Never Ever ~everlasting~ von Shizana ================================================================================ After you're gone ... --------------------- In der Ferne das Schlagen der Glockenuhr. Schwer. Kühl. Eins. Zwei. Drei. …   Unaufhörlich prasselt der Regen auf ihn hinab. Zieht Bahnen durch sein schwarzes Haar. Fährt die Konturen seines Gesichts entlang, das frei von jeglichen Emotionen ist. Tropft haltlos zu Boden. Unzähligen Tränen gleich. Ungeweint. Zieht ein in den Stoff seiner Kleidung. Weißes Hemd, schwarzer Mantel. Offen bis auf zwei Knöpfe auf Höhe seines Bauches. Längst durchweicht bis auf die Haut. Die Bänder schwer. Warm, kalt – er weiß es nicht. Er fühlt es nicht. Selbst wenn er es könnte, wäre es egal. Nebensächlich. Nicht von Bedeutung. Das stetige Rauschen um ihn herum klingt laut in seinen Ohren. Als stünde er inmitten eines tosenden Wasserfalls. Als versuche der Regen alles fortzuspülen. Fortzutragen. Zu verwischen. Ihre Augen. Ihr Lächeln. Ihre Stimme. Den hellen Schein ihrer Seele. Ihre Wärme. Wie lange, bis er das alles vergessen hätte? So wie er immer alles irgendwann vergessen hatte. Mit der Zeit. Mit den Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten, die an ihm vorüberzogen wie Stunden, Minuten, Sekunden. Unaufhaltbar. Er ist machtlos gegen diesen Strom der Zeit. Ein Gefangener der Ewigkeit. Er kämpfte diesen aussichtslosen Kampf längst nicht mehr. Hatte es irgendwann aufgegeben. Wann, das vermag er nicht zu sagen. Hoffnungslos. Bis sie gekommen ist. Er ihr begegnet ist. Sie im Wunsch zu sterben, er auf der Suche nach Unterhaltung. Nichts Besonderes, so schien es erst. Er fand in ihr keine neue Hoffnung. Lebte einen schönen Traum. Bis zum nächsten Vollmond. Und dann … »Ich werde dich nie vergessen.« – Wahre Worte. Aus den Tiefen seiner Seele gesprochen. Er will es nicht, will es wirklich nicht. Jedoch … er weiß es besser.   Wie lange?   Ein Lächeln zeichnet seine Lippen. Traurig. Verbittert. Spottend über sich selbst. Lieber er als die anderen. Sie würden nie davon erfahren. Zart legt er sich die Finger an die Lippen. Fährt hinab, über Kinn zur Kehle. Er kann sie noch spüren, die sanfte Vibration seiner Stimme. Kann sie noch hören, die Melodie, die Worte. Sein Lied. Sein Todeslied. Für sie, nur für sie. Sein letztes Geschenk an sie. Sein einziges. Ruhig, klar wiegte seine Stimme sie in einen Schlaf, aus dem sie nie mehr erwachen würde. Führte sie, geleitete sie. Hinüber auf die andere Seite, wo Erfüllung auf sie wartete. Hielt ihre Hand, wachte über sie, blickte nicht weg. Wartete, blieb bei ihr. Bis es vorbei war. Endgültig.   ‚Nie wieder.‘   Er lacht auf. Bitter. Den Gedanken verhöhnend. Nie wieder? Wie naiv, wie vermessen. Als stünde es in seiner Gewalt, darüber zu entscheiden. Alles nur eine Frage der Zeit. Alles kehrt irgendwann wieder. Dieser eine Kreislauf ist beständig. Immerfort, kontinuierlich. Ewig. Endlos.   Alles ist nur eine Frage der Zeit.   „Leb wohl“, spricht er leise. Wendet seinen Blick ab, dreht sich herum. Entfernt sich schweren Schrittes. Lässt sie im Regen zurück. Ihren leblosen Körper. Regungslos auf kaltem, nassem Boden. Schon bald würde er verschwunden sein. So wie alles von ihr. Alles, bis auf seine Erinnerung an sie.   Wie lange? Alles ist nur eine Frage der Zeit.       Lautes Knarren schwerer Türen. Widerhallend kündigen sie seine Rückkehr im Hiiragi-Anwesen an. Erhobenen Hauptes tritt er in die Halle ein. Bemüht sich nicht, den Flügel hinter sich zu schließen. Interessiert sich nicht für Wind und Nass, die er hineinträgt. Nicht für die schlammigen Spuren, die seine Schritte hinterlassen, während er das Foyer betritt. Hell erleuchtet, beinah feierlich der teuren Kronleuchter an den hohen Decken. Endlos erscheinend. Sie entgehen ihm nicht, die vier wachen Augenpaare, die ihn aufmerksam aus der Mitte des Saals beobachten. Er begegnet ihnen unverhalten, weicht keinem von ihnen aus. Zwei von ihnen fehlen. Ihr aufbrausender Chaot, Shion, dessen feurig rotes Haar man selbst im Dunkeln nicht verfehlen kann. Und einer ihrer beiden Jüngsten, Itsuki, der in Optik und Gemüt mehr Engel denn einem ihrer Art gleicht. Es stört ihn nicht. Im Gegenteil, es ist ihm sogar ganz recht. Ihre Abwesenheit sorgt für mehr Ruhe im Anwesen. Übermut und Sanftmut, auf diese Dinge kann er im Augenblick gut verzichten. Ihre Gegenwart ist nicht zu spüren. Nicht im Anwesen, nicht im nahen Umfeld darum. Haben wohl noch zu tun. – Gut für sie. Es kümmert ihn nicht. Wären sie hier, er würde sie fortschicken. Oder wegsperren. Bis er sie wieder ertragen könnte. Die übrigen Gefährten haben sich zur Gesellschaft auf Bank und Stuhl eingefunden. Dort an dem breiten Tisch aus edlem Mahagoni, auf dem Kerzenständer und Knabbereien rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Der Dekoration wegen, weniger dem Nutzen. Besuchern ist dieser Bereich zum Empfang und Aufenthalt vorbehalten. Im Moment dient er dem Zeitvertreib der Hausbewohner zu einer Runde Poker. – Ohne ihn, wie so oft. „Willkommen zurück, Kanade-san“, ist es Hinata, der ihn begrüßt. Höflich, mit einer samtweichen Stimme. Der Junge mit den kurzen, weißsilbernen Strubbelhaaren, das im Licht bläuliche und violette Akzente aufweist, ist der Jüngste ihrer Gruppe. Wie immer halten rote Haarspangen das zause Haar an der rechten Seite mühsam im Zaum. Er würdigt den Jungen keines Blickes. Setzt seine Schritte unbekümmert fort, klackend. „Hm? Das ist selten“, spricht Akira, die Stimme eben und klar wie Kristall. Seinem Ruf als »Eisprinzen« gebührend. „Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wann wir dich das letzte Mal in persona zu Gesicht bekommen haben.“ „Kanade-san ist sehr vielbeschäftigt.“ Das lichte Lächeln Yuuris klingt in seinen Worten. Verhohlen, tückisch. Der junge Mann mit Brille und dem pastellgrünen Haar, das ihm zu einem dünnen, welligen Zopf bis in den Steiß fällt, ist zu diesem Zeitpunkt in guter Stimmung. Noch. „Er ist wirklich ausgesprochen fleißig, unser Anführer, nicht wahr?“ In seinem Mundwinkel zuckt es. Seine Lippen ziehen sich zu einem schiefen Grinsen. Das ist Yuuri. Er enttäuscht ihn nie. Diese Bosheit, getarnt unter einer perfektionierten Illusion aus Tugend und Schönheit. Es amüsiert ihn, für wahr. Er würde ihn dafür belohnen, später, und sich des Schauspiels ergötzen, das er ihm im Gegenzug bieten würde. Yuuri, mit seiner gespaltenen Persönlichkeit und seinem Hang zu psychopathischen Ambitionen, ist immer für eine ausschweifende Unterhaltung gut. Er gibt ihm gern Anlass und Gelegenheit, frei in seinem Wahnsinn zu fahren. Sich ganz nach Gelüsten auszutoben. Nicht zu wissen, wie weit Yuuri dieses Mal gehen würde – was geschehen würde –, reizt ihn. Jedes Mal aufs Neue. Sorge haben, dass die Situation außer Kontrolle geraten könnte, braucht er nicht. Dafür erweisen sich Minto und Itsuki stets als überaus dienlich. Sie zu beobachten, wie sie das von ihm gestiftete Chaos zu bewältigen versuchen, ist unterhaltsam. Es vertreibt die Langeweile, lässt Zeit sinnvoll verstreichen. Reizvoll. Aber nicht jetzt. Nicht jetzt. „Bleib sitzen“, erhebt er die Stimme, ohne Vorwarnung. Nicht laut. Schneidend wie eine Klinge durch zartschmelzende Butter. Rauchig in der Tiefe. Ihm entgeht nichts. Absolut nichts, was um ihn herum geschieht. Er muss nicht sehen, braucht keinen Blickkontakt, um die Regung zu bemerken. Wortlos lässt sich Minto auf seinen Platz zurücksinken. Geschmeidig wie eine Katze. Ohne die kleinste überflüssige Bewegung, ohne den leisesten Laut. Erhaben wie kein anderer von ihnen, so sehr sich Akira auch um Konkurrenz bemühte. Er ist der Schönste unter ihnen, ohne Frage. Könnte einer noblen Abstammung von Adel entsprungen sein. Hochgewachsen, von graziler Statur. Stets gehüllt in eleganter, schwarzer Kleidung von Gehrock, Frack oder Mantel im vornehmen Schnitt. Aufwendig bestickt und golden verziert. Das Gesicht schmal mit hohen Zügen. Brünettes Haar, füllig, wallt zu einem Zopf gebunden seinen Rücken hinab. Von weißen Bändern gehalten, zu Schleifen gelegt. Den Kopf stets erhoben, den Blick fixiert. Ungebrochen das klare Blau seiner Augen. Eiskristallen gleich. Der langen, unverdeckten Narbe trotzend, die sich über das rechte Auge zieht. Wem auch immer sie zu verdanken ist, sein Antlitz vermag sie nicht zu schänden. Schönheit. Perfektion. Er ist vollkommen. Sein liebstes Juwel. Minto genießt sein vollstes Vertrauen. Er ist gut für jegliche Verantwortung, die er auf ihn überträgt. Streng, diszipliniert und akkurat ist er stets zuverlässig. Weiß, die Dinge zu regeln. Hat alles stets im Griff, behält im schlimmsten Chaos noch die Kontrolle und das letzte Wort. Vorbildlich, wie eine Mutter. In jeglicher Form solide. – Langweilig. Ihm ist nicht nach seiner Gesellschaft. Nicht nach Fürsorge. Heuchlerisch, mehr Schein als Sein. Er weiß alles über sie. Kennt die tiefsten Abgründe ihrer verdammten Seelen. Die leisesten Wünsche, den kleinsten Funken ihres einstigen Frönens. Ihm können sie nichts vormachen. Er weiß alles, alles. Patschenden Schrittes erreicht er die Treppe, geht die Stufen hinauf. Mühelos, die Hände halbherzig in den Hosentaschen versenkt. Schlammig feuchte Spuren bleiben zurück. – Egal. Sie würden verschwinden, wenn er es wünschte. Alles hier hörte auf sein Wort. Ob Wunsch, Begehren oder Befehl. Alles, absolut alles. Ohne Ausnahme.   Bis auf eine Ausnahme.       Oben angekommen folgt er blind den vielen, dunklen Gängen. Fenster reihen sich aneinander, flammenlose Laternen zwischen ihnen. Gittermuster auf dem Boden. Das Mondlicht silbern. Gegen die Scheiben klopft der Regen. Er hasst es, hasst es so sehr. Die Etage hat sich verändert. Gänge winkeln sich, Ecken winden sich zu einem hauseigenen Irrgarten. Genau wie er es wünscht, damit er laufen kann. Nur etwas länger. Laufen, laufen. Bis es ihn langweilt. Der nächstbesten Tür wendet er sich zu. Betätigt den gravierten, vergoldeten Knauf. Es ist entschieden: Dieses Zimmer ist auserkoren, sein neues Privatgemach zu sein. Er tritt ein.   Seine eigene Präsenz heißt ihn willkommen. Der vertraute Geruch von kühler Erde, den er liebt und gleichermaßen hasst. Von ganzer Seele. Er ist allgegenwärtig, dieser Duft. Endlos, zeitlos. Wie er selbst. Dunkelheit, überall im Raum. Kein Licht. Ein einziges Fenster. Klein, hoch. Der Notwendigkeit halber. Lässt den hellen Schein des Mondes nachgiebig herein. Gesammelt zu einem einzigen Lichtpfad. Die Erinnerung tragend. Sein Lied. „Ich hasse dich“, zischt er leise, gefährlich. Zorn in seinen goldenen Augen. Den runden Himmelskörper am nächtlichen Horizont still verfluchend. „Ich hasse dich. Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich! So sehr, von ganzer Seele.“ Nur der trommelnde Regen, der ihm antwortet. Er lacht. Laut und ungehalten. Bricht in ein schallendes Gelächter aus, dem Wahnsinn nahe. Diese Ironie, sie wiegt schwer auf seinen Schultern. Er kann nicht aufhören, sie zu feiern. Er fällt in eine haltlose Verneigung vor. Übertrieben, die Arme weit ausladend. Keine Huldigung. Seinem treuesten Weggefährten spottend. Beschwingten Schrittes durchquert er das weite Zimmer. Penibel darauf bedacht, keinen Fuß in das helle Mondlicht zu setzen. Mit dem silbernen Schein nicht in Berührung zu kommen. Er zieht dicht an der Wand entlang, hüllt sich in den Schatten. Sein Lachen verebbt nur langsam. Einzig unverändert in diesem Raum ist sein Schlafbereich. Linkerseits des Zimmers. Darauf besteht er. Das Bett weiß bezogen. Groß, zu groß für eine einzelne Person, und hoch. Weil es modern ist, weniger verdächtig. Weil er es selbst so haben mag, für diesen Moment. Er lässt sich darauf fallen. Genießt das kurze Nachfedern der weichen Matratze unter ihm. Unbekümmert, dass seine durchnässte Kleidung das reine Weiß beschmutzt. An der Wand verschiedene Gemälde: Panoramen von Sonnenauf- und Sonnenuntergängen, Krähenflüge der Nacht entgegen, Augen skurril in durchzogener Schwärze. Ölfarben, überwiegend. Sonst nichts. Kein Tisch, keine Stühle. Keine Pflanzen im gesamten Raum. Der Boden ausgelegt mit einem dunklen Teppich, dessen Mitte ein aufwendig gestaltetes Mandala ziert. Farblich schimmernd im silbernen Schein des Mondes. Ein Bücherregal an der rechten Zimmerwand. Bis auf den letzten Platz gefüllt mit Lektüre, die er niemals lesen würde. Es dient lediglich der Dekoration, lässt das Zimmer kleiner wirken. Weniger leer. Nichts weiter. Vielleicht, irgendwann, würde er die Einrichtung verändern. Sollte er in diesem Zimmer bleiben. Um eine Garderobe erweitern, das wäre sinnvoll. Eines Gesellschaftsbereiches, seines geliebten Schachs wegen. Eine Couch oder zwei für Besucher und mehr Komfort. Vielleicht, aber nicht jetzt.   Wenig ist gut. Für den Moment braucht er nichts um sich herum. Keinen Luxus, keine Vergnüglichkeit. Nichts, das Erinnerungen trägt. Erinnerungen an sie. An die kurze, unvergessliche Zeit mit ihr. Nein, er braucht diese Dinge nicht. All diese Erinnerungen, er trägt sie in sich. Wo sie richtig sind. Wo sie sicher sind. Keiner, der sie ihm nehmen kann. Tief in sich verschlossen, einem wertvollen Schatz gleich, würde er sie bewahren. Kann er sie beschützen. Für immer. Für die Ewigkeit. So hofft er noch. Still, irgendwo in sich drin.   Dumpf vernimmt er den Ruf, der ihm vertraut ist wie der kontinuierlich wiederkehrende Zyklus von Tag und Nacht. Glas kann ihn nicht verstummen. Müde bewegt er die Hand zu einem Fingerschnipsen. Das Fenster öffnet sich wie von Geisterhand. Bittet den nächtlichen Besucher herein. Wieder dieser Schrei, lauter als zuvor. Das Schlagen kräftiger Flügel, immer näher kommend. Ein Schatten, der in den Raum hineinfällt. Lässt schwarze Federn zu Boden regnen. Er setzt sich auf, streckt gewohnt den rechten Arm nach vorn. Spürt den Schmerz nicht, als sich scharfe Krallen um sein Handgelenk schließen. Die weiße Haut zerkratzen. Die Krähe federt ihre Landung ab. Balanciert ihr Gleichgewicht mit halb gespreizten Flügeln auf dem Arm des jungen Mannes. Stößt noch einen Schrei aus, kurz und eindringlich. Legt die Schwingen an. Gelbe Augen suchen nach denen ihres Meisters. „Willkommen zurück“, spricht er leise, sanft. Streicht mit der freien Hand über das schwarze Gefieder, silbern schimmernd im Licht des Mondes. Auf seinen Lippen ein dünnes Lächeln. „Bist du gekommen, um nach mir zu sehen?“ Das Köpfchen legt sich links. Lautlos klappert der schwarze Schnabel. „So ist das? Ich sehe. Sie reden also über mich.“ Er stößt ein langes Seufzen aus. „Lässt sich nichts machen. Sieh es ihnen nach. Jegliche Form der Abwechslung ist uns willkommen, nicht wahr? Lass sie nur reden, ich werde nicht einschreiten. Dazu gibt es keinen Anlass, nicht?“ Das Köpfchen legt sich rechts. „Und, ist das alles? Hast du mir sonst nichts zu sagen?“ Das Köpfchen wendet sich ab. Der Schnabel versenkt sich in dem dunklen Gefieder, um es zu putzen. Sein Lächeln wird bitter. „Was ist los? Machst du dir etwa Sorgen um mich? Oder kann es sein …“ Tiefer, düsterer wird seine Stimme. „… dass du über mich spotten willst?“ Der Vogel schüttelt sich. Plustert sein schwarzes Federkleid. Die gelben Äuglein blinzeln. Sein Krächzen soll wohl Antwort sein. Er lacht auf. Streicht der Krähe noch ein paar Mal über den kurzen Rücken. Dann packt er zu. „Bitte, nur zu!“, ruft er aus. „Tu, wie dir beliebt. Spotte! Spotte, so viel du willst. Na, ich höre?“ Panisch schlagen die Flügel. Das Krächzen gepresst, laut protestierend. Unter dem zunehmenden Druck der Hand um den schlanken Federnhals der Luft beraubt. Die Krähe ist machtlos gegen ihn. „Mein Herr ist ein Narr, nicht wahr? Das ist es, was du wirklich denkst.“ Lauter wird sein Lachen. „Ist das so? Vielleicht hast du recht.“ Den Unheilsvogel im festen Griff holt er ihn dicht zu sich heran. Bindet ihn mit seinem Blick, Auge in Auge. Dämpft die Stimme zu einem eindringlichen Flüstern. Auf seinen Lippen ein finsteres Lächeln. „Aber es nützt nichts, hm? Narr oder nicht, letztendlich wirst du mir gehorchen. Wie sie alle. Ich bin der Herr in diesem Haus. Der Anführer der Seventh Heaven. Los, spotte nur! Es wird nichts ändern. Absolut gar nichts.“ Er entlässt die Krähe seiner Gewalt. Stößt ein lautes, überlegenes Lachen aus. Hastig erhebt sich der Vogel in die Lüfte. Ergreift kehrtwendend die Flucht durch das offen stehende Fenster. Hinaus in die Nacht. Zum Morgengrauen würde er wiederkehren. So wie immer. Alles würde sein wie immer. Alles.   Nein, nicht alles.   Sein Körper bebt, als er sich in die weißen Laken zurückfallen lässt. Unterdrückt das Gelächter in ein ersticktes Kichern. „Ja, ich bin ein Narr.“ Er streckt den Arm vor sich in die Höhe. Betrachtet sich mit locker gespreizten Fingern die Handinnenfläche. Der Hand, die bis vor wenigen Sekunden den gefiederten Gefährten gewaltsam gehalten hatte. Dieselbe Hand, mit der er sie berührt hatte. Manchmal fordernd, manchmal zart. Ihren Körper. Ihr Gesicht. Ihre Seele. So rein. So warm. Es ist, als könne er sie noch immer spüren. Diese besondere Wärme, die ihn kein Körper spüren zu lassen vermag.   In diesem einen Moment hatte er sich ihr nah gefühlt. Verbunden. An ihrer Seite. Nur für diesen einen, kurzen Moment.   Er stellt sich vor, wie es gewesen sein musste. Ob sie dasselbe Glühen gespürt haben mochte, als er sie berührt hatte. Mit seinen kalten Händen. Ob ihr Körper unter dem roten Schimmer ihrer Haut genauso heiß gewesen sein mochte.   Er würde es nie erfahren. Nie mehr.   Die ganze Zeit über hatte er sie festgehalten. Ihre Hand. Wollte sie nicht loslassen. Sie nicht gehen lassen. Die ganze Zeit über hatte er sie angesehen. Ihr Gesicht, wie sie die Augen schloss. Wie sie ihm lauschte, seinem Lied, und friedlich wurde. Zufriedenheit auf ihren weichen Zügen. Er hatte sie noch länger ansehen wollen. Länger, viel länger. Er sah zu, wie das Leben ihrem Körper entwich. Ihre Wärme, ihre Seele. Wie sie überging auf die andere Seite. Hinfortgetragen von seiner Stimme. Seine Stimme, die sie wiegte in den Schlaf. Einen Schlaf, aus dem sie nie mehr erwachen würde. Ihre Augen geschlossen für die Ewigkeit. Eine Ewigkeit ohne ihn. Ihn zurücklassend. Hier in dieser Welt, die so trostlos für ihn war. Spaßlos, freudlos. Eine Welt, die sie verändert hatte. Langsam, Stück für Stück. Ohne dass er es bemerkt hatte. Ohne sie würde diese Welt nie mehr dieselbe sein. Doch er würde fortfahren, zu existieren. Bald, schon bald würde alles wieder sein, wie es vorher war.   … Nein.   Sie ist immer noch hier. Sie ist hier, in diesem Augenblick. Sie würde für immer hier sein. Bei ihm. In ihm. Ewig. Gefühle. Diese Gefühle, die er lange nicht mehr in sich gespürt hatte. Sie sind der Beweis für ihre Existenz. Schmerz, dieser Schmerz. Er zerreißt ihn innerlich. Er fühlt sich gut an, dieser Schmerz. Lebendig.   „Danke.“   Dieses eine, einzige, letzte Geschenk von ihr … es ist wertvoll. Für ihn. Niemals würde er vergessen. Er durfte nicht vergessen. Für sie. Für sich selbst. Für die anderen.   „All die Jahre, die ich damit verbracht habe, auf dich zu warten … sie waren keine Verschwendung, nicht wahr? Ich bin froh, dir begegnet zu sein. Solange ich mich an dich erinnere, wirst du an meiner Seite sein, nicht wahr? Daher, bitte, bleib noch etwas länger … Lass mich … dich noch ein wenig länger spüren.“   Er schließt die Augen. Lässt den Arm neben sich sinken. Wird ruhig, lauscht. Draußen prasselt der Regen. Laut, strömend. Hunderten von traurigen Seelen gleich. Dieses Geräusch …   Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit hasst er es nicht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)