[24/7] Jenseits verkehrter Wahrheit von halfJack ================================================================================ Kapitel 3: Last --------------- Last   Nur einen Herzschlag entfernt wartete sein stiller Begleiter. Er lauerte hinter dem blinden Fleck im Augenwinkel und in den minimalen Pausen nach jedem Atemzug. Er lachte und tanzte und torkelte, ein fröhlicher Gesell, des Schlafes Bruder. Es würde wieder passieren. Light wusste, dass es nicht mehr lange dauern konnte. Die Zeit verging, als würde er träumen. Ereignisse zogen gerafft an seinem geistigen Auge vorüber. Wochen vergingen in Tagen und Tage in Stunden und Stunden in Sekunden. Sein Körper fühlte sich geschwächt an, unverhältnismäßig zu der Spanne, die ihm seine Vernunft und innere Uhr vorgab. Seine Glieder schmerzten aufgrund der unbequemen Sitzhaltung auf dem Boden, den harten Abschluss einer schmalen Liege im Nacken und die Hände auf dem Rücken gefesselt. Der Raum ähnelte jener Zelle von damals und war dennoch nicht identisch. Hier befand sich Light an einem anderen Ort, unter anderen Umständen, mitten im Hauptquartier der ehemaligen Sondereinheit, nicht mehr Mitarbeiter, sondern Häftling. Wahrscheinlich hatte L dieses Gefängnis schon vor Monaten extra für ihn konstruieren lassen, um ihn von der Außenwelt abzuschotten und für immer einzusperren. Ein Klacken erschütterte die Türangeln, verhalten zwar, aber unmissverständlich. Nun war es so weit. Sie kamen, um Light zu seiner nächsten, vielleicht der letzten Hinrichtung zu führen. Seinen Puls beruhigend holte er tief Luft, atmete bedacht ein und aus. Als sich die Zellentür öffnete, hob er mit versteinerter Miene, die keine emotionale Regung offenbaren durfte, seinen Blick, nur um im folgenden Moment den Atem anzuhalten. L war in seine Zelle getreten. Nicht irgendjemand, sondern sein innigster Feind und gefährlichster Freund. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, glitten seine blassen Hände zurück in die Taschen seiner Jeans, die nackten Zehen unter dem abgewetzten Hosensaum unruhig verkrampft, so stand L da und hielt sein Haupt gesenkt. Die zerzausten, schwarzen Haare verbargen fast vollständig sein Gesicht, als wollte er sich verstecken. Auch nach mehreren Sekunden rührte er sich nicht, sagte nichts, schaute seinen Gefangenen nicht an. Light musste lächeln. L wirkte unsicher. Unsicher und verletzlich. Die Torturen und Martern seines eigenen Verstandes waren Vergangenheit und nicht länger von Bedeutung. Jetzt zählte nur noch dieser Moment zwischen ihnen. Jetzt zählte nur noch L, der sich ihm angreifbar auslieferte. „Warum hast du mich verschont?“ In sanfter Kälte begann Light zu sprechen und taxierte ihn von unten herauf mit den Augen. „Du weißt genauso gut wie ich“, entgegnete L monoton, ohne den Kopf zu heben, „dass Rem mich töten würde, wenn ich dir etwas antue.“ Light stieß einen abfälligen Laut der Belustigung aus. „Und wenn sie dich nicht bedrohen oder erpressen würde?“ Er senkte seine Stimme und sprach betörend einfühlsam und mild. „Das ist doch nur vorgeschoben, L. Wenn du dich für die Gerechtigkeit hältst, hättest du mich töten sollen.“ „Ich kann dir keine Erlösung gewähren, weil du Buße tun musst. Das kannst du nicht durch deinen Tod, wenngleich die Schwere deiner Taten niemals gesühnt werden kann. Ich muss dich kontrollieren.“ L fuhr sich zerstreut durch die Haare, sodass Light einen Einblick auf seine angespannten Gesichtszüge erhaschen konnte. „Seitdem ich dich kenne, kann ich nicht mehr auf dich verzichten, ich brauche deine Hilfe und ich brauche deinen Schutz, ich will dich nicht zerstören, sondern ...“ „Das ist egoistisch“, schnitt Light ihm die verworrenen Worte ab. „Mag sein.“ L hatte sich aufrecht gegen die Tür fallen lassen und nestelte an seinen Fingern herum, nervös und unentschlossen. Er war nur wenige Schritte entfernt, so erreichbar nah. Die Kanten der metallenen Fesseln rieben über seine zuckenden Handgelenke, als Light unwillkürlich an ihnen zerrte. Er wollte L daran hindern, an seinen verdammten Fingern herumzuspielen. Danach wollte er ihm eine verpassen, vielleicht auch zwei. Danach wollte er ihn erdrosseln, ihn mit seinen eigenen Ketten strangulieren, während L ihn mit vor Entsetzen geweiteten, tiefschwarzen Augen durchbohrte und sich mit verkrampften Händen an ihm festklammerte, bis sich Light seiner erbarmte und ihn aus seinem Griff entließ. Danach wollte er ihn an sich reißen und küssen, seine um Luft ringenden Lippen in Besitz nehmen. Light versuchte den Schauer der Erregung zu bezwingen, der seinen Atem und Puls beschleunigte. Er hatte L besiegen und töten wollen, doch beides sollte auf ultimative Weise geschehen. Sieg bedeutete nicht, dass er L von seiner Unschuld überzeugte. Nein, L musste im Moment der Niederlage bewusst sein, dass er mit all seinen Vermutungen richtig lag und Light tatsächlich Kira war. Sieg bedeutete, dass diese Gewissheit nichts änderte, außer dem genialen Meisterdetektiv sein Scheitern vor Augen zu führen. L in seinen Armen sterben zu sehen, mit dem Erkennen auf dem bleichen Gesicht, das wäre ideal gewesen. Grausam und schmerzlich und absolut perfekt. „Light-kun“, sprach L ihn kaum vernehmlich an, doch Light hatte keine Mühe, ihn zu verstehen. „Beantworte mir bitte eine Frage. Eine letzte Frage. Ich weiß, wir haben oft über all diese Dinge geredet, daher ist mir prinzipiell klar, was du darüber denkst. Aber ich möchte es direkt aus deinem Mund hören. Ohne verwirrende Spielchen. Ohne dass wir beide so tun, als würden wir über irgendetwas anderes reden.“ Endlich schaute L zu ihm auf, fing seinen Blickkontakt mit der ihm typischen Unergründlichkeit ein und fragte: „Warum das alles?“ „Das hast du doch schon längst von mir gehört, in aller Ausführlichkeit, als du mich glauben ließt, Ryuk würde mich umbringen.“ „Ich meine nicht dein Motiv. Ich will keinesfalls erfahren, warum du mit dem Morden nicht aufhören konntest, sondern warum du überhaupt damit begonnen hast.“ Da war er wieder, der nicht aus dem Konzept zu bringende, analytische Detektiv, der seine Mitmenschen begutachtete wie Buchstaben in einem Setzkasten. Und nun verlangte er eine Antwort von ihm, als Preis für seinen Sieg. „Warum hast du es getan?“ Light starrte stumm an ihm vorbei an die Wand. Bei seiner ersten Gefangenschaft hatte er etwas gelernt, das er stets hasste. Sinnloses, unendliches Warten. Er hatte mit L in den letzten Wochen auf so vieles gewartet. Auf Gewinn oder Niederlage, auf das Ende oder den Anfang, er konnte es selbst nicht benennen. Keiner von ihnen war stehen geblieben, sie waren stets vorangeeilt, ohne Rücksicht auf Verluste. Light fragte sich, ob ihre Pfade parallel verliefen, sodass sie sich einander niemals annäherten, sich aber auch nie entfernten. Dies hier konnte seine Chance sein, um ihre Bahnen sich kreuzen zu lassen. Vielleicht wollte L seine Beweggründe in Erfahrung bringen, weil er an seinem eigenen Weg zweifelte. Konnte es gelingen, ihn auf die richtige Seite zu holen? Immerhin hatte er Kira überführt und ihn trotzdem am Leben gelassen. Unabhängig von Rems Erpressung hatte L gar nicht vor, ihn zu töten. Er wusste, wie sehr sie einander brauchten. Dem Anschein nach war lediglich Light gefesselt, zumindest mit Ketten, die greifbare Substanz besaßen. Die Handschellen, die sie einst verbanden, waren verschwunden. Dennoch blieben ihre Schicksale, wie L es einst formuliert hatte, unwiderruflich verwoben. Sie kamen nicht voneinander los, wurden voneinander angezogen. L war von ihm abhängig. Darum hatte er Kira verschont. Darum war er jetzt zu ihm gekommen, wie die Motte zum Licht. Weil L nicht leugnen konnte, dass er Light gehörte. Etliche Minuten verstrichen, in denen keiner von beiden das Schweigen brach. L hatte sich an der Tür hinabgleiten lassen und kauerte mit über den Knien verschränkten Armen auf selber Höhe vor ihm. Er hatte den Kopf zur Seite gelegt, die Spitzen seiner wirren Haare ruhten als gefächerter Kontrast auf seinem weißen Oberteil. Erst vor kurzem hatte Light sie zum letzten Mal berührt. Er hatte L festgehalten und war mit ihm umgegangen, als wäre er frei von Schuld. Frei von jeglicher Schuld. „Der erste Mensch, den ich getötet habe“, begann Light schließlich unvermittelt, in gemäßigtem Ton, „war ein Geiselnehmer. Eine Gruppe von Kindern befand sich in seiner Gewalt. Was hätte die Polizei getan? Zum Schutz der Kinder hätte man ab einem bestimmten Punkt, sobald es keine andere Möglichkeit mehr gab und man zu sehr um das Leben der Geiseln hätte fürchten müssen, diesen Mann durch einen Scharfschützen erschießen lassen. Dafür hätte man freie Schussbahn benötigt, es bestünde die Gefahr, dass etwas schiefläuft, und nicht zuletzt hätten die Kinder zusehen müssen, wie ein Mensch brutal und blutig direkt vor ihren Augen niedergestreckt wird. Ist es dann nicht besser, dass er ohne ersichtlichen Grund einfach umfiel, anstatt seinen zerschmetterten Schädel durch die Gegend fliegen zu lassen? Ich gebe zu, ich habe damals nicht erwartet, dass es funktioniert. Ich dachte, dieses Heft und die Anleitung seien ein schlechter Scherz. Dennoch habe ich diesen miesen Witz vom Schulhof aufgelesen ... und es ausprobiert. Alle Kinder konnten damals gerettet werden. Das hat nur das Death Note ermöglicht. Wer weiß, wie diese Sache sonst ausgegangen wäre.“ Sein zielloser Blick richtete sich auf einen unsichtbaren Fluchtpunkt hinter den Mauern. „Dieses Heft ist nicht das Böse. Es ist, genauso wie das Scharfschützengewehr des Sondereinsatzkommandos, nur eine Waffe.“ „Du meinst also“, fragte L tonlos, „nicht die Waffen seien bösartig, sondern die Menschen, die sie verwenden?“ „Ich bin nicht böse, ich bin gerecht!“ „Wozu rechtfertigst du dich? Habe ich eben das Gegenteil behauptet?“ Ihre Blicke trafen sich. L forschte regelrecht nach jenem Teil in ihm, den er einst zum Gegner auserkoren hatte, zumindest vermutete Light das. Die dunkel umrandeten Augen betrachteten ihn müde, ohne Spott oder Verachtung, stattdessen von einem namenlosen Schmerz gezeichnet, den Light nicht verstehen konnte und der ihn unweigerlich dazu veranlasste, sein kurzfristig aufbrausendes Temperament zu zügeln. „Du hättest es der Polizei übergeben können“, bot L zur Lösung an, „damit sie es in solchen Fällen einsetzt.“ „Das hättest du auch tun können, als wir das Heft von Higuchi an uns brachten. Aber du hast es nicht getan. Oder würdest du es jetzt noch tun?“ Light suchte nach einer Andeutung von Betroffenheit in Ls Miene. Schnell erkannte er, dass er keine Unsicherheit finden konnte, wo nicht einmal Überzeugung herrschte. Ein Lächeln schlich sich in seine Mundwinkel. „Nein, das würdest du nicht, weil du der Polizei misstraust. Du misstraust allen Menschen, sogar denen, die eigentlich für die Gerechtigkeit eintreten. Deine Argumente sind haltlos und bloß ein Test, durch den du von mir hören willst, was du in Wirklichkeit selbst denkst. Wenn man einer Gruppe von Menschen solch eine Waffe überlässt, dann gibt es Uneinigkeit, Abstimmungsschwierigkeiten, Verzögerungen. Wahrscheinlich wäre niemand in der Lage, das Heft richtig und rechtzeitig zu gebrauchen. Noch dazu wäre die Gefahr groß, dass es in die falschen Hände gerät und missbraucht wird.“ „Aber in deinen Händen wäre es sicher? Du wärst die richtige Person dafür?“ „Natürlich.“ Light schmunzelte nachsichtig. „Es gibt niemanden, der geeigneter wäre als ich, das Death Note zu bekommen und es zum Wohle aller, für das Gute, für die Gerechtigkeit einzusetzen. Dieses Zusammentreffen ist so lachhaft perfekt, dass es gar nichts anderes als Schicksal gewesen sein kann.“ „Das Schicksal verleiht keine Waffen, Light-kun.“ „Ich habe nur die Menschen ausgelöscht, die es verdient haben“, fuhr er unbeirrt fort, „um die Welt zu reinigen, um sie zu säubern.“ „Um sie zu säubern“, wiederholte L dumpf, „denn Gott will es, nicht wahr? Und Tugend ist ohne Terror machtlos. Kira gehört wahrlich zu den ganz großen historischen Wegbereitern, zusammen mit Robespierre, Stalin, Hitler ...“ „Selbst wenn es in einem Gemetzel endete“, schaltete sich Light aufgebracht dazwischen, „würdest du die Aufklärung und Revolutionen unserer Welt als grundsätzlich schlecht verurteilen, als etwas, das besser nicht hätte geschehen dürfen?!“ L gab ein schweres Seufzen von sich und erwiderte matt: „Die bedeutenden Schrittmacher unserer Geschichte öffnen mit ihren Denkanstößen Türen, durch die sie selbst nicht gehen. Rousseau bereitete den Weg für die Französische Revolution, Marx zur Russischen, Nietzsche zur faschistischen. Sie alle würden sich aber in der extremen Verkehrung ihrer Idee nicht wiedererkannt haben. Auch Kira wird sich dereinst wundern, was seine Anhänger aus ihm machen werden ... oder was er selbst aus sich gemacht hat.“ Genau das hatte er nicht von L hören wollen. Es war lächerlich. Niemals würde so etwas passieren, solange Kira als charismatischer Führer der Elite die Massen in eine bessere Zukunft dirigierte. „Es ist richtig, dass du abwertend über Despoten und Usurpatoren urteilst“, lenkte Light teilweise ein, „aber entspricht das der allgemeinen Ansicht? Wie viele Bürger schwelgen aus Unzufriedenheit in Erinnerungen und Lobhudeleien über vergangene Machtinhaber, wohingegen sie die Bemühungen ihrer Mediatoren und Friedensstifter herabwürdigen? Ist das nicht Hohn den Politikern gegenüber, die etwas für ihr Land und zum Wohle der internationalen Beziehungen zu unternehmen versuchten, nur um später von ihrem eigenen Volk, für das sie so viel gaben, desavouiert zu werden? Das ist das wahre Gesicht der Menschheit, diese Dummheit und Ignoranz. Du kennst doch die Berichte in der Öffentlichkeit, in der Presse oder im Internet, wo man sich pro Kira äußert. Fast ausschließlich dummes Geschwätz, mit dem man sich über L mokiert, er würde sich über diesen Fall nur etablieren wollen; er habe sich, weil er sich nie zeige, aus Angst vor Kira verkrochen; er würde die Verbrecher beschützen und die eigentlich unterdrückten Opfer vernachlässigen. Sie wollen gar nicht sehen, dass dir die Verbrecher herzlich egal sind und du vielmehr die Gesellschaft vor einer Eskalation von Kiras Handlungen bewahren willst. Dieser Abschaum ist es nicht wert, auch nur deinen Namen in den Mund zu nehmen.“ Erstaunt legte L den Kopf schief und begutachtete Light eingehend. „Du ergreifst Partei für mich?“ „Und du? Ergreifst Partei für jene, die deine Person nicht akzeptieren würden, wenn du dich unter normalen Bedingungen in ihren Kreis einfügen wolltest. Du hast nie gelernt, dich ihnen anzupassen. Die wissen nichts von dir, L. Selbst wenn du dich nicht verstellst, würden sie dich nicht erkennen. Ich allein weiß, wer du in Wirklichkeit bist. Du bist nicht wie die. Du bist mehr wie ich.“ Soweit es ihm seine Position ermöglichte, hatte Light sich vorgebeugt und fixierte L eindringlich, der ihm zunächst mit geweiteten Augen begegnete, bevor er verunsichert auswich und sich in seine übliche embryonale Haltung zurückzog. Diese verfluchten Ketten. Wäre er frei, würde er L packen, ihn hinter seinem Schutzwall hervor ins Licht zerren, sich seiner bemächtigen und ihm begreiflich machen, was richtig war. Doch nie wieder, nie wieder wollte er, dass sie einander berührten, solange Light nicht gewonnen hatte. Er hasste es, eine Schlacht zu verlieren und sich vorerst geschlagen zu geben. Nichtsdestotrotz war es ein fairer Kampf gewesen, eine gerechtfertigte Niederlage, das musste er eingestehen. L hatte sich als würdig erwiesen. Er war ein echter Gegner, sogar mehr als das. Der eigentliche Krieg war noch nicht entschieden. Noch lange nicht. „Was hättest du getan, wenn dir das Heft in die Hand gefallen wäre?“, erkundigte sich Light mit Nachdruck. „Du hast mal zu mir gesagt, vielleicht hättest du dasselbe getan.“ „Wie merkwürdig“, ging L gedankenversunken darauf ein. „Damals bist du deswegen noch sauer geworden.“ „Da habe ich auch nichts gewusst, nichts gesehen, da hatte ich weder meine Erinnerungen noch meine Macht! Mir ist klar, dass du mich damals provozieren wolltest, aber ein Funken Wahrheit steckte dennoch in deiner Aussage. Die Menschheit ist ständig dabei, sich selbst auszulöschen, Kriege zu führen, das eigene oder ein fremdes Volk zu unterdrücken. Durch Kiras Macht und die Gewissheit, dass jemand gerechte Urteile fällt, werden auch die internationalen Konflikte zurückgehen. Du weißt, dass es so ist! Willst du mir weismachen, die Menschen würden auf diese Weise ihrer Freiheit beraubt werden und nur noch wie leblose Zombies durch die Gegend laufen? Laut deiner eigenen Aussage ist es so doch schon längst. Die Wahrheit ist niemals rein und selten einfach. Ich habe mich nicht aus einer Laune heraus für diesen Weg entschieden, sondern weil ich es schon vorher unerträglich fand, den Verfall der Welt mit ansehen zu müssen!“ „Man kann jeder Blume den Kopf abschlagen, wird damit aber niemals den Frühling aufhalten.“ Mehr als diese parabolischen Worte sagte L nicht dazu. Light konnte kaum fassen, dass er mit einem Orakelspruch abgefertigt werden sollte. Darin lag offenbar ein viel größeres Geheimnis, als es L selbst bewusst war. Oftmals, wenn sich der sonst so direkte Detektiv introvertiert von allem abschirmte, redete er in Rätseln, und Light meinte zu verstehen, dass es sein persönliches Privileg war, diese Seite an L zu kennen. „Der Frühling?“, fragte er daher sacht. „Bald ist Winter, L. Auch das kann niemand verhindern. Bestimmt wird es der kälteste Winter seit Jahren. Bist du sicher, dass die dunkelste Jahreszeit ein Ende findet und es wieder hell wird, wenn Kiras Licht erlischt?“ „Welches Licht?“, murmelte L undeutlich. „Das Licht der Nacht?“ Er hatte sich also nicht getäuscht, stellte Light lächelnd fest. Nach der Art, wie sich sein Freund ihm gegenüber verhielt, war er gerade tatsächlich verwundbar. „Befreie mich, L“, umgarnte er ihn mit warmer, weicher Stimme. „Du willst das hier doch gar nicht. Selbst unter all den Befürwortern gab es keinen, der Kira so präzise analysieren konnte wie du. Keiner hat mich je so gut verstanden. Komm auf meine Seite. Ahnst du nicht, was wir gemeinsam bewirken könnten?“ „Doch“, gab L offen zu. „Eben das jagt mir Angst ein.“ Er lockerte seine zusammengekrümmte Körperhaltung, löste die verschränkten Arme, seine schlanken Finger glitten über eines seiner angewinkelten Beine und knaupelten an der Seitennaht seiner Jeans herum, während er nach einer kurzen Pause weitersprach. „An sich habe ich nichts gegen deine Idee. Hätte ich sie nicht verstanden, wäre mein Verdacht auf dich nicht von Beginn an unumstößlich gewesen. Aber du kannst sie niemals verwirklichen, selbst wenn ich dir nicht den Weg versperre. Sofern der Staat nicht einstimmig entschieden hat, dass eine Instanz wie Kira nötig ist, um über das Böse zu urteilen, ist die Tötung von Verbrechern nichts weiter als Mord. Nur ein diktatorischer Staat würde zudem anfangen, Personen zu beseitigen, bloß weil sie sich gegen das System stellen. Rechtschaffene Menschen wurden von dir kaltblütig ermordet. Die FBI-Agenten ...“ „Du hast sie mir selbst vor die Füße geworfen!“ „Was vielleicht ein Fehler war.“ „Ein kalkulierter Fehler, der dich trotzdem weitergebracht hat, oder etwa nicht?“ Light grinste gehässig, da er wusste, wie sehr er L mit diesem Fakt verletzte. „Du hättest auch künftig Leute umgebracht, sobald sie sich dir widersetzen. Ein Staat, der keine Diktatur ist, würde solche, die sich nicht anpassen wollen, unter Aufsicht stellen, wegsperren, vielleicht zu läutern versuchen. Er würde sie nicht einfach umbringen.“ „Jeder kann gern eine Meinung vertreten, die sich gegen Kira richtet, niemand müsste deswegen bestraft werden. Glaubst du, ich hätte meine Aufmerksamkeit jemals auch nur einem dieser Dummköpfe gewidmet und sie wegen ihres hilflosen Geplärres getötet?“ „Du hast Lind L. Taylor ermordet.“ „Von dem ich glaubte, das seist du! Das war etwas anderes. Du warst etwas anderes. Genau genommen war das nicht einmal mein, sondern dein Opfer. Ein hervorragender Beweis, dass du nicht besser bist als Kira. Jemand gerät erst ins Fadenkreuz, sobald er zu einer Bedrohung für die neue Ära wird. In erster Linie geht es nicht um diejenigen, die sich Kira in den Weg stellen, sondern um Verbrecher! In Staaten, in denen die Todesstrafe praktiziert wird, würden sie ebenfalls hingerichtet werden. Justiz und die Arbeit der Polizei sind unabdingbar, damit der Plan zur Vervollkommnung der Welt gelingt. Kira spielt nicht Judikative und Exekutive gleichzeitig. Er bestraft niemanden, der seine Taten bereits gesühnt hat. Stattdessen tötet er zumeist Straftäter, die sich schon im Gefängnis befinden, die teils sogar zum Tode verurteilt wurden. Er ändert nichts an ihrem Schicksal, sondern nutzt sie als Abschreckung vor allen weiteren Schandtaten. Außerdem sorgt Kira dafür, jene zu bestrafen, die dem fehlbaren Netz des Gesetzes entwischen, obwohl ihre Schuldigkeit erwiesen ist. Manche Menschen lassen sich nicht reintegrieren, falls man diese Parasiten überhaupt als solche bewerten kann. Indem wir den ganzen Dreck ausradieren, vollzieht sich ein grundlegender Wandel im Denken. Die Ungerechten werden sich hüten, weiterhin Hand an die Unschuldigen und Hilflosen zu legen. Sie korrigieren ihre Haltung, handeln gutmütiger, rücksichtsvoller ... sie ...!“ Urplötzlich stockte Light. Etwas raubte ihm die Atemluft. Die Gedanken wollten seine Schädeldecke durchbrechen. Chaos, Verständnislosigkeit, Ohnmacht fochten gegen seinen Geist und ließen ihn erblinden. Er konnte nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Worte erstickten in seiner Kehle. „Und dann?“, fragte eine monotone Stimme besänftigend und ruhig. Aufschauend erkannte Light die Gestalt seines Freundes, doch alles wirkte seltsam taub und farblos, beinahe unecht. „Wenn du die schweren Verbrecher ausgelöscht hast, was willst du danach machen? Wie lange würde das gutgehen? Ein paar Jahre vielleicht?“ L beugte sich nach vorn. In der Hocke verlagerte er sein Gewicht auf die Fußballen. Mit den Händen auf dem Boden zwischen seinen Füßen sah er aus wie eine Raubkatze auf der Pirsch, als er sich ihm näherte. „Vielleicht nicht sofort, aber früher oder später wirst du zu den weniger schweren Verbrechen übergehen und womöglich irgendwann anfangen, die Unlauteren und Faulen auszumerzen. Die Welt würde unter deinem Tun aufschreien, weil du nur ein Mensch bist und dich in deinem blindwütigen Treiben verlieren würdest. Das ist Irrsinn, Light. Du bist kein Gott. Du würdest dich und die Welt in deinem Wahn zerstören.“ „Das würde ich nicht“, hauchte Light voller Bitterkeit und Abwehr, obwohl er fest und sicher klingen wollte. „Du weißt nicht, ob das passieren wird.“ „Du weißt es aber auch nicht. Und die Gefahr ist vorhanden, nicht wahr? Die Versuchung, alles auszulöschen. Alles.“ Light schüttelte den Kopf, öffnete den Mund und gierte in seiner zugeschnürten Kehle nach Sauerstoff statt nach Gegenargumenten. „Dein Ideal ist nicht das Problem, allein die Umsetzung würde dir niemals gelingen. Und jetzt teile ich dir noch etwas mit ...“ „Fass mich nicht an!“, fauchte Light hitzig, bevor er überhaupt wirklich registrierte, dass L ihn erreicht hatte und zaghaft durch sein Haar strich, behutsam, aber unnachgiebig seinen Kopf zwischen die Hände nahm. „Light-kun, warum ist da so viel Zorn in dir?“ „Du sollst mich nicht anfassen!“ Jemand presste ihm eine Hand auf den Mund, die andere auf den Brustkorb, welcher sich schwer und schmerzhaft unter seiner Atmung und seinem vor unzügelbarer Wut pochendem Herzen hob und senkte. Er bekam keine Luft. Mit jedem seiner Atemzüge fühlte sich seine Lunge wie ein Monstrum an, das bald in seiner Brust explodierte. Besorgnis zeichnete sich auf dem blassen Gesicht vor ihm ab, als würde die Person, die ihn beschützend umfing, in aller Deutlichkeit erkennen, dass Light kurz davorstand, wegen seiner Handlungsunfähigkeit, aus unterdrückter Raserei zu hyperventilieren. Aus nächster Nähe waren jene schwarzen Augen leer und voller Mitleid, angereichert mit diesem abscheulichen, erniedrigenden Bedauern, das Kira im Antlitz seines Richters zu sehen glaubte. „Shh... Light, bleib ruhig. Konzentrier dich auf meine Stimme und hör mir zu.“ Die Worte durchdrangen den Schleier, klangen lindernd und still hinter dem tosenden Sturm in seinen Ohren. „Du sagtest mal, ich wäre ein Perfektionist, und vielleicht bin ich das tatsächlich. Damals hätte ich noch angenommen, das Gleiche würde für dich gelten. Aber du bist anders, du bist ein Idealist. Ein Ideal kann man nicht erreichen. Ich akzeptiere, dass die Welt nie perfekt sein kann, du hingegen willst das einfach nicht begreifen oder billigen. Noch dazu bist du viel zu sehr von dir selbst überzeugt. Du denkst, du seist besser als die anderen, du seist auserwählt und könntest es schaffen, die Gesellschaft zu verändern.“ „Hast du jemals anders gedacht?! Deine Vorsicht und Zurückgezogenheit bezeugen, dass du dir über die Wichtigkeit deiner eigenen Person im Klaren bist.“ Light hatte sich losgerissen. Er spürte den harten Boden im Rücken, den Schmerz in seinen Schultern, sah enge Räume, kahle Wände und über sich eine Decke, die auf ihn niederstürzen wollte. Zugleich fühlte er Ls Hände, die ihn nicht fallen oder fortließen. Unmöglich, sich von ihm zu befreien. „Du weißt, wie viel du für die Gesellschaft tun kannst, aber das interessiert dich gar nicht! Du willst überhaupt nichts besser machen, du willst einfach nur gewinnen!“ „Das stimmt“, gab L unverblümt zu. „Aber durch meinen Sieg entscheide ich, was gerecht ist. Das ist kein Gerechtigkeitssinn, wie ihn die Menschheit normalerweise versteht. Schwierige Fälle aufzuklären ist mein Hobby. Wenn man gute und böse Taten anhand des Gesetzes bestimmt, wäre ich für viele Verbrechen verantwortlich. Ich mag Rätsel und Geheimnisse, darum suche ich mir meine Fälle nicht nach ihrer Schwere oder Gewichtung aus, sondern danach, wie interessant sie sind, mögen ihre Themen auch noch so banal sein. Falls ich dadurch einen Fall lösen kann, spiele ich nicht ehrlich. Ich bin wie du, verlogen, betrügerisch, kindisch und ich hasse es, zu verlieren. Vielleicht bin ich, weil es mir an Idealismus mangelt, sogar ein schlechterer Mensch als du. Dennoch habe ich gewonnen. Somit ist das, was ich tat, richtig.“ Es war die Wahrheit. Obgleich verdreht, da er manches verschwieg, so sagte L trotzdem die Wahrheit. Reglos blieb Light liegen, von widerstreitenden Emotionen geplagt. Gegen seine eigene Person oder gegen seinen Kontrahenten; er konnte selbst nicht entschlüsseln, was er glauben oder empfinden sollte. Sein Denken verschwamm zu einer grotesken Ansammlung von Bruchstücken, die weder einzeln noch gemeinsam Sinn ergaben. Er ließ es zu, die Enttäuschung, den Widerwillen und die Machtlosigkeit. Einen anderen Weg gab es nicht. „Kein Mensch ist stark genug“, meinte L, „um wie Atlas das Gewicht der ganzen Welt auf den Schultern zu tragen. Es ist schon zu viel Last, dass ich diese Verantwortung jemandem aufbürden muss, der mir wichtig ist. Deshalb gibt es einen ganz plausiblen, egoistischen Grund, warum ich mich nicht auf deine Seite stelle und dich von deinem Vorhaben abhalten muss.“ Er machte eine Pause, entfernte sich unterdessen von Light und stand auf. „Bevor du die Welt zerstörst, würdest du dich selbst kaputt machen. Das ist dir sogar fast gelungen, aber eben nur fast. Ich will dich nicht an deinen Größenwahn verlieren.“ „Man kann nicht verlieren, was man niemals besessen hat“, erwiderte Light kalt. „Du bist nun mein Eigentum und ich erlaube keine Beschädigung meines Besitzes“, argumentierte L halbherzig. „Glaub, was du willst, wenn du der Meinung bist, du wärst der Einzige, der die Welt retten kann. Dann bin ich wohl der Einzige, der dich retten kann.“ Lights Antwort war ein gebrochenes, zerrüttetes Lachen. Er krümmte sich auf dem Boden und lachte, weil L nicht begreifen wollte, was er tatsächlich mit dieser Einstellung in Trümmer schlug und dass seine Anmaßung lediglich ein weiterer Nagel in Kiras Sarg war. „Das kannst du nicht, du kannst niemanden retten! Die Welt ist stumpfsinnig, verrottet, dem Untergang geweiht. Du bist so blind, L. Wenn du wirklich etwas Gutes tun willst, dann gib mir meine Waffe zurück.“ Sein Todfeind verweilte am Ausgang und beobachtete ihn, mit hängenden Schultern, gebeugtem Nacken, als habe er sich seiner halben Niederlage gefügt. Light konnte ihm an der Nasenspitze ansehen, dass L gehen, sich irgendwo verkriechen und Süßigkeiten essen wollte. Ein bisschen falsches Glück, weil er nicht alles bekam, was er sich wünschte. Der Gedanke erfüllte Light mit Genugtuung. „Das war vorerst unser letztes Gespräch als L und Kira“, schloss der geschlagene Meisterdetektiv ausweichend, anstatt sich zu dem Appell zu äußern. Stumm und atemlos blickte Light nicht länger zu ihm hinauf, sondern hinab in das steinerne Grau des Untergrunds und kühlte daran seine Stirn, bis er die allerletzten Worte und damit seinen Urteilsspruch vernahm. „Die Zeit ist gekommen, deinen nutzlosen Stolz wegzuwerfen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)