Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 6: Happy Birthday (Auf leisen Sohlen) --------------------------------------------- „Und hier sind wir wieder bei PCNs »Favoriten des Jahres«! Jessy, was hältst du von den vier Jugendlichen, die in den letzten zwei Jahren einen Orden nach dem anderen abgeräumt und ganz Kanto in Staunen versetzt haben?“ „Nun, Alfred, ich bin beeindruckt! So vielversprechende Neulinge hatten wir schon lange nicht mehr. Man könnte fast glauben, sie wurden zum Champ geboren. Aber wie wir alle wissen, kann nur einer den Thron des Pokémonligachampions besteigen, und ich weiß aus sicherer Quelle, dass Noah nicht vorhat, seinen Titel so schnell abzugeben.“ „Für alle, die die letzten Jahre hinterm Mond gelebt haben, Noah Reynes ist der amtierende Champion der Pokémon Liga und hält diesen Titel hartnäckig seit zwei Jahren. Bekannt ist er durch sein Zoroark-Duo geworden, das wirklich nichts dem Zufall überlässt. Aber genug davon, liebe Zuschauer. Jessy, wer ist dein Favorit? Ich glaube, du hattest die Ehre, drei von den Vieren persönlich zu interviewen. Was sind deine Eindrücke?“ „Weißt du Alfred, sie sind allesamt einzigartige Persönlichkeiten, ich kann mich gar nicht entscheiden! Richard ist ein echtes Energiepaket. Selbstbewusst, quirlig, humorvoll, ein toller Typ für euch Singlemädels da draußen! Wenn ich noch mal so jung sein könnte….“ „Sie hören es selbst, liebe Zuschauer, unsere Jessy hat einen Narren an ihm gefressen!“ „Richard hat die Pokémon Akademie vor zwei Jahren abgeschlossen und knüpft jetzt den Arenaleitern Kantos in Rekordtempo die Orden ab. Für die diesjährige Qualifikation an der Championship ist er leider zu spät dran, aber nächstes Jahr können wir mit Sicherheit mit ihm rechnen! Nur noch ein Orden trennt ihn von seinem Ziel, der größte Pokémontrainer aller Zeiten zu werden.“ „Aller Zeiten, du lieber Himmel, hat er das so gesagt?“ „Seine Worte, Alfred. Dieser Junge hat sich einiges vorgenommen, und er ist gerade einmal sechzehn Jahre alt!“ „Hier haben wir also jemanden, der sich an das Vermächtnis von Red höchstpersönlich herantraut. Darf ich sie in diesem Sinne daran erinnern, dass das große Red XXL Special nächste Woche Sonntag um 20:15 hier bei PCN läuft? Verpassen sie es ja nicht, denn wir haben einige Enthüllungen, die selbst eingefleischte Red-fans noch überraschen könnten! Aber genug davon. Was hältst du von Genevieve, Jessy? Ist sie so süß wie alle sagen?“ „Oh, sie ist zuckersüß, Alfred, gar keine Frage, aber hinter dieser Fassade verstecken sich ein eiserner Wille und ein herrlich schwarzer Humor. Ich sage nur eins: Dieses Mädchen will ich nicht zur Feindin haben.“ „Genevieve ist vor einigen Tagen achtzehn Jahre alt geworden, also, wenn du gerade zuschaust Vivi, Herzlichen Glückwunsch nachträglich zur Volljährigkeit!“ „Oh Alfred, Raphael ist ja so ein charmanter Junge! Siebzehn Jahre alt und er sieht aus, als könne ihn kein Wässerchen trüben, aber auf dem Kampfplatz wird er zu einer echten Maschine. Seine Coolness kennt keine Grenzen, dabei ist er nach eigenen Angaben eher der schüchterne Typ.“ „Und dann ist da noch das geheimnisvolle Mädchen aus seinem ersten ausgestrahlten Arenakampf, wer erinnert sich hier an die Kleine? Jaha, da klatschen sie, nicht wahr? Wirklich süß, und niemand weiß, wo sie ist. Vielleicht sollten wir einmal Officer Rockys Spezialeinheit losschicken, was meinst du, Jessy?“ „Ich glaube, die sind derzeit mit wichtigeren Problemen beschäftigt, Alfred.“ „Was mich zu der perfekten Überleitung für die Nachrichten bringt, aber vorher noch eine Frage an dich, Jessy: Was hältst du von unserem vierten Favoriten, Zacharias?“ „Er sieht aus wie ein Gott, ist so leicht zu finden wie eine Nadel im Heuhaufen und so gesprächig wie ein Gesteinpokémon, aber Himmel, Alfred, hast du diese Muskeln gesehen?“ „Die habe ich gesehen, Jessy, keine Sorge. Was lachen sie denn so, liebe Zuschauer!“ „Sie sind nur neidisch auf deinen guten Geschmack, Alfred.“ „Und damit verabschieden wir uns von ihnen, aber schalten sie noch nicht um, denn nach dem Wetter kommen die Nachrichten und ich kann ihnen versichern, die haben es dieses Mal in sich. Also, bis nächsten Sonntag, ihr Alfred…“ „…und ihre Jessy! Bye!“   „Danke ihr beiden! Für alle Sommerfans da draußen, ihr habt Glück, denn der August zieht sich dieses Jahr weiter in die Länge! Ab September können wir die ersten etwas kühleren Tage erwarten, aber bis dahin heißt es Sonne, Sonne, Sonne. Wenn ihr Wasserpokémon zu Hause habt, empfehle ich euch, euren Garten einmal mit einer schönen Aquaknarre zu versorgen, denn sonst werden die Wasserkosten noch in die gleichen Höhen steigen wie die Temperaturen. In diesem Sinne wünsche ich einen schönen und erholsamen Restsommer und gebe ab an das Nachrichtenteam. George, was hast du für uns?“   „Danke, Steven. Die Team Rocket Aktivitäten haben sich gehäuft. Es gibt jetzt keinen Zweifel mehr, dass die Organisation wieder zurück ist, auch wenn wir alle uns wünschten, dass sie ein für alle Mal besiegt bliebe. Gestern haben Team Rocket-Mitglieder ein Pokécenter in der Nähe des Felstunnels überfallen. Zwei Pokémon sind dabei entführt worden. Hinweise und Augenzeugenberichte können sie per Taubsipost, E-Mail oder Telefonanruf an uns weiterleiten, die Adressen werden am Ende der Nachrichten durchgegeben. Kuriose Berichte geben außerdem an, dass ein Teenager unbekannten Geschlechts an dem Überfall beteiligt war. Ob es sich dabei um einen jungen Rekruten oder gar ein Familienmitglied handelt, bleibt ungeklärt, aber wir sind der Sache dicht auf der Spur. Nach zahlreichen rechtlichen Fragen ist die achte Arena in Vertania City nun offiziell an Claire übergegangen, nachdem Blue Eich seit Jahren versucht hat, den Titel als Arenaleiter endgültig abzulegen. Blue sagte dazu, er sei froh, die Arena in so fähige Hände übergeben zu können und dass er sich nun voll und ganz auf seine Forschungen konzentrieren wolle. Stellung zu Reds Verbleib nimmt der dreiundzwanzig Jährige weiterhin nicht. Claire ist damit die erste Unlicht-Arenaleiterin der fünf Regionen und wir sind alle sehr gespannt auf ihre weitere Entwicklung. Die Pokémon Championship findet wie jedes Jahr auch diesen Herbst auf dem Indigo Plateau statt. Die Anmeldefrist ist vor zwei Tagen abgelaufen und laut der letzten Zählung haben sich über hundert Pokémontrainer und Trainerinnen für den Wettbewerb eingetragen. Wir bei PCN werden wie immer die interessantesten Vorkämpfe live ausstrahlen, genauso wie alle KO-Duelle. Noah Reynes verkündete, dass er nicht befürchte, dieses Jahr seines Titels beraubt zu werden, gab aber zu, dass das nächste Jahr noch viele Überraschungen bereit halten könne. Sie haben es gehört, meine Damen und Herren, das nächste Jahr wird ein Fest für Pokémonfans, aber glauben sie nicht, dass die diesjährige Pokémon Championship nicht interessant wird. Wie wir aus Erfahrung wissen, machen Alfreds Moderationen jeden Kampf zu einem absoluten Spektakel! Damit verabschieden wir uns, die Adresse für ihre Augenzeugenberichte lautet PCN-“   Ich schalte den Fernseher aus und lasse mich tiefer in das Sofa sinken. Ein Jahr noch, bevor Raphael sein Glück bei der Championship versuchen wird. Ich seufze und streiche über Skus Pokéball, der in meinem Schoß liegt. Bei dem Wetter weigert sie sich, raus zu kommen, obwohl wir drinnen sind und der Ventilator auf höchster Stufe kühle, staubige Luft in mein Gesicht bläst. Mama ist bei der Arbeit, genauso wie Papa und Tarik. Mein Bruder hat meinen Rat tatsächlich befolgt und sich zwei Elektropokémon zugelegt. Und nachdem Tobias mit seinen Eltern nach Hoenn gezogen ist, hat Tarik den Platz bekommen. Jetzt trainiert er wie ein Besessener und zerstört die Träume von jungen Pokémontrainern. Naja, er und Harpy. Major Bobs Höllenpikachu ist inzwischen in ganz Kanto berühmt, mindestens so gefürchtet wie eine Naturkatastrophe und weit weniger berechenbar. Maya ist vor einem Jahr ausgezogen. Sie macht jetzt eine Ausbildung zur Fossilforscherin in Marmoria City und bei ihrem letzten Anruf hat sie durchblitzen lassen, dass Ursula sich entwickelt hat. Ich puste einige rotblonde Haarsträhnen aus meinem Gesicht und gehe in die Küche, um den Eistee zu überprüfen, den ich kalt gestellt habe. Mit einem großen Glas bewaffnet gehe ich hoch in mein Zimmer und setze mich an meinen Computer. Ich checke meine Mails, aber Raphael hat mir nicht geschrieben. Ich weiß, dass er ziemlich gestresst ist, aber wenigstens ein Mir ist heiß hätte er schreiben können. Ich habe seit Wochen nichts mehr von ihm gehört. Ich fahre den Computer wieder runter. Für die nächsten paar Monate wird es das letzte Mal sein. Ich trinke das halbe Glas Eistee und mache mich dann daran, meinen Rucksack weiter zu packen. Ich bin nicht sicher, wie viel ich mitnehmen soll. Pokédex, Handy, Portemonnaie, das Empfehlungsschreiben von Alfred und ein paar leere Pokébälle, sowie Tränke, Gegengifte und Paraheiler liegen bereits auf meinem Bett. Dazu kommen noch ein kleiner Beutel mit Pokémon Trockenfutter. Meine Klamotten sind die weit schwierigere Problematik. Ich gehe zu meinem Kleiderschrank und suche all meine Lieblingssachen raus, dann verteile ich sie auf dem Boden und entscheide bei jedem einzelnen, ob ich es gebrauchen kann oder nicht. Schließlich ende ich mit drei Tops, zwei Shorts, einer Strumpfhose, meinen fingerlosen Handschuhen, der grauen ärmellosen Kapuzenjacke, einem langärmligen Shirt und natürlich dem schwarzen Trainergürtel, den Agnes mir letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hat. Er hat mehrere Haken, an denen man kleine Taschen mit Items befestigen kann und Einbuchtungen, in denen sechs Pokébälle verstaut werden können. Dann noch meine Sonnenbrille und zwei paar dicke Socken für die Wanderschuhe. Zwei kleine Wasserflaschen, einen Pulli… Zufrieden mit meiner Auswahl falte ich alle Klamotten so ordentlich wie möglich zusammen und quetsche sie in den riesigen Rucksack. Dann schnüre ich ihn zu und stelle ihn neben die Tür.   In der Nacht, als es abgekühlt ist und alle schlafen, schleiche ich mich wie so oft aus dem Haus und folge Route 11 zu den Wiesen, die mittlerweile eher gelb statt saftig grün sind. Der heiße Sommer ist ihnen nicht gut bekommen. Dort angekommen lasse ich Sku raus, die mich jetzt, da es dunkel ist, mit wachen Augen ansieht. „Bereit für unseren Geburtstag?“, frage ich und Sku brummt zustimmend. Ich schaue kurz auf meine Uhr. Noch ist nicht Mitternacht. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es sogar noch rechtzeitig. Sku ist bereits losgelaufen und hat das erste Pokémon gefunden, ein Taubsi, das ahnungslos im Gras sitzt und glaubt, die Nacht würde eine Ruhepause von all den Trainern bedeuten. Es sollte besser Bescheid wissen. „Sku, Säurespeier“, befehle ich und Sku bäumt sich auf ihre Hinterbeine, bevor sie sich wieder auf alle Viere fallen lässt und dem Taubsi eine Ladung Säure entgegen spuckt. Taubsi kreischt und flattert hilflos mit den Flügeln, dann fällt es besiegt zu Boden. Als nächstes finden wir ein Tauboga, das uns misstrauisch von einem der Bäume beäugt, die die Wiesen zu beiden Seiten säumen. „Nochmal Säurespeier“, rufe ich. Skus Attacke trifft das Tauboga mit voller Kraft und es winselt leise, als es hilflos zu Boden fällt. Seine Federn sind mit Säure verklebt, aber es schafft es trotzdem, auf Sku los zu flattern und mit dem Schnabel auf sie einzuhacken. „Schlitzer“, befehle ich und Sku kratzt mit klauenbewerten Pfoten über den Körper des Taubogas. Es gibt ein klägliches Piepen von sich, dann sackt es zu Boden. Wir verbringen die nächsten zwanzig Minuten auf der Weise. Es ist fast zwölf Uhr. „Komm schon…“, flüstere ich, als Sku ein Rattfratz mit ihrem Säurespeier besiegt. Dann passiert es. Endlich. Sku beginnt zu leuchten. Ich gehe vor ihr in die Hocke und schaue ihrer Entwicklung von ganz nahem zu. Als das Leuchten verblasst, steht eine doppelt so große und mit Sicherheit auch doppelt so schwere Version von Skunkapuh vor mir. Skuntank ist einen Meter groß, ihr großer buschiger Schweif ist mindestens genauso lang wie ihr restlicher Körper und liegt bequem auf ihrem Rücken. Beine und Bauch sind nun von demselben Beigeton wie der Streifen, der von ihrem Kopf bis zum Ende ihres Schweifes reicht. „Happy Birthday“, flüstere ich und Sku schnurrt, tiefer als früher, und reibt ihren Kopf ausgiebig gegen meinen. Ein Blick auf meine Uhr bestätigt meine Vermutung. Es ist zwölf Uhr. Meine Zeit zu Hause ist nun offiziell vorbei.   Wir spazieren noch eine Weile durch das nächtliche Orania City. In der Dunkelheit sollte alles anders aussehen, aber mir ist die Nacht hier genauso vertraut wie der Tag. Papas Supermarkt ist geschlossen, genauso wie die Arena und das Eiscafé. Im Grunde ist alles geschlossen, außer dem Pokécenter, das wie immer rund um die Uhr geöffnet hat. Wir machen einen kleinen Abstecher dorthin, lassen Sku heilen und verabschieden uns von Schwester Joy. Sie ist die erste, die von meiner morgigen Abreise erfährt und sie wünscht mir alles Glück der Welt. Sie ist außerdem die einzige, die von meinen nächtlichen Trainingseinheiten weiß, schließlich mussten wir oft genug mitten in der Nacht bei ihr vorbeischauen. Als ich durch die leeren Straßen wandere, Sku so groß, dass ich bequem ihren Kopf kraulen kann, ohne mich zu bücken, überkommt mich so etwas wie Nostalgie gepaart mit Fernweh. Ich liebe Orania City, aber etwas an diesem Ort quetscht mich ein, erdrückt mich. Missmutig denke ich an das Gespräch, dass ich vor etwa neun Monaten mit meiner Mutter hatte, kurz nachdem Maya umgezogen ist.   Mama saß am Küchentisch als ich von meiner Verabredung mit Raphael in Saffronia zurückkam, ein Glas Wein in der einen Hand und ihren Kopf auf die andere gestützt. „Komm her“, sagte sie erschöpft und ich ging zu ihr und setzte mich auf ihren Schoß. „Sie fehlt mir schon jetzt“, flüsterte sie mit heiserer Stimme. Ich glaube, sie hatte geweint, bevor ich heim gekommen bin. „Bitte versprich mir, dass du hier bleibst“, sagte sie leise und umarmte mich fest. „Ich kann nicht meine beiden Mädchen verlieren.“ Ich sagte nichts. Ich wollte sie nicht verletzen, aber das Versprechen halten konnte ich genauso wenig, also hielt ich es für am besten,nichts zu sagen. Aber Mama deutete mein Schweigen genauso, wie ich es meinte: Dass ich gehen würde. „Bitte“, flüsterte sie und presste ihre Stirn gegen meinen Nacken. Ich schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, aber ich kann nicht hierbleiben. Ich will auch weggehen.“ „Aber doch nicht schon mit sechzehn, wie deine Schwester, oder?“, fragte sie. Ich zuckte innerlich zusammen. „Mit fünfzehn“, sagte ich und Mama hob den Kopf. Ich konnte mir ihren geschockten Blick genau vorstellen. Ihre Stimme klang wütend, als sie jetzt redete. Enttäuscht. „Auf keinen Fall.“ „Mama…“, fing ich an, aber sie unterbrach mich sofort. „Sechzehn war mir schon viel zu früh, aber fünfzehn? Du bist noch ein Kind, Abby, was willst du denn ganz alleine irgendwo, wo du noch nie warst und niemanden kennst?“ „Neue Orte sehen, Menschen kennen lernen,-“ „Ich verbiete es.“ Ich sprang von ihrem Schoß auf und sah sie entsetzt an. „Du kannst mir nicht vorschreiben, wie ich mein Leben zu leben habe!“, schrie ich sie an, aber sie zuckte nicht mal mit der Wimper. „Du verlässt dieses Haus nicht, bevor du nicht wenigstens siebzehn bist. Achtzehn wäre mir am liebsten.“ „Achtzehn?“, fragte ich und machte ein paar Schritte rückwärts. „Ich halte es hier niemals so lange aus!“ „Dein Bruder ist auch hier geblieben“, konterte Mama und ich konnte sehen, wie ihr wieder Tränen in die Augen schossen. Dieses Mal konnte ich sie nicht trösten. „Such dir hier eine Arbeit, wenn du weniger Zeit zu Hause verbringen willst, meinetwegen geh auch in die Arena, es ist mir gleich, aber du bleibst hier!“ „Erstens ist Tarik nur hier geblieben, weil er sich nicht traut, alleine los zu ziehen, sonst wäre er schon längt ein Pokémontrainer so wie Raphael“, antwortete ich wütend. „Und zweitens bin ich nicht er! Ich will kein Arenaleiter werden oder in einem Supermarkt oder Pokéfanclub verrotten, ich will reisen, wieso kapierst du das nicht?!“ Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, wusste ich, dass ich zu weit gegangen war. Mama sah mich verletzt an, dann deutete sie zur Treppe. „Du hast Hausarrest für den Rest des Monats.“ „Fein“, sagte ich und erwiderte ihren Blick. „Gib mir Hausarrest. Ist mir egal. Aber du kannst mich nicht davon abhalten, mit fünfzehn zu gehen. Egal was passiert, ich verschwinde.“ „Das werden wir noch sehen“, sagte sie noch, bevor ich die Treppe hoch rannte, mich in mein Zimmer einschloss und weinend auf mein Bett warf.   Mama hat den Vorfall inzwischen verdrängt. Jedenfalls hat sie es nicht mehr angesprochen. Sie denkt, dass ich nicht ohne ihre Einwilligung gehen werde. Sie täuscht sich. Ich setze mich mit Sku auf den Steg vor unserem Haus. „Morgen werden wir nicht mehr hier sein“, sage ich zu ihr und Sku schaut mich mit ihren Knopfaugen an, dann klettert sie auf meinen Schoß und rollt sich dort zusammen. Eigentlich ist sie dafür jetzt zu groß und zu schwer, aber ich kraule ihr die Ohren und sie schnurrt. Der Mond ist fast voll und spiegelt sich im Meer, das in schwachen Wellen gegen meine Füße schwappt. Ich frage mich, wie Mama reagieren wird, wenn ich weg bin. Als ich wieder reingehe, ist es schon drei Uhr nachts. Ich hole meinen Rucksack aus meinem Zimmer, stopfe noch meine Wanderschuhe und eine Zahnbürste hinein, dann gehe ich hinunter und ziehe mir meine Sandalen an. Als nächstes hole ich meine Inliner aus dem Abstellraum und hänge sie mir über die Schulter. Ich reiße einen Zettel von dem Notizblock auf unserem Tisch ab und schreibe eine Abschiedsnotiz darauf, in der ich Mama und den anderen knapp schildere, was ich vorhabe. Ich hüte mich davor, Ortsangaben zu machen, denn ich traue Mama zu, dass sie mich verfolgt und gewaltsam zurück schleift. Ich lege den Brief auf den Tisch und beschwere ihn mit einem Glas, dann drehe ich mich um. Papa steht am Fuß der Treppe und schaut mich an. „Papa, was machst du denn hier?“, frage ich leise, perplex. „Dich abfangen“, sagt er. „Natalie hat mir damals von eurem Streit erzählt. Sie sagte, du wirst schon nicht wegrennen. Ich weiß es besser.“ „Bitte Papa, ich muss hier abhauen. Ich halte keinen Tag länger aus.“ Er lächelt. „Ich weiß. Aber ich wollte dich wenigstens noch ein letztes Mal umarmen, bevor du für wer weiß wie lange weg bist.“ „Du… willst mich nicht aufhalten?“, frage ich. „Warum? Es ist dein Leben. Wenn du sagst, du hältst es hier nicht mehr aus, dann glaube ich dir das. Wenn du denkst, du bist in der Lage, alleine klar zu kommen, glaube ich dir das auch.“ „Papa…“, flüstere ich und im nächsten Moment liege ich in seinen Armen. „Ich werde euch vermissen“, flüstere ich. „Nicht so sehr, wie wir dich vermissen werden. Pass auf dich auf, Abby.“ Er drückt mich lange und fest, dann lässt er mich los. „Auf Wiedersehen, Skunka. Du bist jetzt groß und stark, also pass auf meine Tochter auf.“ Sku setzt sich auf ihre Hinterbeine und nickt einmal. Papa lacht leise. „Gut. Dann weg mit dir, bevor Mama etwas merkt.“ „Ich hab dich lieb, Papa. Und Mama auch. Sag ihr das.“ „Werde ich. Halt dich tapfer.“ Ich nicke, dann nehme ich meine Sachen und verlasse das Haus. Ich rufe Sku in ihren Pokéball zurück, dann ziehe ich meine Inliner an und fahre nach Norden.   Ich erreiche Saffronia ungefähr vierzig Minuten später und fahre in Richtung Pokécenter. Dort angekommen fahre ich, immer noch auf Inlinern, hinein und zum Tresen, wo eine andere Schwester Joy sitzt und mich genauso müde anschaut, wie ich mich fühle. Als sie mich sieht, reißt sie sich zusammen, steht auf und lächelt mich an. „Was kann ich für dich tun?“, fragt sie gut gelaunt. „Ist noch ein Zimmer frei?“, frage ich und krame meine Geldbörse aus der Tasche, die ich hinten an meinem Gürtel befestigt habe. „Ich glaube schon, lass mich mal nachsehen.“ Sie gähnt und zieht einen schwarzen Ordner unter der Theke hervor, dann blättert sie darin herum. „Du hast Glück, Raum 4 ist noch frei. Wie lange willst du bleiben?“ „Nur heute Nacht.“ „In Ordnung. Das macht dann 400 Pokédollar.“ Ich halte inne, das Geld in der Hand. „Ich dachte, eine Übernachtung kostet 800.“ „Oh, aber den größten Teil der Nacht hast du schließlich nicht hier verbracht.“ Sie lächelt und reicht mir einen Schlüssel mit einem Holzanhänger, auf dem die Nummer 4 eingraviert ist. „Bitteschön.“ Ich lege 400 PD auf die Theke und sie sammelt die Münzen lächelnd ein. „Wissen sie, wann der nächste Zug nach Johto fährt?“ frage ich sie, während ich meine Inliner ausziehe. „Ich glaube, um 7:50 Uhr, aber du solltest schon etwas früher zum Bahnhof, wenn du sicher sein willst.“ „Danke.“ Ich hänge mir meine Inlineskates über die Schulter und fahre mit der Rolltreppe zwei Stockwerke nach oben, bis ich zu den Zimmern komme, die jedes Pokécenter für Trainer bereithält. Es sind meist Einzel- oder Doppelzimmer und sie sind sehr billig. Frühstück und Abendessen bieten sie hier auch an, wenn man will. Zimmer 4 ist ganz vorne rechts. Ich schließe auf und trete in den dunklen Raum. Als ich den Lichtschalter finde, bin ich positiv überrascht. Außer einem Bett und einem kleinen Bad gibt es zwar kein Mobiliar, aber alles ist sauber und ein kleines Fenster gibt es auch. Todmüde pfeffere ich meinen Rucksack in die Ecke und lasse mich angezogen ins Bett fallen. Im letzten Moment fällt mir noch ein, dass ich mir vielleicht einen Wecker stellen sollte, dann schlafe ich sofort ein.   Ich werde unsanft von meinem Handy geweckt und greife stöhnend nach dem kleinen Höllengerät. Es dauert fast eine Minute, bis ich es unter meinem Kissen gefunden und ausgeschaltet habe. Übermüdet und mit verklebten Augen schiele ich auf die Digitalanzeige. 6:00 teilt sie mir blinkend mit. Ich stöhne erneut, dann ziehe ich mich aus und gehe unter die Dusche. Das warme Wasser weckt mich langsam auf und ich schaue einigen rotblonden Haarsträhnen dabei zu, wie sie in den Abfluss strudeln. Zwanzig Minuten später fühle ich mich halbwegs lebendig und drehe das Wasser ab. Ich kämme meine Haare, dann lasse ich sie trocknen, während ich mich anziehe. Für die Reise nach Johto entscheide ich mich für meine weißen Shorts und ein hellgrünes Top auf dem in dicken gelben Buchstaben I SURVIVED HARPY steht. Darunter ist der gelbe Umriss eines Pikachus mit buschigem Kopfhaar abgebildet. Keine Details, nur gelb. Oh, und natürlich ein furchteinflößender roter Mund mit spitzen Zähnen. Ich zupfe es ein wenig zu Recht und gehe dann zurück ins Bad, um mir einen seitlichen Zopf zu flechten. Als all das erledigt ist, schnappe ich mir meinen Rucksack, ziehe meine Sandalen und den Gürtel an und stecke meine Trainer-ID in meine Hosentasche.Ich schließe das Zimmer von außen ab, bevor ich wieder runter gehe. Als Schwester Joy mich sieht, muss sie grinsen. Ich habe noch nie eine Schwester Joy grinsen sehen. „Gut geschlafen?“, fragt sie und ich nicke. „Nicht besonders lange, aber gut“, stimme ich ihr zu. „Nettes Top.“ „Danke.“ „Hast du gegen Major Bob gekämpft?“, fragt sie und ich schüttele den Kopf. „Ein Freund von mir. Ich stand nur daneben und habe um unser aller Leben gebangt.“ Sie lacht. „Das denke ich mir.“ Sie schweigt, während ich meine Sonnenbrille raussuche und aufziehe. „Also nach Johto, ja? Hast du ein bestimmtes Ziel?“ „Nicht wirklich. Ich schaue mal, wohin es mich verschlägt.“ „Gute Idee“, sagt sie. „Alle wollen immer irgendwo hin. Niemand geht mehr einfach los und schaut, was der Weg für ihn bereithält. Wenn wir alle etwas weniger gestresst wären, könnten wir unser Leben endlich genießen.“ Ich muss lachen und Schwester Joy schaut mich gekränkt an. „Was ist?“, fragt sie. „Nichts, sie sind nur so… unjoyisch. Wenn sie verstehen, was ich meine.“ Ich lächle sie an. „Aber es passt zu ihnen.“ „Ja, ich bin für diesen Job nicht ganz geschaffen, denke ich. Wer weiß, vielleicht verreise ich demnächst auch einmal.“ Sie zwinkert mir zu. „Auf Wiedersehen“, sage ich und winke ihr, als ich mich umdrehe und das Pokécenter verlasse. Sie winkt zurück. Bis zum Bahnhof ist es nicht weit, ich brauche gerade einmal zehn Minuten zu Fuß. Das große Gebäude ist schon von weitem zu sehen und eine Vorfreude baut sich tief in meinem Inneren auf. Mama müsste meinen Zettel ungefähr jetzt finden, denke ich noch, aber in diesem Moment ist es mir egal. Da fällt mir plötzlich ein, dass ich kein Ticket habe und ich nicht weiß, wie teuer eines ist. Ein wenig unruhig folge ich der Straße, die auf der einen Seite von abgezäuntem Wald und auf der anderen von Häusern gesäumt ist, bis ich den Bahnhof erreiche. Als ich eintrete, ist es voller, als ich erwartet hätte. Auf den Sitzbänken sitzen überall Menschen mit Koffern, Rucksäcken oder anderen Taschen. Alle möglichen Pokémon laufen herum und ich fühle mich ein bisschen wie damals in der Pokémon Akademie, als ich mir Sku aussuchen durfte. Ich gehe zu einem der Schaffner hinüber. „Entschuldigung, wie viel kostet ein Ticket nach Johto?“, frage ich ihn. Er ist ein bisschen dicklich, mit einer Halbglatze und er kleinen runden Brille, die hoch oben auf seiner Nase sitzt. „2000 Pokédollar.“ antwortet er und ich schlucke. Ich habe nicht unendlich viel Geld und 2000 PD sind ein guter Anteil meines derzeitigen Vermögens. „Gibt es keinen Kinderrabatt?“, frage ich und lächle ihn unschuldig an. Er grunzt und schüttelt den Kopf, dann dreht er sich weg und geht. Irritiert bleibe ich stehen, dann schaue ich zu der großen Uhr, die über dem Eingang zum Bahngleis hängt. 7:30. Ich gehe zu dem Fahrplan, der links neben den Ticketautomaten hängt und überprüfe die Zeit, die Schwester Joy mir genannt hat. Der Zug fährt um 7:53 ab. Gut, dreiundzwanzig Minuten, um mir einen Plan einfallen zu lassen, ansonsten muss ich wohl oder übel ein Ticket kaufen. Ich lasse Sku aus ihrem Pokéball und setze mich mit ihr in die Ecke des Bahnhofs auf den Boden. „Kannst du Rauchwolke noch?“, frage ich, aber ich weiß, dass sie die Attacke für Säurespeier verlernt hat. Sie schüttelt den Kopf. „Gut…“ Ich schaue mich unauffällig um. Vielleicht kann ich jemandem sein Ticket klauen. Oder mich einfach an dem Schalter vorbeischleichen… Ich stehe auf und lasse Sku in der Ecke stehen, dann gehe ich in Richtung Bahnschalter. Elektrisch. Mist. Aber immerhin steht dort kein Schaffner, die sind alle auf den Bahngleisen. Also warte ich. Um viertel vor acht fährt der Zug ein. Eine nicht enden wollende Menge an Passagieren steigt aus, geht durch den Schalter und mischt sich mit den wartenden Leuten. Wenn nicht jetzt, dann nie. Ich gebe Sku ein Zeichen und sie läuft in die Mitte des Bahnhofs, während ich mich etwas abseits bei den Automaten positioniere. Ein Mann, der wie ein erwachsener Biker aussieht, tippt gerade seine Daten in den Schalter und wirft einige Münzen ein. Ich warte, bis er damit fertig ist und der Automat ein Druckgeräusch macht, dann gebe ich Sku das Startzeichen. Sie senkt den Kopf, damit man nicht sofort erkennt, dass sie es ist, die den folgenden Kreideschrei loslässt. Der Mann reißt den Kopf herum und hält sich die Ohren zu, während er nach der Quelle des Geräusches sucht. Ihm tun es alle Menschen in der großen Bahnhofshalle gleich. Ich nutze die allgemeine Verwirrung, greife in den Schlitz, aus dem der Fahrschein kommt und stecke ihn mir rasch in die Hosentasche, dann halte ich mir ebenfalls die Ohren zu und entferne mich langsam von den Automaten. Sku hört auf zu schreien und ein erleichtertes Stöhnen geht durch die Menge, dem ich mich wahrheitsgetreu anschließe. Auch wenn sie mein Pokémon ist, ein Kreideschrei bleibt ein Kreideschrei. Hinter mir höre ich jetzt den Mann fluchen. „Schaffner, der Automat spinnt!“, ruft er. „Ich habe bezahlt, aber es kommt kein Ticket.“ Ich drehe mich, wie viele andere, zu dem Mann um. Er hat eine Irokese, trägt Lederklamotten und hat ein Tattoo unter dem Schlüsselbein. Als einer der Bahnhofangestellten zu ihm kommt und für meinen Diebstahl verantwortlich gemacht wird, tut er mir schon ein bisschen Leid, aber der Mann bekommt ein neues Ticket geschenkt, also ist im Grunde alles gut. Sku mischt sich wieder unter die Leute und als ichan ihr vorbei laufe, rufe ich sie unauffällig in ihren Pokéball zurück. Dann gehe ich zum Schalter, lasse mein Ticket checken und trete durch die Schranke auf das riesige Bahngleis. Der Magnetzug hat mindestens zehn Wagons und ich werfe einen Blick auf mein Ticket, für den Fall, dass der Mann einen Platz reserviert hat. Das hat er nicht, also steige ich im letzten Wagon ein und nehme neben einem Mädchen mit Nasenring und blauen Haaren Platz, die sie streng auf eine Seite gekämmt hat. Sie wirft mir einen komischen Blick zu, als hätte sie nicht erwartet, dass sich jemand freiwillig neben sie setzt. Als sie den Kopf dreht und mich schamlos anschaut, kann ich sehen, dass die von mir abgewandte Seite ihrer Haare kurz rasiert ist. Da sie mich auch anstarrt, erwidere ich die Geste und lasse meinen Blick über ihren ganzen Körper schweifen. Sie trägt eine Netzstrumpfhose, rote hochhackige Schnürschuhe, einen schwarzen Minirock und ein rotes ärmelloses Hemd mit Rüschen und schwarzer Spitze. Ihr Gesicht ist blass und wunderschön. „Caroline“, sagt sie und reißt mich damit aus meiner Beobachtung. Sie zieht etwas aus ihrer Rocktasche. „Kaugummi?“ fragt sie, während sie sich drei auf einmal in den Mund steckt. Ich nehme mir eins und sie steckt die fast leere Packung wieder weg. „Abbygail“, stelle ich mich vor und als der Zug losfährt, sitzen wir schweigend nebeneinander und schauen aus dem Fenster, während die Landschaft in einem grünen und blauen Streifen an uns vorbei rauscht. Caroline kaut langsam und genussvoll und ab und zu formt sie Kaugummiblasen, die sie wieder auf ihrer Zunge platzen lässt. Schließlich zieht sie ihr Handy aus ihrer anderen Rocktasche und beginnt, wie wild darauf rum zu tippen. „Gib mir deine Handynummer“, sagt sie dann, ohne von ihrem Handy aufzusehen. Sie hat bereits meinen Namen eingetippt. „Warum?“ „Nur so.“ Ich schaue sie einen Moment lang verwundert an, dann zucke ich die Achseln und hole mein eigenes Handy heraus, während ich ihr meine Nummer aufsage. Dann erstelle ich einen Eintrag für CarolineZug und sehe sie erwartungsvoll an. Sie gibt mir ihre Nummer und ich speichere sie in meinen Kontaktdaten. „Wo willst du hin?“, fragt sie nach einer Weile. „Weg“, antworte ich. Sie dreht den Kopf in meine Richtung, dann fängt sie laut und heiser an zu lachen. Ihre Stimme hört sich kratzig sein. „Fuck, ich will eine rauchen“, stöhnt sie und kaut weiter. „Wofür willst du meine Handynummer?“, versuche ich es nochmal. „Mein Leben ist zu kurz, um darauf zu hoffen, coolen Menschen durch Zufall ein zweites Mal zu begegnen.“ „Du findest mich cool?“, frage ich überrascht. „Yep.“ Ihre Finger trommeln auf ihrem Oberschenkel herum und ich sehe, dass sie mehrere Ringe pro Hand trägt. „Warum?“, frage ich. Sie grinst mich mit strahlend weißen Zähnen an. „Nur so.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)