Abbygails Abenteuer von yazumi-chan (Road to Lavandia) ================================================================================ Kapitel 38: Mit dem Wind (Neue Freunde und alte Rivalen) -------------------------------------------------------- Ich habe mir nie Flügel gewünscht. Bis jetzt. Die Welt rauscht unter Mandys Flügeln davon und schon bald lasse ich meinen Blick über den Horizont gleiten. Aus dieser Höhe ist sogar die schwache Krümmung der Erde erkennbar. Tränen steigen mir von dem Gegenwind in die Augen und ich drücke mich enger an Grypheldis´ Körper, um nicht nach hinten gedrückt zu werden. Am Rande meiner Gedanken ist mir bewusst, dass, sollte ich fallen, ich den Aufschlag nicht überleben werde. Aber die Flughöhe, das laute Rauschen in meinen Ohren, die Kälte an meinen Fingern, Hunters glückseliges Krächzen und die Geschwindigkeit halten mich in einem Rausch fest. Ich kann nicht fallen. Hier und jetzt bin ich unsterblich. Raphael sagt etwas, aber ich kann nichts verstehen. Stattdessen greift er mit einer Hand um meine Taille und fasst mit der anderen in Mandys braungraues Gefieder. Hunter zischt an uns vorbei, nur um seitlich in einen anderen Luftstrom abzukippen und sich wieder zu uns zurück treiben zu lassen, bevor er unter uns hindurch fliegt und auf der anderen Seite wieder auftaucht. Ich kann es kaum noch erwarten, ihm Fliegen beizubringen.   Wie lange wir fliegen, kann ich nicht sagen, aber als die gewaltige Gebirgskette mit dem Silberberg in Sichtweite kommt, sind meine Finger rot und rissig von der Kälte und meine Augen brennen. „Wir sind fast da!“, schreit Raphael in mein Ohr und ich nicke. Ich habe Angst, nicht mehr Atmen zu können, wenn ich den Mund öffne. Hinter dem dreispitzigen, aschgrauen Berg kommt langsam aber sicher das Indigo Plateau in Sicht, dicht mit Nadelwald und Geröll bedeckt. Das Indigostadion liegt östlich von der Liga, eingebettet in Wald und große Asphaltplätze. Uns näher liegen die Hotelanlage und das Pokémonareal. Mandys Flügelschläge werden sanfter und wir sinken langsam in Richtung Plateau ab. Das letzte Stück legt sie die Flügel zu einem Halbsturzflug an und ich kreische, als Tränen aus meinen Augen gepresst werden und ich mich weit nach hinten lehnen muss, um nicht von ihrem Rücken zu fallen. Raphaels Hand hält mich fest, seine Andere ist fest in Mandys Gefieder gekrallt, aber er lacht, laut und heiser und seine Euphorie steckt mich an. Als Mandy mit einem Ruck auf dem getrimmten Rasen vor dem Hotel landet und weiterläuft, um ihr Momentum abzufangen, sind Raphael und ich ein wild kichernder Haufen voller blanker Nerven und Adrenalin. Hunter landet schwungvoll hinter uns, verliert sein Gleichgewicht und stolpert mehrere Meter vorwärts, bevor er über seine eigenen Beine stolpert und kopfüber im Gras landet. „WUH!“, jauchze ich und löse vorsichtig meine steif gefrorenen Fingers aus Mandys Gefieder. Ich klettere von Mandys Rücken und knicke halb ein. Meine Beine zittern unkontrolliert, vor Aufregung oder Anstrengung kann ich nicht sagen. Raphael hält mich schnell am Ellenbogen fest, bevor ich fallen kann, dann steigt er ebenfalls von Grypheldis ab und strahlt mich an. „Na, wie war dein erster Flug?“ „Ab-ge-fah-ren.“ Ich schaue in den Himmel, aus dem wir gerade gekommen. „Ich kann es immer noch nicht glauben.“ „Der erste Flug haut jeden von den Socken“, sagt Raphael und streichelt Mandys Kopf, bevor er sie zurückruft. „Wollen wir einchecken?“ Als der Adrenalinrausch verebbt, schaue ich mich auf dem Plateau um. Das Hotel ist ein riesiger Gebäudekomplex mit fünf oder mehr Stockwerken, vielen Glasfronten, Stahl und modernem Flair. Eine lange unbefestigte Straße, gesäumt von getrimmten Wiesenflächen, führt von dem Hotel nach Osten, wo sie zu der Pokéliga und dem Stadion führt. Weiter südlich führen von Torbögen überschattete Treppen zur Siegesstraße, einer verschachtelten Höhle voller Trainer und wilder Pokémon, gegen die jeder Teilnehmer der Championship bestehen muss, bevor er zu den Stadionkämpfen zugelassen wird. „Warst du schon Mal da drin?“, frage ich Raphael und deute zur Siegesstraße. Er lacht und schüttelt den Kopf, bevor er seinen Schal und seine Mütze auszieht und sein rot gelocktes Haar durchwuschelt, bis es in weichen Locken über seine Schultern fällt. „Von dieser Seite ist das Betreten verboten und vorne kommst du nur durch, wenn du auf der Anmeldeliste für die Championship stehst.“ „Ist sie wirklich so hart wie alle sagen?“, frage ich skeptisch und nehme Hunter meinen Rucksack und die Inliner ab, bevor ich ihn zurückrufe. Raphaels Gesicht nimmt einen ernsten Ausdruck an. „Härter. Von den Trainern, die sich bewerben, kommen 20% oder mehr nicht durch. Und das sind Trainer, die stark genug waren, um acht Orden zu sammeln.“ Ich werfe der Höhle einen letzten Blick zu, dann folge ich Raphael ins Hotel. Als wir das Foyer betreten, schaue ich mich mit offenem Mund um. Es ist mit Sicherheit nicht das beste Hotel, aber für jemanden, der die letzten zwei Monate in Pokécenterbetten oder Schlafsäcken übernachtet hat, sind die rot gepolsterten Sitzgelegenheiten, die schweren Vorhänge und Teppiche und die Gemälde von berühmten Trainern an den Wänden der reinste Luxus. Am Empfang steht ein Butler in Frack, sein schwarzes Haar ist mit einem weißen Band zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und als er Raphael sieht, setzt er ein geschäftlich freundliches Lächeln auf. „Sir Raphael Berni?“ Er neigt den Kopf und hakt uns auf seinem Klemmbrett ab. „Ihre ID, bitte.“ Raphael reicht sie ihm, der Butler steckt sie in ein Lesegerät, nickt zufrieden und reicht Raphael dann einen Schlüssel. „Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.“ „Schicken Sie uns bitte Essen hoch.“ „Sehr wohl, Sir.“ Ich reiße meinen Blick von dem Butler und schaue zu Raphael, der so selbstverständlich in die Sir-Rolle geschlüpft ist. Wird er immer so behandelt, wenn er irgendwo hingeht? Ich weiß nicht, ob ich ihn dafür beneiden oder bemitleiden soll. Wir sind schon halb zur Treppe, da dreht Raphael sich nochmal zu dem Butler um. „Wer von den anderen Gästen auf der Liste hat schon eingecheckt?“ „Lady Genevieve Keller ist gestern Nacht eingetroffen, Sir. Sie bat mich, ihre Nachtruhe unter keinen Umständen zu stören. Sie erholt sich von den Strapazen ihrer Reise.“ „Wohl eher von ihrem Kater…“, murmelt Raphael tonlos, dann nickt er dem Butler dankbar zu. „In welchem Zimmer ist sie untergebracht?“ „Die Suite Nummer zwei, Sir, auf dem fünften Stockwerk, so wie Sie und Ihre Begleitung.“ „Die anderen sind noch nicht da?“ „Sir Zacharias Stray hat die Reservierung gekündigt. Sir Richard Lark wird im Laufe des heutigen Nachmittags erwartet.“ „Dankeschön, Jeffry.“ Raphael wendet sich wieder der Treppe zu, daher bin ich die Einzige, die den Hauch von Überraschung auf Jeffrys Gesicht sieht. Da scheint wohl jemand nicht gewohnt zu sein, mit seinem Namen angesprochen zu werden. Gemeinsam steigen wir die Treppen hinauf. Einen Aufzug gibt es auch, aber nach dem langen Sitzen tut uns die Bewegung gut und so erreichen wir den fünften Stock mit brennenden aber nicht mehr ganz so steifen Beinen. „Welches ist unser Zimmer?“, frage ich und schaue mich in dem langen Flur um. Insgesamt gibt es zehn Türen. „Nummer eins. Unsere Suite liegt direkt neben Gens.“ Er wirft mir ein schelmisches Grinsen zu. „Ich hoffe, du hast keine allzu hohen Erwartungen an die restlichen Favoriten. Ich werde dir jetzt nämlich jegliche Illusionen nehmen.“ Ich ziehe eine Augenbraue hoch, aber Raphael schmunzelt nur und geht an unserer Suite vorbei und zu der Tür mit der Nummer 2. Dann klopft er. Aus dem Inneren ist kein Geräusch zu hören. „Sie schläft bestimmt noch“, meine ich und will mich umdrehen, doch Raphael hält mich fest und klopft erneut, lauter dieses Mal. Ich kann ein schwaches Stöhnen hören, gefolgt von einem lauten Fluchen und einem Knall, als irgendetwas Schweres zu Boden fällt. Dann öffnet sich die Tür einen Spalt. Raphael zögert nicht und tritt ein, aber ich schiele vorsichtshalber erstmal durch den Türspalt in die Suite. Ich kann nichts erkennen. Es ist dunkel und stickig. Raphael drückt einen Schalter und die Lampe an der Decke flackert zum Leben. Jemand zischt und ich trete ein, um die Person zu erkennen. „Also mal ehrlich.“ Raphael durchquert die Suite mit sicheren Schritten und zieht die Vorhänge zur Seite, bevor er alle Fenster öffnet. „Man könnte meinen, du bist ein Höhlenmensch.“ „Lass mich…“, murrt die Decke auf dem Sofa und ich blinzele. Nicht die Decke. Aus dem oberen Ende des Deckenhaufens lugen weißgraue Haarsträhnen heraus. „Genevieve?“, frage ich vorsichtig und die Decke sinkt ein Stück herab und entblößt ein braungebranntes Gesicht mit dunklen Augenringen und spröden Lippen. „Ist das Abby?“, fragt Genevieve an Raphael gewandt, der sich ihr gegenüber auf der zweiten Couch niederlässt. Ich steige über die Vase, die zerbrochen auf dem Boden liegt und setze mich neben ihn. Raphael nickt. „Du hättest mich ruhig ausschlafen lassen können“, meint Genevieve, nachdem sie mich kurz gemustert hat. „Ich hatte eine lange Nacht hinter mir.“ „Trink weniger“, erwidert Raphael und grinst. Genevieve pustet eine ihrer weiß gefärbten Strähnen aus ihrem Gesicht. Ihr Haar sieht verfilzt aus. Ich kenne Genevieve Keller nur von Fotos und einigen Fernsehkämpfen, aber so ungepflegt habe ich sie nicht in Erinnerung. „Ich habe keinen Kater, geez.“ Sie wickelt sich enger in die Decke ein. „Ich bin die Nacht durch geritten, geflogen und geklettert, um hier anzukommen. Aber natürlich musstest du meinen wohlverdienten Schlaf unterbrechen.“ „Dafür habe ich Essen bestellt.“ Das hebt ihre Laune erheblich. „Du bist ein Schatz! Deine Suite oder meine?“ „Meine, aber zieh die Decke aus.“ „Geez…“ Sie lässt die Decke fallen und ich erwarte, sie in einem Pyjama zu sehen, stattdessen trägt sie eine schwarze Jogginghose, die lose um ihre schlanken Beine schlabbert und ein schwarzes Tanktop, das hoch schließt, aber durch die tief geschnittenen Achseln einen Großteil ihrer Seite und das Band ihres schwarzen BHs freigibt. Sie steht auf, streckt sich und verschwindet dann in dem abgetrennten Bereich ihrer Suite. Als sie zurückkommt, ist ihr silbrig glänzendes Haar in einem losen Dutt zusammengefasst und ein Umschnallgürtel mit sechs Pokébällen reicht von ihrer linken Schulter zu ihrer rechten Hüfte. „Wie viel Uhr ist es?“, fragt sie, während sie mit mir und Raphael zu unserer Tür geht. Ich schaue auf mein Handy. „Gleich 10:00 Uhr.“ Sie reibt ihre Schläfen. „Zu früh. Ich bin nachtaktiv, Raph, warum weckst du mich um diese gottverdammte Uhrzeit?“ „Weil du sonst in deinen normalen Rhythmus verfällst und zu Beginn des Turniers wie ein Toter aussiehst. Auf lange Sicht tue ich dir einen Gefallen.“ Sie schnaubt. Wir betreten unsere Suite. Im Gegensatz zu Genevieves sind die Fenster nicht mit Vorhängen zugehangen und bleiches Licht fällt durch das Glas und malt helle Quadrate auf die roten Plüschsofa und den Laminatboden. Genevieve schlurft zu dem Sofa und lässt sich wenig elegant in die Polster fallen. Wir folgen ihrem Beispiel und setzen uns auf das gegenüberliegende. „Ich bin diesen Süßes-Mädchen Ruf ´eh satt“, fährt sie fort und reibt ihre Augen. „Sollen mich doch alle für ein Zwirrklop halten.“ „Erzähl das Alfred…“, murmelt Raphael und Genevieve stöhnt wissend. „So gern ich ihn hab, manchmal ist er mir echt zu anstrengend.“ „Alfred ist toll“, verteidige ich ihn automatisch. Genevieve hebt den Kopf und schaut mich mit schief gelegtem Kopf an. „Sag das nochmal, wenn du zwei Jahre mit ihm zusammengearbeitet hast.“ Sie pustet eine Strähne aus ihrem Gesicht. „Wann kommt das Essen?“ „Bald.“ Raphael lehnt sich nach vorne und stützt sich mit seinen Ellenbogen auf seinen Knien ab. „Hast du was von Zach gehört?“ „Pff.“ Sie lehnt sich auf dem Sofa zurück und sieht Raphael mitleidig an. „Als wenn. Zach macht seinem Namen alle Ehre. Es würde mich nicht wundern, wenn er überhaupt nicht auftaucht.“ „Er kommt. Das ist unsere letzte Gelegenheit, die Championship unter die Lupe zu nehmen. Es wäre idiotisch von ihm, sich das entgehen zu lassen. Zach ist Vieles, aber nicht dumm.“ „Richy sieht das anders“, meint Genevieve bitter, aber bevor sie weitersprechen kann, klopft es an der Tür. „Ich gehe schon“, sage ich und stehe auf. Als ich öffne, steht im Flur ein Wagen mit abgedeckten Platten, Getränken und Geschirr. Von Jeffry ist nichts zu sehen. Als ich den Wagen in die Suite schiebe, höre ich Genevieves leise Stimme. „-mache mir langsam Sorgen. All die Reporte und trotzdem passiert nichts.“ „Was für Reporte?“ frage ich. Raphael hilft mir schnell, den Tisch zu decken, während Genevieve weiterredet. „Team Rocket“, sagt sie. „Sie breiten sich wie ein Geschwür aus, aber mir fehlt die Explosion, verstehst du? Keine ihrer Aktionen hat bisher ernsthafte Folgen gehabt. Ein paar Löcher hier, ein Überfall da… Je länger sie so ruhig sind, umso schlimmer werden später die Folgen sein, befürchte ich.“ So ruhig kam mir Mel nicht vor, denke ich, bleibe aber stumm. „Richy glaubt nicht daran, dass Team Rocket eine Chance hat“, fährt Raphael fort und tut uns allen Croissants und Früchte auf die Teller. „Seiner Meinung nach sind wir mehr exzellente Trainer als je zuvor, deshalb sollten wir uns keine Sorgen machen. Aber es geht hier nicht nur um reine Kampfstärke. Wenn sie uns überraschen oder überrumpeln, nützen uns unsere besten Pokémon gar nichts.“ „Aber was hat das mit Zach zu tun?“, hake ich nach. „Zach hat ein besonderes Interesse an Team Rocket“, erklärt Genevieve. „Seine Schwester ist in einem Überfall ums Leben gekommen und er glaubt, dass Team Rocket bereits damals dahinter steckte. Aber es ist schon fünf Jahre her, deswegen hält Richard ihn für paranoid.“ „Fünf Jahre?“ Ich beiße in mein Croissant. „Damals gab es doch noch überhaupt keine Anzeichen für Team Rocket.“ „Nicht öffentlich“, sagt Raphael. „Aber was, wenn sie bereits damals ihre Pläne begonnen und sich gesammelt haben? Dann, drei Jahre später, beginnen sie ihre ersten organisierten Verbrechen. Es ist möglich.“ „Ist ja auch egal.“ Genevieve beißt herzhaft in einen roten Apfel und spült mit Wasser nach. „Sie sind zurück und bald werden alle guten Trainer gegen sie kämpfen müssen. Also Noah, Gold, wir Vier, vielleicht die Top Vier und Arenaleiter, je nachdem wie stark Team Rocket dieses Mal ist.“ „Wahrscheinlich reicht Gold schon aus“, meint Raphael grinsend. „Er hat sie damals schließlich auch alleine ausgeschaltet.“ „Vielleicht. Aber Team Rocket ist gefährlicher geworden. Und wenn wir sie schneller besiegen, wird sich niemand beklagen.“ Die nächsten Minuten essen wir in Schweigen, außer unseren Kaugeräuschen und dem Klirren von Geschirr ist nichts zu hören. Schließlich lässt Genevieve sich mit einem zufriedenen Seufzen nach hinten fallen. „Danke für das Frühstück, Raph.“ Raphael schmunzelt, dann steht er auf. „Los, ich will Abby noch die Anlage zeigen, bevor Richy aufkreuzt.“ „Geht ihr ruhig…“ „Gen.“ Raphael verschränkt die Arme. „Soll ich Alfred sagen, dass du dich für ein Interview zur Verfügung gestellt hast?“ Sie kneift ein Auge zusammen. „Wenn du unfair spielen willst, sag es ruhig“, meint sie. „Ich hab immer noch einige despektierliche Fotos von meinem achtzehnten Geburtstag.“ Neugierig schaue ich zu Raphael hoch, der kreidebleich geworden ist. „Die solltest du löschen!“ Sie lacht. „Solange du mich erpresst, brauche ich Gegenmaßnahmen.“ Er seufzt. „Komm einfach mit. Wir können die Pokémon auf dem Trainingsplatz laufen lassen.“ Genevieve öffnet den Mund, als wolle sie widersprechen, dann zuckt sie die Schultern und steht ächzend auf. „Gib mir fünfzehn Minuten.“ Als sie die Suite verlassen hat, räume ich meinen Rucksack in das Schlafzimmer, ziehe mich um und mache mich frisch. Gemeinsam mit Raphael warte ich danach vor Genevieves Tür. Es dauert nur eine Minute, bevor sich die Tür öffnet und eine andere Person vor mir steht. Genevieve trägt leichtes Make-Up, ihre spröden Lippen glänzen und ihr gebürstetes Haar wird von einem hellblauen Haarband zurückgehalten, das farblich zu ihrem knielangen Rock passt. Dunkle Leggins akzentuieren die schlanke Muskulatur ihrer Beine und ihr hochgeschossenes Tank-Top wird zum größten Teil von einer blauen Bolero-Jacke verdeckt. Sie sieht aus wie die Genevieve aus dem Fernsehen, aber nachdem ich sie live erlebt habe, kommt mir das Outfit fehl am Platz vor. „Dann wollen wir mal“, sagt sie lustlos und ich gluckse. Egal, wie ordentlich sie sich kleidet, ihre Persönlichkeit blitzt trotzdem durch. Gemeinsam steigen wir die Treppen nach unten und treten nacheinander ins Foyer. „-eine Reservierung.“ „Ah, Sir Zolwyk, Lady Zolwyk. Wir haben sie schon erwartet. Ihre Karte, bitte.“ „Wo gehen wir als erstes hin?“, frage ich Raphael. „Zuerst geben wir unsere Pokémon im Trainingscenter ab. Ich kann nicht mit allen durch die Gegend laufen und sie hatten die ganze Woche keinen Auslauf.“ Ich nicke. „Ihre Räume liegen auf dem fünften Stockwerk, Suiten 6 und 7“, fährt Jeffry fort. „Was zur- Abby?“ Meine Nackenhaare stellen sich auf. Diese Stimme kenne ich. Langsam drehe ich mich zu der Zolwyk-Familie um. Sir Zolwyk ist ein Mann in seinen Vierzigern, mit ergrauendem, perfekt geschnittenem Haar und Bart und einem schwarzen Anzug. Lady Zolwyk trägt einen teuren Hosenanzug und ihr feuerrotes Haar fällt in gestylten Wellen über ihre Schulter. Und etwas hinter ihr steht, perfekt gestylt wie immer, Ruth. „Ruth?“, antworte ich entgeistert und ignoriere Raphaels verwirrten Blick. „Was machst du denn hier?“ „Was wohl, Scherzkeks.“ Sie scheint sich von ihrem Schock erholt zu haben, denn ihre schnippische Art ist sofort wieder da. „Ich bin mit meinen Eltern wegen der Championship hier. Die Frage ist, was du hier machst. Sag mir nicht, dass du plötzlich genug Geld hast, um hier einzuchecken, das kaufe ich dir nämlich nicht ab.“ „Nicht in diesem Ton, Ruth“, sagt ihre Mutter streng und Ruth verzieht das Gesicht. „Verzeih, Mutter.“ „Ich habe sie eingeladen“, beantwortet Raphael Ruths Frage und sie wirft ihm einen scharfen Blick zu, bevor ihre Augen sich weiten und sie merkt, mit wem sie spricht. „Raphael Berni?“, fragt sie und schaut an ihm vorbei zu Genevieve. „Und Genevieve Keller?“ „Eine Freundin von dir?“, fragt Raphael an mich gewandt und ich schnaube. „Gehen wir einfach“, sage ich stattdessen. „Ich will Ruth nicht mit meiner Anwesenheit belästigen.“ Genevieve lacht, tätschelt meinen Kopf und verlässt dann das Hotel. Raphael und ich folgen. „Ich dachte nicht, sie so schnell wiederzusehen…“, murmele ich, während wir gemeinsam der Straße zu den Trainingsplätzen folgen. Es ist wärmer als bei unserer Ankunft, aber bei weitem nicht warm und so bin ich froh, meine Jacke zu haben. Auch wenn Raphael sie zur Hälfte finanziert hat. „Hoffentlich verfolgt Mel sie nicht bis hierher.“ „Mel?“ Ich zögere. Bisher weiß nur Caroline von Mel und Teal und auch nur von unserer ersten Begegnung. Aber falls Team Rocket wirklich hier auftaucht, um sich an Ruth und mir zu rächen, sollte Raphael wohl besser Bescheid wissen. „Es gibt da etwas, dass ich dir noch nicht erzählt habe…“   Meine Erklärung zieht sich, denn sowohl Genevieve als auch Raphael unterbrechen mich mehrmals, mit Fragen oder ungläubigen Ausrufen. Als ich fertig erzählt habe, schaut Raphael mich lange an. Die übliche Sorglosigkeit ist von seinem Gesicht gewichen und auch Genevieve wirkt ernster als zuvor. „Dann kann ich wohl froh sein, dass du überhaupt noch hier bist“, sagt er schließlich und ich nicke. „Du glaubst also, diese Mel könnte hier aufkreuzen?“, hakt Genevieve nach und ich zucke die Achseln. „Ich weiß es nicht. Sie will sich an mir und Ruth rächen. Und jetzt befinden wir uns am selben Ort. Andererseits wird es hier nur so von Polizei und starken Trainern wimmeln. Ich weiß nicht, ob sie das Risiko eingehen wird." „Wir sollten auf jeden Fall aufpassen“, sagt Raphael und ich nicke. „Okay, genug davon.“ Genevieve reckt sich und nimmt dann einen Pokéball aus ihrer Tasche. „Ich nehme eins meiner Pokémon mit. Was ist mit dir, Raph?“ „Natürlich. Ich laufe sicher nicht ohne Pokémon durch die Gegend.“ „Was ist mit dir, Abby?“ Ich denke kurz nach. „Hunter hatte genug Bewegung heute Nacht und Sku wird mir dankbarer sein, wenn ich heute Nacht mit ihr spazieren gehe. Gott kann ich rauslassen.“ Genevieve zieht eine Augenbraue noch. „Gott?“ „Mein Igelavar.“ „Gott, huh? Gar nicht mal so übel.“ „Wie heißen deine Pokémon, Genevieve?“ „Gen reicht, bitte. Und nenn mich auf gar keinen Fall Vivi. Das darf nur Alfred und auch nur, weil ich es ihm nicht austreiben konnte.“ „Wie du willst.“ Sie lässt ihren Pokéball durch ihre Finger rollen, bevor er wächst und ein roter Lichtstrahl heraus schießt. „Ich stelle vor: Zero.“ Ich kneife die Augen zusammen. Dann materialisiert sich Gens Pokémon und mir rutscht das Herz in die Hose. Das gelbe Hypno sieht größer und gefährlicher aus als das Monster aus dem Wald und ich mache automatisch einen Schritt zurück. Raphael ruft ebenfalls eins seiner Pokémon. Sein Luxtra materialisiert sich direkt neben ihm und legt sich augenblicklich auf den Boden, die Zunge hechelnd aus dem Maul hängend. „Hallo Dario“, sage ich und kraule seinen Kopf und Nacken. „Lange nicht gesehen.“ Dario hechelt zustimmend und ich denke daran, wie unkontrollierbar er als Sheinux und Luxio war. Raphaels Training hat sich eindeutig bezahlt gemacht. „Dann lass mal dein Gott-Pokémon sehen“, meint Gen. „Zu einem kleinen Kampf kann ich dich wohl nicht überreden, oder?“ Ich rufe Gott, der sich vor mir materialisiert und bei der Menge an Fremden sofort seine Ohren anlegt und kampflustig knurrt, seinen Körper eng an den Boden gedrückt. Wir beide wissen, wer in einem Kampf den Kürzeren ziehen würde.  „Nie im Leben.“   Das Pokémonareal liegt nur etwa fünf Minuten zu Fuß von dem Hotel entfernt und besteht aus einer Parkanlage, die in Sektoren unterteilt ist. Am Eingang, einem hohen Torbogen mit Absperrung und einem Platzwärter, müssen wir unsere Trainer-IDs vorzeigen und eintragen, welche Pokémon wir abgeben wollen. Nachdem Ggen und Raphael dem jungen Mann ein Autogramm auf seine Cappi gegeben haben, gibt er den Beiden je fünf größenverstellbare Halsbänder mit ihrer Trainer-ID und einem elektronischem Chip. Hinter dem Eingang führt ein Kiesweg zu dem Gebäudekomplex, der die Areale in einer zu uns geöffneten U-Form umschließt und Sitzreihen und Stehplätze bietet, falls man den Pokémon zusehen möchte. Außer uns sind kaum Trainer anwesend, aber auf dem Wiesensektor tummelt sich bereits eine beachtliche Anzahl von Pokémon. Hauptsächlich Normal- und Pflanzentypen sind vertreten, aber auf einige andere Typen, deren Bedürfnisse weniger speziell sind, als dass sie in den Wassersektor oder die unterirdischen Gänge gebracht werden müssen. Nachdem ich Penny, Murphy und Raphaels andere Pokémon ausgiebig begrüßt habe, lassen wir die Zehn zurück und verlassen das Pokémonareal. Die Sonne steht inzwischen hoch am Himmel und öffne meine Jacke ein Stück, während wir weiter der Straße folgen, unsere drei Pokémon dicht neben uns. Das flache Gelände ist sehr übersichtlich und so erkenne ich die Liga und das dahinter liegende Stadion schon von weitem. Mehr und mehr Menschen strömen uns in Kleingruppen entgegen und nicht wenige deuten auf uns oder bitten Raphael und Gen direkt um ein Autogramm. Gen hat ihre Fernsehmiene aufgesetzt: Niedlich mit der ein oder anderen spitzen Bemerkung und auch Raphael lächelt und macht Fotos mit seinen Fans, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber wann immer wir eine Pause von der Aufmerksamkeit haben, lässt er die Fassade fallen und seufzt erschöpft. „Das wird eine stressige Woche…“, sagt er nach einer halben Stunde, während derer wir über zwanzig Mal stehen bleiben mussten. „Kopf hoch, Raph.“ Gen legt einen Arm um seine Schultern und tätschelt ihn. „Ab Mittwoch können wir uns in der VIP-Lounge verstecken und ganz auf die zehn reichen Pinkel konzentrieren, die dort sein werden.“ „Oh Gott.“ Ich werde langsamer. „Wird Ruth auch da sein?“ „Wer, die Rothaarige von eben?“ Gen zuckt die Achseln. „Wenn sie reich ist, bestimmt.“ „Zolwyk, oder?“, fragt Raphael nach. Ich nicke. „Die Zolwyks sind auf jeden Fall in der VIP.“ „Wäre ja zu schön gewesen…“   Abgesehen von den Menschengrüppchen, die uns noch einige Male aufhalten, erreichen wir die Pokéliga unbehelligt. Sie liegt nur etwa hundert Meter gegenüber dem Ausgang der Siegerstraße, die von einigen Wärtern bewacht wird. Die Liga selbst ist ein gigantisches Gebäude, mindestens zwei Stockwerke hoch und reicht weit nach Norden. Dichtes, grünes Gras voller Blumenbeete umschließt die Rot und Gold gehaltene Liga und hohe Tannen säumen den Weg, der zu ihrer Schwelle führt. „Können wir da rein?“, frage ich, aber Raphael schüttelt bedauernd den Kopf. „Früher durften alle Trainer eintreten, die die Siegesstraße hinter sich gebracht haben“, erklärt gen. „Heute liegt zwischen ihnen und der Liga die Championship. Nur die beiden besten erhalten am ende den Freipass, die Top Vier und den amtierenden Champion herauszufordern.“ „Niemand sonst darf sie betreten?“ „Nein.“ „Wie viele Teilnehmer sind es denn dieses Jahr?“, frage ich Raphael und er schaut sehnsüchtig zum Stadion, das wie ein großer Kessel gegen den Horizont aufragt. „Von dem, was Alfred sagt, sind 114 Anmeldungen eingegangen, aber nur knapp 90 sind durch die Siegesstraße gekommen.“ „Also 90 Trainer, die an den Blockkämpfen teilnehmen…“ „Davon werden 32 zu den KO-Kämpfen durchgelassen und die beiden Sieger erhalten den Schein“, fährt Gen fort. „Es ist ein extremes System, aber was will man machen, bei den Trainermassen.“ „Das heißt, nächstes Jahr können maximal zwei von den Favoriten durchkommen“, stelle ich fest und Raphael nickt grimmig. „Ich hab dich trotzdem lieb, Raph“, sagt Gen breit grinsend und klopft ihm auf den Rücken. „Also hass mich nicht, wenn ich dich aus dem Turnier kicke.“ Raphael schmunzelt nur, sagt aber nichts. Wie kann er so sicher sein, zu gewinnen? Ich denke an Louis, der vor jedem Kampf mit seiner Unsicherheit zu kämpfen hat. Raphael sagte, irgendwann kommt das Selbstbewusstsein von alleine, aber ich frage mich trotzdem, wann er so viel Vertrauen in seine Fähigkeiten und seine Pokémon erlangt hat. Wir sind schon halb an der Liga vorbei, als Dario die Ohren anlegt und leise knurrt. Raphael schaut sich automatisch um und hebt, als er nichts sieht, den Kopf. „Er ist früh.“ Gen schaut ebenfalls in den Himmel und schattet ihre Augen mit einer Hand ab. „Na sieh mal einer an.“ „Wer?“, frage ich, bevor ich ebenfalls nach oben schaue. Das grelle Sonnenlicht blendet mich, aber als ich die Augen zusammen kneife, kann ich einen dunklen Schatten am Himmel erkennen. „Dario mag sein Togekiss nicht“, erklärt Raphael, als Darios Knurren immer lauter wird und er einen Schritt nach vorne macht, den Kopf in den Nacken gelegt. „Shht.“ Dario legt die Ohren an, setzt sich aber gehorsam auf seine Hinterläufe. „Was macht er da?“, fragt gen nach einigen Sekunden. „Er verliert an Höhe.“ „Will er hier landen?“ Raphael kneift die Augen zusammen. Dann packt er mein Handgelenk. „Zur Seite, schnell. Er will hier runter.“ Wir machen hastig Platz auf dem Weg, während Richard sich auf seinem Togekiss immer weiter dem Boden nähert. Als ich schon sein Gesicht sehen kann, leuchtet Togekiss plötzlich in rotem Licht auf und verschwindet. Richy fällt weiter, bevor er mit einem lauten Knall in der Hocke einige Meter von uns entfernt auf der Straße landet. Als er sich langsam erhebt und umdreht, liegt nichts als unzerstörbares Selbstvertrauen in seinem Blick. Ein heftiger Wind erfasst seine offene Jacke und sein karamellbraunes Haar von hinten und weht beides wild peitschend um seinen Körper und sein Gesicht. Er zeigt die Zähne. „Yo.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)