Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 31: Ohlala! (Verschrobene Gestalten) -------------------------------------------- Bevor wir Viola City erreichen, erntet Maisy die Aprikokos ab, die an dem Baum gleich vor dem Stadteingang hängen. Dann setzen wir unseren Weg fort. Eingebettet in dichten Mischwald und sachte Hügelkuppen ist die sogenannte Stadt der Nostalgie eine Augenweide für uns. Nachdem wir den größten Teil des Tages in Dunkelheit und von Felswänden und Geröll umgeben verbracht haben, wäre ich schon mit einem Kaff wie Azalea zufrieden gewesen, aber Violas blaugraues Kopfsteinpflaster und die mit violetten Ziegeln gedeckten Häuser übertreffen alle meine Erwartungen. "Wow...", flüstere ich, während wir gemächlich die Straßen entlang schlendern und uns fasziniert umblicken. Nur Louis scheint keine Bewunderung zu empfinden. Er schaut sich suchend um, dann deutet er auf eine Abzweigung, die sich von uns entfernt und langsam zwischen den Häuserblocks einen Hügel entlang schlängelt und schließlich hinter einer Waldwindung verschwindet. "Da bin ich falsch abgebogen." sagt er und reibt sich verlegen über die Nase. "In der Richtung geht es nach Dukatia und Teak City." "Gut zu wissen", erwidere ich, aber von dem  Anblick der Farben dieser Stadt kann ich mich trotzdem nicht losreißen. "Wir sollten uns östlich halten", sagt Louis. "Da finden wir das Pokécenter und die Arena." "Und was habt ihr zwei vor?", fragt Maisy und reißt mich aus meinen Gedanken. "Geld verdienen", sage ich grinsend. "Ich will nicht immer pleite sein." "Ich will den Konfensaturm nochmal herausfordern." Louis verzieht das Gesicht. "Als ich das erste Mal hier war, habe ich gegen den letzten Trainer verloren. Dieses Mal will ich den Großmeister herausfordern." "Sounds good." Maisy nickt und biegt an einer Kreuzung ab. Kurze Zeit später erreichen wir Violas Hauptstraße, die trotz der Uhrzeit noch mit Menschen gefüllt ist. Ich denke sehnsüchtig an meine Inliner, aber es ist zu voll und ich kann Louis und Maisy schließlich schlecht alleine stehen lassen. "Wollen wir erstmal ins Pokécenter?", fragt Maisy und ich nicke. "Unsere Pokémon haben eine Pause verdient", stimmt Louis uns zu. "Und vielleicht kann ich wieder einen Deal aushandeln", füge ich breit grinsend hinzu. Louis runzelt die Stirn. "Du kannst nicht immer die ganze Arbeit übernehmen", murrt er. "Ich stehe eh schon viel zu tief in deiner Schuld." "Du weißt inzwischen ja, wie du dich revanchieren kannst", erwidere ich und strecke ihm die Zunge raus. "Na kommt, ich würde gerne wissen, wo wir heute Nacht schlafen, bevor ich die Stadt erkunde."   "Das tut mir furchtbar Leid, aber wir nehmen hier keine Trainer für die Arbeit an", entschuldigt sich Schwester Joy und verbeugt sich kurz, die Hände nervös in ihrer Schürze gefaltet. Violas Pokécenter ist nicht so überfüllt wie das letzte, aber trotzdem sind gut zwölf junge Trainer im Alter von vielleicht zehn bis fünfzehn vertreten, die an den diversen Tischen sitzen und Kartoffelsuppe löffeln oder über Karten brüten. Die meisten sind in Kleingruppen unterwegs, aber hier und da sitzen auch einige Einzelgänger. "Wirklich nicht?", hake ich vorsichtig nach. "Ihre Kollegin in Azalea City hatte kein Problem damit." "Tut mir Leid, aber wir haben genug Arbeitskräfte." Sie lächelt entschuldigend. "Na gut, da kann man nichts machen." Ich bedanke mich bei Schwester Joy und kehre zu den beiden anderen zurück, die an einem leeren Tisch bereits auf mich warten. Als Louis mein Gesicht sieht, zuckt er die Achseln. "Wir finden schon was anderes", muntert er mich auf. "Im Notfall können wir auch unsere Schlafsäcke auf der Straße aufschlagen." "Super Idee...", murmele ich, aber er hat ja Recht. Ich kann halt nicht immer so viel Glück mit Pokécentern haben. "Wie lange wollt ihr denn hier bleiben?", fragt Maisy. "Wahrscheinlich bis Ende September", sage ich nach einer Weile. "Raphael will sich in zwei oder drei Wochen mit mir treffen und wenn ich hier eine Möglichkeit finde, Geld zu verdienen, bleibe ich wohl solange hier. Bis Teak City bin ich gut eine Woche unterwegs und ich möchte mich hier noch etwas umsehen." "Ich bleibe solange, bis Abby weitergeht." Louis lächelt mir scheu zu. "Wir haben schließlich die halbe Strecke gemeinsam." "Dann werden wir uns bald verabschieden müssen", sagt Maisy und schaut traurig in die Runde. "Ich will nur Falk herausfordern, dann muss ich weiter nach Teak City, sonst verlieren wir zu viel von der Aprikokoernte. Aber wenn ihr so lange hier bleibt, sehe ich euch bestimmt auf dem Rückweg." "Wir sollten Nummern austauschen", stimme ich zu und fahre, nachdem wir unsere Handys wieder weggesteckt haben, niedergeschlagen fort, "Unser Übernachtungsproblem ist damit aber immer noch nicht gelöst." "Wir können ein paar Stadtbewohner fragen, ob wir für eine Nacht bei ihnen übernachten können", schlägt Louis vor. "Gute Idee", stimmt Maisy zu. "Es wäre nicht das erste Mal, dass ich bei den Leuten hier unterkomme. Viele Trainer, die hier sind, sind noch nicht so gut organisiert, deswegen drücken gerade ältere Leute oft ein Auge zu." Ich verziehe das Gesicht, nicke aber schließlich. "Also gut. Aber wir sollten uns beeilen." "Warum das?" "Ich habe einen Riesenhunger", erwidere ich grinsend.   Wir verlassen das Pokécenter und halten uns weiter Richtung Süden, weil Maisy die Leute dort schon einmal um einen Schlafplatz gebeten hat. Je weiter wir uns dem Stadtrand nähern, desto kleiner und beschaulicher werden die violett gedeckten Häuser und desto weniger Menschen sind auf der Straße unterwegs. Schließlich erreichen wir eine kleine Siedlung, in der die Vorgärten gepflegt und die Fenster mit Spitzengardinen verhangen sind. Eine kleine, gebückte Frau steht inmitten ihrer Blumen, eine lila Gießkanne in den Händen und beträufelt ihre Pflanzen liebevoll mit Wasser. "Guten Abend", rufe ich ihr zu und winke. Die Frau hebt den Kopf, ihr schlohweißes Haar reicht ihr bis zum Kinn und eine gigantische Brille sitzt schief auf ihrer Nase. "Können wir sie etwas fragen?" Sie winkt uns zu sich. Von nahem ist sie noch kleiner als ich erwartet habe. "Hallo ihr drei", sagt sie mit einer sanften Stimme und lächelt uns an. "Wie kann ich euch helfen?" "Wir sind Trainer und gerade erst in Viola City angekommen", erklärt Maisy. "Meine Freunde und ich sind derzeit knapp bei Kasse und wir suchen noch eine Unterkunft für die Nacht..." Die alte Frau lächelt. "Da seid ihr hier richtig", sagt sie fröhlich und stellt ihre Gießkanne auf der Erde neben sich ab. Dann reicht sie uns nacheinander die Hand. Ihr Griff ist fest, trotz ihrer schmalen Arme. "Ich bin Heike. Und ihr seid nicht die ersten Trainer, die bei mir übernachten, glaubt mir das. Aber man wird ja einsam auf seine alten Tage. Seit mein Mann gestorben ist, ist mir die Wohnung zu ruhig..." Ihr Lächeln nimmt einen traurigen Ausdruck an. "Ich habe zwei Gästezimmer. Zwar keine Betten, aber ihr habt Schlafsäcke wie ich sehe, das sollte euch also nichts ausmachen." "Ein Dach über dem Kopf reicht völlig", sagt Louis und wir nicken eifrig. Das war einfacher als erwartet. "Vielleicht sollte ich ein Schild an meine Tür hängen, dann mache ich meine eigene kleine Trainerpension auf. Unterkunft gegen Haus- und Gartenarbeit, das wäre doch was." "Klingt super", sage ich. "Ich bin übrigens Abbygail, das sind Louis und Maisy. Können wir ihnen bei irgendwas helfen?" "Oh bitte, nicht so förmlich, da werde ich ja ganz rot." Heike lächelt verschämt, dann hebt sie die Gießkanne und drückt sie Louis in die Hand. "Du kannst die Blumen gießen, während ich mit den Mädchen das Abendessen vorbereite. Wenn du noch andere umherirrende Trainer siehst, hol sie einfach rein. Ich habe noch Platz für vier oder fünf weitere, wenn es hart auf hart kommt." In Heikes Wohnung angekommen zeigt sie uns zuerst das Gästezimmer, in dem wir für die Nacht untergebracht sind. Es ist unmöbliert und an der Wand prangt eine unaufdringliche Rosentapete. Der Rest des Hauses ist gemütlich und altmodisch eingerichtet. Bücher stapeln sich in den Regalen, auf dem Fußboden und auf diversen Beistelltischen. "Was liest du so?", frage ich und fahre die Buchrücken mit meinen Fingern ab. Ich konnte mich noch nie für Bücher begeistern. Warum von anderer Leuten Abenteuern lesen, wenn mein eigenes hinter jeder Ecke wartet? "Ich interessiere mich sehr für Geschichte und Sagen", sagt sie und öffnet eine Schublade, dann holt sie Papier und einen dicken schwarzen Filzstift daraus hervor und setzt sich an den Esstisch. "In letzter Zeit hat mich die Geschichte der Johtotürme sehr fasziniert. Der Knofensaturm hier in Viola City und die beiden Türme in Teak City. Der Glockenturm steht immer noch, aber der Bronzeturm ist schon vor langer Zeit abgebrannt. Gerade um diese beiden ranken sich zahllose Sagen und Legenden. Viele Menschen behaupten weiterhin, dass die legendären Vogelpokémon dort lebten." "Lugia und Ho-Oh, richtig?", erkundige ich mich und setze mich zu Maisy und Heike an den Esstisch. Heike schreibt tatsächlich ein Schild. Ich grinse flüchtig. "Richtig. Lugia wurde vor vielen Jahren von Gold gefangen. Das hat den Gerüchten über ihre Nichtexistenz ein Ende bereitet, aber weil er es nicht in Teak City gefangen hat, sind die Kritiker wieder lauter geworden. Ich muss die Stadt bald wieder besuchen." In dem Moment geht die Tür auf und Louis kommt herein, gefolgt von einem Jungen, vielleicht zehn oder elf Jahre alt. "Hallo Oma", sagt er verschämt und stellt seinen roten Rucksack am Eingang ab. "Oliver, komm rein, komm rein!" Heike steht hastig auf und umarmt den kleinen Jungen, seine schwarzen Locken bilden einen straken Kontrast zu ihrem weißen Haar. "Möchtest du eine heiße Schokolade? Das Essen ist noch nicht fertig." Sie setzt ihn wieder ab und er nickt. "Hallo Oliver", begrüßt Maisy ihn fröhlich grinsend. "Ich bin Maisy." "Ich bin Abby. Schön, dich kennen zu lernen." Oliver schaut uns nacheinander flüchtig an, dann huscht er an uns vorbei ins Wohnzimmer, nimmt ein Buch von dem Stapel und macht es sich damit auf dem Sofa bequem, die Nase so tief hinter den Seiten versteckt, dass ich sein Gesicht nicht mehr sehen kann. Heike kommt mit einem Tablett zurück, auf dem mehrere Tassen dampfenden Kakaos stehen und reicht jedem von uns eine, bevor sie auch Oliver einen Becher bringt. Der Junge nimmt das Getränk lächelnd entgegen und tauscht ein paar leise Worte mit Heike aus, die in unsere Richtung schaut, lächelt und ihm zunickt. Dann richtet sie sich stöhnend auf. "Oliver ist mein Enkel", erklärt sie uns und nimmt einen großen Schluck ihres eigenen Kakaos. "Er hat fünf Geschwister, die allesamt eine laute Rasselbande von der schlimmsten Sorte sind. Wenn es ihm zu Hause zu viel wird, kommt er her, um zu lesen." "Verstehe." Nicht wirklich, aber gut. „Dann hänge ich das Schild mal an die Tür“, sagt Heike beschwingt und verschwindet kurz nach draußen, bevor sie wieder zurückkehrt und uns zu sich in die Küche winkt. „Dann helft mir mal mit dem Abendessen, Mädchen. Louis kann in der Zeit eure Schlafsäcke ausrollen.“ Sie zeigt ihm das erste der beiden Gästezimmer, dann machen wir uns an die Arbeit. Etwa eine Stunde später sitzen Heike, Oliver, Louis, Maisy, ich und zwei weitere Trainer, die im Verlauf des Abends eingetrudelt sind, mit dicken Bäuchen und roten Wangen am Esstisch. Die beiden Jungen sind gemeinsam auf Reisen und wollen morgen in Richtung Route 32 weiterreisen. Maisy quetscht den Größeren von ihnen, Max, über die Arena und Falks derzeitiges Team aus, während Oliver leise mit Heike plaudert. Louis und ich schweigen zur Abwechslung mal und lauschen den Gesprächsfetzen beider Gruppen, während wir uns von den letzten Tagen erholen. Ich bin wirklich froh, wenn mein Aufenthalt in Viola City zur Abwechslung einmal ruhig verläuft. So gerne ich Abenteuer mag, jeden Tag in Lebensgefahr zu geraten ist nicht gerade das, worauf ich mich gefreut hatte. Zwei, vielleicht drei Wochen, bis ich Raphael wiedersehe. Wir haben uns seit Monaten nicht mehr gesehen und ich vermisse ihn sehr, trotz der Mails, die wir ausgetauscht haben. Sein Geschenk hat er mir auch noch nicht gegeben. Mein Mund verzieht sich zu einem Lächeln. Ich kann es wirklich kaum erwarten.  Max und Julian verkrümeln sich etwas später am Abend in das zweite Gästezimmer. Ich plaudere noch eine Weile mit Heike und Maisy, während Louis Oliver ins Bett bringt. Schließlich werden meine Augenlider immer schwerer und ich verabschiede mich für die Nacht. Es war ein langer Tag und ich schlafe praktisch stehend.   Am nächsten Morgen erwache ich von Heikes Singen, das ihren Hausputz begleitet. Es ist nicht die schlechteste Art, geweckt zu werden und ich rolle mich ein paar Minuten in meinem Schlafsack hin und her, bevor ich aufstehe und mich anziehe, solange Louis noch schläft. Den weckt so schnell auch nichts. Auf Zehenspitzen verlasse ich das Gästezimmer und finde Heike, die gerade unter der Treppe den Boden wischt. „Guten Morgen“, begrüße ich sie gut gelaunt. „Kann ich vielleicht deine Dusche benutzen? Ich hatte ewig keine mehr.“ „Guten morgen, Kleines.“ Heike wischt sich etwas Schweiß von der Stirn. „Das Bad ist gleich da um die Ecke. Lass dir aber nicht zu viel Zeit, sonst reicht das heiße Wasser nicht für alle.“ „Geht klar.“ Fünfzehn Minuten später bin ich geduscht, gekämmt, angezogen und bereit für den Tag. Während ich mir einen seitlichen Zopf flechte, stupse ich Louis mit dem Fuß an, bis er einmal laut schnarcht, sich auf die Seite dreht und mich erschöpft anblinzelt. Zufrieden mit meiner Arbeit nicke ich Maisy zu, die bereits in ihrem Rucksack nach frischen Klamotten kramt und sich dann ins Badezimmer aufmacht, dann gehe ich Heike beim Frühstück zur Hand. Zwei Scheiben Brot mit Marmelade und eine Tasse Tamottee pur später brennt meine Zunge und ich bin glücklicher als seit langer Zeit. Jetzt muss ich nur noch einen Minijob finden und mein Leben ist perfekt. „Wo sind die beiden Jungs?“, fragt Maisy mit einem Mund voller Ei und schaut suchend zu dem zweiten Gästezimmer. Die Tür ist geschlossen. „Die sind ganz früh gegangen, zusammen mit Oliver“, sagt Heike fröhlich. „Er hat heute Schule.“ „Schule?“, frage ich überrascht. Ich kenne nur die Pokémon Akademie in Prismania City, und die ist ausschließlich auf Trainer spezialisiert. Lesen, schreiben, rechnen und so weiter habe ich damals von meinen Eltern gelernt. „Sie ist nördlich von hier, vielleicht zwanzig Minuten zu Fuß“, erwidert Heike. „Dort unterrichten sie Kinder vom sechsten bis zum elften Lebensjahr, alles von den Trainerbasiskenntnissen bis hin zu Allgemeinwissen. Das erspart den Eltern die Mühe.“ „Vielleicht schaue ich da mal vorbei“, murmele ich. Wer weiß, vielleicht wird dort ja irgendeine Art von Aushilfe gebraucht. „Ich werde heute noch Falk herausfordern“, verkündigt Maisy. „Die Jungs haben mir ein paar Tipps gegeben und selbst ohne Typvorteil sollte ich ihn locker schaffen.“ „Sollen wir zugucken?“, fragt Louis, aber Maisy schüttelt den Kopf. „Sorry.“ Sie verzieht das Gesicht. „Ich kann nicht gut kämpfen, wenn mir Freunde zuschauen.“ „Wie du magst. Dann statte ich heute Mathilda einen Besuch ab.“ „Mathilda?“ Ich schaue fragend zu ihm. „Sie ist ein Ziehkind im Knofensaturm“, erwidert Louis grinsend, seine Zahnlücke strahlt mir entgegen. „Sie ist ein bisschen verschroben, aber als ich das letzte Mal hier war, kamen wir gut aus.“ „Gut, dann wäre das geplant.“ Ich stehe auf. „Los geht´s!“   Louis und ich wünschen Maisy Glück, dann trennen wir uns an der Hauptkreuzung Violas und machen uns in die entgegengesetzte Richtung unterwegs. Die Arena liegt westlich, während die Pokémonschule bereits nordöstlich hinter den letzten Wohnhäusern emporragt. Gemeinsam schlendern wir die Straße entlang, bis wir den abgezäunten Grasplatz vor der Schule entdecken. Es scheint große Pause zu sein, gut hundert Kinder rennen spielend und schreiend auf dem Hof herum, spielen mit Bällen, Springseilen und einigen Pokémon, die zwischen ihren Beinen hin und her tollen. Ich schmunzele und hake mich bei Louis unter, dann betreten wir das Grundstück. Als ich Oliver sehe, winke ich, aber er sitzt am Rand des Schulhofs, den Kopf gesenkt und ein Buch in den Händen. Ich will schon hinüber gehen, als wie aus dem nichts ein Mädchen auftaucht und sich neben ihn auf die Bank setzt. „Lass die beiden“, sagt Louis grinsend und ich nicke. Dann durchqueren wir den Haupteingang. Wir finden uns in einem langen Gang wieder, der sich von links nach rechts erstreckt und in mehrere Klassenräume mündet. Der dunkle Holzboden federt unter meinen Füßen. Außer uns ist niemand unterwegs, weiße Filzhausschuhe liegen in Haufen neben den Türen und einige Jacken hängen an Kleiderhaken mit Namensschildern. Mir, die nie eine normale Schule besucht hat, sondern nur die kleinen Hörsäle der Akademie mit ihrer unpersönlichen Atmosphäre gewohnt ist, kommt der Ort wie ein kleines Wunder vor. Ich löse mich von Louis und laufe den gesamten Flur ab. Auf der dem Hof zugewandten Seite sind mehrere große Fenster in die Wände eingelassen und das gedämpfte Kreischen von Kinderstimmen sowie das Zirpen der letzten Insektenpokémon im angrenzenden Wald dringen an meine Ohren. "Ohlala!" Ich drehe mich erschrocken um. Aus einer der Türen lugt der Kopf einer Frau mit roten Backen und zwei gigantischen, dunkelbraunen Zöpfen, die über ihre Schultern fallen. "Ihr seid Besuch? Oder Schüler?", fragt sie mit einem offensichtlichen Akzent. Louis wirft mir einen verstörten Blick zu und ich geselle mich zu ihm. Als die Frau ihr Büro verlässt, muss sie sich halb durch den Türrahmen quetschen, ihre weiße Bluse spannt an allen Orten. "Abbygail Hampton", stelle ich mich vor und lächle die Frau an, die mich mit klimpernden Wimpern ansieht. "Isch bin Madeleine Dervish, Rektorin von die Pokémonschule." Louis runzelt die Stirn. "War das früher nicht Earl?" "Earl mein Mann." Ihr Gesicht hellt sich auf und sie nimmt meine Hand in ihre eigene fleischige Pranke. Ihr Händedruck ist warm und fest. "Ist ihm zu viel, inzwischen. Armer Earl, war so lebhaft, Rücken jetzt problematisch. Er ´ätte mit dem Ballet auf´ören sollen, bevor zu spät, aber ´ört nischt auf misch, non non. Womit kann isch ´elfen? "Ich suche einen Minijob für die nächsten zwei bis drei Wochen", gebe ich zu und Madeleine hebt die Augenbrauen. "Eine Job? Aber du bischt selbst noch Kind, oui. Was arbeiten du?" "Ich bin Pokémontrainer, ich kenne mich mit Trainingsstrategien und dem Basiswissen wie Statusveränderungen und so weiter gut aus." Ich zähle die Punkte an meiner Hand auf. Die Wahrscheinlichkeit, hier angenommen zu werden, ist nicht unbedingt die Größte, deswegen muss ich alles zeigen, was ich habe. "Ich kann putzen, Mensa-Essen kochen, Pausenaufsicht machen, Hausaufgaben korrigieren, Nachhilfe geben, unterrichten..." "Oui, hilfreisch." Sie nickt. "Aber jung! Kaum älter als die Schüler!" "Aber weit erfahrener." "Hmm, Fautvoir. Isch kann dir anbieten kleine Job zu kleine Geld, oui?" "Wie klein?", hake ich nach. Sie tippt sich ans Kinn. "Die Kinder ´aben viele eigene Pokémon, wir ´aben aber fast nur normale Lehrer, oui?" Ich nicke. "Jede Tag die Woche eine Klasse geht auf Route 31 um trainieren ihre Pokémon. Ist viel Arbeit für eine einzige Lehrer, non? Und sind nicht gute Trainer, Lehrer ´ier. Also jede Tag 8:00-14:00 Uhr, oui?" "Klingt super!" Mir fällt ein Riesenstein vom Herzen. Ich hätte keine Lust, noch alle Geschäfte abklappern zu müssen. "Wie viel Bezahlung halten sie für angebracht.?" Sie legt wieder einen wulstigen Finger an ihre rot geschminkten Lippen. "5000 PD pro Woche?" Ich nicke eifrig. Nicht so viel wie ich gehofft hatte, aber im Vergleich zu meinem jetzigen Besitz kommt mir die Summe wie ein halbes Vermögen vor. Und notfalls kann ich in Heikes Nachbarschaft auch noch nach Gartenarbeit rumfragen, mir fällt schon etwas ein. "Dann warte eine Moment, Abbygail." Sie verschwindet in ihrem Büro und ich gebe Louis eine High Five. "Das läuft ja wie geschmiert!" "Du hast echt ein Glück, Abby", sagt er kopfschüttelnd. "Wie findest du immer diese Nischen?" Ich tippe mir an die Nase. "Instinkt. Und Ausstrahlung, Charme, gutes Aussehen..." Ich zwinkere ihm spielerisch zu, aber Louis Ohren werden augenblicklich rot. Wir warten die nächste Minute in Schweigen, dann taucht Madeleine wieder in der Tür auf und reicht mir einen Zettel. "Deine Schischten." Sie lächelt. "Au revoir."   "Meinst du, Maisy hat Falk schon besiegt?", frage ich, während wir uns Richtung Norden wenden und der Straße folgen. Wir waren nicht lange in der Schule und als ich auf mein Handy gucke, blinkt mir die Uhrzeit entgegen. 10:00 Uhr. Die Straßen sind leerer als gestern Abend, vermutlich sind die meisten Leute bei der Arbeit oder in der Schule. "Vielleicht", erwidert Louis nach kurzem Überlegen. "Sie muss zwar gegen Falks Vortrainer kämpfen, aber wenn sie stark genug war, um Kai zu besiegen, sollte sie das mit Leichtigkeit schaffen." "Wir werden sie schon wiederfinden." Ich gähne und hole Hunters Pokéball aus meiner Tasche. Ein roter Lichtblitz blendet mich für eine Sekunde, dann flattert Hunter freudig über unseren Köpfen umher. "Vor dem Turm ist ein See, such dir was zu Fressen", sage ich grinsend, während er kreischt und davonfliegt. Louis muss schließlich nicht unbedingt dabei sein, wenn er sich ein Karpador fängt. Sku und Gott habe ich zuletzt gestern morgen gefüttert, am Besten gehe ich heute Abend mit ihnen in den Wald, damit die zwei sich dort ein paar Beeren sammeln können. Ich schmunzele. Sku wird nicht begeistert davon sein, etwas für ihr Abendessen tun zu müssen. Etwa zehn Minuten später lichten sich die Wohnhäuser und der leichte Hügel, den wir bis dahin bestiegen haben, sinkt auf der gegenüberliegenden Seite in ein seichtes Tal ab. Blaugrünes Wasser glänzt uns wie ein gigantischer Spiegel entgegen, nur unterbrochen von der violett angemalten Holzbrücke, deren Geländer und Pfähle irgendwie geschnitzt zu sein scheinen. Im rechten Teil des Sees wächst ein in sich gewundener, alter Baum mit kugeligen Blättern, seine Wurzeln halb im Wasser, halb auf der kleinen Insel unter ihm verankert. Wald umschließt den See, sowie den Knofensaturm, dessen dunkles Holz drei Stockwerke in die Höhe ragt. "Wow", flüstere ich, dann renne ich den Rest der Straße kurzerhand hinunter. Meine Füße schlagen jedes Mal hart auf den blaugrauen Pflastersteinen auf, aber ich jauchze und komme mit roten Wangen und zerzaustem Zopf vor der Brücke zum Stillstand. Louis taucht wenige Sekunden später neben mir auf. Er grinst von einem Ohr zum anderen. "Da sind wir." Ein Schatten schießt aus dem einzelnen Baum im See hervor und fliegt auf uns zu. Ich winke und Hunter zieht über unseren Köpfen einige Kreise, bevor er sich auf meinen Schultern niederlässt und seinen fedrigen Kopf liebevoll gegen meine Wange reibt. Ich drücke meinen Pokéball gegen seinen Kopf und rufe ihn zurück. Ich muss die drei wirklich öfter raus lassen. Während wir über die knarzende Brücke schlendern, lasse ich meine rechte Hand über das Geldänder streifen. Einzelne Farbpartikel blättern von dem alten Holz ab und die Schnitzereien stellen die Köpfe von Knofensa dar. Auf halber Strecke über den See endet die Brücke auf einer aufgeschütteten Zwischeninsel mit einem kleinen runden Pavillon und einigen Laternen. Der perfekte Ort für ein Picknick. Wir überqueren die zweite Brücke und als wir die große Eingangstür erreichen, drückt Louis einen der Flügel mit etwas Mühe auf. Bevor wir eintreten, nimmt er mich an der Schulter. "Ich warne dich nur vor. Mathilda ist ziemlich...speziell." Ich ziehe die Augenbrauen hoch, dann trete ich ein. "Weiter... perfekt!" Ich schaue mich um, aber außer einem der Weisen sehe ich niemanden in der gigantischen Eingangshalle. Merkwürdig. Die Stimme war eindeutig weiblich. Louis deutet auf den gigantischen eckigen Stützpfeiler, der sacht hin und her wankt. Ich folge seiner Geste und schaue, als ich nichts sehe, nach oben. An der Decke hängt ein Mensch. "Was zum..." "Ich sag´s ja." Um die Taille des Mädchens ist ein Seil gewickelt, das über einen der Deckenbalken und dann in die Hände des Weisen führt. Er schaut ängstlich zu ihr in die Höhe. "Wenn die Saugnäpfe sich lösen, wirst du dir etwas brechen, Mathilda", verkündet er. "Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt." "Oh bitte, wofür sind Saugnäpfe denn da, wenn sie nicht halten?", ruft Mathilda nach unten. Sie hängt wie ein Griffel an der Decke, Hände und Füße mit schwarzen Saugnäpfen bedeckt. "Wenn sie nicht funktionieren würden, hätte sie schon jemand vom Markt genommen. Oder es gäbe einen Unfall und die Nachrichten würden davon berichten. Kein Grund zur Sorge." "Vielleicht ist der Unfall nicht mehr weit entfernt...", murmelt der Weise, hält das Seil aber weiterhin mit behandschuhten Händen fest. "Mathilda!", ruft Louis zu ihr hoch und Mathilda biegt den Kopf nach hinten, bis sie uns entdeckt. Sie lacht laut, löst eine Hand und winkt. Der Weise und ich zucken gleichzeitig zusammen. "Hey ho, Lou!", schreit sie zurück, ihre Stimme merkwürdig verzerrt, weil ihr Hals so überstreckt ist. "Was machst du da?" "Die Welt aus einer anderen Perspektive betrachten!", ruft sie. "Ich bin schließlich kein Spießer." "Du bist ein Mitglied unseres Ordens", sagt der Weise streng. "Weisester Marek toleriert dein Verhalten nur, weil du offiziell noch ein Kind bist. Aber wenn du vierzehn wirst, ist es aus mit diesem Rumgeturne, das verspreche ich dir." "Ein Grund mehr, jetzt die Rihörner loszulassen!", lacht Mathilda und lässt auch noch mit der anderen Hand los. Ich halte die Luft an. Sie hängt kopfüber von der Decke. "Haha, ihr seid alle falsch herum!", ruft sie entzückt. "Das reicht jetzt! Sofort runter!" "Sei nicht so, Ecki." Der Weise grummelt. "Komm da lieber runter!", rufe ich ihr zu. "Die halten nicht mehr lange!" "Ach was, die halten. Die sind für sowas gemacht." "Ich bezweifle, dass sie dafür gemacht sind!", schreie ich zu ihr hoch. Mathilda bäumt sich wieder Richtung Decke und drückt ihre Hände gegen die Decke. Dann klettert sie vorsichtig ein Stück weiter, zurück zu dem Stützpfeiler. Von dort beginnt sie ihren Abstieg. Während sie mit Klettern beschäftigt ist, gehen Louis und ich zu Ecki hinüber. "Hallo, Weiser Eckart", begrüßt Louis ihn mit einer leichten Verbeugung, die Hände flach vor dem Gesicht zusammengelegt. Ich tue es ihm gleich. "Bei allem Respekt, warum helfen sie ihr?" "Sie wäre auch alleine geklettert." Er verzieht das Gesicht. "So kann ich immerhin für ihre Sicherheit garantieren." Mathilda jauchzt, als sie kurzzeitig abrutscht und das Seil sie schneidend festhält. "Mehr oder weniger." Hinter uns landet Mathilda auf dem Boden, fährt sich durch ihre dichten, blonden Locken und kommt freudestrahlend auf uns zu. "Das war lustig!" Dann springt sich Louis um den Hals und umarmt ihn. Als sie sich wieder löst, drückt sie mit ihrer Fingerspitze seine Nase nach unten. "Und warum bist du wieder hier? Willst du eine Revanche?" Er schiebt ihren Finger weg. "Allerdings. Dieses Mal besiege ich euch locker." "Ha! Das werden wir sehen. Und wer ist die Spielverderberin da?" Spielverderberin? "Ich bin Abby. Schön, dich kennen zu-" "Jaja, langweilig. Also gut, warum schließen wir nicht eine Wette ab?" "Wette?", fragt Louis und ich kneife die Augen zusammen. Diese Mathilda ist verdammt unverschämt. "Wenn du es schaffst, den Turm mit einem Knofensa zu besiegen, dann bekommst du einen richtig tollen Preis." Sie beugt sich verschwörerisch zu ihm nach vorne. "Weisester Marek verschenkt immer TM70, weil er findet, dass Blitz die Erleuchtung der Weisen darstellt, aber das ist eine Attacke für Spießer, kein Mensch braucht die. In dunklen Höhlen funktioniert Feuer genauso gut." "Was wäre dieser spezielle Preis?", hakt Louis nach, Augen leuchtend. Ich komme etwas näher. "Hmm, wer weiß!" Sie lacht. "Jedenfalls etwas nützlicheres, vielleicht eine TM, mit der Knofensa auch etwas anfangen kann. Vielleicht ein Item, vielleicht auch nicht. Das wirst du dann schon sehen." "Und wo kriege ich ein Knofensa her?" "Oh bitte, Lou." Sie zieht eine dichte Augenbraue hoch. "Knofensa gibt's wie Zubats in Höhlen, du kannst dich vor den Teilen nicht retten. Auf Route 31 wimmelt es nur so von ihnen, pass bloß auf, dass du bei der Suche nicht über sie stolperst." "Dann muss ich es aber erst noch trainieren..." Louis sieht bei dem Gedanken nicht gerade begeistert auf. "Ach komm, das ist eigentlich eine gute Idee", muntere ich ihn auf. "Ein Pflanzen-Gift-Typ könnte hilfreich sein und wir sind schließlich zwei Wochen hier. Ich muss Gott auch noch trainieren. Du kannst mit der Schulklasse und mir mitkommen und für dich trainieren, dann hast du auch was zu tun." "Ich habe keine Ahnung, wovon du redest, aber sie hat Recht, Lou!" Mathilda grinst breit. "Na komm, du willst es doch auch." Sie zwinkert und Louis verschluckt sich. "Also darf ich euch heute noch nicht herausfordern?" "Nur, wenn du ein doofes Blitz-TM haben willst." Sie verzieht das Gesicht. "Ecki?" Wir schauen uns um, aber Weiser Eckart ist bereits verschwunden. Wäre ich an seiner Stelle auch. Mathilda ist wirklich nichts für schwache Nerven. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie immer noch die Saugnoppenschuhe und -handschuhe trägt. Verschroben ist untertrieben. "Na gut", sagt Louis schließlich und Mathilda macht einen Luftsprung. Nur dass ihre Füße immer noch am Boden festgesaugt sind. Sie verliert das Gleichgewicht und klatscht vornüber auf den Boden. 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