Lust auf Mensch-ärgere-dich-nicht?«, fragt Rosa gut gelaunt. »Ich bin mit Manu in einem Team!«, ruft Laura und springt auf, um das Spielbrett zu holen. Lelo lächelt mich von der Seite an. »Bilden wir auch ein Team?«, fragt er leise und mit funkelnden Augen. Ich schlucke und strahle und Manu stöhnt angestrengt neben mir. »Ja, bitte!« Kapitel 12: Unternehmungen -------------------------- »Sollte ich mich irgendwann…bald hoffentlich vor meiner Familie outen… ist es dann eigentlich in Ordnung, wenn ich dich als Jungen vorstelle?« Lelo sieht so nervös und unsicher aus, dass ich ihn am liebsten in Watte packen und vor der Welt verstecken würde. Beruhigend tätschele ich ihm die dunklen Locken. »Klar! Kein Problem. Ich wünsche dir schließlich, dass das Coming Out so leicht wie möglich geht, da musst du ja nicht gleich noch die gender-Keule schwingen«, gebe ich zurück und lächele aufmunternd. Lelo sieht erleichtert und dankbar aus und drückt mir einen sachten Kuss auf die Stirn. Man könnte meinen, dass nach einem Monat Lelo-und-Kim-sind-jetzt-offiziell-geheim-ein-Paar-Situation meine Schmetterlinge oder mein hormongesteuertes Verhalten ein wenig nachgelassen hätten. Dem ist aber ganz und gar nicht so. Wenn überhaupt ist es noch mehr geworden. »Manche Menschen verstehen es auch einfach nicht, wenn man ihnen erklären will, dass man weder Mann noch Frau ist. Ich hab mal versucht es Tom klar zu machen. Aber in seinem Kopf ist dieses Mann-Frau-Muster total betoniert. Ein Hoch auf den Rest meiner Familie!«, sage ich und denke an Toms verwirrten Gesichtsausdruck. Als er mich zum ersten Mal im Kleid gesehen hat, dachte ich, er würde sich gleich übergeben. Das ist traurig, aber mittlerweile ist es mir auch eher egal. Er hat sich halbwegs daran gewöhnt, dass ich zu Hause oft geschminkt bin und gern Blumenkleider trage und dass vor allem Laura manchmal »sie« statt »er« sagt, wenn sie über mich redet, aber kapiert oder wirklich akzeptiert hat er es nicht. Und das wird auch sicherlich nicht passieren. »Ich denke, Sophia würde es verstehen«, sagt Lelo nachdenklich und blickt hoch zu meiner Zimmerdecke. Ich hab noch nie sein Zimmer gesehen und wir treffen uns eigentlich immer hier bei mir. Meine Familie hat Lelo voller Begeisterung adoptiert und manchmal fängt Laura Lelo ab und redet mit ihm über Architektur – ein Thema, über das Lelo überraschend viel weiß. Er lacht über die flachen Witze meines Vaters und macht meiner Mutter Komplimente für das vegetarische Essen, dass sie immer extra für ihn kocht, wenn sie weiß, dass er zum Essen bleibt. Lelo hat auch angeboten, mal für uns zu kochen. Etwas typisches aus dem Heimatland seiner Eltern. Alle waren begeistert und das Event ist für nächstes Wochenende geplant. Lelo schweigt sich eisern darüber aus, was er kochen will, auch wenn ich ihn noch so sehr piesacke. »Dann kannst du es ihr ja irgendwann mal in einer ruhigen Minute erklären«, gebe ich zurück. Lelo sitzt neben mir vor meinem Schreibtisch und hat gerade zum fünften Mal versucht, gegen Alduin den Weltenfresser und Oberbösewicht in Skyrim zu kämpfen. Es gelingt ihm nicht so richtig gut, weil er viel zu aufgeregt wird und die Maus so hektisch übers Mauspad reißt, dass Samia häufiger auf Luft einhackt, als auf den schwarzen Drachen. »Streitet sie sich eigentlich immer noch mit deinen Eltern? Über die Kopftuch-Sache?«, erkundige ich mich, während Lelo erneut die Maus ergreift und sich auf dem Stuhl vorbeugt, als könnte er so besser gegen Alduin antreten. Ich schmunzele amüsiert und mache mich auf ein neuerliches Spektakel gefasst. Es macht mir unheimlich viel Freude, Lelo beim Skyrim spielen zuzuschauen. Er ist wahnsinnig schreckhaft und kriegt jedes Mal einen halben Herzinfarkt, wenn er alte Gräber oder Höhlen betritt und die Särge an den Wänden plötzlich aufklappen und sich Draugr auf ihn stürzen. Es ist mir noch nicht langweilig geworden, ihn deswegen auszulachen. Lelo seufzt. »Ja, immer noch. Ich denke mal, dass sich das auch nicht ändern wird, bis Sophia ihren Willen hat.« Ich nicke. Lelo hat mir erklärt, dass Sophia ihren Eltern gesagt hat, dass sie gern Kopftuch tragen möchte. Aber ihre Eltern sind strikt dagegen, weil sie Angst haben, dass Sophia davon irgendwelche Nachteile haben könnte. Weil viele Deutsche ja nun mal leider nicht besonders freundlich auf muslimische Frauen und Mädchen mit Kopftuch reagieren. Aber Sophia lässt nicht locker. Ich weiß von Lelo, dass er beide Seiten versteht, aber eher Sophia unterstützt. »Ihre Freundinnen wissen schon alle davon und eine von ihnen trägt selber Kopftuch und hat in der Schule überhaupt keine Probleme deswegen. Das hat Sophia unseren Eltern auch schon gesagt. Und ich denke mir, wenn sie bereit ist, mit etwaigen blöden Kommentaren umzugehen, dann sollten sich meine Eltern sich damit abfinden. Aber vor allem mein Vater hat Angst, dass die Leute dann vielleicht denken, dass er Sophia dazu zwingt, das Kopftuch zu tragen. Alle reden dann immer von Unterdrückung und sowas«, murmelt Lelo resigniert und gibt einen erstickten Schreckenslaut von sich, als Alduin den Berg zum Zittern bringt und lauter Geröll auf ihn niedergeht. Man könnte meinen, dass er sich beim sechsten Mal an das Szenario gewöhnt hat, aber er ist immer noch total aufgeregt. Sobald er den Kampf überstanden hat, muss ich ihn erst einmal eine halbe Stunde lang knutschen. Mindestens. »Ja, die meisten Leute würden wahrscheinlich sowas denken. Ich hab ja auch noch nie gehört, dass es andersrum ist. Also, dass jungen Mädchen das Kopftuchtragen verboten wird. Man kennt halt leider nur die blöden Stereotype aus dem Fernsehen und alles…« Lelo nickt bedauernd. »Tobias hat mich mal total begeistert gefragt, ob ich denn eigentlich vorhätte, später sechs oder sieben Ehefrauen zu haben«, erklärt er mit finsterer Miene. Ich verdrehe die Augen. Nicht, dass ich irgendwas anderes von Tobias erwartet hätte, aber empörend ist es trotzdem. »Ich musste ihn dann erst mal über deutsche Gesetze bezüglich Heirat und Ehe aufklären und ihm sagen, dass diese Regelung im Islam aus einer Zeit kommt, in der es gesellschaftlich üblich war, dass der Mann arbeitet und die Frau nicht und dass es dann bei einer solchen Ehe darum ging, dass alle Frauen gleichermaßen wirtschaftlich abgesichert werden müssen. Mal ganz abgesehen davon, dass es maximal vier Frauen sein dürfen…« Ich hab in den letzten Wochen ausgesprochen viel über Lelos Religion gelernt. Er weiß, dass ich Angst habe, blöde Fragen zu stellen, deswegen redet er einfach von selber ganz viel drüber und hat mir schon gesagt, dass er das ziemlich gut findet, weil er seine Religiösität in der Schule doch eher unter der Decke hält. »Je weniger die Leute drüber nachdenken müssen, dass ich Moslem bin, desto weniger löchern sie mich mit ignoranten Fragen«, hat er gesagt. Ich weiß, dass Lelo versucht fünf Mal am Tag zu beten, dass es aber meistens nicht klappt und häufig auch nicht zu den korrekten Zeiten geht. Ich weiß, dass er einmal im Jahr fastet und natürlich kein Weihnachten feiert und dass er nach seinem Abi nach Mekka fahren möchte. Lelo schreit unterdrückt auf und fällt fast vor lauter Gezappel vom Stuhl, als Alduin sich endlich schwer verletzt aus dem Staub macht. »Geschafft!«, rufe ich und klopfe ihm begeistert auf den Rücken. »Aber er ist überhaupt nicht tot! Wo will er denn hin?« Ich muss lachen. Wenn mir vor ein paar Monaten jemand gesagt hätte, dass ich bald zusammen mit Lelo stundenlang in meinem Zimmer hocken und reden, knutschen und Skyrim spielen würde, dann hätte ich demjenigen Menschen einen Vogel gezeigt. Und jetzt fühlt es sich schon an wie das natürlichste auf der Welt. Am Anfang hab ich mir noch Sorgen gemacht, dass Lelo und ich vielleicht doch nicht auf einer Wellenlänge sein könnten, auch wenn das per SMS zwischen uns so gut geklappt hat. Aber tatsächlich haben wir als Kombination alle meine Erwartungen übertroffen. Selbst Manu hat mittlerweile zugegeben, dass wir »so süß« seien, dass sie »schon mindestens zehn Zuckerschocks« von uns bekommen hätte, aber sie und Lelo verstehen sich auch überraschend gut, auch wenn Manu am Anfang sehr zurückhaltend war. Doch selbst sie kann sich Lelos strahlendem Lächeln und seinen Charme nicht entziehen. Gut zu wissen. Lelo hat sich auch mit Chewbacca angefreundet und manchmal sitzt Chewbacca sehr zufrieden in einer der Taschen von Lelos Kapuzenpullis und rollt sich dort zusammen. Ich bin zugegebenermaßen sehr aufgeregt angesichts der Tatsache, irgendwann mal Lelos Hund – und natürlich seine Familie – kennen zu lernen. Wenn Tiere einen nicht mögen, ist das ein schlechtes Zeichen. Lelo feiert seinen halben Sieg über Alduin mit einem entzückendem Gewackel und ich setze mein Vorhaben in die Tat um, ihn jetzt erst einmal sehr ausgiebig zu küssen. * Seit Manu auf Pias Geburtstagsparty war, mache ich mir einen Spaß daraus, ihr tiefe Gefühle für Pia anzudichten. Ab und an reagiert sie so grummelig und schweigsam darauf, dass ich mir fast schon nicht mehr sicher bin, ob es überhaupt noch Witze sind. Fest steht jedenfalls, dass die beiden sich nach der Party noch mindestens zwei Mal privat getroffen haben – soweit ich weiß. Es könnte durchaus sein, dass Manu wegen all meiner Späßchen nicht mehr davon reden will, dass sie sich eigentlich öfter mit Pia trifft. Allerdings muss sie das jetzt aushalten, sie hat mich mit Lelo auch ungefähr siebenhundert Mal aufgezogen. Ich sitze mit Manu in der Pausenhalle und wir unterhalten uns gerade über die letzte Rollenspielrunde, als Lelo sich neben uns niederlässt und uns Kekse anbietet. Er macht das mittlerweile fast jeden Tag in der Schule. Also, nicht das mit den Keksen, sondern dass er sich zu mir und Manu setzt. Und ich hab das Gefühl, dass sich die meisten aus dem Jahrgang mittlerweile dran gewöhnt haben. Vielleicht bilde ich es mir ja ein, aber die Blicke der anderen sind womöglich sogar ein bisschen weniger feindselig geworden. Wahrscheinlich bade ich in Lelos Licht, das meine hühnerbluttrinkende Satanistenaura tilgt. »Wie steht ihr zu Bowling?«, erkundigt sich Lelo, während er an einem Keks knabbert. Manu runzelt die Stirn. »Geht so. Ich bin besser als Kim«, sagt sie. Ich buffe sie empört. »Jeder ist besser als ich. Tu nicht so, als wäre das irgendwie großartig!« »Jedenfalls gibt es Schlimmeres als Bowling«, würgt Manu mich ab und nimmt sich noch einen Keks. Einige der Mädchen aus Lelos Clique sehen beinahe ehrfürchtig zu ihr hinüber. Ich weiß immer noch nicht, wie Manu es schafft, als schwarzes Schaf supercool rüberzukommen, wohingegen ich einfach nur die Ausstrahlung eines Mückenschwarms habe. »Wieso?« Lelo zögert einen Moment und zieht die Schultern hoch. Ich verschlinge die Hände im Schoß, damit ich nicht auf die Idee komme, seine Finger zu ergreifen. »Ich und ein paar Leute wollen heute Abend bowlen gehen. Ich dachte, ihr wollt vielleicht mitkommen?« Meine Augen werden rund wie Teller und Manus Augenbrauen wandern so weit nach oben, dass sie beinahe unter ihrem schrägen Pony verschwinden. »Wer sind denn diese paar Leute?«, will Manu wissen und ich verschlucke mich beinahe an meiner eigenen Spucke, so überrascht bin ich darüber, dass Manu nicht sofort »Nein!« ruft. »Lily, Hanna, Rahel, Simon, Niklas… Pia…« Eine Pause tritt ein, während ich verwirrt und grübelnd zwischen Lelo und Manu hin und her schaue. Die Pause, die Lelo vor Pias eingelegt hat und die Tatsache, dass Manu einen Blick hinüber zu Pia wirft, die mit Lily und Rahel ein paar Meter entfernt steht und heiße Schokolade trinkt, bringt mich auf die Idee, später noch mal in aller Ruhe mit Manu über Pia zu sprechen. Ich öffne gerade den Mund, um zu verkünden, dass die Auswahl der Leute nicht allzu schrecklich klingt – mal abgesehen von Niklas, den man ja aber hoffentlich gut genug ignorieren kann, wenn noch andere Menschen mit dabei sind – als Manu sagt: »Ok, von mir aus.« Ich blinzele und erstarre in meiner Bewegung, mit der ich mir mein letztes Stück Keks in den Mund schieben wollte. »Einfach so? Ok?«, erwidere ich verwirrt. Lelo grinst. Er weiß, dass ich nicht nein sagen werde, wenn Manu auch mitgeht. Manu zuckt mit den Schultern und fängt an an ihren Schnürsenkeln herumzufummeln. »Super! Wir treffen uns um sieben am Theater. Ich freu mich« Es ist kaum mehr als ein Hauch, aber Lelos Finger streifen kurz meinen Arm, als er aufsteht und ein Kribbeln huscht durch meinen Körper, während ich ihm nachsehe. Er reiht sich zurück in den Kreis seiner Freunde und bietet auch ihnen Kekse an. Ich starre Manu an. »Ok, raus damit. Was ist da los bei dir und Pia?«, will ich wissen. Manu schnaubt und sieht aus, als würde sie sich winden. »Nichts. Also… keine Ahnung. Sie ist nett«, sagt Manu etwas matt und nun ist es an mir zu schnauben. »Nett? Seit wann ist das ein Wort in deinem Vokabular?« Manu haut mir auf den Oberschenkel und ich muss lachen. »Vorsicht! Kein Spanking in der Öffentlichkeit!« Jetzt lacht Manu auch und lehnt sich seufzend nach hinten gegen die Wand. »Ich weiß auch nicht so richtig. Sie fragt immer mal wieder, ob ich Zeit habe und ich sage meistens ab und jetzt wirkt es so, als hätte sie dieses Bowling und Lelo vorgeschoben, und ich dachte… naja. So hab ich mal wieder zugesagt. Indirekt«, erklärt sie und klingt, als wäre sie von sich selbst genervt. »Wieso sagst du sonst nicht zu?«, will ich wissen, auch wenn ich die Antwort eigentlich schon kenne. »Wer weiß, wo das hin führt. Keine Ahnung. Wahrscheinlich, weil ich Schiss hab. Am Ende machen wir vielleicht rum und dann bin ich ihr geheimes Rummachdate. Da hab ich keinen Bock drauf. Und damit ich gar nicht erst in Versuchung komme, sag ich lieber gleich ab.« Ich nicke. »So schrecklich ist es gar nicht, dass geheime Rummachdate zu sein«, erkläre ich beschwichtigend. Manu prustet. Sie klingt halb amüsiert und halb empört. »Das sagst du nur, weil bei dir ein Ende in Sicht ist. Mit Pias Eltern wird das wohl kaum der Fall sein. Und ich weiß nicht… Ich glaub Beziehungskisten sind nicht so mein Ding.« Ich schweige nachdenklich und drücke Manus Hand, als es zum Ende der Pause klingelt und wir in Richtung Physikraum gehen. Ich bin sehr gespannt, was das Bowling heute Abend bringen wird. * Ich bin unheimlich nervös und sehr bemüht, mir das nicht anmerken zu lassen. Lelo scheint noch mehr zu leuchten als sonst und er sieht in seinem dunkelroten Hemd viel zu umwerfend aus, als dass ich groß verschleiern könnte, wie ich ihn innerlich – und hoffentlich nicht äußerlich – ansabbere. Zu meiner allergrößten Überraschung hat auch Manu sich ausgesprochen viel Mühe mit sich gegeben. Sie hat ihre ausgeblichenen Haare neu gefärbt, sodass sie nun wieder in sattem, dunklem Lila erstrahlen. Sie trägt ausnahmsweise einmal Make-Up und ihr perfekter Lidstrich lässt mich vor Neid ziemlich erblassen. Immerhin hat sie dieselben ausgetretenen Boots an wie immer und trägt dazu eine ziemlich weite schwarze Hose mit Taschen an den Seiten und wie Lelo ein Hemd. Allerdings ist ihres schwarz und nicht rot. Mittlerweile bin ich mir sicher, keine Gespenster mehr zu sehen. Pias Augen ruhen eher häufiger als selten auf Manu und so sehr Manu auch bemüht ist so lässig wie immer zu wirken, scheint sie mir doch besonders bewusst mit sich selbst umzugehen, als würde sie auf keinen Fall irgendwas Blödes machen wollen. Ich kann mich kaum darauf konzentrieren Lelo anzuschmachten, weil Pia und Manu mich so irritieren. Die Bowlingbahn ist ein ziemlich lärmender und bunter Ort. Ich war erst zweimal in meinem Leben hier und habe beide Male feststellen müssen, dass Bowling nicht zu meinen sportlichen Talenten zählt. Wundert mich nicht, da Bälle involviert sind. Nunja, Kugeln. Manu ist entgegen ihrer sonstigen Unsportlichkeit ziemlich gut im Bowlen. Als es daran geht, Teams zu bilden, geht mein Blick automatisch zu Manu, doch ehe ich es mich versehe, hat Pia sich neben Manu gestellt und lächelt sie fragend an. Mir fällt fast die Kinnlade auf die Brust, als Manu rot wird. Meine beste Freundin. Rot im Gesicht, weil jemand sie anlächelt. »Ok«, brummt sie schließlich und verschränkt die Arme. Ich sehe mich schon mit Niklas zusammen in einer Gruppe und gerate leicht in Panik, aber da spüre ich eine Hand auf meiner Schulter und sehe zu Lelo auf, der mich von oben herab anschmunzelt. »Na? Bereit alle anderen über den Haufen zu bowlen?«, fragt er verschmitzt und seine Augen funkeln. Mein Körper kribbelt angesichts der Berührung und ich merke, wie die anderen Blicke tauschen. »Ich fürchte, für dieses Vorhaben hast du dir den falschen Menschen ausgesucht«, krächze ich in einem vergebenen Versuch lässig zu klingen. Lily, Hanna und Rahel bilden ein Dreierteam. Die Drei sind überraschenderweise sehr nett und sogar Simon hat vorhin einen Witz gemacht, über den ich lachen musste. Niklas finde ich auch weiterhin blöd, aber bislang ist er nicht allzu negativ aufgefallen – einmal abgesehen von einem ausgesprochen lauten und ekligen Rülpser, den viele Männer zum Brüllen gefunden hätten. Männer sind meistens sehr komisch. Ich bin im Stillen froh, dass ich nicht zu ihrem Club gehöre. Während das Team um Lily den Anfang macht, mustere ich Pia möglichst unauffällig von der Seite. Ihre blonden, dünnen Haare sind kinnlang und sie hat riesige, braune Rehaugen mit Wimpern, aus denen man wahrscheinlich ein Kinderkleidungsstück weben könnte, so lang sind sie. Vor drei Jahren hatte sie noch eine Zahnspange, aber mittlerweile ist davon nichts mehr übrig. Allerdings hat die Spange ihre Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen nicht ganz tilgen können. Ihre kleine Nase ist voller Sommersprossen und wenn sie lächelt, hat sie auf der linken Seite ein Grübchen. Ich kann Manu nicht verübeln, dass sie ganz hibbelig wird, wenn Pia sich ihr nähert. Sie ist wirklich sehr hübsch und das grüne Kleid mit dem doch recht tiefen Ausschnitt bringt mich ein wenig ins Schwitzen, wenn ich zu lange hinsehe. Brüste sind einfach super. Es gibt genug Tage, an denen ich selbst gern welche hätte. Lily, Rahel und Hanna sind super im Bowlen. Ich beobachte mit offenem Mund, wie ein Wurf nach dem anderen ins Schwarze trifft und die Kegel über den Haufen schmeißt. Lelo sitzt auf der Sitzbank vor der Bowlingbahn neben mir und es sind quälende zwei Zentimeter Platz zwischen uns. Verdammter Dreckmist. »Sag mal, Kim«, richtet Pia plötzlich das Wort an mich und ich zucke unweigerlich leicht zusammen. Normalerweise reden Leute außer Manu – und manchmal Lelo – nicht wirklich mit mir. »Manu hat erzählt, dass du Skyrim spielst.« Ich spüre von innen, wie mein Gesicht aufleuchtet. »Ja, stimmt. Du etwa auch?« Pia grinst und nickt und Manu verdreht schmunzelnd die Augen, während Pia und ich darüber philosophieren, in welcher Stadt in Skyrim wir am liebsten wohnen würden und was für Charaktere wir spielen. Ich bin unheimlich überrascht, als Pia mir verkündet, dass sie eine Orkfrau spielt. Ich hatte sie mir eher als den Waldelfen-Typen vorgestellt. Dann wiederum hätte ich überhaupt nicht gedacht, dass sie Computerspiele spielt. Ich merke, dass Lelo sehr gerne in die Unterhaltung einsteigen würde, aber vermutlich denkt er, dass er dann zugeben müsste, sich mit mir privat getroffen zu haben. Ich muss mit aller Macht meine Hand davon abhalten, sich auf seinen Oberschenkel zu legen. Niklas macht einen dummen Witz darüber, dass Frauen nicht gut darin sind, Computerspiele zu spielen. Ich öffne schon säuerlich den Mund, um ihn darauf hinzuweisen, dass er ein sexistischer Bastard ist, als Pia und Manu ihn gleichzeitig niederreden. Lelo wirft mir einen entschuldigenden Blick zu und ich verdrehe die Augen. »Lelo, Kim, ihr seid dran!«, verkündet Hanna in diesem Moment und Lelo steht hastig auf. Ich folge ihm nach vorne zur Bahn und überlasse Manu und Pia das Schlachtfeld. Ich verbocke den ersten Wurf total und seufze niedergeschlagen und peinlich berührt, weil ich die Blicke der anderen auf mir spüre und mich hier total zum Horst mache. Lelo mustert mich kurz von der Seite, dann greift er nach einer neuen Kugel und – heilige Scheiße – zeigt mir, wie ich sie am besten halten sollte. Und dann tritt er ganz nah von hinten an mich heran und ich kann sein Parfüm riechen und seine Körperwärme spüren und ein kleines bisschen erahnen, wie seine muskulöse Brust fast gegen meinen Rücken drückt… »Stell den Fuß noch ein bisschen weiter nach vorn«, sagt Lelo und er ist so dicht an mir dran, dass sein Atem mein Ohr streift. Mir wird unglaublich heiß und ich stelle erschrocken fest, dass hinter uns die angeregte Sexismusdiskussion verstummt ist. Der Grund dafür sind ohne Zweifel Lelo und ich. Shit, shit, shit! Was hat Lelo sich dabei gedacht? Ich schlucke schwer und atme tief ein und aus. »Mach ich dich nervös?«, flüstert Lelo und ich kann das Grinsen in seiner Stimme hören, auch wenn ich sein Gesicht nicht sehen kann. Die Kugel, die an drei meiner Finger baumelt, fühlt sich tonnenschwer an und ich möchte sie gern wegwerfen und mich auf meinen Freund stürzen, um ihn abzuknutschen. Er ist so gemein. Fuck! »Allerdings«, sage ich und meine Stimme klingt wie Schmirgelpapier. »Das freut mich zu hören«, gibt Lelo zurück und greift nach meinem Handgelenk, um meinen nächsten Wurf zu führen. Ich sterbe. Jeden Augenblick muss es soweit sein. Wer hat gesagt, ich wäre bereit für ein Outing? Die Vorstellung, dass Lelo mir in der Öffentlichkeit immer so nahe kommt, bringt mich beinahe ins Grab. Die Kugel gleitet von meinen Fingern auf die Bahn. »Die beiden sehen schon ziemlich schwul zusammen aus, oder?«, höre ich Niklas‘ Stimme hinter uns. Die Kugel trifft und alle Kegel fallen um. Kapitel 13: Outings - die Zweite -------------------------------- Das Kapitel war sehr schwer zu schreiben und ich bin mir ziemlich sicher, dass das das Persönlichste ist, was ich je in einer meiner Geschichten geschrieben hab. Ich bin ziemlich aufgeregt und musste beim Schreiben mehrere Pausen einlegen. Ich wünsche allen, die es gefeiert haben, nachträglich frohe Weihnachten und euch allen einen guten Rutsch ins neue Jahr und viel Spaß beim Lesen! ____________________________________________ Ich spüre, wie Kikis Finger sachte durch meine schwarzen Haare fahren und sie sorgfältig sortieren, während sie leise vor sich hin summt. Ich kaue schon seit gut fünf Minuten auf meiner Unterlippe herum und denke darüber nach, wie ich das, was mir unter den Nägeln brennt, am besten ansprechen könnte. »Spuck es schon aus«, sagt Kiki hinter mir und ich zucke ein wenig zusammen. »Was meinst du?«, frage ich und fühle, wie sie mit geschickten Handgriffen einen Teil meiner Haare flechtet und dann an meinem Kopf feststeckt. »Ich sehe förmlich durch deinen Hinterkopf, dass du deine Unterlippe gleich durchgekaut hast. Damit du deinen entzückenden Freund auch weiterhin unbeschadet küssen kannst, solltest du jetzt damit aufhören und dich mir mitteilen«, sagt sie streng und ich grummele leise vor mich hin. »Na schön«, murmele ich und lasse meinen Kopf gehorsam nach vorne sinken, als Kiki leicht mit zwei Fingern gegen meinen Hinterkopf drückt. Ich merke, wie weitere Spangen in meine Haare geschoben werden. »Ich möchte mich eigentlich gern outen. In der Schule. Normalerweise würde ich ja mit meinen engsten Freunden anfangen, aber ich hab in der Schule nur Manu und Lelo und die wissen beide schon Bescheid. Also muss ich die volle Breitseite raushängen lassen. Aber ich will eigentlich auch niemandem von diesen Armleuchtern erklären, was genderfluid bedeutet. Aber wissen sollen sie es trotzdem. Eigentlich möchte ich alles auf einmal«, erkläre ich umständlich und hebe den Kopf wieder nach oben. Der nächste Teil meiner Haare wird rasch geflochten und festgesteckt. »Das geht nicht, fürchte ich«, sagt Kiki schlicht. Ich seufze und spüre, wie mein Magen ein Stück nach unten sackt. »Sich zu outen ist nicht ein großes Event, das man hinter sich bringt. Man outet sich sein ganzes Leben lang. Es gibt immer Leute, die mir blöde Fragen stellen. Für dich ist es vermutlich sogar noch schwieriger als für mich. Die meisten Leute haben schon mal davon gehört, dass ‚Menschen im falschen Körper geboren wurden‘, aber von nicht-binären Geschlechtern? Da hat ja leider kein Schwein eine Ahnung.« Ich schweige und spiele nachdenklich mit meinen Fingern herum. »Ich brauche bei den meisten Menschen auch gar nicht damit anfangen, dass ich mich nicht im falschen Körper geboren fühle. ‘Ne Frau mit Penis gibt’s nicht für die, wenn man trans ist, dann muss man in deren Augen auch automatisch das für sie passende Genital haben wollen. Ich bin ziemlich dankbar, dass ich so feminin aussehe, die meisten Menschen merken nichts davon. Ich will dich ja nicht davon abhalten, dich zu outen, aber ich glaube, du stellst es dir unkomplizierter vor, als es ist. Man ruft ja nicht einmal ‚Hier bin ich!‘ und dann ist alles erledigt. Du kannst im Kleid zur Schule gehen und alle halten dich für einen komischen Vogel. Oder sie denken, du bist transsexuell. Und dann fangen sie an dich über deine Genitalien auszufragen und die Hölle bricht los und jeder hat irgendeine Meinung zu dir. Es gibt auch Arschlöcher, die werden einfach deine Existenz verleugnen. Die sagen dir eiskalt ‚Du bist ein Kerl, weil du einen Schwanz hast, und es ist mir scheißegal, wie du dich fühlst, wenn ich dich als Mann bezeichne‘. Ich find’s toll, dass das alles mit dir und deiner Familie und Lelo und Manu so gut geklappt hat, aber in der Schule wird das vermutlich nicht so laufen. Und wenn du sagst, dass du genderfluid bist, gibt es vielleicht einen Menschen von hundert, der nach Hause geht und das googelt und sich informiert. Die anderen 99 verlangen von dir, dass du es ihnen ausführlich erklärst, statt sich selber hinzusetzen. Ich hab die ganze Scheiße schon mehrmals durchgemacht, das weißt du ja auch. Erst mit meiner trans Identität, dann mit meiner Bisexualität und dann kam auch noch die poly-Beziehung dazu…« Ein paar letzte Klemmen werden in meine Haare gesteckt und dann dreht Kiki mich zu sich herum und sieht mich prüfend von vorne an. Sie richtet hier und da ein paar der Strähnen und lächelt mich dann schief an. »Fertig«, verkündet sie und ich weiß nicht, ob sie meine Frisur oder ihre Erklärungen meint. Ich stehe von meinem Bett auf und stelle mich vor den Spiegel. Die Hochsteckfrisur, die sie mir gemacht hat, sieht toll aus. Ich starre mich selber an und denke darüber nach, was sie gesagt hat. Theoretisch ist mir das alles klar, aber ich merke, wie ein sturer Teil in meinem Kopf weiterhin will, dass es so einfach geht, wie ich es mir wünsche. Dass ich einfach mit so einer Frisur und einem meiner Blümchenkleider in die Schule gehe und die meisten sich denken »Oh, Kim ist also doch kein Junge«. Kiki stellt sich hinter mich. Sie ist ein wenig größer als ich und legt ihr Kinn auf meiner linken Schulter ab. »Ich wünschte, es wäre anders. Aber es wird scheiße sein. Irgendwer wird immer scheiße sein. Ich bin da, wenn du jemanden brauchst, um über all den Mist zu fluchen oder zu weinen«, sagt sie leise. Ich schlucke und nicke. Manu ist meine beste Freundin, aber was mein Geschlecht angeht, versteht Kiki mich einfach besser. Weil wir beide im selben Boot sitzen. Oder zumindest in einem ähnlichen Boot. »Niklas und Jan werden sicher besonders scheiße sein«, sage ich bemüht scherzhaft, aber ich höre selber, dass meine Stimme kratzig ist. Kiki drückt mich noch ein bisschen fester, während wir uns weiter im Spiegel anschauen, als könnten wir so die Welt dazu zwingen, uns durch unsere Augen zu sehen. »Ist Niklas der Kerl, der Lelo und dich schwul genannt hat, beim Bowling?« Ich nicke und schnaube. »Ja, wahrscheinlich. Klingt nicht besonders nett. Und dieser Jan ist der Kerl, der jedes Mal geistig seinen Hintern festhält, wenn du vorbei gehst?« »Wie Dudley Dursley«, bestätige ich. Kiki kichert leise und tritt einen Schritt zurück. »Wenn du willst, schminke ich dich auch noch. Wir können ein paar Fotos zusammen machen«, sagt sie liebevoll und ich strahle sie mit funkelnden Augen an. Für den Moment schiebe ich die Gedanken an mein bevorstehendes Coming Out beiseite und werfe mich aufs Bett, um mich von Kiki in ein künstlerisches Meisterwerk verwandeln zu lassen. * Als ich am folgenden Montag aufwache, ist es noch finstere Nacht draußen und mein Herz hämmert, als hätte es sich schon im Schlaf darauf vorbereitet, was heute auf mich zukommt. Nicht, dass ich das tun muss. Ich könnte mein Abi fertig machen und als Kim-der-komische-Kerl zur Schule gehen, bis ich all diese Armleuchter nicht mehr sehen muss. Aber es fühlt sich falsch und bedrückend an, einen großen Teil meiner Identität in dieser Wohnung zu verstecken und nur manchmal nachts heimlich rauszugehen, wenn eine entsprechende Party stattfindet. Ich horche in mich hinein. Vielleicht ist heute auch gar kein Tag zum Femininsein. Vielleicht sollte ich einfach langsam anfangen. Montags Wimperntusche und ein bisschen Lippenstift, dienstags eine schöne Frisur dazu, mittwochs ein buntes, enges Oberteil… »Scheiß drauf, Kim«, flüstere ich in die Dunkelheit, um mich selbst zu ermutigen und ich schwinge die Beine aus dem Bett. So schnell bin ich nach dem Aufwachen schon lange nicht mehr aufgestanden. Ich knipse das Licht an und blinzele gegen die plötzliche Helligkeit. Verschlafen starre ich in den Spiegel. »Guten Morgen«, sage ich zu meinem Spiegelbild. Der Rest meiner Familie schläft noch und als ich einen Blick auf meinen Wecker auf dem Nachtschrank werfe, stelle ich fest, dass es erst viertel nach fünf ist. Da ich aber ohnehin nicht mehr hätte schlafen können, lasse ich das Licht an. Ich husche durch den dunklen Flur und unter die Dusche und starre an meinem Körper herunter, während mir heißes Wasser darüber strömt. Unweigerlich muss ich daran denken, was Kiki gesagt hat. Eine Frau mit Penis gibt es für die meisten Leute nicht. Aber das hier ist eindeutig nicht der Körper eines Mannes, wenn ich ihn mir anschaue. Es ist mein Körper und ich bin kein Mann. Also ist dieser Körper auch nicht männlich. Außer an manchen Tagen, wenn zufällig einmal alles zusammen passt. Ich seufze und hebe den Blick. Vielleicht ist heute nicht der richtige Tag. Dann wiederum wird es – wie ich eigentlich ganz genau weiß – niemals einen perfekten Tag geben. Ich bleibe eine Viertelstunde unter dem heißen Wasser stehen, bevor ich zu Duschgel und Shampoo greife und mir anschließend fein säuberlich die Beine und das Gesicht rasiere und die Haare unter meinen Armen entferne. Wenn schon, denn schon. Und da ich ohnehin so früh wach bin, kann ich die übrige Zeit auch nutzen. Niemand wird meine Beine heute sehen, aber was macht das schon. Es ist für mich. Was wird Lelo sagen? Wird er überhaupt irgendwas sagen? Nach unserem Bowling-Abenteuer dachte ich eigentlich, dass sich in der Schule vielleicht auch etwas an seinem Verhalten ändern würde, aber wir sind weiterhin strikt platonisch miteinander, wenn wir in der Öffentlichkeit sind. Ich eile zurück in mein Zimmer und fange an, mein Outfit für den heutigen Tag auszuwählen. Eigentlich ist es zu kalt für eins meiner Sommerkleider, aber ich will unbedingt eines davon anziehen und so stecke ich meine frisch rasierten Beine in zwei Strumpfhosen übereinander, damit ich nicht friere. An manchen Tagen wünsche ich mir Brüste, aber heute ist alles in Ordnung mit mir und meinem Körper. Eine Tatsache, für die ich sehr dankbar bin. In meinem ohnehin schon so nervösen Zustand hätte ich mich nicht auch noch mit Dysphorie herumschlagen wollen. Ich hab mal ein ziemlich cooles Tutorial auf Youtube gesehen, wie man sich auch mit flacher Brust ein anständiges Dekolleté binden kann, aber dafür hab ich nicht die richtige Ausrüstung hier und leider Gottes ist dieses ganze Gebinde – ob man sich nun Brüste wegbindet oder welche dazu bindet, wo sie eigentlich nicht sind – ziemlich ungesund. Also hebe ich mir das eher für einen schlimmen Tag auf. Während ich meine nassen Haare kämme und anfange, mein Makeup aufzutragen, summe ich leise »My songs know what you did in the dark« vor mich hin und frage mich, ob ich Lelo eine SMS schreiben soll, um ihn sozusagen vorzuwarnen. Aber dann denke ich mir, dass das heute ganz allein meine Sache ist und ich niemandem eine Erklärung schulde. Als meine Eltern aufstehen, bin ich bereits komplett fertig und sie sehen beide kurz überrascht aus, weil sie mich noch nie vor der Schule so fertig gemacht gesehen haben. Dann grinst mein Vater mir zu. »Meine Töchter sind schon zwei Granaten«, sagt er und ich fange beinahe an zu heulen, so aufgeregt bin ich. »Sag Manu, sie soll jedem einen Kinnhaken verpassen, der blöd schaut«, flüstert meine Mama mir zu, als sie mich umarmt und ich blinzele heftig. Wenn ich jetzt anfange zu weinen, dann verschmiert mein sorgfältig aufgetragenes Augenmakeup! Laura pfeift, als sie in die Küche kommt und mich sieht, und ich wünsche mir beinahe, dass sie mit mir mitgehen könnte. Manu links und Laura rechts an meiner Hand würden mich sehr beruhigen. Mit den beiden ist man vorm Rest der Welt sicher. Ich schwöre, ich bin noch nie so langsam zur Schule gegangen. Ich habe meine schwarzen Boots an, da ich hohe Schuhe für einen ganzen Schultag doch zu anstrengend finde. Meine rote Strumpfhose passt farblich zu dem geblümten Kleid, das jetzt unter meiner Winterjacke und einem dicken Schal halb versteckt war. Für jeden, der mich nicht kennt, sehe ich aus wie ein Mädchen. Ein Hoch auf meine herzlich wenig maskulinen Gesichtszüge und meinen mickrigen Bartwuchs. Als das Schulgebäude vor mir auftaucht, möchte ich am liebsten wieder umdrehen. Panisch frage ich mich, ob die beiden geflochtenen Zöpfe nicht die vollkommen falsche Frisurwahl gewesen sind, doch gerade, als ich kalte Füße zu bekommen drohe, taucht Manu neben mir auf. »Let’s fuck shit up«, sagt sie und nimmt meine Hand. Schon wieder bin ich kurz davor in Tränen auszubrechen. Ich atme mehrere Male tief durch und nicke und wir betreten die Eingangshalle. Ich starre stur geradeaus und wünsche mir, sehr viel selbstbewusster zu sein. Es wird einige Zeit dauern, bis Leute mich überhaupt erkennen, aber trotzdem. Ich hab Beine, die sich anfühlen wie Wackelpudding und bin voller Bewunderung für mich selbst, da ich es ohne Unfall und Ohnmachtsanfall bis zum Klassenzimmer schaffe. Manu sieht sehr entschlossen aus als sie sich neben mich setzt und ich packe mit zittrigen Fingern meine Sachen aus dem Rucksack. Neben mir lässt sich jemand auf den Stuhl fallen und ich zucke unweigerlich zusammen. Manu räuspert sich neben mir und ich wage es aufzuschauen. Pia lächelt mir entgegen. »Schönes Kleid«, sagt sie freundlich und ich schniefe. Meine Tränendrüsen laufen heute auf Hochtouren, denn ich kriege sofort wieder feuchte Augen. »Darf ich hier sitzen bleiben?«, fragt Pia. Ich nicke sprachlos und fühle mich sofort, als wäre ich von einem Schutzschild umgeben. Blöderweise muss ich an Skyrim denken und wie Isran von der Dämmerwacht immer mit einem leuchtenden Schutzschild gegen Vampire kämpft. Ich hoffe, dass Manu mit Pia zusammen kommt und ich den beiden rote Rosen streuen kann. Meine Fresse, Kim, reiß dich zusammen. Richtig unangenehm wird es, als vorm Beginn des Unterrichts wie immer die Namenslesen abgeklappert wird, um etwaige Fehlende ausfindig zu machen. Meine Hand zittert wie ein kalifornisches Erdbeben, als ich sie hebe, sobald mein Name genannt wird. Meine Englischlehrerin sieht einen Augenblick vollkommen verwirrt aus. Sie mustert mich irritiert und ich sehe förmlich, wie es in ihrem Kopf rattert. Dann nickt sie einfach nur und geht die Liste weiter durch. Ich atme erleichtert aus. Mir ist klar, dass es nicht bei jedem Mitglied der Lehrerschaft so glimpflich ausgehen wird. Wenn ich da nur an Physik denke, was wir als nächstes haben, wird mir ganz flau im Magen. Getuschel begleitet mich durch Englisch, während verschiedene Mitschüler und Mitschülerinnen sich gegenseitig auf mich und meine Aufmachung aufmerksam machen und ich sitze steif wie ein Stock auf meinem Stuhl und traue mich zu meiner eigenen Überraschung sogar einmal, mich zu melden. Als ich die Doppelstunde Englisch überstanden habe, fühle ich mich, als wäre ich drei Marathons hintereinander gelaufen. Wow. Wie erwartet läuft es in Physik nicht so glatt. Mein Physiklehrer kann mich ohnehin nicht leiden und außerdem habe ich die Erfahrung gemacht, dass Männer auf Femininität generell sehr viel aggressiver reagieren als Frauen. »Wie sehen Sie denn aus?«, fragt er vollkommen unverfroren, als er mich an meinem üblichen Platz sitzen sieht. »Wir sind hier nicht beim Karneval.« Weiter hinten in der Klasse kichert jemand. Ich schlucke und wünsche mir mein übliches Selbstbewusstsein zurück, aber es hat sich heute Morgen beim Heraustreten aus der Wohnung verabschiedet. »Dann sollten Sie Ihr Hornochsengehabe auch lassen«, sagt Manu herablassend und ich höre, wie die Klasse in einem Zug den Atem anhält. Herr Sickt sieht einen Moment lang aus, als würde er gleich explodieren. Er starrt Manu an, er starrt mich an, er raucht und dampft förmlich aus den Ohren und den Nasenlöchern. Ich erinnere mich, wie er einmal versucht hat, sich bei Manus Eltern über ihre Tochter zu beschweren und dabei eine saftige Abreibung bekommen hat. Lehrer, die ihren Schülerinnen nicht mit Eltern drohen können, sind überraschend machtlos. Mein Magen ist mir irgendwo zwischen die Kniekehlen gerutscht und mein Herz hämmert so heftig, dass es sicherlich gleich meinen Brustkorb sprengt. Schließlich gibt Herr Sickt den Starrkontest mit Manu auf. Manu hat den meisten schon mehrmals erfolgreich die Stirn geboten, darunter natürlich auch Herrn Böckmann und der hat ein viel aufgeblaseneres Ego als Herr Sickt. Er marschiert mit hochroter Birne vor der Klasse herum und ist die komplette Doppelstunde schlecht gelaunt, was sicher daran liegt, das Manu seine Autorität kein bisschen anerkennt und er nichts dagegen tun kann, was ihn vor der Klasse ziemlich dumm dastehen lässt. Selber schuld. Ignoranter Saftsack. Ich sehe super aus in meinem Kleid. Sehr viel besser, als er in irgendeinem Karnevalskostüm jemals aussehen könnte. In der zweiten großen Pause habe ich dank Manu wieder ein wenig Mut gesammelt und wir sitzen an unserem üblichen Platz in der Pausenhalle. Manu verschwindet schnell auf die Toilette und ich kreuze die Beine und esse vorsichtig einen Muffin, darauf bedacht, meinen Lippenstift dabei nicht zu verwischen. Ich frage mich gerade, ob ich mir vielleicht zu viele Sorgen gemacht habe, als Jan vor mir auftaucht. Offensichtlich hat er einen Moment abgepasst, in dem Manu nicht an meiner Seite klebt. Er sieht aus, als hätte ich sein Weltbild einmal komplett herumgedreht. Und zwar nicht auf die gute Art. Ich frage mich, ob ich mich bei Jan erkundigen soll, ob er seine Zunge verschluckt hat, doch im nächsten Augenblick bleibt mir die Luft weg, weil er mich anspuckt. Ich starre zu ihm herauf und kann es nicht fassen. All die Male, die Jan mir verängstigt aus dem Weg gesprungen ist, scheinen vergessen zu sein. Offensichtlich hat er beschlossen, dass er keine Angst vor jemandem in einem Kleid haben muss. Ich öffne den Mund und hebe die Hand zu meinem Gesicht. Direkt auf meiner Wange spüre ich die Feuchtigkeit. Es brennt, als hätte er mir Säure ins Gesicht gekippt. Jan sieht aus, als würde er gleich einen Strom Schimpfworte auf mich herabregnen lassen, aber er kommt nicht dazu. Als Jan herumgewirbelt wird und im nächsten Moment vor Schmerzen stöhnend zu Boden geht, denke ich eine Sekunde lang, dass Manu von der Toilette zurück ist. Aber es ist nicht Manu. Es ist Lelo und er sieht so wütend aus, wie ich ihn noch nie in meinem Leben gesehen habe. Eine riesige Traube an Schülern und Schülerinnen hat sich nun um uns gebildet und ich höre Manu fluchen, die sich von weiter hinten offensichtlich einen Weg bahnen will. Alle starren Lelo an. Jans Lippe blutet und seine Hose ist staubig vom Sturz auf den Boden. Ich sehe, wie Lelo seine Finger mit der anderen Hand festhält. Wahrscheinlich hat er sich bei dem Schlag auch wehgetan. Mein Herz hat sich in Blei verwandelt. Lelo wirft einen letzten angeekelten Blick auf Jan, dann kommt er zu mir herüber und zieht ein Taschentuch aus der Hosentasche. Vorsichtig wischt er mir Jans Spucke aus dem Gesicht. Wenn ich in einer Geschichte mit Magie und Göttern stecken würde, dann wäre Lelo in diesem Moment ein zorniger Sonnengott mit brennend heißer, roter Aura. Ich schlucke. Alle schauen zu. Alle sehen uns an. Manu hat ihren Weg durch die Menge gefunden. Ich höre, wie irgendjemand ihr sagt, was gerade passiert ist. Manu lässt einen Schwall Flüche auf Jan hinunter prasseln und wahrscheinlich hat Jan sich all das etwas anders vorgestellt, als von zwei der beliebtesten Schüler aus unserem Jahrgang fertig gemacht zu werden. Ich höre Pias Stimme irgendwo in der Menge, die den Umstehenden sagt, sie sollen sich gefälligst auflösen und dass das hier keine Theatervorstellung sei. Ich bin immer noch zu geschockt, um irgendetwas zu tun. Selbst meine übervollen Tränendrüsen scheinen vor lauter Entsetzen ausgetrocknet zu sein. »Du bist so mutig«, flüstert Lelo mir zu und lässt das Taschentuch einfach auf den Boden segeln. Im Moment fühle ich mich nicht sonderlich mutig. Ich möchte mich an ihn lehnen oder seine Hand nehmen, aber ich weiß, dass ich nicht darf. Allerdings werde ich überrascht, denn Lelo legt einen Arm um mich und zieht mich an seine Brust, sodass mein Kopf auf seiner Schulter lehnt. Ich kann sein Gesicht nicht mehr sehen, aber sein Ausdruck, als er Jan geschlagen hat, hat sich für immer in mein Gehirn eingebrannt. Seine andere Hand streicht mir vorsichtig übers Haar und Manu und Pia knien sich vor mich auf den Boden und sehen mich besorgt an. »Alles in Ordnung?«, fragt Pia. Ich schüttele nur den Kopf, aber ich weiß auch nicht wirklich, wie ich das Gefühl in Worte fassen soll. Alle um uns herum sind schon wieder am Tuscheln. Diesmal wegen Lelo und mir. Hinter uns rappelt Jan sich endlich auf und ich beobachte, wie er Lelo einen entsetzten und verständnislosen Blick zuwirft. Mich würde es nicht wundern, wenn Lelo anfangen würde zu knurren. Stattdessen passiert etwas vollkommen Abgefahrenes. »Wenn du meinen Freund noch mal anspuckst oder ihn auch nur falsch ansiehst, mach ich dich fertig.« In meinen Ohren rauscht es. Stille fällt über alle, die in unserer Hörweite stehen. Lelo wendet sich von Jan ab und mir zu. Ich rappele mich auf und starre ihn an. Lelo ist knallrot im Gesicht, aber er sieht sehr entschlossen aus. »War das ok? Hätte ich besser Freundin sagen sollen? Ich bin noch nicht ganz sicher, wie ich es mit den Pronomen am besten machen soll«, flüstert er und jetzt ist er wieder ganz Lelo, unsicher und lieb wie ein Hundewelpe. Ich schniefe und schüttele den Kopf. »Freund ist ok. Freund ist super«, krächze ich. Manu und Pia strahlen, Jan flüchtet, und ich kann mich nicht entscheiden, ob das der schlimmste oder der beste Tag in meinem Leben ist. Kapitel 14: Outings - die Dritte -------------------------------- Es tut mir sehrsehr Leid, dass ihr so lange auf dieses Kapitel warten musstest! Mein Leben hat sich sehr umgekrempelt und ich wurde von einer Schreibblockade heimgesucht, die sich immer noch nicht so richtig auskuriert anfühlt. Aber ich hoffe, dass ich jetzt wieder regelmäßiger dazu komme, weiter zu schreiben! Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen und danke euch für die Lesertreue __________________________________ Meine Eltern sind absolut empört über Jans und Herrn Sickts Verhalten und erklären ihre Bereitschaft, bei beiden telefonisch aufzulaufen und ihnen die Leviten zu lesen. Laura hingegen erklärt mir, dass sie einen Briefbombenanschlag auf Jan und einen Glitterbombenangriff auf Herrn Sickt plant. Kiki schreibt mir mehrere SMS den Tag über, indem sie über cissexistische Menschen flucht, mir erklärt, dass ich die schönsten Haare der Welt habe und dass Jan zur Hölle fahren soll. Ich bin in meinem emotionalen Zustand von so viel Unterstützung und Liebe vollkommen überfordert und verdrücke mindestens vier Mal nach Schulende Tränen, weil alle so lieb zu mir sind. Ich habe sogar mit Pia Handynummern ausgetauscht. Sie hat gesagt, sie würde unbedingt wissen wollen, wo ich mein Kleid gekauft habe und dass sie mit mir gerne weiter über Skyrim quatschen würde, weil sie außer mir niemanden kennt, der es auch spielt. In den letzten Wochen haben sich die Ereignisse wirklich überschlagen. Durch eine mir unbekannte Handynummer habe ich ohne mein Wissen Lelo näher kennen gelernt, den ich seit ungefähr hundert Jahren heimlich angeschmachtet habe. Wir sind jetzt mehr oder minder offiziell ein Paar. Ich habe mich als genderfluid in der Schule geoutet – oder zumindest mit dem langwierigen Prozess angefangen. Pia und ich haben Handynummern ausgetauscht. Alles in allem hätte ich keins dieser Dinge vor einem halben Jahr vorhersehen können. Wenn irgendjemand in meinem Leben aus der Zukunft zu mir gereist wäre und mir all diese Dinge erklärt hatte, dann hätte ich laut gelacht und dem Menschen kein Wort geglaubt. Aber es ist irgendwie alles wahr. »Ich denke, ich werde nachher mal mit meiner Familie sprechen. Wo ich jetzt schon in der Schule geoutet bin…« Ich muss nach dieser Nachricht von Lelo erst einmal das Fenster öffnen und mich auf mein Bett legen, um tief durchzuatmen. Es überschlägt sich alles, soviel steht fest. Was, wenn Lelos Eltern es überhaupt nicht akzeptieren können? Vielleicht finden sie es nicht so schlimm, aber dann lernen sie mich kennen und finden mich total beknackt. Es könnte ja sein. Oder sie haben wirklich ein großes Problem damit, dass ich nicht muslimisch bin. »Ich drück dir die Daumen! Und danke noch mal für heute.« »Dafür musst du dich nicht bedanken. Ich hoffe, es geht dir wieder ein bisschen besser!« Das ist so typisch Lelo. Er hat ein unglaublich lebensverändernder Gespräch mit seinen Eltern vor sich und woran denkt er? Daran, dass es mir hoffentlich besser geht. Ich möchte sein Gesicht küssen und Hymnen auf seine Großartigkeit schreiben. Das müsste ich natürlich alles vor Manu geheim halten, aber womöglich könnte ich so eine Hymne vortragen, während mir Lelo an einem romantisch verschneiten und sturmfreien Wintertag den Hintern versohlt. Ich starre hoch zu meiner Zimmerdecke. Vielleicht brauche ich eine gute Ablenkung. Nach fünf Minuten Gegrübel und Herumgerolle auf meiner Bettdecke stehe ich wieder auf und fahre meinen PC hoch. An Englischhausaufgaben ist jetzt eindeutig nicht zu denken. Stattdessen starte ich Skyrim, schicke Pia ein Bild von Deevan per Whatsapp und bekomme von ihr ein sehr beeindruckendes Bild von einer Orkfrau zurück. Sie trägt eine Magierrobe und hat braune Kriegsbemalung auf grüner Haut mitsamt zwei milchig weißen und vermutlich als blind gedachten Augen. »Man möchte direkt vor ihr im Staub kriechen«, antworte ich schmunzelnd. »Sie heißt Yagmesh. Und wahrscheinlich wäre sie etwas irritiert darüber, wenn ein Argonier vor ihr im Staub kriechen würde :-D« Ich erledige ein paar Quests mit den Gefährten und versuche das pochende Gedankenknäuel in meinem Hinterkopf zu ignorieren, dass mir ununterbrochen zuflüstert, dass Lelo sich gerade vor seiner Familie outet. Pia und ich schreiben noch ein Weilchen hin und her und unterhalten uns über verschiedene Quests. Yagmesh ist die erste Magierin, die sie bei Skyrim erstellt hat und sie erklärt, dass sie am liebsten Kriegerinnen spielt. Ihre ersten Charaktere waren eine Khajiit und eine Rotwardone. Hatte ich schon meine Hoffnungen geäußert, dass Pia mit Manu zusammen kommt? Wenn ich es schon nicht schaffe, meine beste Freundin zu diesem Spiel zu konvertieren, dann klappt es ja vielleicht, wenn Pia es versucht. Wenn Manu einen Charakter erstellt, dann wahrscheinlich eine kampflustige Dunkelelfe oder so etwas in der Art. Mit Irokesenschnitt. Ich grübele gerade darüber nach, ob ich morgen in der Schule denselben Aufwand noch einmal betreiben soll, als mein Handy vibriert. Für eine Sekunde denke ich, dass es wieder Pia ist – womöglich mit einem Bild davon, wie sie Ulfric Sturmmantel ein Käserad auf den Kopf legt – aber die Nachricht ist von Lelo. »Es hätte schlimmer sein können, glaub ich.« Ich tippe gerade eine hastige Antwort, als es direkt noch einmal vibriert. »Kann ich vorbei kommen? Ich gehe noch duschen und beten und dann hätte ich Zeit?« Ich lösche meine ursprüngliche Antwort und schreibe eine neue. »Klar! Bis nachher!« Ich speichere meinen Spielstand und prüfe mich im Spiegel. Das Make-Up, das ich heute Morgen so sorgfältig aufgetragen habe, ist jetzt schon nicht mehr ganz so frisch. Ich flechte meine Zöpfe neu, zupfe nervös an meinem Blumenkleid herum und schnippele in der Küche ein paar Äpfel, die wir zusammen verdrücken können, falls Lelo irgendwas zu knabbern möchte. Laura wuselt gut gelaunt durch die Wohnung und singt ziemlich laut Taylor Swift. »Na, kommt dein Prinz noch vorbei? Du hast diesen schmachtenden Gesichtsaufdruck, während du deine Apfelspalten anstarrst«, erklärt meine Schwester mir im Vorbeigehen und ich knurre ihr hinterher, ohne zu antworten. Dann trage ich die Apfelspalten sorgfältig in mein Zimmer und setze mich wieder vor meinen PC. Als es eine dreiviertel Stunde später klingelt, sind die Spalten schon ziemlich braun geworden, aber sie schmecken noch in Ordnung, wie ich nach einem Testbiss feststelle. Lelo kommt die Treppe hinauf, indem er zwei Stufen auf einmal nimmt und sobald ich die Tür hinter uns geschlossen haben, umarmt er mich erst einmal sehr fest. Ich vergrabe mein Gesicht in seiner Halsbeuge und atme zufrieden seinen Geruch ein. Sein Hemdkragen riecht immer noch nach seinem Parfüm, wenn auch nicht mehr so sehr wie heute Morgen in der Schule. »Alles ok?«, frage ich. »Weiß ich noch nicht«, entgegnet Lelo. »Und bei dir?« Ich denke kurz darüber nach. »Weiß ich noch nicht«, gebe ich zurück und wir lächeln uns schief an. Dann schiebe ich ihn in mein Zimmer und biete ihm etwas beschämt die braun gewordenen Apfelspalten an. Lelo sieht mich an, als wäre ein unheimlich süßes, großäugiges Babytier, das gerade versucht hat, einen Purzelbaum zu machen. Er nimmt sich eine Apfelspalte und beißt hinein. »Ok, also… meine Mutter ist nicht so richtig in Tränen ausgebrochen und mein Vater ist mindestens zehn Mal um unseren Wohnzimmertisch gelaufen, während er sich die Haare gerauft hat, aber er hat nicht geflucht. Und Sophia hat mich ehrlich gesagt angeschaut, als hätte sie es schon immer gewusst. Das hat mich womöglich am meisten irritiert«, sagt Lelo und beißt ein weiteres Mal in seine Apfelspalte. Ich ertappe mich dabei, wie ich den Atem anhalte. »Und dann hat meine Mutter gefragt, ob sie irgendwas falsch gemacht hat und mein Vater wollte wissen, ob das heißt, dass er keine Enkel kriegen wird und Sophia hat sehr die Augen darüber verdreht und ihm gesagt, dass auch schwule Leute Kinder großziehen können. Und dann hab ich sie verbessert und gesagt, dass ich nicht schwul sondern eher bisexuell bin. Was meine Mutter dazu gebracht hat hoffnungsvoll zu erwähnen, dass ich ja also doch eine Frau heiraten könnte.« Ich greife nach Lelos Hand und halte ihm mit der anderen eine weitere Apfelspalte hin. Er beißt ab, kaut und schluckt. Dann seufzt er. »Und dann hat Sophia gefragt, ob ich einen Freund habe und ich habe beinahe einen Herzinfarkt bekommen und dann aber doch ja gesagt und dann… ähm… dann haben sie gesagt, dass sie dich dringend kennen lernen wollen. Und dann hat meine Mutter gesagt, dass sie mich sehr liebt und dass das daran nichts ändert und dass ich ja vielleicht doch auch irgendwann mal eine nette Frau kennen lerne. Und mein Vater hat genickt und gesagt, dass Enkel schon schön wären und dass ich aber schließlich sein Sohn bin und er ja nur einen hat und dass er nie gedacht hätte, dass ihm sowas mal passiert und dann hat er uns allen Tee gekocht.« Ich versuche diese Informationsflut zu verarbeiten und mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Es war natürlich nicht die ideale Reaktion, aber es war auch kein komplettes Desaster. Lelos Eltern haben ihn immer noch lieb und vor allem seine Schwester scheint kein Problem damit zu haben. Dann rastet in meinem Gehirn etwas ein und ich starre Lelo entsetzt an. »Und sie wollen mich kennen lernen? Obwohl sie so… wenig enthusiastisch sind?« In meinem Kopf gehe ich rasend schnell all die Informationen durch, die ich von Lelo über seine Religion gelernt habe und beschließe, dass ich eindeutig nicht genug weiß. Anschließend gehe ich meinen kompletten Kleiderschrank im Geiste durch und überlege, was man zu so einem Treffen am besten anzieht. Lelo muss wohl gesehen haben, dass mein Kopf jeden Moment implodieren könnte, deswegen nimmt er mein Gesicht in beide Hände und küsst mich auf den Mund, was meinen Gedankenstrudel sofort einfriert. Effektivität 100%. Tatsächlich artet der als Ablenkung gedachte Kuss ziemlich aus und wir knutschen eine gute halbe Stunde ziemlich heftig miteinander herum, während eine ziemlich hartnäckige Erektion von innen gegen meine Strumpfhose drückt und mir verkündet, dass sie dringend Aufmerksamkeit geschenkt haben möchte. Fuck. Worüber hatte ich gerade noch mit Lelo geredet? Ich löse den Kuss schließlich, weil ich in all diesem Nebel aus Erregung und überschwänglicher Begeisterung für Lelos Lippen auf meinen immer noch daran denken muss, was er mir gerade erzählt hat. Lelos Lippen sind feucht und seine Wangen gerötet. Er ist der schönste Junge unter der Sonne. Wow. »Hmpf«, sage ich, da ich zu mehr Eloquenz angesichts dieser nahen Zukunftsaussicht nicht in der Lage bin. Lelo muss lachen. »Ich muss dich ihnen ja nicht direkt nächste Woche vorstellen. Sie sollen sich sowieso erst mal anständig an den Gedanken gewöhnen. Ich meine… ich hab mich ja selber noch nicht so richtig dran gewöhnt. Und dann wollte ich noch ein paar Hadithe nachschauen, in denen es um Homosexualität geht. Ich meine, eigentlich wollte ich das machen, bevor ich ihnen davon erzähle, aber jetzt ist alles irgendwie von alleine passiert.« Ich räuspere mich nervös. »Was sind Hadithe?«, frage ich. »Das sind gesammelte Überlieferungen über das Leben des Propheten«, sagt Lelo lächelnd. »Abgesehen vom Koran werden daraus die wichtigsten Richtlinien fürs Leben abgeleitet und so. Es gibt welche mit gut nachvollziehbarer Überlieferungskette und welche, die allgemein nicht wirklich anerkannt werden. Ich hab schon einiges davon gelesen, aber nicht unbedingt auf ein spezifisches Thema hin…« Er seufzt leise und nimmt sich noch eine Apfelspalte. »Ich denke, es war wirklich ok. Und hey, ich will echt gern Kinder haben. Irgendwann mal. Vielleicht tröstet sie das ein bisschen«, sagt Lelo mit hochgezogenen Schultern und ich streichele ihm durchs Haar. »Bevor ich deine Familie kennen lerne, muss ich noch mehr über eure Religion lernen. Und was esst ihr zu Hause so? Esst ihr sehr scharf?« Lelo lacht darüber etwa drei Minuten lang. »Weiße Europäer sind solche Weicheier, wenn es um Gewürze geht«, sagt er grinsend und streckt mir die Zunge raus. Ich schnaube amüsiert. »Es freut mich zu wissen, dass du mich gut leiden kannst, obwohl ich ein Weichei bin«, gebe ich zurück. Lelo gluckst. »Also, wir essen nicht immer super scharf. Und ich denke, wenn zart besaiteter Besuch kommt, würden meine Eltern auch nicht unbedingt Biryani kochen. Ich werd für deine Familie nächstes Wochenende auch nichts Scharfes kochen, keine Sorge«, erklärt Lelo beruhigend und sein Blick fällt auf meinen Bildschirm, auf dem Deevan zu sehen ist. »Wir könnten Skyrim spielen und während ich dich dabei beobachte, wie du vor Angst fast vorm Stuhl fällst, kannst du mir erzählen, was Biryani ist«, schlage ich vor. Lelo grinst und nickt zufrieden. Ich organisiere uns noch einen Stuhl und wir setzen uns vor den PC. Während wir die letzten Apfelspalten verzehren und ich Lelo dabei beobachte, wie er sich auf den Weg nach Sovngarde macht, um Alduin endgültig zu besiegen und dabei wie wild auf seinem Stuhl herumzappelt, erzählt Lelo mir, was es bei ihm zu Hause oft zu essen gibt und dass Biryani gewürzter Reis mit Gemüsecurry oder auch mit Fleisch ist. Ich erfahre, dass das – mit Lammfleisch zubereitet – abgesehen von Spaghetti Bolognese sein Lieblingsessen ist und dass es bei seinen Eltern auch öfter mal Sachen gibt, die es auch in anderen deutschen Haushalten gibt. Zum Beispiel Fischstäbchen mit Kartoffelbrei. »Hast du Angst nach Hause zu gehen?«, frage ich schließlich, als Lelo gerade seinen Spielstand speichert und ein paar Mal tief durchatmet, weil das Spiel ihn ganz aufgeregt macht. Lelo zieht wieder einmal seine Schultern hoch, so wie er das oft macht, wenn er nicht genau weiß, wie er sich fühlen soll. »Angst vielleicht nicht gerade. Aber ich bin auch nicht sonderlich scharf drauf. Ich frag mich auch, wie das morgen in der Schule laufen wird«, gibt er zu. Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Lelo ist ja jetzt wegen dieser unsäglichen Jan-hat-mich-angespuckt-und-Lelo-war-mein-Prinz-in-glänzender-Rüstung Aktion vor so ziemlich allen Leuten, die ihn kennen, geoutet. Ich habe ein ziemlich schlechtes Gewissen deswegen, auch wenn es ja objektiv betrachtet gar nicht wirklich meine Schuld ist. Lelo hat das spontan von sich aus entschieden. Vielleicht bereut er es ja jetzt schon. »Wer weiß, vielleicht feiert Niklas ja eine kleine Party, weil er schon vorher fand, dass wir schwul aussehen«, sage ich und Lelo lacht. Er streicht mir durch die Haare und seufzt. »Ich weiß schon, dass Lily, Rahel, Hanna und Simon kein Problem damit haben. Das haben sie mir in etwa fünf Mal den Rest des Unterrichts über verkündet und Rahel hat mir später sogar noch eine SMS deswegen geschrieben«, erzählt Lelo mit einem schiefen Lächeln. Ich kann mir vorstellen, dass so viel Aufmerksamkeit angesichts dieser Sache ihn ziemlich überfordert, auch wenn es natürlich schön ist, dass der engste Kern seiner Clique sich so positiv äußert. Einen Moment lang herrscht Schweigen. Dann… »Und naja, Pia wusste schon, dass ich dich mag. Wir haben schon vor einiger Zeit mal darüber geredet«, meint Lelo. Vor ein paar Wochen hätte mich das vielleicht noch gewundert, aber mittlerweile weiß ich ja, dass Pia heimlich auf queere Partys geht und mit sehr großer Wahrscheinlichkeit total in Manu verschossen ist. »Ich drücke die Daumen, dass Pia und Manu sich noch zusammen raufen«, sage ich nachdenklich. Wenn ich darüber nachdenke, wie Manu sich in den letzten Wochen so verhalten hat und wie Pia sie ansieht und wie sie mir gegenüber so lieb war… Die beiden wären ein merkwürdiges Pärchen, aber wer bin ich schon, das komisch zu finden? Ich meine… ich bin der kinderopfernde Satanist des Jahrgangs und Lelo ist der Sonnengott. Wie das passieren konnte, weiß ja auch kein Mensch. Lelo lächelt. »Das hoffe ich auch. Pia ist ganz schmachtig«, erklärt Lelo grinsend und ich muss lachen. Ich meine, ich versteh schon, wieso man Manu toll findet, aber mir jemanden aktiv über sie schmachtend vorzustellen, fällt mir doch ein bisschen schwer. »Kannst du dir das vorstellen? Wir beide und die beiden, Hand in Hand in den großen Pausen. Und alle sind ganz verwirrt, wie um alles in der Welt das passieren konnte? Und Jan muss wahrscheinlich vor lauter Empörung die Schule wechseln«, grübelt Lelo laut nach und hat dabei einen leicht verträumten Gesichtsausdruck, der mich verliebt lächeln lässt. Wow Kim, du bist kein bisschen peinlich. Herzlichen Glückwunsch. Alle, die je von dir gedacht haben, dass du Hühnerblut trinkst, würden sich totlachen, wenn sie dich jetzt sehen könnten. Lelo widmet sich wieder seinem Spielstand und macht sich auf den Weg durch den Nebel von Sovngarde. »Vielleicht spiele ich als nächstes diese Bürgerkrieg-Sache. Ulfrics Rassismus geht mir nämlich ganz schön auf den Senkel«, sagt Lelo. Ich nicke zustimmend und wende meine Aufmerksamkeit ebenfalls wieder dem Bildschirm zu. Die ganze Sache mit Lelos Eltern und der Reaktion des Jahrgangs wird schon noch früh genug kommen. * ‚Früh genug‘ findet direkt am nächsten Morgen statt. Natürlich warten unsere Mitschüler und Mitschülerinnen nicht darauf, dass Lelo sich an sein neues geoutetes Leben gewöhnt hat. Es gibt viel Getuschel und viele Blicke. Ich bin mir nicht sicher, wie ich mich jetzt verhalten soll, denn ich will Lelo weiterhin das Tempo überlassen, aber ihm auch gerne helfend zur Seite stehen. Er sieht ein wenig verloren aus, als er von einer Traube Menschen umgeben ausgefragt wird, ob er und ich nun tatsächlich zusammen seien. Also, zusammen zusammen. Wie ein Paar. Ich beobachte das Ganze nur kurz, dann klingelt es zum Unterricht und ich mache mich mit Manu zusammen auf den Weg zum Klassenraum. Mein Herz wummert heute genauso sehr wie gestern, auch wenn es heute einen anderen Grund dafür gibt. Vielleicht kann ich später in der Pause zum ersten Mal öffentlich Lelos Hand halten? Heute Morgen nach dem Aufstehen habe ich beschlossen, dass ich heute nicht wieder die Nerven für eine volle feminine Aufmachung habe, deswegen hab ich mir nur einen Zopf geflochten, etwas Wimperntusche und Lippenstift aufgetragen und eins meiner engeren, farbenfrohen Oberteile zu einer meiner üblichen schwarzen Hosen angezogen. Man kann schließlich nicht jeden Tag 100% geben. Jan hat nach dem Desaster mit Lelo und mir gestern offensichtlich beschlossen, mich komplett zu ignorieren. Allerdings muss man auch dazu sagen, dass viele Jan genauso ignorieren wie er mich. Lelos Ansage hat eingeschlagen wie ein Meteor und offenbar sind überraschend viele Mitmenschen zu der Überzeugung gekommen, dass ich nicht allzu schlimm sein kann, wenn Lelo für mich jemandem einen Kinnhaken verpasst und mich verteidigt. Ich meine, Lelo würde wahrscheinlich so ziemlich jeden Menschen verteidigen, der vor seinen Augen ungerecht behandelt wird, aber dieser erstaunlich gewaltsame Auftritt von ihm hat bei einem großen Teil des Jahrgangs doch einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ich überstehe die ersten beiden Stunden mit Gekritzel auf meinem Block und dem ein oder anderen Zettelchen, das ich mit Manu austausche. Lelo ist offenbar so sehr mit seiner Situation überfordert, dass er mir keine SMS schreiben kann, was ich ihm großzügig verzeihe. Auch wenn es mich die ganze Zeit in den Fingern juckt, ihm eine Nachricht zu schicken. In der großen Pause kaufe ich mir wie so oft einen Muffin und pflanze mich mit Manu auf unsere übliche Bank in der Pausenhalle. Pia gesellt sich beizeiten zu uns und isst ein paar geschnippelte Mohrrüben, die Manu und ich beide ablehnen, als sie sie uns anbietet. Ich versuche gerade mit Hilfe von Pia Manu dazu zu überreden, sich doch beizeiten einen Charakter bei Skyrim zu erstellen, als sich einige Leute zu uns stellen. Wir heben alle drei ziemlich synchron den Kopf und sehen zu Simon, Rahel, Lily und Hanna auf. Sie haben Lelo in einer Art schraubstockartigen Umklammerung bei sich und strahlen zu uns herunter. »Die Lippenstiftfarbe ist wirklich sehr schön«, sagt Hanna lächelnd zu mir und ich bin nicht sicher, was ich darauf erwidern soll. Mein Blick huscht hinüber zu Lelo, der auch recht verloren angesichts dieser Situation aussieht. Aber dann löst er sich vorsichtig aus der Verhakung mit Rahel und Lily und setzt sich neben mich auf die Bank. Ich kaue auf meiner Unterlippe herum und bin mir unangenehm bewusst, dass alle uns anstarren. »Ganz oder gar nicht, was?«, sagt Lelo mit seinem entzückend verlegenden Lächeln und ich will mich gerade erkundigen, was er damit genau meint, als er mir einen sanften Kuss auf den Mund drückt. Simon schnaubt, Lily erstickt gerade noch so ein Quietschen und Manu stöhnt. »Zuckerschock, Kim. Nehmt ein wenig Rücksicht!« Ich muss gegen Lelos Lippen lachen und wir lösen uns voneinander. Unsere Gesichtsfarben haben sich in eine Art gekochten Hummerfarbton verwandelt, aber als Lelo nach meiner Hand greift und sie sacht drückt, verfliegt alle Verlegenheit und macht einem unheimlich großartigen Gefühl in meiner Magengegend Platz. Wen interessiert schon Jan und Niklas und Herr Sickt? Mich jedenfalls nicht. Zumindest nicht in diesem Augenblick. Kapitel 15: Countdown --------------------- »Vielleicht musst du jetzt öfter für mich kochen.« »Da hätte ich nichts gegen. Kochen macht Spaß.« Das Essen, das Lelo für mich und meine Familie gekocht hat, war ein voller Erfolg. Alle waren begeistert, wir haben uns sehr nett und lange unterhalten und niemand hat mich dazu veranlasst, mich vor lauter Peinlichkeit aus dem Fenster stürzen zu wollen. Anschließend haben wir Lelo noch Rommé beigebracht und jetzt hocken wir beide in meinem Zimmer und atmen die kühle Herbstluft ein, die ins Zimmer dringt. Lelos Haar riecht nach Curry. Alles in allem muss ich doch sagen, dass wir sämtliche Turbulenzen ziemlich gut gemeistert haben – insbesondere im Angesicht der Tatsache, dass wir erst so kurz zusammen sind. Die Leute in der Schule haben sich mit wenigen Ausnahmen erstaunlich schnell an uns beide als Paar gewöhnt und mittlerweile werde ich geradezu beunruhigend selten schräg angeschaut. Selbst wenn ich ein Kleid anhabe. Zugegeben, auf die ganzen »Also, bist du jetzt ein Mädchen?«-Unterhaltungen könnte ich verzichten, aber wie Kiki schon gesagt hat, lässt es sich wohl nicht vermeiden. Herr Sickt hat einen saftigen Anruf von meinen Eltern bekommen, die darauf bestanden haben, beide abwechselnd in den Hörer zu motzen, während Herr Sickt am anderen Ende der Leitung nicht wusste, was ihn trifft. Seitdem ignoriert er mich im Unterricht vollkommen und ich weiß, dass er vom Direktor eine ordentliche Abreibung bekommen hat, weil meine Eltern sich offiziell über Mobbing im Unterricht beschwert haben. Ein großartiger Triumph. Jan nimmt jetzt wieder Reißaus vor mir, da er weiß, dass Lelo und somit gute neunzig Prozent des Jahrgangs hinter mir stehen. Ein seltsamer Gedanke, wenn ich ehrlich bin. Natürlich weiß ich, dass es dabei nicht wirklich um mich geht, sondern eher darum, dass Lelo auch weiterhin den Status des Sonnengottes alias des Jahrgangsprinzen inne hat, aber es ist trotzdem gut zu wissen, dass Jan mich nicht an einem grauen Novembertag mitten in der Pausenhalle anfallen könnte, ohne dass zwanzig Mitschüler und Mitschülerinnen sich empört auf ihn stürzen und ihn zur Schnecke machen. Lelos Eltern haben sich mittlerweile mit Sophias Kopftuch abgefunden, sind aber immer noch etwas ungeschickt und unsicher mit der ganzen Unser-Sohn-ist-mit-jemandem-zusammen-der-einen-Penis-hat-Situation, was sich vor allem darin äußert, dass sie ihn häufig fragen, ob er irgendwelche wahllosen Mädchen auf der Straße oder im Fernsehen hübsch findet und ihn manchmal traurig ansehen oder besonders angeregt darüber sprechen, wie gerne sie später Enkel hätten. Lelo ist so ein herzensguter und geduldiger Mensch, dass er es ihnen nicht übel nimmt und weiterhin dankbar dafür ist, dass sie nicht offen negativ oder ablehnend reagiert haben. Auch die Entschlossenheit von Herrn und Frau Suleri, mich kennen lernen zu wollen, ist nicht verflogen. Wenn ich daran denke, fange ich an zu schwitzen und möchte mich gerne in unserem Hinterhof verbuddeln. Das könnte sogar noch nervenaufreibender sein, als mich vor der ganzen Schule zu outen. Uff. »Und wo wir grad von Essen reden«, meint Lelo und reißt mich so aus meinem Gedankenschloss heraus in die wirkliche Welt, in der es langsam ziemlich frisch wird und ich ein wenig fröstele. Daraufhin steht Lelo, der elende Prinz auf weißem Ross, natürlich sofort auf und macht das Fenster zu, weil er mein Frösteln sofort bemerkt hat. Meine Fresse, er ist so hinreißend, ich möchte ihm einen Schrein bauen und Gänseblümchen opfern. »Hm?«, nuschele ich und vergrabe meine Hände in seinen Haaren, nachdem er sich wieder neben mich aufs Bett hat sinken lassen. Mit großer Sorgfältigkeit und Hingabe ziehe ich die Windungen seiner Ohrmuschel mit dem Zeigefinger nach, was Lelo dazu veranlasst, ein schauderndes Schnauben auszustoßen und sein Gesicht an meiner Halsbeuge zu vergraben. Ich grinse. Dann erinnere ich mich daran, dass Lelo etwas sagen wollte und dass es unhöflich ist, seinen Freund mit Herumgefriemel zu unterbrechen. »Was wolltest du sagen?« Lelo hebt den Kopf und sieht mich mit seinen arg zerwuschelten Locken aus großen braunen Augen an. »Ähm… In anderthalb Wochen fängt Ramadan an«, erklärt er mir. In meinem Kopf rattert es kurz. »Fastenmonat«, entgegne ich und komme mir vor wie ein fleißiger und strebsamer Schüler, der ein Quiz bestanden hat. Lelo nickt und seine Mundwinkel zucken. Meine Gedanken schweifen kurz zu einem Szenario ab, in dem Lelo einen Rohrstock in der Hand hält und ich eine Schulmädchenuniform trage. »Wir fasten Essen und Trinken von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang«, sagt Lelo und ich nicke, während es in meiner Hose interessiert zuckt angesichts der Rohrstockvorstellung. Reiß dich zusammen, Kim! »Und… naja. Es ist üblich auch andere Sachen zu fasten. Also, man soll zum Beispiel nicht fluchen. Oder lügen. Also, nicht, dass diese Sachen sonst gern gesehen wären, aber ich meine… es geht ein bisschen darum, der beste Muslim zu sein, der man sein kann. Oder so«, sagt Lelo und wedelt mit seinen Händen in der Luft herum. Ich nicke langsam und speichere all diese Informationen sorgfältig ab. Ich werde Lelo also für einen Monat definitiv nicht zum Pizzaessen einladen. Zumindest nicht, solange es hell ist. »Und… ähm…« Ich lege den Kopf schief und beobachte, wie Lelos Ohren rot werden und dann seine Wangen folgen. »Also, normalerweise sind romantische und sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe sowieso nicht erlaubt«, platzt es aus Lelo heraus und ich blinzele ein wenig erstaunt angesichts seiner Aufregung, »aber viele Leute machen es trotzdem und ich ja offensichtlich auch, aber im Ramadan fastet man auch alles an sexuellem Kram und ich hoffe, dass das für dich ok ist. Wenn wir… machst du Schluss, wenn wir einen Monat lang nicht rumknutschen können? Und so?« Ich starre Lelo an. »Was? Sei nicht absurd! Wieso sollte ich Schluss machen wollen? Was für ein Arschloch wäre ich, wenn ich deswegen mit dir Schluss mache?«, frage ich zusammenhangslos und fange vor lauter Empörung an, mir einen Zopf zu flechten. Lelo zieht die Schultern hoch, wie er das immer macht, wenn er nicht weiß, wohin er mit sich soll. »Naja…«, sagt er ziemlich kleinlaut und schweigt dann wieder. »Nicht, dass ich nicht einen Monat lang ausgehungert und mich verzehrend durch die Weltgeschichte wanken werde«, fahre ich fort und binde den Zopf mit einem Haargummi fest, das ich um mein Handgelenk getragen habe. Lelo schnaubt amüsiert. »Aber ich hab dich doch nicht Jahrhunderte lang angeschmachtet, um jetzt das Handtuch zu werfen, nur weil wir uns dreißig Tage nicht küssen können«, fahre ich fort und sehe, wie sich Erleichterung und Freude auf Lelos Gesicht breit macht. »Ich fasse es immer noch nicht, dass du mich schon so lange toll findest«, sagt er mit einem ziemlich verträumten Gesichtsausdruck, der mein Herz doppelt so schnell weiterschlagen lässt. Ich grübele kurz über diese ganze Fasten-Sache nach. »Ich darf deine Hand halten und dich umarmen?«, erkundige ich mich. Lelo nickt. »Na«, sage ich, »Dann wird es schon nicht so schlimm werden!« * Es ist die Hölle. Ich bin natürlich sehr bemüht, das vor Lelo nicht raushängen zu lassen wie der letzte Arsch, aber ich habe definitiv noch nie in meinem Leben so oft masturbiert wie in den letzten Tagen. In der ersten Woche war es noch ganz ok. Ich habe zwei Mal beinahe vergessen, dass Lelo nicht knutschen oder sonst irgendwie sexuell sein darf, aber er hat mir großzügig verziehen und mittlerweile habe ich mich ganz gut unter Kontrolle. Es sind allerdings auch erst zwölf Tage vom Ramadan um und ich schleiche durch mein Leben wie ein Seehund in der Wüste. Manu lacht mich jeden Tag mindestens vier Mal deswegen aus. »Ich bin super dankbar dafür, dass meine Libido quasi bei null liegt«, sagt sie breit grinsend als ich ihr beichte, dass ich mir gestern sogar zwei Mal einen runtergeholt habe. Einmal morgens unter der Dusche und dann noch mal abends, nachdem Lelo sich nach einer ausgiebigen Skyrim-Session verabschiedet hat, um mit seinen Eltern abends das Fasten zu brechen. »Ja ja, ein Hoch auf deine Asexualität und deine winzige Libido«, brumme ich unbarmherzig und Manu grinst nur zufrieden vor sich hin. »Er hat gesagt, dass es nach Einbruch der Dunkelheit ja eigentlich ok wäre, wenn wir rummachen, aber er meint auch, dass er dann wahrscheinlich den ganzen Tag über lüstern in der Gegend rumeiern würde. Ich meine… Es macht mich ja schon ziemlich zufrieden, dass er sich alle zehn Finger nach mir ableckt…« Manu schüttelt amüsiert den Kopf und tätschelt mir gespielt mitleidig die Haare. Ich beschließe schnell das Thema zu wechseln, damit Manu sich auch mal ein bisschen windet und rucke mit dem Kopf in Richtung Pia. Wir sitzen auf unserem angestammten Platz in der Pausenhalle und haben gerade zufrieden dabei zugesehen, wie Jan sich am Kaffeeautomaten heißen Kaffee über die Finger geschüttet hat, weil irgendein Neuntklässler – gepriesen sei er – ihn aus Versehen von hinten angerempelt hat. »Wie sieht es denn eigentlich bei dir und Pia aus?«, will ich wissen und sehe, wie Manus schadenfrohes Schmunzeln sofort in sich zusammen fällt. Sie schaut kurz zu Pia hinüber die heute – wie eigentlich an jedem Tag – entzückend aussieht mit ihren kinnlangen, gewellten Haaren und dem lila Wollkleid und den flauschigen Armstulpen. Als sie bemerkt, dass wir zu ihr herüber sehen, winke ich ihr strahlend zu und Manu haut mir den Ellbogen in die Seite, was mich und Pia gleichermaßen zum Lachen bringt. Pias Lachen ist genauso hübsch wie ihr gesamter Rest. »Sie hat mich zu einer Veranstaltung eingeladen. Eine Musical-Veranstaltung«, erklärt Manu und sie betont das Wort Musical, als würde es sich um das Äquivalent zu einer besonders schleimigen Nacktschnecke handeln. »Wie kam sie denn auf die Idee? Weiß sie nicht, dass du zu hardcore bist, um Musicals zu mögen und dass du dir lieber zu Metal die Stimme heiser schreist?«, stichele ich und Manu streckt mir die Zunge heraus. »Sie hat mich eingeladen, weil sie selber singt«, erwidert Manu und ich pfeife beeindruckt. »Wow. Ich wusste nicht, dass sie singen kann«, sage ich interessiert. Manu schüttelt den Kopf. »Ich auch nicht. Sie ist aber wohl Mitglied in so einer Musical-Gruppe und sie haben ein paar Auftritte im Kleinen Haus vom Theater…« »Dann müssen sie ziemlich gut sein«, meine ich und schaue noch mal zu Pia hinüber. Es ist vermutlich eine recht intime Sache, jemanden zu so etwas einzuladen, wenn man selber auf der Bühne steht und eigentlich weiß, dass der andere die Musikrichtung eher schrecklich findet. Meine Güte, Pia muss wirklich Hals über Kopf in Manu verschossen sein. Ich hoffe sehr, dass Manu bald ihren Schädel aus ihrem Hintern zieht und einen Schritt auf Pia zumacht. »Ich hasse Musicals«, stöhnt Manu und rauft sich die frisch gefärbten lila Haare – die übrigens ganz hervorragend zu Pias Kleid passen. »Aber wenn ich nicht hingehe, wird sie mich mit ihren großen braunen Augen traurig anschauen und ich werde mich wie der schlechteste Mensch auf der Welt fühlen.« Ich mustere Manu. Es ist wirklich nicht so, als würde sie sich sonst darum scheren, was andere Leute von ihr denken – es sei denn, sie kann besagte Leute wirklich gut leiden. »Dann solltest du hingehen und dich für anderthalb Stunden nicht so anstellen«, rate ich ihr weise nickend und ernte noch einen Ellbogen in die Seite. Manu stöhnt und legt ihren Kopf auf ihre Knie. »Na schön«, brummt sie. Ich bin so begeistert von diesem kleinen Sieg, dass ich für ganze zehn Minuten vergessen habe, wie notgeil ich eigentlich bin. Hurrah! * Ich träume vier Nächte in Folge von verschiedenen Sexabenteuern zwischen mir und Lelo. Zwei davon hatte ich mir im wachen Zustand noch nicht ausgemalt, was eindeutig eine Meisterleistung meines Unterbewusstseins darstellt. »Manu geht ins Theater, um bei Pias Aufführung zuzuschauen«, erzähle ich Lelo, als wir am fünfzehnten Tag zusammen im Park spazieren gehen. Es ist mittlerweile so kalt, dass ich Handschuhe angezogen habe, um ungehindert mit Lelo Händchen halten zu können. Es ist immer noch einmal etwas anderes, in der Öffentlichkeit – und damit meine ich eine Öffentlichkeit außerhalb der Schule – als Paar aufzutreten. Aber bislang hatten wir damit noch keinerlei Probleme. Ein Hoch darauf, dass wir in einer größeren Stadt leben! »Ah, wie schön. Pia hat ungefähr alle drei Minuten erwähnt, wie aufdringlich sie sich vorkam, weil sie Manu eingeladen hat«, erklärt Lelo und ich habe das Gefühl, ich sollte mal ein eindringliches Gespräch mit Pia darüber haben, wie ihr Umgang mit Manu vollkommen in Ordnung ist. Vielleicht könnte ich ihr eine kleine Bedienungsanleitung für meine beste Freundin schreiben. »Manu steht wahrscheinlich nicht so auf Musicals, oder?«, erkundigt Lelo sich schmunzelnd. Ich lache. »Sie hasst Musicals wie die Pest.« »Dann muss es was Ernstes sein mit den beiden«, meint Lelo breit grinsend und ich stimme ihm nickend zu. »Meinst du, die beiden könnten uns den Rang vom niedlichsten Pärchen im Abibuch streitig machen?«, frage ich gespielt dramatisch und Lelo gluckst leise. »Ich freue mich zu hören, dass wir beim Abi in deinem Kopf immer noch ein Paar sind«, gibt er zurück und ich werde ein wenig rot und spüre ein angenehmes Kribbeln in der Magengegend. »Naja! So lange ist es bis zum Abi ja nun auch nicht mehr hin!«, erwidere ich zu meiner Verteidigung. Lelo zwinkert mir zu und mein Gehirn veranstaltet einen komplizierten Tanz, bei dem sich alle Windungen verknoten und dann unweigerlich – weil ich ein Teenager mit haushoher Libido bin – bei Sex stehen bleiben. Lelo mustert mich amüsiert. »Denkst du schon wieder an Sex?« Ich wimmere selbstmitleidig. »Wir müssen aufhören, uns so oft zu sehen. Du kennst mich zu gut und ich muss so mysteriös wie möglich bleiben!« Lelo bleibt stehen und zieht mich in seine Arme. Wir stehen mitten im Park unter einem kahlen Kastanienbaum und eine einsame Joggerin mit Hund wirft uns einen interessierten Blick zu, als sie vorbei läuft. Ihr Hund kläfft freudig. Lelos Atem an meinem Ohr ermutigt mich nicht gerade dazu, mit den versauten Gedanken aufzuhören. »Nichts da«, sagt Lelo leise und drückt mich fest an sich. Ich schmelze dahin als wäre es eigentlich Hochsommer anstatt Spätherbst. Wer außer mir kennt die Antwort auf die Frage: Was wird Kim nachher machen, wenn er allein zu Hause ist? Wer an dieser Stelle an Selbstbefriedigung gedacht hat, darf sich jetzt auf die Schulter klopfen und einen Keks essen, sofern einer in unmittelbarer Nähe vorhanden ist. Meine Fresse, vielleicht sollte ich mit Meditation anfangen. Es ist ja nun auch nicht so, als hätten Lelo und ich vorher ununterbrochen gevögelt. Wahrscheinlich ist es der Reiz des Verbotenen, der an meiner Zurückhaltung nagt und mich in ein unerträgliches Sexmonster verwandelt. Wir bleiben eine ganze Weile lang so stehen, dann hebt Lelo den Kopf und schaut mich an. Seine Wangen sind auch ein wenig gerötet und ich halte den Atem an. »Noch fünfzehn Tage«, sagt er leise und der Rotton auf seinen Wangen verdunkelt sich noch ein wenig. Fuck. Wenn das so weiter geht, brauche ich bald einen persönlichen Rettungssanitäter. * Manu sieht absolut fantastisch aus. Ich sehe sie in diesem Moment womöglich zum ersten Mal in einem weißen statt in einem schwarzen Hemd und mit den Hosenträgern und der recht weiten, schwarzen Hose und den nach oben gestylten Haaren macht sie mich fast ein bisschen schwach in den Knien. Als ich ihr das mitteile, boxt sie mich gegen den Oberarm. Ich liebe meine beste Freundin sehr. »Auf die Boots werde ich aber nicht verzichten! Das weiße Hemd ist das höchste der Gefühle!«, sagt sie anklagend, als hätte ich sie zu diesem Outfit gezwungen. Tatsächlich sah sie schon genauso aus als ich ankam und ich habe ihr lediglich dabei geholfen einen Lidstrich zu ziehen. Ich gluckse heiter. »Hast du dein Ticket? Geld für einen Beruhigungsschnaps? Dein Handy, damit du mir schmachtende Nachrichten und Fotos schicken kannst?« Manu verengt die Augen zu Schlitzen und ich springe rasch außer Reichweite, damit sie mich nicht noch mal boxen kann. Sie mustert sich noch einmal im Spiegel und murmelt »Musicals«, als könnte sie es immer noch nicht fassen, in was für eine Vorstellung sie sich gleich begeben wird. »Ich wünsche dir viel Spaß!«, flöte ich bestens gelaunt und lache, als Manu sich auf mich stürzt, um mir die Haare zu zerwuscheln. Noch zehn Tage. * »Ist es schlimm, wenn ich dir sage, dass ich vielleicht durchdrehe, bevor die letzte Woche rum ist?« »Nein ;-) Falls es dir hilft: So schwer war definitiv noch kein Ramadan vorher. Nicht mal im Hochsommer.« * Zwei Tage vor Ende des Fastenmonats berichtet Lelo mir, dass seine Eltern bereits eifrig damit beschäftigt sind, allerlei Lebensmittel für ʿĪd al-Fitr zu besorgen und ich lasse mich darüber belehren, dass das Fastenbrechen am Ende von Ramadan eine große Sache ist. Mit Beten und allerlei Essen und Besuchen bei Verwandten und Bekannten. »Ich habe erst überlegt meinen Eltern vorzuschlagen, dich zum Fastenbrechen einzuladen, aber dann dachte ich mir, dass dich das vielleicht zu sehr überfordert und hab es gelassen. Aber wir finden schon noch einen geeigneten Termin!« Ich versuche unterdessen, mich mit einem neu entdeckten, alten Computerspiel auf andere Gedanken zu bringen. Vielleicht kann ich Lelo beizeiten auch dazu überreden, Dragon Age mit mir zu spielen. Es wird ihn sicher freuen, dass man eine anständige Liebesbeziehung mit verschiedenen Charakteren eingehen kann. Lelo und ich haben uns in den letzten Tagen nicht privat gesehen, weil er so in den Vorbereitungen für die Festlichkeiten eingebunden ist. Es ist unnötig zu sagen, dass ich vor Sehnsucht vergehe und ein Bündel aus Selbstmitleid und Notgeilheit bin. Man sollte mich eigentlich gar nicht vor die Tür lassen. »Wie fand Manu eigentlich Pias Auftritt?« »Ihr einziger Kommentar war, dass sie sehr gut singt. Dann hat sie gebrummt und wollte nicht weiter darüber reden. Ich glaube, sie ist rettungslos verschossen.« »Kein Wunder, dass Pia sich so unsicher ist, wenn Manu immer nur brummt :-D« »Das kannst du laut sagen. Ich brauchte auch Jahre, um das ein oder andere Brummen als Liebeserklärung zu erkennen.« »Ich vermisse dich.« Shit. Ich glaube, ich fluche während des Ramadan besonders viel. »Ich dich auch.« * Ein Hoch auf meine Eltern und ihr aktives Sozialleben! An dem Wochenende nach ʿĪd al-Fitr fahren sie meinen Onkel in Frankfurt besuchen und ich verweise Laura der Wohnung. Sie lacht, bewirft mich mit Kondomen und ruft bei ihrer bester Freundin an, um sich dort für zwei Tage einzunisten. Meine Schwester ist ein Segen. »Ich habe sturmfrei!«, schreibe ich Lelo bestens gelaunt. Wir haben uns für fünf Uhr verabredet und ich habe ihm bereits von Dragon Age berichtet. Zu meiner grenzenlosen Zufriedenheit hat er sofort zugestimmt, einen Charakter zu erstellen und es mit mir zusammen auszuprobieren. Ich möchte natürlich keine allzu hohen Erwartungen haben. Vielleicht knutschen wir ja nur ein bisschen rum, wenn Lelo hier ist, und verbringen dann den Rest des Abends vorm PC und mit Unterhaltungen über Gott und die Welt und mit vegetarischer Tiefkühllasagne, die ich extra aufgehoben habe. Ich bin ein elender Romantiker, ich weiß. Aber vielleicht haben wir ja auch Sex. So ein kleines bisschen. Ein schüchterner Handjob hier und da. Kim, reiß dich zusammen! Ich ziehe vorsichtshalber trotzdem mein schönstes Spitzenhöschen und ein geblümtes Kleid an, flechte mir sorgfältig die Haare und putze mir ungefähr fünf Minuten lang die Zähne, kurz bevor es schließlich klingelt. Zehn Minuten zu früh. Ich husche breit und ziemlich dümmlich grinsend zur Tür. »Ich habe vegetarische Tiefkühllasagne für uns aufgehoben«, begrüße ich ihn bestens gelaunt, noch bevor er ganz die Treppen herauf gestiegen ist. Lelo lacht und umarmt mich sehr fest zur Begrüßung, dann schält er sich aus seiner Jacke und seinen Schuhen und folgt mir in mein Zimmer. »Klingt hervorragend«, meint er amüsiert, während ich die Tür schließe und mich zu ihm umdrehe. Einen Augenblick lang sehen wir uns lächelnd an, dann kommt Bewegung in Lelo und ehe ich es mich versehe, hat er mich an die einzig freie Wand in meinem Zimmer gepresst und küsst mich so verlangend, wie er mich bislang noch nicht geküsst hat. Seine Hände sind überall auf meinem Körper, stehlen sich unter mein Kleid und schieben es nachdrücklich nach oben. Meine Knie fühlen sich schwach an und ich kralle mich haltlos an Lelos Pullover fest, während meiner Kehle ausgesprochen enthusiastische Geräusche entwischen. Eine von Lelos Händen vergräbt sich in meinen Haaren und zieht fest daran. Das Ziehen und Kribbeln auf der Kopfhaut schießt sofort hinunter in meine Körpermitte und ich stöhne hingerissen gegen Lelos volle Lippen, die mich weiterhin nachdrücklich um den Verstand knutschen. Ok, vielleicht doch kein Abend nur vorm PC. Dem Himmel sei Dank. Kapitel 16: Countdown - Bonus ----------------------------- Ich erinnere mich dumpf an all die Dinge, von denen ich Lelo erzählt habe, dass ich sie gern tun würde und erst als Lelo den Kuss löst und mich aus dunklen Augen hungrig ansieht, wird mir klar, dass er fest entschlossen ist, einiges davon in die Tat umzusetzen. Das Fasten hat ihn offensichtlich an den Rand seiner Beherrschung getrieben und ich bin begeistert angesichts all des Verlangens, das ich in seinem Gesicht entdecke. Seine Stimme zittert, als er spricht, aber seine Worte jagen mir einen Schauer über den Rücken und mein Spitzenhöschen ist eindeutig zu eng für die Erektion, die sich von innen dagegen drückt. »Knie dich hin.« Lelo zieht mich von der Wand weg und lehnt sich selber dagegen. Mein Gehirn ist blank, als ich mich folgsam auf die Knie sinken lasse und mit fahrigen Fingern anfange, seine Hose zu öffnen. Lelos Atem geht schwer und ich spüre seine Augen auf mir ruhen. Mit einem Ruck zerre ich seine Jeans und die Boxershorts gleichzeitig von seinen Hüften und Lelo zieht zischend die Luft ein. Er ist genauso erregt wie ich und ich lecke mir einmal über die Lippen, ehe ich mit den Fingern einmal kurz der Länge nach Lelos Erektion entlang streiche und mich dann vorbeuge, um sie in den Mund zu nehmen. Lelos Stimme ist wunderbar. Er keucht und stöhnt und jeder Ton, den er von sich gibt, löst kleine Explosionen in meiner Körpermitte aus. Ich schiebe eine seiner Hände in meine Haare und Lelo zieht erneut daran, drückt meinen Kopf ein bisschen zurück und ich merke, dass er sich mit aller Macht zurückhält, um seine Hüften nicht zu bewegen. Ich ziehe mich kurz zurück und schaue zu ihm auf und allein der Anblick von seinem zerwühlten Haar, den roten Wangen und den glasigen Augen ist fast genug, um mich augenblicklich in mein Höschen kommen zu lassen. »Du kannst dich ruhig bewegen. Ich halte das aus«, sage ich grinsend und Lelo gibt ein ersticktes Geräusch von sich. Dann nickt er kaum merklich und ich werde an den Haaren zurück zu seinem Schritt gezogen. Folgsam öffne ich den Mund und diesmal traut Lelo sich meinen Mund zu benutzen, wie er es braucht. Ich genieße das leichte Brennen in meiner Kehle und kralle meine Finger haltsuchend in Lelos Hüfte. Mir ist wahnsinnig heiß. »Kim.« Lelos heisere Stimme jagt mir einen heißen Schauer über den Rücken und schaue zu ihm auf, als er kurz in seinen Bewegungen inne hält. Ich bin dermaßen erregt, dass ich wahrscheinlich ohne großartiges Zutun so schnell komme wie ein Vierzehnjähriger, der gerade sein Geschlechtsteil entdeckt. Mit großer Mühe ziehe ich meinen Kopf zurück und lecke mir über die Lippen. Lelos Augen folgen meiner Zunge. Fuck. »Fass dich an«, weist Lelo mich leise an. FUCK. Ich gebe eindeutig kein Wimmern von mir. Lelo stöhnt laut, als ich seine Erektion erneut in den Mund nehme und dann meine freie Hand in mein Höschen schiebe. Meine Knie tun mittlerweile ziemlich weh, was mich noch schneller auf den Höhepunkt zusteuern lässt. Mit dem Schmerz in meinen Knien und meiner Kehle, meiner eigenen Hand in meinem Höschen, Lelos Händen in meinen Haaren und Lelos Stimme in meinen Ohren wundert es niemanden, dass ich weder zum Denken fähig noch besonders ausdauernd bin. Ich spüre wie sich alles in mir zusammen zieht und Lelos Stöße fahriger werden und weil ich ein kleiner egoistischer Teufel bin und kein Maß kenne, wenn es um gute Dinge geht, löse ich meine Lippen in dem Moment von Lelos Erektion, als er kommt. Lelo gibt ein überraschtes Keuchen von sich, während sich warme Flüssigkeit über meinen Mund, meine Wangen und mein Kinn ergießt und ich merke, wie er eine seiner Hände aus meinen Haaren löst und sie sich vor den Mund schlägt. Beinahe hätte ich gelacht, wenn ich nicht in diesem Augenblick angesichts der Reizüberflutung selbst gekommen wäre. »Fuck.« Ich kneife die Augen zusammen und als ich sie schwer atmend wieder öffne, kniet Lelo vor mir und starrt mich groß an. Ich lecke mir über die Lippen und er gibt ein ersticktes Geräusch von sich. »Sorry«, sage ich heiser und wische mir mit der Hand, die nicht mit meinem eigenen Sperma bekleckert ist, übers Gesicht. Lelo angelt nach einem Taschentusch und reicht es mir. Er scheint sprachlos zu sein und ich gluckse erschöpft und zufrieden vor mich hin. »Vielleicht hätte ich vorher ankündigen sollen, dass… das auch ein Ding für mich ist«, hüstele ich und wische mir mit dem Taschentusch Gesicht und Finger ab. »Kim«, sagt Lelo und ich schaue ihn mit schief gelegtem Kopf an. »Hm?« »Ich fürchte, du hast ein Sexmonster aus mir gemacht.« Ich lache laut auf und muss ihn erst einmal lang und fest umarmen. »Sowas höre ich gerne. Auch wenn ich bislang das Gefühl hatte, dass du dich mit wenig Schwierigkeit zurückgehalten hast«, sage ich und streichele über seinen nackten Rücken. Seine braune Haut ist immer noch ganz erhitzt und er zittert ein bisschen. »Möchtest du mit mir in die Badewanne gehen?«, frage ich und drücke mein Gesicht in seine Halsbeuge. Ich spüre, wie er nickt. Ein Hoch auf sturmfrei! Ich schäle mich aus meinem vollgesauten Höschen und stehe auf, während Lelo aus seinen Hosenbeinen und seiner Shorts steigt. Dann folgt er mir ins Bad und beobachtet mich dabei, wie ich heißes Wasser und Badezusatz in unsere Badewanne laufen lasse. »Ich hoffe, ich hab dich nicht verschreckt«, sage ich schließlich und mustere Lelos gerötete Wangen und seine immer noch glasigen Augen. Lelo schüttelt hastig den Kopf und bringt mich so zum Lächeln. »Definitiv nicht!« »Gut.« »Ich hoffe, ich hab mich nicht zu dödelig angestellt«, sagt er und ich muss lachen. Dann schüttele ich den Kopf, steige in die Badewanne und winke Lelo zu mir. »Definitiv nicht«, versichere ich ihm. Kapitel 17: Gefühlsausbrüche ---------------------------- Zu meinem größten Erstaunen ist es tatsächlich so, wie Lelo gesagt hat. Ich habe ein Sexmonster aus ihm gemacht. Nicht, dass mich das stören würde – das wäre sehr gelogen. Aber ich wundere mich darüber, wie dieses eine erste Mal Sex anscheinend einen Knoten in ihm gelöst hat. Während ich ihn am Anfang auch mit ausgiebigem Knutschen und Fummeln nicht dazu bringen konnte, die Beherrschung zu verlieren, reicht jetzt ein aufreizendes Grinsen oder eine zweideutige Bemerkung und zack, hat Lelo meine Handgelenke auf die Matratze oder die nächstbeste Wand gepinnt und angefangen mich besinnungslos zu knutschen. Bislang hatten wir noch keinen Analsex, aber das stört mich nicht. Ich bin definitiv so sexuell ausgelastet wie noch nie zuvor in meinem zugegebenermaßen recht kurzen Leben. Lelo scheint das alles recht peinlich zu sein, aber ich werde es nicht müde ihm zu versichern, wie hingerissen ich von seiner maßlosen Begeisterung bin. Ich meine, wer würde sich nicht davon geehrt fühlen, dass Lelo allein davon, dass ich mir anzüglich auf die Unterlippe beiße, einen Ständer bekommt? Manu sagt, ich würde noch mehr leuchten als am Anfang, als ich mit Lelo zusammen gekommen bin. »Notgeiler Rammler«, sagt sie brummend. Ich falle fast lachend vom Stuhl und scheitere kläglich dabei, sie angesichts ihrer Wortwahl entrüstet anzuschauen. »Manchmal denke ich mir schon, dass es einfacher wäre, wenn ich so eine winzige Libido hätte wie du«, sage ich seufzend, nachdem ich mich von meinem Lachanfall beruhigt habe. Manu hebt die Brauen. »Nur, solange man nicht in einer Beziehung mit jemandem ist, der Sex wichtig findet. Dann hat man den ganzen Stress an der Backe«, gibt sie zurück und ich weiß natürlich, dass sie vollkommen Recht hat. Nicht, dass ich schon mal in einer Beziehung mit einer asexuellen Person gewesen wäre – und auch Manu hatte bislang noch keine richtige Beziehung – aber ich kann mir vorstellen, dass dieser Interessenunterschied doch ziemlich nervenaufreibend für alle Beteiligten sein kann. Ich denke kurz darüber nach, ob ich Manu bezüglich Pia erst einmal eine Weile in Ruhe lassen sollte, aber dann siegt doch die Neugier und das Mitleid mit Pia. »Glaubst du, Pia würde sich sehr daran stören, dass du asexuell bist?« »Hmpf«, sagt Manu, was ich als nicht besonders aufschlussreich empfinde. Wir liegen in ihrem Zimmer auf ihrem breiten Bett und hören uns ein Album von Schandmaul an. Nebenbei schiebt Manu abwechselnd mir und sich selbst Weintrauben in den Mund. »Ist das eine der Sachen, die dich von einer Beziehung mit ihr abhalten?«, erkundige ich mich weiter und werde prompt mit einer Weintraube beworfen. »Kim«, brummt sie warnend. Ich hebe abwehrend die Hände in die Luft, ehe ich nach der verloren gegangenen Weintraube angele. »Ich sorge mich nur um dein Wohlergehen! Und ein bisschen um das von Pia, wenn ich ehrlich bin.« Manu schweigt ein ganzes Lied lang und ich denke schon, dass sie gleich einfach das Thema wechseln wird, aber stattdessen dreht sie den Kopf zu mir um, stopft mir unsanft eine weitere Weintraube in den Mund und sagt: »Ich war noch nie verknallt, ok? Es ist einfach gruselig.« Ich sehe in ihren Augen wie viel Überwindung sie diese Worte gekostet haben müssen und deswegen rutsche ich zu ihr herüber und schmiege mich an sie. Sie knurrt leise, legt aber einen Arm um mich und seufzt leise in meine Haare. »Ich weiß. Aber es ist wirklich super! Du solltest dieser ganzen Beziehungssache mal eine Chance geben!« »Du klingst wie ein Staubsaugervertreter«, klagt Manu in meine Haare hinein und ich kichere leise und drücke sie ein wenig an mich. »Pia ist eindeutig besser als jeder Staubsauger.« * Das nächste Mal, als Lelo bei uns in der Wohnung zu Besuch ist, ist Tom da. Ich war nicht besonders erpicht darauf, dass die beiden sich kennen lernen, aber ich habe mir auch nicht aktiv Mühe gegeben, ein Treffen zu verhindern. Was ich allerdings bereue, als ich Toms verwirrte Miene sehe, nachdem ich ihm Lelo vorgestellt habe. Theoretisch weiß Tom natürlich, dass ich auch auf Männer stehe, aber praktisch hat er mich noch nie mit einem gesehen. Ich gebe ihm keine Gelegenheit dumme Fragen zu stellen und bugsiere Lelo aus der Küche und in mein Zimmer. »Das war… interessant«, sagt Lelo und kratzt sich am Hinterkopf. Vermutlich hat er angesichts den anderen Mitgliedern meiner Familie eine etwas offenere und herzlichere Begrüßung erwartet. Aber Tom ist eben einfach nicht so der herzliche Typ. Was er hier überhaupt unter der Woche macht, ist mir ehrlich gesagt ein Rätsel. Meistens taucht er nur sonntags auf. Wie der Spießer, der er ist. »Mach dir nichts draus. Tom ist zu spießig, um mit irgendwas umgehen zu können, was nicht hetero ist«, erkläre ich schulterzuckend und lasse mich auf meinen Schreibtischstuhl fallen, um Lelo meinen neusten Dragon Age Charakter zu zeigen. »Aber wie kann das sein? Ich meine… deine Eltern…?« Ich muss lachen. »Das fragen Laura und ich uns auch. Entweder er ist im Krankenhaus vertauscht worden, oder das ist seine Art rebellisch zu sein und sich von uns anderen abzuheben«, sage ich amüsiert. Tom ist mir ziemlich gleichgültig. Er war früher schon anstrengend und hat sich seitdem eigentlich nur noch gesteigert. Ich bin jetzt schon gespannt darauf, wie steif er als alter Mann sein wird. Vermutlich verteilt er Schläge mit seinem Spazierstock und beobachtet den ganzen Tag seine Nachbarn, um nach Sittenverstößen Ausschau zu halten. »Wenn er erfährt, dass ich Muslim bin, kriegt er vielleicht einen Herzinfarkt«, mutmaßt Lelo nachdenklich und ich nicke ernst. »Vielleicht. Aber ich würde es dir nicht vorwerfen, keine Sorge.« »Deine Gnade wird mir ewig nachschleichen.« Tatsächlich bleibt Tom bis zum Abendessen und ich vermute beinahe, dass er Stunk mit seiner Freundin Lisbeth hat und deswegen keine Lust hat bei sich zu Hause rumzuhocken. Lisbeth ist eigentlich viel zu gut für Tom und ich frage mich schon ewig, was sie eigentlich mit ihm will. Aber wer weiß, was für versteckte Qualitäten er noch hat, von denen ich keine Ahnung habe. Und auch keine Ahnung haben möchte, versteht sich. Alle unterhalten sich sehr angeregt und Lelo versteht sich offensichtlich besser mit dem Rest von uns als Tom. Traurig, wirklich. Ich merke, wie Tom Lelo dauernd anstarrt und das macht mich doch zunehmend unzufrieden, weil es unhöflich ist und ich genau weiß, dass Tom ihn nicht so anschaut, weil Lelo entzückend aussieht. Mehr als einmal werfe ich Tom ungnädige Blicke über den Küchentisch hinweg zu, aber mein Bruder lässt sich selbstredend nicht davon beeindrucken. Beinahe bereue ich es, dass ich heute kein Kleid und kein Makeup trage. Eventuell habe ich zu viel Spaß daran, Tom zu ärgern. In mir steckt wohl doch auch ein kleiner Sadist. Und dann passiert es natürlich. »Und, Lelo? Wo kommst du her?«, will Tom wissen. Ich muss mich mit aller Macht davon abhalten mir die Hand vor die Stirn zu schlagen. Lelo blinzelt verwirrt. »Ähm… ursprünglich aus Hamburg«, sagt er. Tom runzelt ein wenig die Stirn. Ich wünschte, er würde es dabei belassen, aber natürlich… »Naja, ich meine… woher genau?« »Möchtest du seine genaue Adresse wissen, oder was?«, zische ich Tom ungehalten zu und funkele ihn wütend über mein belegtes Brötchen hinweg an. Meine Eltern werfen sich einen vielsagenden Blick zu und sehen angesichts von Toms Manieren etwas beschämt aus. Laura schüttelt den Kopf. Natürlich weiß ich genau, dass Tom eigentlich hören wollte »Ich bin aus Pakistan«, am besten noch in einem dicken entsprechenden Akzent. Als könnte man kein Deutscher sein, wenn man keine weiße Haut hat. Ugh, mein Bruder. »Nein, ich wollte nur wissen–« »Du wolltest nur mal raushängen lassen, dass du ein Trottel bist. Hat geklappt«, gebe ich ungehalten zurück und beiße von meinem Brötchen ab. Tom hat seine »Du spinnst wohl, Kim«-Miene aufgesetzt, aber ich gebe ihm keine Gelegenheit weiter über das Thema zu reden, sondern erkundige mich bei Laura über ihr letztes Date. Lelo wirkt gleichzeitig betreten und dankbar über das Eingreifen und ich schaffe es, eine normale Unterhaltung mit allen Leuten am Tisch – abgesehen von Tom natürlich – zu führen, bevor ich mich am Ende meines Brötchens hastig erhebe und Lelo mit mir aus der Küche schleife. »Immerhin wird Sophia dich nicht fragen, wo genau du herkommst«, sagt Lelo und tätschelt mir die Schulter, als ich rauchend vor Empörung meine Zimmertür hinter mir schließe und ihn entschuldigend ansehe. Unweigerlich muss ich lachen. »Aber vielleicht prüfen deine Eltern mein Wissen über eure Religion!«, gebe ich zurück. Lelo schnaubt amüsiert. »Eher nicht. Keine Sorge«, meint Lelo beruhigend und streicht mir mit den Fingern durch die Haare. Wir setzen uns ohne Absprache vor meinen Schreibtisch und ich starte meinen Computer. Ich schwanke ein bisschen zwischen Angst vor diesem bislang nur vage geplanten Treffen mit Lelos Familie und dem Wunsch, dass es am besten gleich morgen stattfinden möge, damit die Aufregung endlich ein Ende hat. Ich betrachte Lelo von der Seite, der alle meine engsten Freunde und meine Familie kennt und begeistert hat und den ich am liebsten der ganzen Welt als meinen festen Freund vorstellen möchte. Wenn es nach mir ginge, würde ich am liebsten jeden Tag Händchen haltend durch die Stadt laufen und allen Leuten demonstrieren, dass Lelo zu mir, mir, mir und nur mir gehört. Ich erinnere mich daran, wie nervös er auf dieser Schaukel gesessen hat und wie wir uns zum ersten Mal geküsst haben. Es scheint immer noch alles so unwirklich zu sein und wenn man mir vor ein paar Monaten gesagt hätte, dass ich mit Lelo aka unserem Jahrgangsprinzen aka dem Objekt meiner schmachtenden Gedanken zusammen kommen würde, hätte ich sehr laut und ungläubig gelacht. Bislang habe ich mich noch nicht so richtig getraut Lelo zu sagen, dass ich in ihn verliebt bin. Ich meine, eigentlich weiß er das natürlich und wir haben uns gesagt, dass wir uns gut finden und dass wir den jeweils anderen mögen… aber das ganze Ausmaß meiner Gefühle habe ich definitiv noch nicht laut ausgesprochen. Dabei will meine ganze Zuneigung zu Lelo immer aus jeder winzigen Pore meines Körpers heraus fluten, wenn ich auch nur an ihn denke oder ihn ansehe. Lelo startet Dragon Age und summt leise ein Lied, das ich nicht kenne und ich frage mich, ob wir hier auch noch zu unserer Abizeit sitzen und Computer spielen und reden und knutschen und braune Apfelspalten essen werden und mein Herz schwillt vor lauter Begeisterung auf die doppelte Größe an, als ich mir das vorstelle. Seltsam, dass ich ihn in den ersten Jahren unserer gemeinsame Schullaufbahn beknackt fand, einfach nur weil er mit fast allen Leuten gut auskommt und so beliebt bei allen ist. Ich Dödel. Ich höre die Wohnungstür zugehen und denke, dass Tom gerade gegangen ist. Gut. Jetzt, da er weg ist, ist der Moment eindeutig perfekt. Ich würde dieses Bild von Lelo gerne einfrieren. Ihm fällt auf, dass ich ihn eindringlich betrachte und dreht den Kopf, um mich mit schief gelegtem Kopf leicht fragend anzusehen. »Alles ok?«, fragt er. Ich nicke hastig. »Alles bestens!« Lelo mustert mich und stupst schließlich meine Nase mit seinem Finger an. Mein Herz stottert und die Schmetterlinge in meinem Bauch tanzen Samba. »Was geht in deinem hübschen Kopf vor?«, will Lelo schmunzelnd wissen. Wenn ich es ihm nicht gleich sage, platze ich wahrscheinlich. Ich hole tief Luft. »Dass ich ganz schrecklich verliebt in dich bin und auch schon ewig bin und ich dass ich ein riesiger Glückspilz bin und dass ich noch ganz lange mit dir zusammen sein will und dass deine Locken das entzückendste sind, was ich in meinem Leben je gesehen habe, mit Ausnahme vielleicht von Babykatzen und–« Lelos Wangen sind knallrot angelaufen und er blinzelt sehr schnell und ich sehe ihn schlucken und verhaspele mich mitten in meinem Liebeserklärungsausbruch und verschlinge ein wenig peinlich berührt meine Finger ineinander, während mein Herz von innen ein Tattoo auf meine Rippen graviert. »Sag’s noch mal«, flüstert Lelo und ich glaube, ich sterbe gleich von einem Überschuss an Glückshormonen. Ich befeuchte meine Lippen mit der Zunge und sehe Lelos Augen hinunter zu meinem Mund huschen. Sein Blick folgt der kleinen Bewegung, bevor er mich wieder mit hochroten Wangen anschaut. Ich schlucke. »Ich… ähm…« Ich schwöre, gerade war es noch einfacher, als Lelo mich nicht so großen Telleraugen erwartungsvoll angesehen hat. Wenn ich jetzt einfach ohnmächtig werden würde, könnte ich es einfach später noch mal sagen… »Ich bin sehr… verliebt in dich«, krächze ich peinlich berührt über meinen Ausbruch und Lelo zieht zischend die Luft ein. Dann werde ich sehr innig auf den Mund geküsst und gebe ein ersticktes Japsen von mir. Die nächste halbe Stunde werde ich beduselig geküsst und bin eigentlich schon bereit für alle möglichen schmutzigen Dinge, weil Lelo wirklich wie ein Weltmeister küsst, aber dann löst Lelo sich von mir und schaut mich aus großen, braunen Augen an. Und sagt sehr leise und heiser: »Ich bin auch sehr verliebt in dich.« Meine Erregung verpufft in einer Wolke aus Zärtlichkeit und Glücksgefühlen, die sich von meinem Magen durch meinen Brustkorb in den ganzen Körper verteilen und dazu führen, dass ich mich wie eine Brausetablette in Wasser fühle. Zu meiner grenzenlosen Verlegenheit spüre ich meine Augenwinkel brennen und reibe hastig mit dem Handballen über meine Lider. »Ah! Bitte wein nicht!«, sagt Lelo entsetzt und ich muss lachen. »Es sind ja keine traurigen Tränen, du Dödel!« Jetzt muss Lelo auch lachen und er zieht mich ganz dicht an sich heran und vergräbt sein Gesicht an meinem Hals. Und wenn zwei Tränchen sich tatsächlich einen Weg meine Wange herunter bahnen, dann sieht er das so nicht, weil sie einfach sehr diskret in seinen wuscheligen Locken verschwinden. Kapitel 18: Jemand ------------------ »Sophia möchte dich kennenlernen.« Ich verschlucke mich an meiner Cola und hüstele und röchele zwei Minuten vor mich hin, während Lelo mir sehr mitfühlend auf den Rücken klopft. »Du siehst überrascht aus. Eigentlich ist das ja nichts Neues«, meint er amüsiert und ich sehe ihn mit tränenden Augen und immer noch röchelnd an. »Eigentlich nicht, aber der Gedanke an ein Treffen mit deiner Familie versetzt mich halt immer wieder in einen Schockzustand«, gestehe ich und nehme noch einen vorsichtigen Schluck Cola aus meinem Glas. »Sie hat schon vorher gesagt, dass sie dich eigentlich gerne vor unseren Eltern kennenlernen würde und dann hab ich ihr erzählt, dass wir viel Computer miteinander spielen und… ja. Sie möchte dich gerne kennenlernen und mit uns Videospiele spielen«, erklärt Lelo und er sieht gleichzeitig peinlich berührt und belustigt über seine kleine Schwester aus. Mich beruhigen seine Worte immens. Ich strahle Lelo erleichtert an und sehe seine Überraschung. »Das ist ja fantastisch! Dann haben wir direkt was, worüber wir reden können! Was möchte sie denn spielen? Hast du ihr von Skyrim und Dragon Age erzählt?« Lelo gluckst heiter und ich glaube, er ist jetzt auch erleichtert, weil ich mich plötzlich so darauf freue, eins seiner Familienmitglieder kennenzulernen. Aber es ist natürlich auch viel einfacher jemanden neu kennenzulernen, von dem man schon weiß, dass Interessen geteilt werden. Und wenn wir einfach hier in meinem Zimmer hocken und für Sophia einen Charakter erstellen, bin ich voll in meinem Element! »Ich glaube, wenn ich sie etwas ab 18 spielen lasse, könnte ich nicht mehr in den Spiegel schauen«, sagt Lelo schmunzelnd und stupst mit seinen Finger die Dragon Age Verpackung an, die auf meinem Schreibtisch auf einem Berg Hausaufgaben liegt – die ich peinlicherweise sehr vernachlässige, seit ich so viel Zeit mit Lelo verbringe. Ich weiß wirklich nicht, wie er mich, seine Gebete, Familie und auch noch Hausaufgaben unter einen Hut kriegt, ohne am Stock zu gehen. Manu ist schon die ganze Zeit sehr streng mit mir, weil ich meinen Hintern nicht hochkriege. Ich weiß, man sieht es Manu wahrscheinlich nicht an, aber sie ist eine ausgesprochen geflissentliche Hausaufgabenerledigerin. »Wenn ich dann doch mal mündlich faul sein will, kann ich immer noch am Anfang der Stunde meine Hausaufgaben vortragen und dann denken alle Lehrer, dass ich voll dabei bin«, pflegt sie immer zu sagen. Und natürlich hat sie eigentlich total Recht. Aber. Sie ist ja auch nicht mit Lelo zusammen und möchte ihn eigentlich gerne 24 Stunden am Tag knutschen und begrabbeln und sich über alles Mögliche mit ihm unterhalten. Eine schwere Last, die ich da trage, ich weiß. »Also Skyrim«, sage ich und Lelo nickt. »Ich hoffe, sie hat keine Angst vor Mumien«, füge ich hinzu und denke an die Draugr. Lelo schmunzelt. »Ich denke nicht. Aber vor Spinnen«, meint er und sieht fast ein bisschen schadenfroh aus. Ich buffe ihn gegen die Schulter und sehe ihn gespielt streng an. »Sei nicht fies zu deiner kleinen Schwester!« Lelo lacht und hebt abwehrend die Hände. »Würde ich nicht im Traum dran denken!« »Ich bin ein kleiner Bruder, ich spüre ihren Schmerz!« Lelo schnaubt und wuschelt mir durch die offenen Haare. »Ich sehe schon, ihr werdet euch glänzend verstehen«, sagt er und ich grinse zufrieden. * Lelo und ich habe für nächste Woche ein Treffen mit Sophia ausgemacht, die sich ausgesprochen freudig darüber geäußert hat. Wie Lelo mir mitteilt, hat sie ein wenig darüber geknötert, dass er sie ein Spiel ab 18 nicht spielen lassen will, aber sie war besänftigt, nachdem er ihr versichert hat, dass Skyrim auch sehr gruselig ist und er sich schon mehrfach sehr erschreckt hat. Von allem, was Lelo mir bisher von Sophia erzählt hat, klingt sie nach einem sehr entschlossenen und sturen Mädchen, aber Lelo kriegt auch immer dieses liebevolle Funkeln in den Augen, wenn er von ihr redet. Als ich Laura davon erzähle und sie frage, ob sie auch ein liebevolles Funkeln in den Augen hat, wenn sie von mir spricht, lacht sie nur und verschwindet im Bad. Pff. Wenn ich nicht wüsste, dass sie mich sehr liebt, wäre ich jetzt beleidigt. Ich erzähle Manu von dem bevorstehenden Treffen mit Sophia und dass ich mich jetzt tatsächlich darauf freue, sie kennenzulernen. »Sie will mit uns Skyrim spielen! Ist das nicht cool?«, sage ich enthusiastisch und schiebe mir ein Stück von meinem Muffin in den Mund. Manu nickt, aber ich hab ein bisschen das Gefühl, dass sie nicht so recht bei der Sache ist. Ich mustere sie von der Seite und stupse sie vorsichtig an. »Alles ok?«, frage ich leise. Manu blinzelt, als müsste sie sich aus ihrer Gedankenwelt zurück in die Gegenwart zerren und dreht den Kopf, um mich anzuschauen. »Weiß ich nicht«, sagt sie dann ehrlich und ich lasse besorgt die Schultern hängen. Manu gibt nur selten zu, dass etwas nicht in Ordnung ist und in diesem Augenblick wird mir klar, dass ich in letzter Zeit so mit Lelo beschäftigt war, dass ich vielleicht nicht genug auf sie und ihr Leben geachtet habe. »Möchtest du darüber reden?«, erkundige ich mich ernst und sie schaut mich streng an. Ich grummele. »Was denn? Das ist eine völlig normale Frage! Sei kein Dödel!«, sage ich empört und sie grinst schief. Dann zuckt sie mit den Schultern und piekst ihren Zeigefinger in meinem Muffin. Ich bin zu erwartungsvoll darauf zu erfahren, worum es geht, als dass ich sie dafür hätte kritisieren wollen. Außerdem sind meine Muffins auch immer Manus Muffins. Sie bricht ein Stück davon ab und betrachtet es, als würde sie es persönlich für ihre Probleme verantwortlich machen. »Ich war ein Arschloch zu Pia und jetzt redet sie nicht mehr mit mir«, sagt Manu schließlich und schiebt sich das Stück Muffin in den Mund, als könnte sie so auch ihren Streit mit Pia schlucken und verschwinden lassen. Ich rutsche ein Stück näher zu ihr herüber und lege mein Kinn auf ihrer Schulter ab. Sie schweigt eine ganze Minute lang und ich halte ihr meinen angebrochenen Muffin hin, den sie nimmt und während ihres Schweigens verspeist. Unweigerlich werfe ich einen Blick hinüber zu Pia, die wieder mit uns in der Pausenhalle steht, allerdings den Rücken zu uns gewendet hat und tatsächlich ein bisschen so aussieht, als würde sie Manu absichtlich ignorieren. Pia schien mir bislang wirklich eine Seele von Mensch zu sein, deswegen ist es umso ungewohnter von Manu zu hören, dass Pia sauer ist. Und Manu scheint sogar selbst schon eingesehen zu haben, dass der Fehler bei ihr selbst liegt… »Also erst mal… haben wir geknutscht. Letztens. Als wir uns bei mir getroffen haben und… wir haben Musik zusammen gemacht und… Ja, ok? Ja, ich hab mein blödes Cello für sie ausgepackt«, sagt Manu brummig und sieht streng zu mir herunter, weil ich Augen rund wie Teller bekommen habe. Manu hat ihr Cello seit Monaten nicht mehr angerührt – einfach, weil sie keinen Bock mehr hatte – und dass Pia sie nun tatsächlich dazu bewegt hat, das Ding wieder in die Hand zu nehmen. Wow. Ich hab ihr immer sehr gerne zugehört beim Spielen, aber ein Hobby macht ja auch nur Sinn, wenn man wirklich Spaß dran hat. Ich richte mich sehr gerade auf und schaue sie gespannt an, was mir einen Schnipser gegen die Wange einbringt, aber ich lasse mich nicht ablenken. Manu sieht aus, als würde sie sehr mit sich hadern, dann fährt sie schließlich fort. »Also… ihre Eltern sind ja solche Arschlöcher, total homophob und alles, wollen, dass Pia ins Bankwesen geht, obwohl sie eigentlich Medizin studieren will und so. Und naja… Ich hab ihr halt gesagt, dass ich keinen Bock drauf hätte, ihre geheime Freundin zu sein und da meinte sie, dass sie ja keine andere Wahl hat, weil sie schließlich von ihren Eltern abhängig ist und dann hab ich gesagt, dass sie…« Manu seufzt. »Ich hab gesagt, dass sie keinen Arsch in der Hose hat und ich niemandes schmutziges Geheimnis sein will und dann hat sie mich richtig angeranzt und geweint und ist gegangen und seitdem reden wir nicht mehr miteinander.« Ich starre Manu an. Eigentlich möchte ich meine beste Freundin natürlich immer sehr unterstützen und auf ihrer Seite sein und ich verstehe sogar ein bisschen, warum sie nicht ihre erste Beziehung nicht unbedingt unter der Decke halten will – zumindest nicht auf Dauer. Aber Pia so etwas vorzuwerfen, wenn Pia doch sehr gute Gründe für ihre Geheimniskrämerei hat, war wirklich… »Ok, das war wirklich arschig von dir«, gebe ich zu und Manu seufzt erneut und nickt. »Ja, weiß ich mittlerweile auch. Sie hat gesagt, dass eben nicht jeder drauf scheißen kann, was andere von einem denken und dass es ja schön ist, dass ich so privilegiert aufgewachsen bin und meine Eltern damit kein Problem hätten, aber dass es für sie eben nicht sicher ist, sich zu outen, weil ihre Eltern sie dann wahrscheinlich auf die Straße setzen würden und sie für ein Studium ja auch die finanzielle Unterstützung braucht und… ja. Sie hat natürlich eigentlich mit allem Recht und jetzt bin ich diejenige, die keinen Arsch in der Hose hat, weil ich es nicht gebacken kriege, mich bei ihr zu entschuldigen. Yay!« Ich sehe Manu betreten an. Sie unterstreicht ihr »Yay!« mit einem Klopfen ihrer eigenen Schulter und lehnt dann ihren Kopf nach hinten an die Glasscheibe hinter uns. Ich denke darüber nach, was ich dazu sinnvolles sagen könnte, aber letztendlich gibt es wohl nichts Hilfreiches, was ich beitragen kann. »Tut mir Leid, dass ich in den letzten Tagen nicht gepeilt hab, dass es dir schlecht geht«, sage ich betreten und Manu lächelt ein bisschen. »Schon ok. Ist ja nicht so, als würde ich damit hausieren gehen«, meint sie und ich sehe, wie sie hinüber zu Pia schaut. Die hat uns immer noch den Rücken zugedreht. »Trotzdem! Ich hätte es merken sollen. Ich möchte auch eigentlich gerne alles ganz genau über diese Knutscherei und diese Cello-Aktion wissen, aber wahrscheinlich bist du dazu nicht so in der Stimmung?«, meine ich hoffnungsvoll und Manu nimmt mich prompt in den Schwitzkasten und rubbelt mir über den Kopf. Mein geflochtener Zopf löst sich sofort in Luft auf und ich protestiere lautstark. »Ok, ok! Stopp! STOPP! Ich frage nicht mehr nach! AHHH!« Manu lässt mich aus dem schraubstockartigen Griff und ich sehe garantiert aus wie ein explodiertes Kissen, weswegen sie mich direkt ordentlich auslacht. Ich bin froh, dass ich sie mit meiner ruinierten Frisur ein bisschen aufheitern konnte. Ich löse das Zopfgummi aus meinem Haar und binde es stattdessen zu einem normalen Pferdeschwanz und dann läutet es zum Ende der Pause. Wir drehen beide den Kopf und schauen Pia nach, die ohne sich umzudrehen die Pausenhalle verlässt. Ich lege Manu die Hand auf die Schulter. »Sollen wir heute Nachmittag Star Wars gucken?«, frage ich. Manu streckt mir die Zunge raus, steht auf und streckt sich. »Ja, bitte«, sagt sie dann und wir gehen zusammen in Richtung Physik. Vielleicht höre ich die Knutsch-und-Cello-Geschichte ja später noch. * »Pia geht es irgendwie nicht so gut im Moment…« »Manu auch nicht. Leider sind nicht alle Paare so unkompliziert wie wir!« »Auch wir hatten unsere Startschwierigkeiten ;-)« »Aber nicht so holprige!« »Glaubst du, wir sollten irgendwas machen?« »Wenn du willst, dass Manu dich erwürgt, bitte sehr O.O« »Alles klar :-D« * Wie es sich herausstellt, löst Manu ganz ohne meine Beihilfe – außer man bezeichnet ausgedehnte Filmmarathonnachmittage und mehrere Runden Scrabble als kompetente Hilfe in solchen Fällen – ihre Probleme und zwar genau an dem Tag, an dem Sophia zusammen mit Lelo zu mir kommen soll, um mit uns Skyrim zu spielen. Natürlich schweigt Manu sich über die Details aus, aber als ich sie morgens vorm Schulgebäude begrüße, sieht sie irgendwie verdächtig aus und ich schaue sie fragend an, bis sie schließlich anfängt ein wenig peinlich berührt zu grinsen. »Also… ich denke, ich bin jetzt heimlich mit Pia zusammen«, erklärt sie und stoße einen Siegesruf aus, der viele Köpfe dazu bringt, sich zu mir umzudrehen. Ich räuspere mich peinlich berührt und streiche meinen Rock glatt. »Werde ich alle schmutzigen Details erfahren? Ich will auch immer noch die dramatische Cello-Geschichte hören!«, sage ich begeistert und winke Pia hocherfreut zu, als sie an uns vorbeigeht und uns verschwörerisch zulächelt. Manu boxt mich gegen den Oberarm. »Wenn du so fragst auf keinen Fall!«, zischelt sie mit hochrotem Kopf und marschiert in Richtung Eingang. Ich folge ihr bestens gelaunt und piesacke sie weiter mit Fragen, auch wenn ich weiß, dass Manu mir diese Dinge erst dann erzählen wird, wenn sie bereit dazu ist. Unter dem Tisch in Deutsch schreibe ich Lelo eine SMS: »Manu und Pia sind jetzt zusammen!!! Heute Nachmittag kann also nur ein Erfolg werden!« »Ich weiß zwar nicht so richtig, wie meine Schwester und Manus und Pias Beziehung miteinander zusammenhängen, aber ich hab ja sowieso schon gewusst, dass heute Nachmittag ein Erfolg wird ;-) Ich freue mich für die beiden!« * Für Sophia tausche ich meinen Rock gegen eine Hose und wische mir die Wimperntusche von den Augen. Außerdem schnippele ich einen ganzen Berg Äpfel – diesmal sogar extra kurz bevor die beiden hier auftauchen, damit das Obst nicht wieder braun wird. Ich bin immer noch bestens gelaunt wegen Pia und Manu und stelle mir vor, wie sie gerade heimlich irgendwo miteinander herum turteln. Hach. So viel Liebe! »Du solltest bei Bethesda Geld verlangen, so wie du ihre Spiele verbreitest«, sagt Laura amüsiert zu mir, als ich ihr erkläre, dass Lelo heute mit seiner kleinen Schwester hierher kommt. »Eine Karriere, über die ich mir bislang noch keine Gedanken gemacht habe!«, gebe ich belustigt zurück und häufe all die Apfelspalten auf einen Teller, just in dem Moment, als es klingelt. Zugegebenermaßen flattern mir die Nerven jetzt doch, auch wenn mir das Treffen sicher leichter fällt als ursprünglich gedacht. Man will ja schließlich einen guten Eindruck hinterlassen! Weil ich dazu neige ein nervöses Wrack zu sein, male ich mir im Bruchteil einer Sekunde aus, was alles schiefgehen könnte und als ich die Tür öffne und Stimmen im Treppenhaus höre, bin ich fast schon wieder überzeugt davon, dass doch alles in die Hose gehen wird. Sophia sieht Lelo sehr ähnlich. Sie hat auch seine dichten, buschigen Augenbrauen, seine braune Haut und sein leuchtendes Lächeln. Ihre Haare werden von einem sehr bunt geblümten Kopftuch verdeckt und sie hat eine Schüssel in der Hand, die mit Folie abgedeckt ist. Als sie mich entdeckt lächelt sie so strahlend, dass ich fast hinten über kippe. Mit zwei solchen Super Novas in einem Zimmer zu sitzen wird ja eine echte Herausforderung. Ich winke die beiden herein und Lelo nimmt Sophia die Schüssel ab, während sie sich die Schuhe auszieht. »Sophia hat als Gulab Jamun gemacht. Als Dank für die Einladung«, erklärt Lelo schmunzelnd und Sophia sieht sehr verlegen und gleichzeitig sehr zufrieden aus. »Ich hab keine Ahnung, was das ist, aber ich bin sicher, es schmeckt aufregender als die Apfelspalten, die ich gerade geschnitten hab«, erkläre ich grinsend und hebe neugierig die Folie an. In der Schüssel liegt ein ganzer Berg von Teigbällchen, die sehr süß und ausgesprochen lecker riechen. »Apfelspalten haben sich als sehr angemessen erwiesen, wenn es ums Skyrimspielen geht«, sagt Lelo glucksend und Sophia sieht sich interessiert in unserem Flur um, während Lelo die komplette Folie von der Schüssel nimmt und auf meine Zimmertür deutet. »Ich hab Lelo gefragt, ob du Süßes magst und er meinte, mit Süßkram kann man bei dir nichts falsch machen«, sagt Sophia lächelnd und betritt interessiert mein Zimmer, dass ich gestern Abend extra noch aufgeräumt und von so viel Staub wie möglich befreit habe. Seit ich mit Lelo zusammen bin, bin ich fast zu einem ordentlichen Menschen verkommen. Mein Vater hat schon gescherzt, dass ich jetzt staubwische als er und er wischt mindestens alle zwei Wochen. »Gulab Jamun sind süße Teigbällchen. Wenn du sie nicht magst, ess ich sie einfach alle alleine auf«, mein Sophia verschmitzt und schiebt sich zur Bestätigung ihrer Worte prompt ein Teigbällchen in den Mund. Dann seufzt sie zufrieden. »Ich hab gut gekocht«, erklärt sie, nachdem sie aufgekaut hat. Ich hab extra noch einen Stuhl mehr als üblich mit ins Zimmer gebracht und muss nicht einmal einen riesigen Berg Schulbücher und Papierkram vom Schreibtisch räumen, damit Sophias Teigbällchen darauf Platz finden. Das hab ich Fuchs nämlich alles schon gestern gemacht. Ich bin so beeindruckend vorausschauend. »Ich hab ihr schon so ungefähr fünftausend Sachen über das Spiel erzählt, außer von der Haupthandlung natürlich«, sagt Lelo grinsend, während Sophia sich umsichtig auf den mittleren Stuhl setzt und sich über die Tastatur beugt. Wie Lelo mir berichtet, dürfen die beiden zu Hause nicht so lange am Rechner sitzen, weswegen Sophia im Tippen eher langsam ist. »Ich starte das Spiel einfach mal und du kannst im Prolog die Steuerung fast ganz in Ruhe ausprobieren«, erkläre ich und starte das Spiel. Sophia nickt. Dann schaut sie mich unverhohlen interessiert an und ich gerate unter diesem Blick ein wenig in nervöses Schwitzen. »Wir dachten immer, Lelo würde sich selbst in Mädchenform mit nach Hause bringen. Ganz strahlig und alles«, meint sie und ich sehe ein gewisses amüsiertes Funkeln in ihren Augen, das ich auch bei Lelo schon häufig beobachtet habe. Ich muss lachen. »Stattdessen hat er einen immerzu schwarz tragenden, zynischen Außenseiter angeschleppt«, gebe ich zurück. Ich unterschlage an dieser Stelle am besten meinen Ruf als Hühnerblut trinkender Satanist. Sophia nickt und deutet dann auf die Teigbällchen. »Du solltest wirklich eins probieren, bevor ich vor lauter Hibbeligkeit vom Stuhl rutsche«, meint sie ernst und ich gluckse heiter und nehme mir ein recht klebriges und wohl riechendes Teigbällchen. Lelo und Sophia mustern mich beide sehr gespannt, während ich es mir in den Mund schiebe. Es ist so ziemlich die leckerste Süßspeise, die ich jemals gegessen habe. Als ich Sophia das mitteile, strahlt sie mich ganz stolz an und ich möchte sie eigentlich gerne sofort als meine kleine Schwester adoptieren. Ich wollte immer schon ein kleineres Geschwisterkind. »Kann ich dich gegen meinen älteren Bruder eintauschen?«, frage ich hingerissen, während ich mir noch ein weiteres Teigbällchen in den Mund schiebe. Sophia kichert sehr entzückend und richtet dann ihre große Augen – die übrigens genauso unverschämt lange Wimpern haben wie die von Lelo – auf den Monitor. Ich tätige zwei Klicks und starte ein neues Spiel. »Ich weiß schon, dass ich eine Dunkelelfe sein will!«, verkündet Sophia entschlossen und ich bin gleichermaßen überrascht und beeindruckt. »Na, dann kann es ja direkt losgehen!« Lelo wirft mir hinter Sophias Rücken ein strahlendes und absolut glücklich aussehendes Lächeln zu und ich schmelze beinahe über den Rand meines Stuhls hinweg vor lauter Verliebtheit. Ugh, Kim. Du bist zu einer elenden Schmalzlocke verkommen. Wie konnte es nur soweit kommen? Ich habe ein kleines Déjà-vu, als ich Sophia beim Prolog beobachte und sehe, wie sie direkt am Anfang Angst hat, sofort hingerichtet zu werden. Lelo scheint ebenfalls sehr amüsiert darüber zu sein. Sophia erstellt eine absolut beeindruckend beängstigend aussehende Dunkelelfe mit schwarzen Augen und weißer Kriegsbemalung und stellt sich schon am Anfang sehr viel besser an als Lelo, was ich ihm mit großem gespielten Bedauern mitteilen muss, was mir von Sophia ein zufriedenes Giggeln und von Lelo ein empörtes Schnauben einbringt. Wenn das Treffen mit Lelos Eltern auch nur halb so gut läuft wie das mit Sophia, dann kann es eigentlich nur gut gehen. Lelo sieht mir meine Erleichterung wohl an, denn er zwinkert mir aufmunternd zu und ich nehme vor lauter Herzflattern noch ein Teigbällchen. In einem Anflug von absolut nicht auszuhaltender romantischer Gefühle kommt mir der Gedanke, dass ich mit Lelo an meiner Seite absolut alles schaffen kann. Wenn mir so eine Idee vor mehreren Monaten gekommen wäre, hätte ich laute Würgegeräusche gemacht, aber mittlerweile habe ich mich damit abgefunden, dass Lelo aus mir einen kuschelweichen Teddybären gemacht hat. Wow. Wir sehen zu, wie Sophia Pfeil und Bogen als Waffe ihrer Wahl adoptiert und sich für ihr erstes Computerspiel eindeutig sehr gut schlägt. Die riesigen Spinnen bescheren ihr einen halben Herzinfarkt, aber sie ist umso entschlossen, die Monster allesamt totzuschießen und schwingt sich zu neuen Trefferquoten-Höchstleistungen auf. Danach ist sie vollkommen erschöpft und drückt auf Pause. Sie schaut uns beide abwechselnd an und holt dann tief Luft. »Ich muss mich erst mal kurz beruhigen«, meint sie und ich reiche ihr den Berg mit Apfelspalten, die nun aufgrund der Anwesenheit der köstlichen Teigbällchen doch wieder braun geworden sind. »Und während ich mich beruhige, könnt ihr mir erzählen, wie ihr euch ineinander verknallt habt«, sagt sie strahlend und ich verschlucke mich an meiner eigenen Apfelspalte. Seit ich angefangen habe, mich mit Lelo herumzutreiben, verschlucke ich mich viel zu häufig. Immer noch leicht röchelnd und keuchend wedele ich mit der Hand zu Lelo herüber. »Du musst anfangen«, krächze ich und schraube meine Flasche Cola auf, um einen Schluck zu trinken. Lelo lacht leise und seine Wangen sind sehr rot. Ich spüre, wie mein Gehirn und mein Herz vor lauter gespannter Erwartung vibriert, denn ich habe die Geschichte auch noch nicht wirklich gehört. Lelo räuspert sich tapfer, fährt sich verlegen durch die Haare und fängt an zu erzählen. »Also, es hat alles mit einem gewissen, ziemlich schnell rennenden Jemand angefangen…« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)