Night's End von Luca-Seraphin (Der Wiedergänger) ================================================================================ Kapitel 4: Befreiung -------------------- Inmitten der Todesmagie stand Luca als lebendes Epizentrum. Die gepeinigten Gefangenen befanden sich unter seinem Schutz, aber die Knechte lagen reglos zu seinen Füßen. Luca bebte noch immer vor Zorn. Sein Blick glitt durch den Kessel. Die magische Explosion musste aufgefallen sein. Sicher waren ihre Gegner nun gewarnt. Luca aber war im Moment sogar bereits dieses ganze Felsmassiv einstürzen zu lassen, wenn er damit etwas erreichen konnte. Entsetzt schrie einer der Gefangenen auf und brachte zwischen sich und Luca einigen Abstand. Irritiert sah der Magier zu ihm. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass seine Hilfe auch falsch ausgelegt werden konnte. Die meisten von ihnen kauerten einfach nur da, als erwarteten sie, dass er auch sie töten würde. Der Magier senkte den Blick. Sie hatten Angst vor ihm. Luca konnte ihnen nicht klar machen, dass er sie nur schützen wollte. Er wendete den Kopf und sah zu dem Elf. Verwundert registrierte Luca, dass der junge Mann noch bei Bewusstsein war. Er hätte eher angenommen, dass ihm die Schmerzen die Sinne raubten. Zusammengekrümmt lag er da, die Zähne zusammengebissen und das blutige Haar über der zerfetzten Haut verteilt. Aber der Trotz und der unbändige Zorn in den Augen des Elfs waren ungebrochen. Grüne Jadeaugen fixierten Luca, als wolle er ihn angreifen, sobald er eine falsche Bewegung machte. Der Magier erwiderte seinen Blick ruhig. Dann kniete er neben ihm nieder. Sein Herz krampfte sich erneut zusammen als er die Wunden sah. Mit letzten Kraftreserven ergriff der Elf Lucas Hemd, krallte seine Finger tief in den Stoff und die Haut, als wolle er das Herz des Magiers herausreißen. Seine Augen flammten von ungestilltem Zorn. Luca legte seine warmen Finger sanft über die des Elfs. „Erinnerst Du dich nicht mehr?“ fragte er leise. Die Antwort blieb ihm verwehrt. Hinter sich hörte er einen lauten Aufschrei und Metall scharrte als Schwerter aus den Scheiden gezogen wurden. Luca fuhr herum. Am Rande bemerkte er, dass sein Hemd zeriss. Dann sah er sich einer Masse bewaffneter Krieger gegenüber, die ihm entgegen strömten. Für einen winzigen Moment setzte sein Herz aus, nur um danach wesentlich heftiger weiter zu hämmern. Er senkte die Lider und begann erneut einen Zauber zu weben. Die Übermacht konnte ihn - angesichts der letzten Jahre - in keiner Weise einschüchtern. Im Gegenteil fand er eher tiefe Ruhe in sich, obgleich seine Gegner beängstigend schnell näher kamen, ihre Äxte, Schwerter, Peitschen und Kriegskeulen bereit, seinen Leib zu zerschmettern. Schmetterlinge sammelten sich um seine Körper. Ihre kleinen Beinchen berührten seine Arme und Schultern. Es wurden immer mehr, die ihn umschwirrten. Luca sammelte alle Kräfte, um seine Magie auszumaximieren. Vielleicht blieb ihm nur die Möglichkeit für einen einzigen Angriff, allerdings bezweifelte er, dass Orpheu ihn allein lassen würde. Genauso erwartete er die Hilfe von Raven, Jaquand und Thorn. Noch bevor er die letzten Worte seines Zaubers gewebt hatte und die Zauberschmetterlinge von ihm aufgestoben waren, um seinen Feinden entgegen zu fliegen, erbebte neben ihm der Boden unter einer gewaltigen Erschütterung. Luca musste nicht den Blick zu Orpheu wenden, um zu wissen, dass sein Hauptmann die theatralisch letzte Sekunde genutzt hatte um seinen beeindruckenden Auftritt zu geben. Gleichzeitig mit dem Auftreffen des Zaubers, einer Wolke tiefen, magischen Schlafes, sprang auch Thorn über die Brüstung und schlug nicht weniger hart, aber dennoch wesentlich weniger tief im Felsboden des Kessels auf. Beide Männer vertrauten offenbar auf den Eindruck, den ihr gewagter Sprung hinterließ, im gleichen Maße allerdings auch auf ihr furchteinflößendes Aussehen. Während Lucas Schlafzauber die erste Phalanx der Soldaten und Kerkerwachen zum Stocken brachte, sie mitten im Sprung oder Schritt entschlummern ließ und sie ihren heranstürmenden Gefährten zu gefährlichen Stolperfallen wurden, sorgte der Anblick Orpheus in seiner natürlichen, von den Göttern gegebenen Gestalt, für eine hilfreiche Atempause, die den drei Söldnern einen sehr großen Vorteil brachte. Thorn zog seine Schwerter und sprang an seinem Hauptmann vorbei in den direkten Nahkampf. Er stach binnen einer Sekunde von den gestrauchelten Menschen zwei direkt und einen mit der Rückhand nieder, rammte aus dem Lauf heraus einem weiteren Mann, der am Boden lag seinen Schwertknauf ins Gesicht und wirbelte herum um sich den kampfbereiten Soldaten zuzuwenden. Sofort stürzte sich ein schwerfälliges Wesen, schlecht gepanzert, aber ein Berg aus Muskeln und Fett, auf Thorn und schwang seine Axt nach ihm. Für einen Sekundenbruchteil sah es so aus, als träfe er den Halbzwerg zumindest noch an der Schulter. In dem Augenblick machte Thorn einen Ausfallschritt, schlug einem anderen Angreifer die Breitseite seiner Klinge gegen die Schläfe und rammte in der Rückwärtsbewegung einem Soldaten, der auf dem Boden lag, seine zweite Klinge in den Leib. Sein Gegner nutzte die Situation und die fehlende Abwehr Thorns sofort. Er schwang seine Axt erneut und dieses Mal von unten herauf, um den Halbzwerg zu treffen. Ganz offensichtlich rechnete Thorn damit, allerdings verschätzte er sich in seinen Chancen. Die tumbe Masse Fleisch und Knochen bewegte sich kaum anmutig, aber durch den Schwung seiner Waffe getragen schnell und kontrolliert. Wenige Meter neben ihm brüllte eine der Wachen auf, getroffen von einem winzigen Bolzen einer nicht weniger kleinen Armbrust. Zeitgleich schlug der Gegner Thorns zu. Allerdings fehlte ihm plötzlich jedwede Waffe und sein Schwung riss ihn nun unkontrolliert um seine Achse. Er taumelte in groteskem Gebaren und starrte verwirrt auf seine leeren Hände. Thorn vergeudete keine Zeit Luca einen Dank zuzurufen, sondern rammte dem massigen Giganten seine beiden Schwerter in Brust und Bauch. Ein weiterer Armbrustbolzen traf mit genauster Präzision sein Ziel zwischen den Augen eines bärtigen Wächters, der schwer gepanzert war. Einen Herzschlag später sprang Orpheu in die Masse nachströmender Gegner. Lederschwingen und Drachenschweif setzte er gnadenlos ein, fegte Männer von den Füßen und richtete verheerenden Schaden an wohin er trat. Sein Gewicht reichte um einem unvorsichtigen Mann Brustplatte und Kettenhemd zusammen mit seinen Rippen in die Lungen zu treiben. Der Vorteil des Hauptmannes waren seine natürliche Panzerung durch die schwarzen Schuppen, die Reichweite seiner Flügel und des Schwanzes, aber auch seiner Masse, die ihn bei dem Sprung von der Serpentine fast einen Fuß tief in den Boden getrieben hatte und den Stein unter sich einfach zu Staub zermalen hatte. Luca beschwor Wind herauf, der den giftigen Dunst aus dem Kessel vertrieben, damit Jaquand freie Sicht erhielt und seine tödlichen Schüsse ansetzen konnte. Zuletzt gesellte sich Raven zu Orpheu und Thorn, bereit, sich der wenigen übrig geblieben Wachen anzunehmen. Gleichgültig wie gut diese Männer ausgerüstet waren, gegen Orpheus kampferprobte Krieger waren sie keine ernst zu nehmenden Gegner. Luca ließ die Hände sinken. Glücklicherweise änderte Orpheu seine Taktik, nur noch zu verletzen, nicht mehr zu töten. Seien Männer schlossen sich dem Beispiel ihres Hauptmannes an. Das beruhigte Luca etwas. Er hasste es allein schon, sie darin zu unterstützen. Für den Augenblick brauchten sie seine Hilfe nicht mehr. Er blickte hinab zu dem Elf, zuckte aber im gleichen Moment zusammen. Der junge Mann hatte offenbar alle Kräfte in sich gesammelt und sich trotz der offenen – schwer blutenden - Wunden auf seinem Rücken auf Knie und Hände hoch gestemmt. Sein Gesicht war eine Maske aus Schmerz und Hass. Er starrte an Luca vorbei zu einem undefinierbaren Punkt an der jenseitigen Wand, irgendwo auf Höhe der Serpentinen. Seine Zähne knirschten aufeinander, die Kiefermuskeln spannten sich und ein feiner Blutfaden rann aus seinem Mundwinkel. Schweiß bedeckte seine bleichen Wangen und die flackernden Augen lagen tief in ihren Höhlen. Er bebte am ganzen Leib, keuchte vor Anstrengung, aber noch immer war er bei Sinnen. Luca ergriff seine Schultern und stützte ihn behutsam, doch der Junge ignorierte ihn. Ganz leise, am Rande des noch Hörbaren, wisperte der Elf: „Luca... sieh doch...!“ Seine Stimme erstarb in dem hilflosen Versuch nach Luft zu ringen und die matte Ohnmacht erneut zurückzuschlagen. Nun folgte der Magier der Aufforderung des Jungen. Für einen winzigen Moment sah er eine Person nah eines Alkovens in der Serpentinenwand. Der Mann war weit entfernt, aber klar zu erkennen. Sein Gesicht – so er es detailliert wahrnehmen konnte - kam Luca vage bekannt vor. Er war nicht jung und nicht alt, seine Züge ebenmäßig und streng, aber schön. Ein fein gestutzter Kinn- und Oberlippenbart gaben seinem Gesicht einen seltsam fremden, erhabenen Ausdruck und trotz der weiten Entfernung spürte Luca den überheblichen Blick auf sich ruhen, der diesem Menschenmann zu eigen war. Etwas in Gebaren und Gestalt ließen Luca erschauern. Es schien ihm fast als blicke er tief in die Seele des Magiers, mehr noch, als berühre er seine Gedanken. Schlimmer als das spürte er die Anwesenheit eines fremden, unsäglich bizarren und kalten Bewusstseins, was sich in seine Seele zwang und darin zu lesen schien. Der Elf in Lucas Armen zuckte zusammen, alle Muskeln spannten sich und die geistige Verbindung, die der Fremde zu dem Magier aufbaute, eher die geistige Vergewaltigung, riss ab. Entsetzt wendete sich Luca dem bemitleidenswerten Mann zu, den er immer noch zu stützen versuchte, fuhr aber erneut zusammen. Sensibilisiert und angespannt wie er war, nahm ihn der Anblick nur noch mehr mit. Doch während Luca vollkommen hilflos zusehen musste, wie sich der Junge unter den grausamen Schmerzen wand, immer wieder verkrampfte, beruhigte sich auch sein Verstand wieder. Plötzlich zuckte der Elf zusammen, formte mit seinem Mund stumme Worte und verdrehte die Augen. In der Sekunde dehnten sich seine Glieder und seine Haut verfärbte sich zu einem matten Schwarz. Völlig unspektakulär schien der Beginn der Transformation. Luca allerdings begriff noch bevor sich die schwarzen Schwingen ihren Weg brachen, dass der Junge in seinen Armen ein Seraphin war, ein schwarzer Engel, so wie er selbst. Noch vor Ende der Verwandlung ergriff endlich die gnädige Bewusstlosigkeit den Jungen und führte seine schmerzgepeinigten Sinne weit fort. Luca blieb zurück, fassungslos, erstarrt in Faszination, Schrecken und tiefer Angst. Ihm wurde jetzt auch erst klar, dass der vermeintliche Elf, vermutlich ein Halbblut wie Luca selbst eines war, seinen Namen genannt hatte; nicht Lysander, nicht den Ordensnamen, seinen wirklichen, wohl gehüteten. Ein weiterer Schauer lief ihm über den Rücken. Es erschreckte ihn, zugleich aber glaubte er in dem Jungen etwas zu erkennen, weit zurück liegende Erinnerungen, verschüttet unter all dem Leid und Schmerz, dem er sich aussetzte. Die ersten Sekunden fiel es Luca sehr schwer seine Gedanken zu ordnen und Ruhe zu bewahren. Sein Verstand weigerte sich das Bild und die Situation zu akzeptieren. Der Junge ein Seraph; schon allein dieses Wissen erschütterte den Magier zutiefst. Er wusste nur zu gut um das Ansehen ihrer Rasse bei allen anderen Völkern. Die schwarzen Engel galten als Unglücksboten und Verdammte. Aber vielleicht waren es mehr die Geschichten, die man sich erzählte und darüber hinaus auch die unglaublich starke Affinität zur Magie. Und hier waren sie umgeben von mehr oder weniger abergläubischen Männern, die bereit waren ihre Angst mit Gewalttaten auszumerzen. Wäre Luca die Möglichkeit der Illusionszauberei offen gewesen, so hätte er ohne zu zögern alle Macht darauf verwendet, dem Jungen seine elfische Gestalt zurückzugeben. Aber diese Schule der Magie war ihm verwehrt. Hilflos blickte er auf, um sich zu versichern, wie viele Personen diese Verwandlung mit angesehen hatten. Ganz leise wisperte im gleichen Moment eine böse Stimme, dass das Schicksal eines Seraphin der Wahnsinn war, weil seine Gefühle unerfüllte Wünsche bleiben würden. Und nun sah er sich einem anderen Mann seiner Rasse gegenüber, dem, den er liebte und begehrte. Sein Mut sank beständig. Aber ließ ihm Thorn gar nicht den Moment des Schreckens und der stummen Trauer. Er hatte gesehen was aus dem Elfenjungen geworden war und quittierte es mit tiefem Entsetzen. Seine abergläubische Seele war entsetzt und fasziniert zugleich. „Bei allen Göttern!“, keuchte er, wobei er dabei gar nicht mehr auf die noch existenten Wachen achtete, die nun ihre Chance in der Flucht sahen. Raven fluchte leise und wollte zur Verfolgung ansetzen, aber Orpheu rief ihn zurück. „Wir kennen den Berg nicht. In den Höhlen sind sie uns in ihrem Wissen um Längen voraus.“ Er schüttelte den Kopf. „Magier?“, er wendete sich Luca zu. Bei dem Anblick des schwarzen Engels hob er nur eine Braue und schüttelte leicht den Kopf. Luca konnte die Regung so wenig wie die Mimik nicht deuten. Angst aber sah er nicht in den schwarzen Augen seines Hauptmannes. Zögernd kam Orpheu näher. „Könnt ihr meine Männer hier her lotsen? Euer Drache muss den Weg kennen.“ Luca schluckte und nickte dann. In einer irrationalen Bewegung zog er den Jungen enger, schützend, an sich. Sein Blick glitt über die Gesichter seiner Gefährten. In den Augen Thorns fand er Angst und Abscheu, bei Orpheu nichts deutbares, aber bei Raven unbändige Neugier. Der Zwerg war Spieler mit Leib und Seele. Offenbar sah er die Situation als ein Spiel mit dem Schicksal an, was er nicht einfach verlieren wollte. Dann suchte er nach den Gefangenen und den Söldnern. Die wenigen überlebenden Wachen lagen bewusstlos in ihrem Blut oder kämpften mit der Ohnmacht. Was ihm mehr Sorge bereitete waren die gepeinigten Halbmenschen, die sich eng in eine Ecke drängten, wie verängstigtes Vieh zitterten und bei der geringsten Bewegung zusammen zuckten. Von ihnen war momentan weder Dank noch Hilfe oder gar klarer, logischer Verstand zu erwarten. Luca sah ihnen an, dass sie viele Monate, Jahre vielleicht, brauchen würden, um das, was sie hier gesehen und erlebt hatten zu verarbeiten. Und die Verwandlung hatte nicht sehr zu einer positiven Entwicklung beigetragen. Er atmete innerlich auf. Aber allein das Wissen, dass die anderen Seraphin fürchteten, zwang ihn seine wirkliche Natur immer in dem menschlichen Körper zu verbergen. Ein weiteres Gefängnis für ihn. Er sah auf den Jungen herab und strich ihm sanft über das Haar zugleich rief er Tambren zu sich. Binnen kürzester Zeit hatten Orpheus Männer den Kessel und die auftreffenden Gänge und anliegenden Höhlen gesichert. Den routinierten Söldnern fiel es in keiner Weise schwer die Gefangenen, den es weitestgehend gut ging, mit in ihrer Struktur zu integrieren. Auch die Ausstattung mit Waffen bereitete keine weiteren Sorgen, da den gefangenen und getöteten Wachen alles abgenommen wurde. Orpheu und Luca hatten sich nur kurz die Zeit genommen miteinander durchzusprechen, wie sie weiter vorgehen wollten. Für beide war die Sicherung des Territoriums in erster Linie das wichtigste. Zusammen mit den Halbmenschen bildete das Heer eine Mannesstärke von zweihundert Kriegern und das Aufspüren der Soldaten und Wachmänner bereitete ihnen wenig Mühe. Luca zog es seinerseits eher vor so weit wie möglich für all die Verwundeten zu sorgen, sich ein Bild darüber zu machen wie schwer die Grade der Grausamkeiten waren und so schnell es ging ein Lazarett einzurichten. Allerdings trug er Orpheu auf, sich nach Nahrung, frischem Wasser und Heilmitteln umzusehen. Der Hauptmann gab den Auftrag an all seine Leute weiter. Dann erst wurde es ruhiger um Luca. Wenige Gefangene, ein paar Frauen und Männer, hatten sich bereit erklärt Luca zu helfen. Allein das Wissen derer, die bei dem Angriff Orpheus Spähtrupp auf dieses Gefangenenlager dabei waren, die leise Weitergabe der Nachricht, dass ein Seraphin unter ihnen war, drückte die Hilfsbereitschaft und die Stimmung auf ein Minimum. Die wenigstens Gesichter, die Misstrauisch zu dem Magier blickten drückten anderes als Ablehnung, Stumpfsinn oder Angst aus. Luca hatte mit nichts anderem gerechnet. Dankbarkeit würde keinem von Orpheus Heer zuteilwerden. Er drehte sich um seine Achse und tastete mit den Augen den Kessel, die abzweigenden Gänge und den Richtblock ab. Hier sammelten sich derzeit zirka eintausend Männer, Frauen und Kinder. Bei einigen Rassen war er sich nicht sicher, woher sie stammten. Alle, oder zumindest die Meisten, trugen eine Stumme Anklage in ihrem Blick. Dieser Ort war die Hölle für sie. Jeder von ihnen musste die Grausamkeiten spüren, die hier stattgefunden hatten. Jaquand, einer der wenigen Männer, die zu seiner Sicherheit hier geblieben war, sah von einem der Ränge zu Luca und winkte den Magier zu sich. Er hatte den Seraphin nah bei sich liegen, zugedeckt und für den Moment sicher vor den Blicken der Personen im Kessel. Auch Tambren saß neben dem Jungen. Luca wusste, dass der kleine Drache seinen Geist mit voller Absicht vor den Gedanken um sich schützte. Die Seelen der Elfen, Zwerge, Halbdrachen, Orcs und Gnome hier, hatten schweren Schaden genommen und die Dunkelheit in denen sie irrten, übertrug sich fast körperlich spürbar auf die ganze Höhle. Der teils beginnende Wahnsinn hing wie giftiger Nebel über ihnen, zwischen ihnen, und er ergriff ihre Herzen und ihren Verstand. „Was ist?“, fragte Luca, als er mit wenigen Sprüngen die Stufen der Ränge erklommen hatte und neben Jaquand ankam. „Was werdet ihr nun tun, Meister Lysander?“, fragte der junge Mann unbehaglich und ließ seinen Blick über die Köpfe schweifen. Luca betrachtete das Klingenpendel. Er verfolgte die Aufhängung bis hinauf zu Kettenzug und Zahnrädern. Dann nickte er. Über seine Lippen huschte ein Lächeln. Er sah wieder hinab zu den Personen, die kauerten, vor sich hin starrten oder von ihm etwas zu erwarten schienen. „Hört mir alle zu!“, rief er. Seine Stimme verhallte in dem großen Raum, dennoch war er weithin zu hören. Alle würden ihn nicht verstehen, dessen war er sich bewusst. Er wiederholte seine Worte auch in der Sprache der Elfen und Drachen. „Vielen von euch ist es hier sehr schlecht ergangen, Sehr viele von euch haben ihre Freunde und Familien verloren. Allen von euch wurde Gewalt angetan, seelische wie körperliche. Einigen geht es gut genug, dass sie dennoch mit Verpflegung, frischen Kleidern und Waffen diesen Ort verlassen können. Wer das will, soll es tun. Es wird sicher noch einige Tage dauern, bis ihr aufbrechen könnt, aber hindern wird euch niemand. Dennoch sind hier so viele schwer verletzte, dass ich an euer Gewissen appellieren will uns hier zu helfen, die - denen es schlecht geht, die weder reise- noch Transportfähig sind – zu versorgen. Auch müssen hier alle Vorräte gefunden und aufgeteilt werden, zuvor aber katalogisiert. Auch reicht die Kraft unseres Heereskochs nicht aus so viele hungrige Personen allein zu versorgen. Deshalb bitte ich euch alle uns zu helfen. Damit leistet ihr euren Gefährten, Freunden und Familien ebenfalls Hilfe.“ Er machte eine Pause und sah sich um. Er wollte wissen, wie seine Worte wirkten. Tatsächlich richtete sich die Aufmerksamkeit der Meisten auf ihn. Er wiederholte sich außerhalb der Allgemeinsprache noch zwei Mal in anderen Volkssprachen. Es war nichts, was man als Erfolg bezeichnen konnte. Dennoch spürte er die Aufmerksamkeit vieler Personen auf sich. Unwillkürlich straffte er sich etwas und in seine Stimme wob sich fast unmerklich mehr Wärme und Mitgefühl. Er war kein Führer, aber der Wunsch zu helfen und zu schützen beseelte ihn mehr denn je. „Gibt es unter euch Heilkundige, vielleicht sogar Priester?“ fragte er hoffnungsvoll. Leider meldete sich nicht ein Einziger. „Das kann es nicht geben“, flüsterte Jaquand ärgerlich. Luca vermied es ihn anzusehen. Der Kontakt zu den anderen war da. würde er sie jetzt aus den Augen lassen wäre es nicht anders, als würde er ihnen signalisieren wollen, dass sie ihn nicht interessieren. „Meine Heilkünste sind begrenzt“, gab Luca zu. „Helfen kann ich, aber ich brauche auch Hilfe von euch...“ Seine Worte waren noch nicht verklungen, als sich eine verhärmte Orc-Frau meldete. Lucas Augen leuchteten. „Ich bin Hebamme“, rief sie. Mühsam stützte sie sich auf einer müde aussehenden Halbelfe ab, arbeite sich langsam in die Höhe und humpelte nicht weniger schwerfällig durch die sitzenden und liegenden Massen. Ihr folgte eine blasse Elfenfrau mit weißem Haar. Sie holte schnell zu der Orc-Dame auf und stützte sie. Luca lächelte nun. Sein Herz schlug schneller. Er sah dass seine Worte zu einigen von ihnen durchdrangen. Mehr und mehr Frauen, aber auch einige, wenige, Männer erhoben sich und sammelten sich nun an dem Rang vor Luca. Als die stumme Prozession, denn nichts anderes war es, vorüber war, zählte Luca fast drei dutzend Elfen, Orcs, Zwerge und Trolle verschiedenster Rassen. Unter ihnen waren einfache Leute aus dem Kaiserreich, Gebirgstrolle aus den Eisen- und Blutbergen, Elfen aus dem stolzen, befremdlichen Rouijin, dem Reich unter dem Kaiserreich, dessen ehrenvolles Leben so gerühmt wurde und viele Männer und Frauen aus dem Norden. „Der Wunsch zu helfen“, bemerkte die weißhaarige Elfe, „macht uns zu Freunden.“ Luca hörte an ihrem Dialekt, dass sie aus dem verfeindeten Eisland im Norden kam. Obgleich man ihr böse mitgespielt hatte, ihr edles Gesicht verstümmelt hatte und sie nichts trug, was ihre Nacktheit noch verdecken konnte, sprach der reine Stolz aus ihr, und obgleich Luca zwei Meter über ihr Stand, glaubte er in dem Moment zu ihr aufsehen zu müssen. Jaquand begann an seinem Wams zu nesteln und streifte es ab. Dann zog er sein Hemd über den Kopf und sprang mit einem geschmeidigen Satz zu ihr hinab. An ihrer Seite wirkte er verloren und winzig, fast einen Kopf kleiner als sie. In einer eleganten Bewegung verneigte er sich vor ihr. Darin lag weder Spot noch Hohn. Luca wusste um die sensible Art seines Kampfgefährten. Offenbar sah auch sie darin keinen Affront. Im Gegenteil lächelte sie dankbar. „Ehrenwerte Dame, darf ich euch mein Hemd geben?“, bot er es ihr an. Sie neigte leicht den Kopf. Der Bogen ihres Nackens und das milde silbrige Schimmern ihrer Haut verriet ihre Herkunft noch deutlicher. „Seid bedankt, mein junger Galan“, erwiderte sie und zog sich das Hemd über den Kopf. Ihre langen, schlanken Beine blieben frei. „Darf ich euch zu mir hinauf bitten?“, fragte Luca. Jaquand geleitete die Frauen und Männer hinauf. Der Magier war ein wenig unsicher, wie sie auf den schwer verletzten Seraphin reagieren würden, aber er vertraute darauf, dass keiner von ihnen den tiefen Aberglauben hegte, der in dem einfachen Volk lebte. Er sollte Recht behalten. Die Orc-Dame, die Hebamme, kniete sich sofort neben ihm nieder und hob die Decken an. „Eigentlich müsste er tot sein. Das war Magie, mit dem ihr ihm schon geholfen habt, nicht wahr, Zauberer?“, fragte sie leise. „Ja“, antwortete er nicht weniger verhalten. „Im Übrigen ist mein Name Lysander.“ Sie lächelte schief und entblößte zwei abgebrochene Unterkieferhauer. „Linnette“, erwiderter sie schlicht. Im Moment konnte Luca sich nicht lang in Beobachtungen ergehen. Dennoch erkannte er die ehemalige Schönheit, die im Sanftmut der Frau lag, in ihren großen, warmen und klugen Rehaugen und dem fülligen, weichen Gesicht. „Vielen-vielen Dank“, flüsterte er. Diese Worte meinte er von ganzem Herzen. „Wenn ihr nicht diesen Hauch von Hoffnung um euch tragen würdet, Lysander,“, begann die Elfe, „hättet ihr auch keine Hilfe erhalten. Aber der friedvolle Gedanke und die Hoffnung auf das Leben ist tief in euch verwurzelt. Ihr meint, was ihr sagt. Und ihr seid Hoffnung ohne Vorurteile.“ Tambren, der bislang still an der Seite des Seraphin gesessen hatte, japste plötzlich nach Luft und starrte die Elfe an. Gleichzeitig bekam Luca ein Bild dessen, was der Drachling von ihr wahrgenommen hatte. Das Bild der Dame verschwamm zu einer gewaltigen Gestalt in weiße Gewänder und mattes Eisen gekleidet, in den Händen ein Schwert, hoch wie ein Mann, die Klinge geflammt und verkratzt, aber stolz und hoch aufgerichtet auf einem eisüberzogenen Gräberfeld. Persönlichkeit und Macht, Alter und Weisheit, bestürmten Lucas Bewusstsein. Diese Frau war die Verkörperung einer Königin und eines Gottes. „Aki Valstroem“, flüsterte er fast im gleichen Moment. „Ihr seid Aki Valstroem?“ Sie lächelte milde. „Schweigt, junger Narr“, tadelte sie ihn. Luca hob verwirrt die Brauen und schluckte alles herunter, was ihm nun an Fragen auf der Zunge lag. Er schwor sich, später mit ihr reden zu wollen. Dann raffte er sein letztes bisschen Konzentration auf die langsam unruhig werdenden Männer und Frauen unter ihm zusammen. „Wir brauchen auch fähige Zimmerleute, die dieses Monstrum dort abbauen“, er deutete auf das Todespendel. „Dieser Ort wird nie wieder dazu dienen. Es hat nur noch den Sinn eingeschmolzen zu werden!“ Ein Elf erhob sich, Riss mit erstaunlicher Energie die Faust hoch und schrie: „Das Beil soll unsere Peiniger richten!“ In seine Worte stimmten viele andere mit ein. Zorn und Angst schlugen um zu Gewalt und unsäglich tiefem Hass. Luca wusste genau, dass ihm nun nur noch wenig Zeit blieb, bevor die einstmaligen Gefangenen zu einem gedankenlosen Mob wurden, der alles vernichtete, was sich ihm in den Weg stellte. Fieberhaft dachte er darüber nach, wie er sie beruhigen konnte. Zu sagen, dass Gewalt nur Gegengewalt erzeugte, mochte vielleicht stimmen, aber die Worte würden sie nicht einmal wahrnehmen. „Das wird es nicht“, sagte Luca fest, mit entschlossener Stimme. Schreie und aufgeregtes Murmeln drohte Luca zu übertönen. Er hob beide Arme. „Hört mich an!“, rief er nun laut genug, dass seine Stimme ihr volles Volumen erreichte und tragend durch den Kessel hallte. „Diese Männer wollten euch glauben machen, dass der Kaiser ein Monster ist, ein Wahnsinniger, der andere Völker verachtet und vernichtet sehen will. Wollt ihr ihm dieses Wissen verwehren, und uns allen hier das Wissen um den Mann verheimlichen, der das Lager in das hier - diesen Schlachthof - verwandelt hat?!“ Der Zorn war ungebrochen in den Augen der Anderen, aber zumindest hörten sie ihm wieder zu. Luca schüttelte den Kopf. „Die, die Orpheus Heer sammelt müssen ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Und diese sollte von dem Kaiser ausgesprochen werden.“ Bevor die Stimmen wieder anhoben, sprach er weiter. „Vielleicht gibt es noch weitere Lager, die Halbmenschen vernichten sollen. Aber das erfahren wir nur, wenn die Gefangenen am Leben bleiben und sie die Aussicht auf eine faire Verhandlung haben. Ich kann mir gut vorstellen, dass es weitere der Lager gibt und auch dass der eine oder andere von euch dadurch betroffen ist, weil er oder sie bereits dorthin Freunde, Verwandte und Bekannte verloren hat, ohne zu wissen, dass diese Vernichtungslager existieren.“ Er konnte spüren, dass seine Worte endlich Erfolg zeigten und der Zorn sich beruhigte. Eine betroffene Stille kehrte ein, nur durchbrochen von gelegentlich gemurmelten Worten. Luca atmete innerlich auf. „Helft mir, dann kann auch ich euch helfen. Nicht jeder wird seine persönliche Rache erhalten, aber die Ungewissheit über verschollene, geliebte Wesen, die einst das Licht selbst für euch waren, lastet sicher schwerer auf euch als jeder Gedanke an vollkommen ungerichtete Rache.“ Schweigen schlug ihm entgegen. Ein alter Zwerg erhob sich schwerfällig und hob eine Hand zu Luca. „Du hast einfach reden, Mensch!“, rief er zornig. Tränen sammelten sich in seinen matten, müden Augen. „Was Verlust ist, weißt du gar nicht. Und was schmerz und Entbehrung ist auch nicht!“ Luca senkte den Blick. „Darin muss ich euch in allen Punkten wiedersprechen. Aber im Gegensatz zu euch, Herr Zwerg, nehme ich den Schmerz zusammen und bilde daraus den Wunsch es selbst anders zu machen und nicht das zu tun, was man mir einst antat.“ Der Mann sah ihn verärgert an. „Was ist dir schon schlimmes geschehen?!“ Luca schüttelte nur leicht den Kopf. Erinnerungen stoben auf ihn ein, Dinge die er verdrängt hatte, vieles, was er über die Jahre schöngeredet hatte. Aber er wollte davon nicht sprechen müssen. Das war vorüber und verbannt in seine Vergangenheit. Wie konnte er ihm und all den anderen allein sagen, dass er eigentlich gar kein Mensch war? Tambrens Schuppen klapperten leise, abwehrend. „Wir werden das Pendel einschmelzen, aber daraus werden wir Waffen machen, Mensch!“, donnerte der Zwerg. Müde lächelte Luca. „Sind das die Waffen der Rache, getränkt mit dem Blut eurer Lieben?“, er wartete keine Antwort ab. „Das ist sinnloser Pathos. Es sind die Waffen, die euch in einen neuen Krieg zwingen und die euch neues Leid zufügen, wieder Personen rauben, die euch nah stehen und letztlich das letzte bisschen Hoffnung im Feuer eures eigenen Wahnsinns verzehren. Am Ende, wenn ihr endlich eure Rache hattet, steht ihr allein da, mit nichts, niemand, der sich nach euch sehnt, der auf euch wartet oder euch braucht. Dann seid ihr ausgebrannt und nutzlos, sogar für euch selbst unbrauchbar. Was sind also eure Ziele? Vernichtung und Hoffnungslosigkeit mit der Sicherheit auf Wahnsinn und Tot, oder die Chance neu anzufangen, zuzusehen wie eure noch ungeborenen Kinder groß werden und selbst Kinder haben?“ Lucas Brust hob und senkte sich schnell. Er hatte sich in verzweifelte Rage geredet. Aber scheinbar hatten seine Worte auch ihr Ziel erreicht. Die Blicke der Meisten zeigten Angst vor dem Szenario, dass er beschrieben hatte. Leise zupfte Tammy an Lucas Stiefelschnalle. „Die Gefahr ist gebannt“, bestätigte er leise. „Wenn sie dich in den kommenden Tagen kennen lernen und merken, dass du das nicht nur so daher geredet hast, hast du gewonnen.“ ‚Danke für deine Unterstützung, kleiner Freund,’ entgegnete Luca wortlos. ‚Du allein bist in der Lage sie zu Unterstützen und ihnen Mut und Hoffnung zu geben, denn du glaubst an das, was du sagst. Du wirst sie erheben können und ihnen Kraft geben.’ Tambren kletterte nun umständlich, und für Luca nicht schmerzfrei an dem Stiefel und der Hose hinauf und rollte sich in den Armen des Magiers zusammen. Unbewusst drückte er den Drachling an sich und kraulte seinen Kiefer. „Alle die sich in der Verfassung sehen Aufgaben zu übernehmen, melden sich bitte bei Jaquand.“, Luca wies auf den jungen Mann an seiner Seite. „Wir werden einige Tage brauchen, um alles zusammenzutragen, was wir finden. Kleidung wird sofort ausgegeben, sobald sie da ist. Was persönliche Gegenstände einzelner hier betrifft, werden auch diese zusammengetragen und ihren Besitzern wieder übereignet.“ Jaquand pfiff leise. „Meister, so habe ich euch noch nie reden hören. Das war ein anderer Lysander als der stille Magier, den wir alle dachten zu kennen.“ Luca wendete sich nun zu ihm um. Allerdings hatte er nicht vor auf die Worte einzugehen. „Dir muss ich danken, mein Freund.“ Fragend sah der Söldner den Magier an. Luca antwortete ihm nicht. Er war sich sicher, dass Jaquand schon auf den richtigen Gedanken kommen würde. Lächelnd trat Luca an ihm vorüber zu den freiwilligen Helfern. „Primär werde ich euch erst heilen, damit ihr belastbar seid“, erklärte er. „Wir sind gerade achtundzwanzig, Verletzte und Kranke gibt es aber vielfach mehr.“ Er sah zu dem Bewusstlosen Seraph. „Und ihn muss ich vom Rest separieren. Sein Anblick würde ihre Grundfesten erneut ins Wanken bringen. Das kann ich nicht riskieren.“ „Warum haben sie einen Seraphin einfangen?“, fragte ein Eistroll leise. Seine langen, strähnigen Haare klebten von Schweiß, Körperfett, Eiter und getrocknetem Blut in seiner hohen Stirn und sein weißer Bart hatte schwarze, leicht gekräuselte Enden. Vermutlich hatte jemand versucht in Brand zu setzen, es aber nicht geschafft. Trolle wie er besaßen eine Unzahl von Hornplatten, die sich unter ihrer Haut befanden und sie schützten. Obgleich er mitgenommen aussah, ging es ihm noch gut. Luca sah ihn einige Sekunden nachdenklich an. „Ich weiß es nicht“, sagte er leise, verschwieg aber wohlweißlich dass der schwarze Engel zuvor ein Elf war. Nicht jeder musste erfahren, dass bei allzu großem körperlichem Schmerz und im Tod ein Seraphin seine wahre Natur offenbarte. „Ihr seid ein Magier“, stellte eine verwahrloste Zwergin fest. „Woher nehmt ihr das Wissen über Heilung?!“ Luca sah sie direkt an. Sie hatte ein grobes Gesicht und rote, verfilzte Locken, die sicher nur noch eine Schere oder ein Messer in den Griff bekommen konnte. Ihre Lippen waren aufgesprungen und die Knochen stachen durch das schmutze Hemd, dass einst einmal prächtig bestickt war. Ausgerissene Ohrlöcher bewiesen, dass sie Ohrringe getragen haben musste. „Ich bin ein Nekromant“, antwortete Luca. „Die Lebenskraft raubenden Zauber kann ich umkehren und Energie aus mir in andere fließen lassen...“ „Das habt ihr hier bei ihm schon getan“, stellte Linnette fest und deutete auf den Seraphin. Luca nickte zur Bestätigung. „Aber mein Freund Justin hat mich auch gelehrt Kräuter und Tinkturen zu mischen, Heiltechniken, alles Mögliche. Im Moment hoffe ich nur, dass wir genug finden, was den Leuten hier hilft. Das einzige was mir bliebe, wenn wir hier nichts fänden wäre, um Hilfe in Valvermont zu bitten. Aber ich habe einige gesehen, die wenn wir nicht schnell etwas unternehmen, schon den morgigen Tag nicht erleben werden.“ Linnette murmelte eine Zustimmung. „Was, wenn wir den schlimmsten Fällen erst mal reine Lebenskraft gäben?“, schlug der Troll vor. So könnten wir vielleicht auch die Wachen strafen, in dem sie denen, die sie so verletzt haben, das wieder geben, was sie ihnen genommen haben.“ Luca dachte einen Moment über den Vorschlag nach, schüttelte dann aber den Kopf. „Ich bin nur bereit meine eigene Kraft zu geben. Alles andere wäre Raub.“ „Dickkopf!“, knurrte Tambren in seinem Arm. „Es verstößt gegen seine Prinzipien.“, warf Aki ein. „Er ist nicht geschaffen um anderen etwas zu nehmen. Das solltest Du am besten wissen, kleiner Drache.“ Die Goldaugen Tambrens richteten sich auf sie. „Ihr setzt viele Erwartungen in ihn?“, fragte er die Elfe. Aki lächelte wissend, schwieg aber. Die rothaarige Zwergin meldete sich wieder zu Wort. Das Misstrauen in ihrem Blick hatte sich noch immer nicht gänzlich gelegt, aber offensichtlich begann auch sie Luca ihr Vertrauen zu schenken. „Was aber, wenn wir einige starke und noch recht gesunde Männer fragen und sie uns von sich aus ihre Kraft spenden?“ Luca knirschte leicht mit den Zähnen. Es wiedersprach wirklich in allen Punkten seiner Ansicht von guten Taten. Aber er sah auch seine eigenen Energien recht schnell schwinden, wenn er versuchen wollte, die im Sterben liegenden am Leben zu halten. „Ihr könnt euch nicht einfach weigern“, beschwor ihn der Eistroll. Linnette nickte wieder. „Viele werden mit Leib und Seele alles geben, wenn nur einige andere überleben. Ihr rettet damit Familien, die sonst auseinandergerissen werden.“ In Lucas Hals bildete sich ein harter Knoten, der ihm fast die Luft abschnürte. Er brach wirklich alle Regeln, die er sich im Lauf seines Lebens geschaffen und auferlegt hatte. Aber heute schien der Tag des Umbruchs in jeder Weise zu sein. Mit einem schwerfälligen, widerstrebenden Nicken stimmte er zu. Es kostete ihn viel Überwindung und er glaubte im Anschluss wirklich einen Grad überschritten zu haben, der seinem Lebensweg eine neue Richtung gab. Die Zwergin lächelte breit. Ihr fehlten einige Zähne. „Gute Entscheidung, Meister Lysander.“ Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe von etwa vier Fuß auf und sah ihn von unten her an. „Ich bin Ria, ein Medicus von Gismonda, ehemals die Begleitung einer Handelskarawane aus Sarina.“ Luca konnte nur ein mattes Lächeln zur Antwort geben. Er fühlte sich elend. „Lasst uns erst mal ihn hier fort bringen“, merkte Linnette an und wies wieder auf den schönen Seraph. Der Troll winkte einen männlichen, sehr stattlichen und edel aussehenden Orc herbei. „Helft mir, Selim“, forderte er ihn auf. Der Mann mit den dunklen Locken und dem eleganten Bart hob abwertend eine Braue. Dann aber trat er zu dem wesentlich größeren Eistroll und ließ, wie zur Lockerung, seine Armgelenke einmal Kreisen. Dann spannte sich seine bronzene Haut über ungeheuren Muskeln. Aus dem Augenwinkel bemerkte Luca die Intarsien in den Unterkieferhauern des Mannes und die Tätowierungen im Nacken und auf dem Rücken. Er musste ein Adeliger, oder zumindest ein sehr reicher Händler aus dem Süden Sarinas sein. Wortlos nahm er die Füße des Seraphs und hob sie an, während der Troll, dessen Name Luca immer noch nicht kannte, behutsam unter den Armen zu griff. Ria eilte herbei, um die gewaltigen Schwingen hoch zu drücken und nickte dann. „Wohin?“, fragte der Troll leise. Luca überlegte nicht lange. Orpheu hatte ihm einen Raum zugewiesen. „Den Flur hindurch und der fünfte Eingang rechts“, koordinierte er die drei. Ohne ein weiteres Wort brachten die beiden Männer und Ria Lucas Liebe fort. Am liebsten wäre der Magier ihnen sofort nachgeeilt und hatte sich ausschließlich um diesen jungen Mann gekümmert, aber das konnte er im Moment nicht verantworten. Er sah Aki und Linnette an, dann die anderen, ihm immer noch unbekannten Frauen und Männer. Sie warteten alle auf seine Anweisungen. „Die, denen es halbwegs gut geht, werden in den großen Schlafsälen dort drüben untergebracht.“ Er deutete in einen anderen Gang hinein. „Die Lagerstätten können wir ohne weiteres so nutzen wie sie sind.“ Einige Sekunden verstrichen, in denen er sich wieder umsah. „Alle, die Krankheiten haben, ansteckend sind, fiebern oder Wundbrand haben, müssen separiert werden, aber auch gründlich gereinigt. Sie brauchen als erste frische Kleidung, saubere Decken und Medizin. Brüche, Schnitte und alles, was verbunden werden muss und nicht in der Lage ist zu gehen, sollte erst mal hier im Kessel bleiben. Für Schienen brauchen wir Holz. Sucht euch also Leute, die in der Lage sind euch zu helfen, euch zur Hand gehen und euch unterstützen können. Das können auch Kinder sein. Sie müssen Holz, Metall und Stoffe suchen. Wir brauchen auch solche, die die Stoffe im kochenden Wasser auswaschen und die Bilden, mit denen wir Arbeiten auskochen. Andere sollen Stroh sammeln und Decken, damit wir auch hier ein Lazarett einrichten können. Und noch eines. Ich verlange von euch, dass ihr selbst sauber seid und euch frische Kleider nehmt. Ihr könnt sonst Wunden infizieren …“ Eine schwarzhaarige Elfe machte eine knappe Handbewegung, die Luca verstummen ließ. „Haben wir freie Hand in allem?“, fragte sie scharf. „Wenn ihr in der Lage seid zu heilen, oder ähnliches Vorwissen besitzt, dann schon“, entgegnete Luca nicht weniger scharf. Ihre schwarzen Augen funkelten zornig und hochmütig. Luca erwiderte den Blick ruhig, entschlossen. Ihm fiel es nicht schwer Stand zu halten. Nach Sekunden spannte sie sich. „Seht euch vor, dass ihr nicht eine Grenze überschreitet, Magus!“, zischte sie wütend. „Ihr habt einer hohen Dame aus Rouijin Respekt zu zollen!“ Luca unterbrach nun den Blickkontakt doch. Er sah an ihr vorüber, wies auf den Kessel, wendete sich dann ihr wieder zu und sagte leise, bestimmt: „So lang die Eisenberge nicht zu dem Königreich Rouijin gehören, müsst ihr euch meinen Respekt erarbeiten, junge Dame. Ihr habt eure Chance dazu, indem ihr Gutes tut, anstatt euren Atem mit Diskussionen zu verschwenden. Dort warten unzählige Männer, Frauen und Kinder aller Rassen auf Nahrung, Hilfe und Zuspruch. Diese armen Geschöpfe brauchen Mut und Kraft um die Kraft zu finden auch leben zu wollen. Denn, sollte es euch entgangen sein, sie haben zu einem großen Teil alles verloren, was sie geliebt haben, und zusätzlich noch ihre Würde und ihren Besitz.“ Sie schnappte hilflos nach Luft, brachte aber nicht ein Wort hervor. Ihre Wut kochte nur noch heißer. Allerdings zog Luca es vor dieses Gespräch abzubrechen. „Linnette, meine Liebe“, begann er, „würdet ihr euch um die Einteilung der Kranken und Verletzten kümmern, das am besten zusammen mit diesem jungen Hitzkopf?“ Er hoffte innerlich, dass die gutherzige Art der Orc-Dame einen beruhigenden Einfluss auf die Elfe haben würde. Linnette sah das Mädchen an, dem Luca mit seinen Worten noch mehr Stoff für ihre flammende Wut geliefert hatte. „Kommt mein liebes Kind“, winkte sie die junge Frau zu sich. „Bitte helft mir gleich.“ Das Mädchen reagierte stolz und überheblich, genau wie Luca erwartet hatte. Mit erhobenem Kopf und ohne den Magier eines Blickes zu würdigen schritt sie an ihm vorüber zu Linnette und stützte sie etwas. Er hörte sie noch sagen, dass er sein Versprechen Linnette zu heilen nicht gehalten hatte. Aber scheinbar fand die Orc-Dame eine Möglichkeit das Gespräch sehr schnell auf ein anderes Thema zu lenken. „Das war Absicht, oder?“, fragte eine zierliche Halbelfe, das zweite Wesen, was außer Ria zu Luca aufblicken musste. Er deutete ein Nicken an. „Sie kann über mich denken was sie will, so lang sie ihren Überschuss an Wut in Kraft für andere umsetzt. Linnette zu heilen wäre in dem Fall unklug gewesen. So richtet das Mädchen ihre Kräfte in die Richtung, in der ich sie haben will. Sie soll helfen, sie muss den Wunsch dazu haben, und den entwickelt sie nur, wenn sie meint, dass sie besser und gerechter handelt als ich. Damit vergisst sie ihren Ehrendünkel wenigstens.“ Die Frau nickte anerkennend. „Ziemlich weise und trickreich für einen noch so jungen Mann.“ Sie strich sich eine rotbraune Haarsträhne aus dem Gesicht und straffte sich leicht. Unter ihrem Leinengewand spannten sich die Muskeln einer Kriegerin. Auch ihre muskulösen Hände verrieten, dass sie viel gekämpft und hart gearbeitet hatte. „Mein Name ist Nea“, sagte sie. „Ich bin eine Geweihte, also noch ohne Magie, aber ausgebildet in allen Arten körperlicher Arbeit und der Kräuterkunde.“ Sie machte eine Bewegung zu dem Platz, an dem die schwarzhaarige und schwarzäugige Elfe gerade noch gestanden hatte. „Von ihr sagt man, dass sie eine Adelige aus Rouijin ist. Ich glaube es nicht. Das ist unmöglich. Da unten war ich einige Jahre. Das Adelspack macht da keinen Finger krumm. Und egal wie hochnäsig sie sein will, so ist sie im besten Fall ein Bastard, der auch nur arbeiten musste.“ „Woher wisst ihr das, Nea?“, fragte Luca nun nach. „Sie hat das Tattoo einer niederen Kaste auf dem Arm“, erwiderte die Halbelfe gelassen. Sie zog den Ärmel ihres Gewandes hoch und entblößte ihren Unterarm. Auf der Innenseite hatte man ihr ein für Luca unlesbares Schriftzeichen eintätowiert und darüber einen stilisierten Vogel mit Schweif. „Ich war eine Dienerin in einem der Clans-Verbände dort unten“, setzte sie erklärend hinzu. „Sie auch. Allerdings gehörte ich zu einer anderen Familie als sie.“ Luca nickte unbehaglich. Ihm ging durch den Kopf, dass diese beiden Frauen mit ziemlicher Sicherheit nicht miteinander auskommen würden. Tambren schein ähnlicher Ansicht zu sein. Der Drachling sprang nun auf Lucas Schulter hinauf und rollte sich um den Nacken seines Meisters, sodass sein langer Schwanz auf der anderen Seite herab fiel. Luca sah nun die anderen Freiwilligen an. „Nun ist es an der Zeit erst euch zu stärken, damit ihr den Anderen helfen könnt.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)