Night's End von Luca-Seraphin (Der Wiedergänger) ================================================================================ Kapitel 15: Unglücksboten ------------------------- Eine recht lange Zeit schwieg der Elf, erhob sich irgendwann von Lucas Schoß und reichte ihm Tambren zurück in die Arme. Der Drachling übermittelte Luca eine seltsam tiefe Ruhe aus der Seele des jungen Mannes. Die Bestürzung oder Wut, mit der Luca gerechnet hatte, blieb aus. Ganz im Gegenteil schien der Elf erleichterter als zuvor. Er lächelte plötzlich. „Danke, dass du es mir gesagt hast, Luca.“ Der Magier hob eine Braue. „Ich dachte Du verabscheust Kyle aus tiefstem Herzen?“, harkte er nach. „Ich bin mir nicht sicher, Luca.“ Entschuldigend hob er die Schultern. „Aber dich kann ich nicht für sein Verhalten verantwortlich machen, zumal du selbst wohl noch nicht lange weißt, dass ihr aus derselben Blutlinie stammt, oder?“ Luca lächelte. Er hatte das Gefühl etwas bei Ayco erreicht zu haben, wenigstens das bisschen Offenheit, was er brauchte, um auf seinen Vater zuzugehen, und ihn nicht gleich wieder von sich zu stoßen. Die beiden mussten vieles miteinander bereden. Vielleicht konnte Kyle Ayco auf den passenden Weg zurück leiten, aus dem rachsüchtigen Bann Leas heraus, in ein eigenständiges Leben. „Ich war mir schon von Anfang an sicher, dass ich dein Gesicht, leicht verändert bereits kannte. Ihr seid euch optisch sehr ähnlich, oder?“, fragte Ayco. Luca wiegte leicht den Kopf, erhob sich ebenfalls und setzte Tambren in sein Hemd. Der Drachling suchte eine ganze Zeit nach einer angenehmen Schlafposition, bis er sich endlich passend ausgerichtet und zusammengerollt hatte. Wenige Augenblicke später schnarchte es bereits wieder leise aus Lucas Kleidern. Zärtlich strich der Magier über den Stoff unter dem er das Schuppenkleid seines kleinen Gefährten spürte. „Ja, ähnlich sind wir uns“, bestätigte Luca. Kyle ist nur größer und wesentlich muskulöser als ich. Außerdem sind seine Züge härter und weniger weibisch als die meinen.“ Er grinste. „Sein Haar ist lang und silbrig weiß, wie deines.“ „Du bewunderst ihn sehr, oder?“, fragte Ayco. In seiner Stimme schwang leichte Eifersucht mit. „Ja“, gestand Luca. Sein Blick glitt an Ayco vorbei in den frühabendlichen Himmel. Die Sonne sank und die Schatten der Häuser in Night’s End wurden länger. Die ersten Nachttiere erwachten. Neben sich hört Luca sehr dicht den Ruf eines Käuzchens und sah einige Katzen über den Dorfplatz zu dem Gasthof streben, wohl - wie er dachte - um einige Essensreste zu bekommen. Er lächelte. Das Bild Kyles in seiner schweren, dunklen Rüstung, stand ihm direkt vor Augen. Haarsträhnen, die aus seinem Zopf herausgezogen waren, wehten im Sommerwind um seine Wangen. Der Blick der intelligenten, grünen Augen hatte etwas Gütiges und ein warmes Lächeln umspielte seine vollen Lippen. Für einen winzigen Moment glaubte Luca zwei kleine silberhaarige Elfenkinder zu sehen, die auf ihn zustürmten und an ihm hoch sprangen. Ja, er liebte und bewunderte seinen Halbbruder sehr und er freute sich immer von ganzem Herzen Kyle wieder zu sehen und ihn in seine Arme schließen zu können. Mit einer Hand ergriff er Aycos Arm und drückte ihn sanft. „Ich bewundere Kyle und wünschte mir manchmal so zu sein wie er, aber ich bin Luca, nicht Kyle.“ Ayco lächelte verlegen. Luca drückte ihn sanft. „Ich will hinunter ins Dorf, mit Orpheu reden, mit Aki und einige alte Freunde besuchen. Begleitest Du mich?“ Der Elf wollte im ersten Moment den Kopf schütteln, aber ein Funke Neugier erwachte in seinen Augen und er nickte. „Wenn ich nicht allein bin, wird es sicher gehen.“ Mit den letzten goldenen Sonnenstrahlen betraten Ayco und Luca den Innenhof des Gasthauses. An runden, hölzernen Tischen saßen Dorfbewohner und Gäste zusammen und spielten Karten, verhandelten miteinander, erzählten sich Anekdoten oder lachten über Dinge, die weder Ayco noch Luca mitbekommen hatten. Auf der Heckenrosen überwachsenen Mauer saß eine schwarze Katze und beobachtete die Männer und Frauen gelangweit, die sich bei Bier, Wein und Schnaps amüsierten. Die farbigen, bleigefassten Fenster waren weit offen und Lucas Blick ging ungehindert in die Gaststube. Auch die Tür hatte der Wirt an der Wand eingehängt, damit seine Schankmägde leichter hinaus und hinein konnten. Hier draußen zogen Raven und Justin die größte Aufmerksamkeit auf sich. Der halbzwergische Dieb hatte eine ganze Gruppe Interessierter um sich geschart, die seinen Erklärungen zu einem neuen Spiel aus Valvermont lauschten und denen er seine meisterhaft gearbeiteten Karten dabei vorführte. Justin saß etwas abseits, auf dem Rand des Ziehbrunnens, umringt von einer Horde kleiner Kinder und schöner, junger Mädchen, die gebannt an seinen Lippen hingen. Er erzählt ganz offensichtlich einige seiner verträumten Märchen aus dem alten Valvermont, als die Stadt vor Jahrhunderten noch in Elfenhand lag. Als der Elfenvampir Luca gewahrte, lächelte er ihm zu und winkte. Scheinbar hatte er all das, was er getan hatte, schon längst wieder verdrängt. „Du wirst ihm doch nicht vergeben haben, Luca?“, fragte Ayco. In seinem Tonfall schwang eine leise Drohung mit. Der Magier legte den Kopf schräg, sah Ayco an und schmunzelte. „Ganz ehrlich, glaubst du, Justin weiß das noch? Im Moment ist er der ruhige, liebenswerte Barde, der die Kindergeister bezaubert und Mädchenherzen raubt.“ Ayco schnaubte kurz. „Er hat dein Blut geraubt!“, protestierte er. „Das kann dieser elende, spitzohrige Scharfzahn nicht vergessen haben!“ Luca hob die Schultern. „Doch. Er wird daran keine Erinnerung mehr haben. Alles, was er in seinem Zorn oder aus seiner Verletzung heraus tut, ist später aus seiner Erinnerung getilgt. Wenn man ihn damit konfrontiert, bereut er es. Aber ändern kann man ihn nicht, schon gar nicht ich. Letztlich ist er wegen mir so geworden.“ Ayco wiegte zweifelnd den Kopf. „Du umgibst dich mit Wahnsinnigen und nennst es normal.“ Luca lachte leise und nickte. „Bin ich denn nicht auch völlig verrückt?“ Der Elf verschränkte die Arme vor der Brust und hob strafend beide Brauen. „Sei dir gewiss darin, dass ich mit Justin nicht so schnell wieder Frieden schließe.“ Luca deutete Justin gegenüber eine leichte Verneigung an und erntete dafür ein strahlendes Lächeln. Das Gefühl tiefen Glücks und unheimlicher Zufriedenheit, bemächtigte sich des Magiers. So, wie Justin sich nun verhielt, liebte Luca ihn als seinen Freund. „Im Moment könntest du mit ihm alles machen, Ayco. Das ist der Mann, der unser Freund in unserer Kindheit war.“ Lucas Worte schienen Ayco nicht zu genügen. Der Elfenvampir imitierte das finstere Gesicht Aycos und lachte dann. Alle Kinder um ihn brachen ebenfalls in Gelächter aus. „Er macht sich über mich lustig!“, ereiferte sich Ayco verärgert. Um größeren Schaden zu vermeiden, nahm Luca seinen Freund am Ärmel und zog ihn mit sich in die Gaststube. Auf den Stufen kam ihnen ein hübsches, rotblondes Mädchen mit einem Tablett und duftendem Braten entgegen. In Lucas Hemd regte Tambren sich und begann zu schnüffeln. Halb im Traum und halb in der Wirklichkeit gefangen schmatzte er leise und sein Kopf reckte sich aus der Hemdschnürung hinaus. „Er besteht nur aus zwei Eigenschaften“, stellte Ayco trocken fest. „Entweder er frisst oder er schläft.“ Luca wiegte den Kopf. „Das stimmt nicht ganz. Er nimmt ja nicht nur die Umwelt über Sinnesorgane wie Ohren, Augen, Nase und Tastsinn wahr. Er sieht mehr, weil er in die Seelen der Lebewesen blicken kann, hört ihre Gedanken und empfindet ihre Gefühle. Vor allen anderen auch besonders die meinen. Das verdrängt seine eigene Persönlichkeit und schadet ihm, wenn er nicht die Möglichkeit zur Ruhe findet.“ „Aber in dir“, wiedersprach Ayco, „hat er doch einen sehr ruhigen und gefestigten Mann. Das dürfte ihm am wenigsten Sorgen bereiten.“ „Glaubst du?“, fragte Luca und sah dabei über die Schulter zu Ayco zurück. „Du weißt nicht, wie es in meiner Seele und meinem Herzen aussieht. Viele Ruhe ist erzwungen. Tambren weiß das, und er hilft mir diesen Ausgleich zu schaffen.“ Verblüfft erwiderter Ayco Lucas Blick. „Ich dachte...“, murmelte er, brach dann aber ab. Über beide Männer fiel ein Schatten. Luca nahm den schweren, süßlichen Duft von Räucherwerk wahr, das Aroma von Ihads Haut, was der junge Magier bestens kannte. „Meister“, sagte er leise und neigte den Kopf vor Ihad. Mit dieser, im Moment unangenehmen Überraschung, hatte Luca nicht gerechnet. Tief in sich hegte er die ganze Zeit hindurch die Hoffnung, dass Ihad bereits wieder in den Orden zurückgekehrt und seinen Zorn auf Luca langsam abgekühlt hatte. „Deinen Widerspruchsgeist hast du wieder eingebüßt, nicht wahr, Lysander?!“, fragte der Dämon herausfordernd. Luca hob den Blick und sah ihm still in die Augen. „Nein, ich habe nur gehofft, euch nicht anzutreffen!“, sagte er provokant. Ihads Augen funkelten drohend. Luca fiel auf, dass er nun nur die Gestalt eines Menschen als Maske trug. Seine Bronzehaut schimmerte noch immer unnatürlich, aber seine Augen hatten die goldbraune Farbe von dunklem Honig und sein Haar fiel in dunkelbraunen, schimmernden Schlingen über seine Schultern und seine nackte, breite Brust. Die Hörner fehlten gänzlich und seine Klauen waren fein manikürte Nägel. Plötzlich lächelte Ihad. Sein breiter Mund verzog sich und die vollen, dunklen Lippen schimmerten feucht. Ganz fein konnte Luca den Duft Cyprians auf Ihads Haut wahrnehmen. Scheinbar hatte sich der Dämon abreagiert und sich an seinem Bruder ausgetobt. Innerlich dankte Luca seinem Mentor aus ganzem Herzen. „Hunger“, murmelte Tambren, dessen Köpfchen auf Lucas Schulter lag, völlig zusammenhangslos. „Dein Drachling verhungert, Lysander, fülle seinen kleinen Kugelbauch!“, befahl Ihad. Der Magier wollte im ersten Moment etwas entgegnen, aber in Anbetracht der Tatsache, dass der Speichel des kleinen Drachen langsam den Stoff seines Hemdes Tränkte, nickte er nur ergeben. Ayco und Luca folgten Ihad in den Schankraum. Dort erschien es Luca als angenehm kühl und schattig. Die Dielen knarrten leise unter seinen Schritten. Allerdings nahm er Ayco, der direkt hinter ihm ging, gar nicht richtig wahr. Der junge Elf schien über den unebenen Boden zu schweben. Luca dachte bis dahin, dass er einen leichten Schritt besaß. Ayco übertraf ihn um Längen. Mit einem Blick über die Schulter, stellte der Magier fest, dass sein Freund die Grazie eines Tänzers besaß und die Lautlosigkeit eines Diebes. Für den Moment schob der Magier den Gedanken von sich und sah sich in der Gaststube um. Die Tische in den Alkoven waren alle voll besetzt. Dörfler wie auch Gäste und reichlich bekannte Gesichter aus dem Heer, hielten sie besetzt. Wie draußen aßen, tranken und spielten die Leute, unterhielten sich und diskutierten. Hinter dem Tresen aus aufgerichteten und vertäuten Fässern, stand die Wirtin und füllte aus einem gewaltigen Tonbehälter Schnaps in kleine Becher. Eine Magd wartete ungeduldig vor dem Tresen und eine weitere ging ihrer Herrin zur Hand, indem sie ständig neue Becher auf dem Tablett abstellte. Aus der Küche drang der Duft gebratenen Fleisches und einer wohlriechenden Gemüsesuppe. Ein weiteres Mädchen trat aus der Küche, zwei lange Holzbretter auf den Schultern, gefüllt mit heißem, frisch gebackenem Brot. So sehr Luca diese Schwäche hasste, aber ihm lief bei diesen Düften das Wasser im Mund zusammen. Dabei musste er sich kasteien, denn eine der grundsätzlichen Auflagen des Ordens war die Askese zugunsten der Reinhaltung des Geistes und der Disziplinierung der eigenen Wünsche. Ein fetter und behäbiger Kriegsmagier hätte wohl auch kaum lange im Feld überlebt. Luca schob schon fast gewaltsam den Gedanken an etwas zu Essen von sich. In Gegenwart Ihads würde er sich ohnehin keine Schwächen erlauben können und wollen. „Herrlich, dieser Duft, nicht wahr Lysander?“, stichelte Ihad. Luca war für einen Moment versucht seinem Großmeister irgendeinen harmlosen kleinen Fluch anzuhängen, verkniff sich aber jeden Gedanken an Rache, schon weil ihn die illustere Gesellschaft seiner Gefährten davon ablenkte. Vor dem kalten Kamin saßen an einer Tafel die, wohl bemerkt, reichlich gedeckt war, Orpheu, Thorn und dessen schöne Tochter Camilla, aber auch Linette, Nea, Kione, Ria und Aki Valstroem, die wesentlich weniger damenhaft erschien in ihren groben Hosen und dem schweren, Lederwams, über dem sie einen Kettenüberwurf trug. Etwas entfern, rechts von einem leeren Platz, den sicherlich Ihad eingenommen hatte, saß Cyprian, in elfischer Gestalt. Sein langes, weißes Haar hielt er in einem Zopf gebändigt und die kühlen, edlen Züge erinnerten ein wenig an Aki. Luca hatte im Moment keine Schwierigkeiten seinen Mentor mit ihr gleichzusetzen. Nur fand sich weitaus mehr Hochmut ich den hellblauen Eisaugen Cyprians, als in denen der Königin des Nordens. Er hielt die Hände unter dem Kinn verschränkt und betrachtete sie Fliege, die sich gerade in seinem Wein ertränkte. Ihn interessierte nicht im Geringsten, was die schnatternden Frauen zu erzählen hatten, und Kione, seit sie wieder durch das Tageslicht wandeln durfte, war ein redseliges Weib. Sein Blick hob sich erst, als Ayco sich einen Stuhl von einem anderen Tisch herbei zog und neben ihm nieder ließ. „Gelangweilt?“, fragte der Elf spöttisch. Cyprian musterte ihn einige Sekunden, als wolle er einschätzen, ob es sich lohnte den Energieaufwand für eine Antwort in Kauf zu nehmen. Als Luca den Kreis an diesem Tisch schloss, nickte er schließlich. „Schön euch zu sehen!“, begrüßte Orpheu Ayco und Luca. Der Magier lächelte verlegen, während Aycos fröhliches Grinsen auf Höhe seiner Ohren endete. „Wir haben schon von eurem wahnsinnigen Heldenstück gehört“, begann der Hauptmann, verstummte aber sofort, als Lucas Hemd sich wild bewegte. Tambren kämpfte sich unelegant hervor und wollte gerade auf die Tischplatte springen, als Luca ihn auffing und auf seine Schulter verdammte. Enttäuscht schnaubte der Drachling. „Das ist Drachenquälerei!“, beschwerte er sich. „Lysander, selbst du kannst nicht so grausam sein und mich bei gedeckter Tafel verhungern zu lassen!“ „Du bekommst ja gleich, Gierschlund!“, wies Ayco Tambren zurecht, noch bevor Luca etwas sagen konnte. Der Magier hob eine Hand und wartete, bis eine Schankmaid zu ihm trat. Das Mädchen blieb stehen und klemmte ihr Tablett unter einen Arm. Dann neigte sie sich zwischen Ayco und Luca vorbei zu Tambren und kraulte ihm das Köpfchen. Dem Magier entging nicht, dass ihr draller Busen absichtlich gegen seine Schulter drückte und ihr gerüschtes Hemd so weit herabrutschte, dass ihre Brustwarzen fast hervor sprangen. „Schön euch wieder hier zu haben, Lysander“, begrüßte sie ihn. „Und auf dich habe ich mich auch schon gefreut, kleiner Drache. Dir bringe ich gleich etwas Feines.“ Sie richtete sich wieder auf und einige ihrer langen, dicken Locken vielen über ihre vollen Brüste. ‚Läge dein Interesse nicht offenkundig bei Männern, Luca’, stichelte Tam, ‚wäre sie nur zu bereit dir jeden Aufenthalt hier mit ihrem Körper zu versüßen.’ Luca hob nur eine Braue und ignorierte seinen Drachling. Darauf zu antworten lohnte sich nicht. Das Mädchen drehte sich nun zu Ayco um. „Nun, hübscher Elf, was kann ich dir bringen?“, fragte sie herausfordernd. Ayco war offensichtlich das Spiel bei Luca nicht entgangen. Schon fast feindselig betrachtete er sie. „Tee und eine Gemüsesuppe!“, orderte er knapp. Ihad neigte sich etwas vor und sah Ayco tadelnd an. „Hast du die Grundsätze des Ordens vergessen?!“, zischte er ärgerlich. Der Elf überlegte einige Herzschläge angestrengt, erschrak, konnte aber seine Bestellung nicht mehr zurück nehmen, denn das Mädchen hatte bereits, beleidigt und mit hoch erhobenem Haupt, den Tisch verlassen. „Das hatte ich verdrängt“, gab Ayco zu. Orpheu räusperte sich. „Hört mir zu, Florean …“ bei dem Namen zögerte der Hauptmann einen Herzschlag lang. „und Lysander.“ Diese förmliche Anrede rief in Luca wieder ein unbehagliches Misstrauen wach. Aufmerksam verfolgte er die klare, emotionslose Mimik Orpheus. „Großmeister Ihad hat euch und euren Lehrling für einen neuen Auftrag freigestellt...“, setzte Orpheu an, wurde aber von Aycos impulsivem Aufschrei sofort unterbrochen. „Lehrling?!“, rief er erbost. „Ich ein Lehrling?!“ Er sprang auf. Sein Stuhl drohte nach hinten zu kippen. Äußerlich blieb Luca ruhig und gelassen, zog Ayco auch wieder sanft auf seinen Stuhl zurück, aber in den tiefen seines Herzens verfluchte er Ihads sinnlose Affronts gegen den Elf so sehr wie die leicht reizbare, unüberlegte Art Aycos. „Beruhige dich“, bat Luca. In seiner Stimme lag ein scharfer Unterton, den Ayco nicht ignorierte. Sofort schwieg der junge Mann, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Orpheu sah entschuldigend zu Ayco, fuhr dann aber fort. Wir werden die Dame“, wobei er auf Aki wies, „nach Sarina geleiten und ihre Sicherheit in den folgenden Monaten gewährleisten, auch auf dem Rückweg nach Valvermont und Skaaren, in ihre Hauptstadt.“ Die weiteren Worte des Elfs gingen an Luca vorbei, ohne dass er sich wahrzunehmen vermochte. Sicher wollte er Aki helfen, den Krieg beenden und den Mann jagen, der es gewagt hatte, den Tod selbst einzukerkern. Aber er wollte es aus freien Stücken, nicht verkauft wie Vieh. Leider gab es nichts, womit sich Luca gegen den Willen Ihads auflehnen konnte. Für Orpheu war es sicher gut, denn er musste nicht auf Lucas magischen Schutz verzichten. Eine warme, vertraute Hand legte sich auf Lucas Schulter. Als der Magier den Kopf wendete, stand der Hauptmann hinter ihm. Er neigte den Kopf zu Lucas Ohr. „Kommt mit mir, Magier. Ich muss mit euch reden.“ Einen kurzen Moment sah er zu Ayco, dessen Augen sich misstrauisch verengten. Zeitgleich allerdings drängte sich die Magd herbei und unterbrach den Blickkontakt zwischen den beiden Männern. Orpheu nutzte die Gelegenheit und zog Luca unsanft an der Hand mit sich in den Hof. Erst als sie einige Schritte weit in eine Seitengasse des Marktplatzes gewichen waren, wohl verborgen in den Schatten der heraufziehenden Dämmerung, blieb Orpheu stehen. Luca, der immer noch sein Handgelenk in dem eisernen Griff des schwarzen Elf sah, starrte den Hauptmann nur abfällig an. „Entschuldigt, Lysander“, sagte Orpheu schnell und löste seine Finger. „Die Gelegenheit war günstig. Außerdem bietet sich in dem Pulk, in dem wir zurzeit hausen, gar keine Gelegenheit, euch allein zu sehen.“ Luca atmete tief durch und rieb sich seine noch immer etwas taube Hand. „Schon gut, Orpheu. Entschuldige.“ Er sah in die Richtung des Gasthofes zurück. „Im Moment bin ich sehr reizbar. Aber das geht nicht gegen dich.“ Orpheu schlug den Blick nieder und strich sich über seinen elegant gestutzten Bart. „Ihr werdet gleich ziemlich wütend sein, Magier“, begann er leise und unruhig. Luca hob eine Braue. „Weshalb? Weil ihr mich als Begleiter beibehalten habt?“ Der Hauptmann nickte, sah Luca dann allerdings auf eine fast bittende Weise an, die der Magier bislang gar nicht bei dem Elf kannte. „Seid mir nicht böse, aber ich konnte nicht zulassen, dass Meister Ihad euch in den Orden zwingt. Er hatte angedeutet, dass er euch einsperren lassen würde, wenn ihr seinen Befehlen weiterhin nicht Folge leistet.“ Er hob den Blick und sah Luca in die Augen. „Ich kenne euch gut genug um zu wissen, dass ihr ein Mann seid, der nicht eingesperrt sein darf. Das wäre, als würde man euch die Flügel ausreißen und in Ketten an den Boden fesseln.“ In Luca wuchsen die Schuldgefühle. Er hatte zu hart über Orpheu geurteilt. Das Vertrauen und die Waffenbrüderschaft hatten offenbar dem Hauptmann viel mehr von Lucas wahrer Natur verraten, als der Magier angenommen hatte. „Entschuldige, mein Freund“, sagte Luca leise und ergriff beide Schultern des Elfs. „Ein treuer Freund bist du mir schon lange. Nun verdanke ich dir auch diese Freiheit.“ Über die Lippen des Hauptmannes huschte ein erleichtertes Lächeln. „Ja, Freunde sind wir. Die letzten Jahre haben dieses Band gefestigt. Lasst uns auch weiterhin einen gemeinsamen Weg gehen.“ Luca musste lächeln. „Ungefähr bis zum dem Punkt, an dem du eine Gefährtin findest und Vater wirst. Dann werde ich immer noch dein Freund sein, aber sicher nicht mehr dein Weggefährte.“ Orpheu machte eine wegwerfende Handbewegung. „Nachdem Kione den ganzen Nachmittag geschwatzt hat, teile ich mit dem Weibsvolk viel lieber nur eine Nacht, aber nicht mein ganzes Leben.“ Nachdenklich nickte Luca. Orpheu als Bauer oder Handwerker, war auch für ihn unvorstellbar. Dieser Mann hatte nur ein Handwerk gelernt. Er war ein Krieger. Der Wind trug die sanfte, schöne Singstimme Justins mit sich. Er sang eine Liebesballade und Luca hatte eine sehr klare Vorstellung der Szenerie um den Elf. Paare und Frauen lauschten ihm andächtig, verliebt und verzaubert von seiner Magie. Luca kam diese Musik so unpassend zu Orpheus Worten vor. Ein seltsames Paradoxon. Allerdings störte ein plötzliches Gefühl von Gefahr Lucas humorige Betrachtung der Situation. Am Rande seines Sichtfeldes bemerkte Luca eine Bewegung. Als er den Punkt knapp neben Orpheus Gesicht allerdings fixierte, lag die Gasse still und ausgestorben da und mündete in einen ruhigen und leeren Marktplatz. Vermutlich waren seine Nerven überspannt oder er sah Geister, wo es keine gab. Dennoch lag eine greifbare Spannung in der Luft, wie die aufgeladene Atmosphäre vor einem Gewitter. Ohne es zu wollen, ruhte seine Hand auf dem Griff seines Schwertes. Die Waffe allerdings bot ihm keineswegs das Gefühl von Sicherheit. Auch Orpheus feine Sinne hatten ganz offensichtlich diese Veränderung bemerkt. Er trug seine Rüstung nicht, verzichtete aber so wenig wie Luca auf seine Waffen, die beiden Langschwerter an seinem Gürtel. Sein Blick fixierte weiterhin Lucas Gesicht, las darin, wie schon so viele Male zuvor. Der Hauptmann verließ sich scheinbar auf die Sensibilität des Magiers für die Gefahr. Luca bemerkte, wie Orpheus Finger unmerklich nach seinen Waffen tasteten, ohne sie jedoch zu berühren. Dann öffnete sich eine Tür zum Markt hin und Licht flutete über das Pflaster. Ein langer Schatten zog sich in die Gasse hinein. Er war ganz und gar nicht menschlich. Deformiert schien er, verwachsen, bis er seine Schwingen ausbreitete und sich vom Boden abstieß. Luca vergaß sein Schwert und sammelte seine Konzentration auf einen Bannzauber. Gleichzeitig fuhr Orpheu herum. Er hatte seine Schwerter gezogen. Mit einem lauten Aufschrei sprang er nach vorne und beschleunigte seinen Schritt, um den Lauscher noch mit seinen Waffen zu erreichen. Luca schätzte Orpheus Chancen sehr schlecht ein. Der Seraph, es war ein Seraphin, würde schnell aus der Reichweite des Hauptmannes entflohen sein. Aber vielleicht gelang es Luca, noch rechtzeitig seinen Zauber zu beenden. Er richtete seine Konzentration auf den schwarzen Engel, der bereits über die Höhe der Dächer gestiegen war. Dann schleuderte er seinen Zauber. Zeitgleich damit stieg eine Feuerlohe auf und hüllte den Seraph in eine brennende Aureole. Neben sich spürte er Leas Präsenz, die so plötzlich wieder da war, wie sie zuvor geflohen schien. Er beachtete das Geistermädchen nicht. Seien Aufmerksamkeit galt dem jungen Seraph. Jung stimmte. Er war noch fast ein Kind. Die Flammen taten ihm weh, der Zauber Lucas zwang ihn herab und als Orpheu hinauf federte, um den Fuß des Jungen zu erreichen, wurde der schwarze Engel endgültig nieder gerissen. Der Junge schrie hell auf, bevor ein sehr unschönes Geräusch brechender Knochen seine Lippen verschloss. „Nicht, Orpheu!“, schrie Luca. Um ihn herum flackerten Lichter auf. Die Leute kamen zu ihren Fenstern und traten aus ihren Häusern, um dem Spektakel beizuwohnen. Auch die Musik Justins war verstummt und hatte dem Murmeln und den erschrockenen Ausrufen der Dorfbewohner Platz gemacht. Luca eilte die wenigen Schritte zum Marktplatz und hatte schon Schwierigkeiten über die Masse hinweg zu Orpheu zu sehen. Ein Luca wohl bekannter, silbriger Haarschopf fand sich nah bei dem Hauptmann. Aycolén. Luca konnte sich nun nur zu gut den Feuerzauber erklären. Der Magier schob sich vorsichtig durch die Menge. Mehr als einmal musste er Rippenstöße und Tritte hinnehmen. Er brauchte eine ganze Zeit, sich durch die aufgebrachte Masse zu drängen. Allerdings hörte er schon zuvor das leise Stöhnen des Jungen. Ayco trat einen Schritt beiseite, als Luca ihn und Orpheu endlich erreichte. In den Augen des Elfs loderte ungezähmte Wut, die sich allerdings nicht gegen Luca richtete. „Es war wohl gut, dass ich euch gefolgt bin!“, kommentierte er gereizt und deutete auf den Jungen, der sich zu seinen Füßen krümmte. „Wie, du bist uns gefolgt?!“, stieß Orpheu hervor und setzte sofort nach: „Dann hast du also gelauscht?!“ Luca nahm sich vor, dem Gespräch nicht beizuwohnen. Er kniete neben dem jungen Seraphin nieder. Ayco, der ganz offensichtlich auch recht wenig Lust auf eine eingehendere Diskussion zu dem Thema Belauschen, Misstrauen und dergleichen noch hatte, setzte sich auf seine Fersen und half Luca, den Jungen auf die Seite zu drehen. Der Magier bemerkte, dass dieser Seraphin ein außergewöhnliches Geschöpf hoher und reiner Abstammung sein musste, denn er trug vier Schwingen auf den Rücken, wovon allerdings die meisten Federn versengt waren, genau wie das Haupthaar und die nackte Haut. Er wimmerte leise vor Schmerzen bei jeder noch so leichten Berührung und Tränen rannen über seinen Wangen. Sein Arm lag in einer unnatürlichen Pose abgeknickt und beide Beine schienen gebrochen. Die Tatsache, dass Orpheu ihn mit aller Gewalt zu Boden gerissen hatte, musste seine Knochen schwer beschädigt haben. Luca kannte dieses Problem zu gut. Seraphin besaßen Hohlknochen, wie ein Vogel. Luca tat der Junge von ganzem Herzen Leid. Er war vielleicht adäquat zu einem Menschen vierzehn Jahre jung. Allerdings, so überlegte Luca, zählte Ayco auch nur wenige Jahre mehr – war er doch in menschlichem Ermessen bestenfalls siebzehn oder achtzehn - und man hatte ihm mehr schlimmes angetan, als ein Menschenleben fassen konnte. Nur war der Junge körperlichen Schmerz nicht gewohnt, etwas, dass Aycolén ertrug ohne mit der Wimper zu zucken. „Wir müssen seinen Körper kühlen, bis Justin hier ist und ihn heilen kann, Ayco“, sagte Luca leise. Der Elf nickte, deutete auf Lucas Wasserschlauch und zog sein Hemd über den Kopf. Luca tat es ihm gleich. Die Berührung des groben Stoffes brachten den Jungen erneut zum aufschreien. Allerdings seufzte er leise, erleichtert, als Luca das Leinen wässerte. „Orpheu“, rief Luca. „Bring Justin hier her!“ Eilig entfernte sich der Hauptmann. Die Menge allerdings umringte Ayco und Luca noch enger. „Ein Unglücksbote! Wir sollte ihn sofort erschlagen!“, rief eine Frau. „Ja, wir sind dem Untergang geweiht!“, stimmte eine andere zu. Immer mehr Stimmen gegen den Jungen wurden laut. Der Blick Aycos wurde dunkel, zornig. Luca sah die Angst in ihm, aber auch die unbezwingbare Wut gegen diesen alten Aberglauben. „Nicht...“, wisperte der Junge schwach. Langsam erhob sich Luca und sah sich in der Runde um. Der Marktplatz hatte sich gefüllt. Wanderer, Gäste, Dörfler, alle wollten sehen, was gesehen war, den Seraph begaffen. „Ihr werdet nichts dergleichen tun!“, rief Luca. Seine Stimme hallte an den Wänden der Häuser wieder. Was immer geschah, die Männer und Frauen verstummten und sahen zu ihm. „Niemand wird dem Kind auch nur ein Haar krümmen. Dieser alte Aberglaube, dass Seraphin unheil bringen ist Unsinn!“ Er drehte sich einmal im Kreis und hob eine Hand. „In den Köpfen von euch allen hat sich die Vorstellung eingebrannt, dass man eine Rasse für alle Vergehen und alle Unglücksfälle verantwortlich machen kann. Aber jeder, wenn er ehrlich ist, muss aus seiner eigenen Erfahrung heraus sagen können, dass es in jedem Volk, jeder Rasse, Gute und Böse gibt und all die, die in der Grauzone dazwischen liegen. Wer hat in seinem Leben noch nichts Verwerfliches getan, ungerecht gehandelt, einen anderen betrogen oder belogen? Wer von euch kann sagen, dass er bislang immer nur Glück oder nur Pech hatte? Das Schicksal wird nicht durch Seraphin, die angebliches Unheil bringen und Celestial, die euch Schützen, bestimmt, sondern durch euer Handeln, euer Denken und euer Verhalten anderen gegenüber. Ihr macht es euch zu einfach, wenn ihr ein Kind, einen Jungen, der zufällig schwarze Haut und schwarze Flügel hat, für euren Zorn auf euer eigenes Schicksal und eure eigenen Handlungen zur Verantwortung ziehen würdet.“ Ayco hatte sich erhoben und Lucas Hand ergriffen. Er stand breitbeinig wie ein lebender Schutzschild über dem Jungen. Sanft, vertrauensvoll, drückte Luca die Hand seines Freundes. „Wer von euch einen Jungen einfach abschlachten will, muss erst an mir vorbei!“, rief Ayco zornig. „Er steht unter unserem Schutz! Unter dem Schutz von Großmeister Ihad vom Orden der grauen Pentakel!“ Luca hatte für einen winzigen Moment das Gefühl, dass ihm die Gesichtszüge nicht ganz gehorchen wollten, fing sich aber wieder, als er das wohlwollende Nicken Cyprians in der Menge bemerkte. Allerdings sah er auch Thorn und Camilla unter den Neugierigen. In den Augen des Halbzwergs flackerte tiefe Angst, aber auch schwer zurückgehaltene Wut auf ihn, den Magier und Aycolén. Camilla schien die Einstellung ihres Vaters nicht zu teilen, denn sie strahlte bei den Worten Aycos über das ganze Gesicht. Ihre rotbraunen Locken wippten, als sie ein Stück weit hochsprang und fröhlich lachte. „Gut so, Lysander! Ihr und euer Freund sprecht Wahres aus! Wenn wir uns dem Drang hingeben eine Rasse zu vernichten, wird es eines Tages eine andere sein, die dafür herhalten muss und deren Frieden dann bedroht ist! Das will keiner von uns, besonders nicht in einem Ort, der ein Schmelztiegel aller Völker ist!“ Einige andere, junge Leute, stimmten mit ein, aber die Alten zogen es vor, sich lieber zu schweigen. „Wir haben es geschafft“, murmelte Ayco. Luca sah ihn an und wiegte unsicher den Kopf. „Die Denkweise, die Jahrhunderte alt ist, kannst du sehr schwer im Bewusstsein der Leute ändern. Das wird so lange gut gehen, bis wir nicht mehr in Night’s End sind. Dann – würden wir den Jungen hier lassen – würden sie ihn ohne zu zögern töten.“ Ayco schauderte bei der düsteren Sichtweise Lucas merklich. „Bist du dir sicher?“, fragte er zögernd. Der Magier antwortete nicht, aber seine Blicke reichten aus, um Ayco verzagen zu lassen. Langsam drehte sich Luca im Kreis und sah über die Menge der Schaulustigen hinweg, die sich nicht rührte. „Geht in eure Häuser“, drängte nun Thorn aus der Mitte der Leute heraus. Hilfe aus seinem Munde hatte Luca nicht erwartet. Er kannte den Einfluss, den der Halbzwerg auf die Dörfler hatte. „Kommt schon, verschwindet endlich!“, befahl er ärgerlich. Einige Stimmen wetterten dagegen, aber als sich tatsächlich die ersten abwendeten und gingen, zogen immer mehr und mehr Leute ab. Luca atmete auf. „Nun ist es überstanden.“ Als er sich dem Jungen zuwendete, fand er den Blick des Kindes ängstlich aber klar. Er kniete sich wieder neben ihm nieder und strich ihm mit einer Hand die Haare aus der Stirn. „Warum musstest du auch so etwas unsäglich dummes tun?“, fragte er sanft. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)