Zwischenwelten von Minerva_Noctua (Ereri) ================================================================================ Kapitel 1: Rauschen ------------------- Er saß schon seit geraumer Zeit im Zug. Dumpf pochte die Klimaanlage in seinen Ohren, ein stetiges Summen, das man irgendwann ausblendete. Das Quietschen der Schienen und Rütteln war schwerer komplett zu ignorieren, aber nach zwei Stunden schaffte das Gehirn auch das. Es war sehr friedlich. Keiner im halbvollen Abteil sprach. Alle hörten Musik, lasen, dösten oder beschäftigten sich mit Laptops oder Tablets. Er selbst tat nichts davon. Er starrte unentwegt aus dem Fenster in die Dunkelheit. Seinem im Glas spiegelnden Gesichtsausdruck nach zu urteilen, mochte er über etwas anspruchsvolles grübeln oder sich über etwas ärgern. Seine mandelförmigen Augen starrten ausdruckslos vor sich hin und seine schmalen, geschwungenen Lippen vermittelten einen eher verkniffenen Eindruck. Der Wahrheit entsprach keine dieser Alternativen. Er dachte über nichts nach und empfand nichts außer Müdigkeit. Nachgedacht und geärgert hatte er sich, bevor er in das Flugzeug gestiegen war, das ihn in dieses Land gebracht hatte und als sein Anschlussflug wegen einem Streik gestrichen wurde, wodurch er zum Zugfahren gezwungen wurde. Der Grund seines Ärgers ließ sich in einem Wort beschreiben: Erwin. Erwin oder genauer gesagt Erwin Smith hatte ihn dazu „überredet“ eine Stelle in seiner Einheit anzunehmen. Es war eine neugegründete Spezialeinheit der Polizei, die ganz am Anfang stand und dazu auserkoren sein sollte die Grenzen Europas zu sichern und terroristische Akte innerhalb des Landes abzuwenden. Die Vereinigten Staaten von Europa standen wirtschaftlich mittlerweile an erster Stelle und hatten viele Feinde und Neider. Die Armutszuwanderung war ein großes Problem und in den Anrainerstaaten organisierten sich immer radikalere Gruppierungen mit politisch fragwürdigen Gesinnungen. Es gab bereits fünf kleinere Selbstmordattentate an historisch oder kulturell bedeutenden Plätzen in verschiedenen Bundesstaaten Europas. Die gewöhnlichen Sicherheitskräfte waren überfordert. Eine neue Spezialeinheit würde demnach tatsächlich Sinn machen. Und er sollte bei der Ausbildung der ersten Rekruten das Kommando übernehmen. Sicherlich kein schlechter Job. Der Zug ruckelte als ein anderer Hochgeschwindigkeitszug wütend an ihm vorbeifauchte. Ein Gong ertönte und die automatisierte Frauenstimme kündigte den nächsten Stopp in fünf Minuten an. Kaum einer hörte die Durchsage, ihre Ohren waren mit Musik verstopft. Lustlos stand er auf und streckte seine steifen Beine und Arme. Wie er es hasste so lange zu sitzen und er hatte noch eine Stunde vor sich. Er musste nun lediglich umsteigen. Er hoffte für Erwin, dass er dafür gesorgt hatte, dass ihn jemand vom Zielbahnhof abholte. Er hatte keine Lust um zwei Uhr morgens noch ein Taxi zu suchen. Er wollte verflucht nochmal in sein Bett getragen werden. Er nahm sein Gepäck aus dem oberen Staufach und ärgerte sich über die Höhe. Die Schlaufe seiner Tasche war zusammengesackt und er musste einmal leicht springen, um sie fassen zu können. Diese Welt war für Riesen gemacht. Und die Gänge für gepäcklose Skelette, denn er blieb bei seinem Weg zum Ausgang ungezählte Male an den Armlehnen anderer Sitze hängen. Es war ihm egal, dass er dabei Leute streifte. Er konnte nichts für diese Misskonstruktion. Die kalte Januarluft war erfrischend und weckte ihn ein wenig auf. Eines musste man den Deutschen lassen, die Beschilderung war übersichtlich und er fand sich sofort gut zurecht und seinen nächsten Zug. Unerklärlicherweise war dieser jedoch geradezu überfüllt, sodass er keinen Sitzplatz mehr fand. Der Tag war wirklich fantastisch. Erwin würde ihn zum Essen einladen müssen. Mindestens. Dieser Bastard. Wegen ihm musste er jetzt eine Stunde lang stehen. Erwin war älter als er und damals schon Offizier gewesen, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Ihm hatte er seine militärische Laufbahn zu verdanken gehabt und nun versuchte dieser sture Hund wieder ihn zu fördern. Das verärgerte ihn genauso wie es ihm schmeichelte. Erwin war im Grunde der einzige seiner Kameraden, der ungebrochen an ihn glaubte und sich nicht durch unschöne Worte und miesem Verhalten verprellen ließ. Er war der Einzige, der ihn verstand. Mit einer Viertel Stunde Verspätung trat er schließlich auf den Bahnsteig des Münchner Hauptbahnhofs. Bis auf seine Mitfahrer war es recht leer und ihm fielen sofort die zahlreichen Sicherheitskräfte mit Maschinengewehren auf. Er blinzelte zweimal als zu seiner linken ein stattlicher Mann mit kurzen blonden Haaren und stahlblauen Augen auf ihn zuschritt. „Levi!“, grüßte er ihn mit einem eloquenten Lächeln und blieb vor ihm stehen, um ihm die große Hand zu reichen. Er ignorierte die Hand und blickte dem Mann direkt in die ehrlichen Augen. „Ich bin gerade eine Stunde lang gestanden. Wo ist dein Fahrzeug?“ Der Mann lachte und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Komm, hier entlang. Ich fahr dich zu deiner Unterkunft.“ Sie verließen den Hauptbahnhof und bogen in eine Seitenstraße, wo sie vor einem honiggelben Sportwagen stehenblieben. „Was ist das?“, fragte Levi spitz und betrachtete das Auto als sei es ein Ungeziefer. „Das ist mein Maserati.“ Levi blinzelte abermals, machte auf dem Absatz kehrt und ging davon. Natürlich hielten ihn kräftige Finger um seinem Handgelenk auf. „Ach komm schon. So schlimm ist die Farbe auch nicht.“ Levi drehte sich um, wobei er sich ohne weiteres aus dem Griff befreite. „Meine Augen schmerzen und mir steigt die Übelkeit auf, dabei ist es hier dunkel.“ „Das Leder innen ist schwarz. Da wird es dir besser gehen“, erwiderte der Mann keck und entriegelte das Fahrzeug, um die Türe zur Rückbank zu öffnen, damit Levi sein Gepäck ablegen konnte. Honiggelb. Levi stieß verächtlich die Luft aus. Das war Erwin. Sie stiegen ein und schnallten sich an. „Von innen ist es erträglich.“ „Warte nur bis du den Motor hörst“, grinste Erwin und ließ das Fahrzeug an. Der Motor schnurrte tief, obwohl das Getriebe der Fahrzeuge heutzutage fast lautlos arbeitete. „Das Auto ist gut. Daran zweifle ich nicht, nur an deinem Verstand“, erklärte Levi trocken. „Wenigstens wird mir niemand den Wagen stehlen.“ Erwin zuckte mit den Schultern und parkte aus. Levis Augen blitzten auf und ein selten amüsiertes Lächeln umspielte seine Lippen. Er lehnte sich zurück in den bequemen Ledersitz und beobachtete mit gesenkten Lidern den Straßenverkehr. Erwin fuhr schnell und sanft. Levi entspannte sich allmählich. „Die Eierheizung hätte ich im letzten Zug gebraucht. Der war abgefuckt, kalt und überfüllt.“ „Das war ein unglücklicher Zufall, dass ausgerechnet heute der Warnstreik in Frankfurt stattfinden musste. Eigentlich waren die Tarifverhandlungen schon abgeschlossen. Wenn ich das geahnt hätte, hätte ich nach einer anderen Flugverbindung gesucht.“ „Hm.“ Sie schwiegen die restliche Fahrt über. Es war angenehm. Um drei Uhr morgens standen sie vor dem streng bewachten Wohnkomplex, in dem alle Mitglieder und Rekruten ihrer Spezialeinheit untergebracht waren. Man kam nur per Augenscan durch und vier schwer bewaffnete Polizisten kontrollierten ihre Fingerabdrücke und Ausweise. Das Fahrzeug wurde in einer separierten Parkgarage abgestellt. Sie mussten zu Fuß das Gelände betreten. Erwin führte ihn einige Minuten durch die begrünte Anlage zu einem der je vierstöckigen Gebäude im Blockhausstil. „Du wohnst im Dachgeschoss. Im dritten Stock wohne ich und zwei weitere Kameraden im Ersten und Zweiten. Im Erdgeschoss befindet sich eine Gemeinschaftsküche und ein Gemeinschaftsraum mit TV- und Musikanlage. Im Keller findest du einen Fitnessraum mit Sauna.“ „Edel geht die Welt zugrunde.“ „Keine Sorge, das Essen entschädigt dafür.“ „Fantastisch.“ Levi rollte mit den Augen. Erwin stieg mit ihm die Treppen empor und sperrte die Wohnungstür auf, ehe er Levi den glänzenden Schlüssel übergab. Er ließ Levi zuerst eintreten und betätigte den Lichtschalter. Gleißendes Licht durchflutete das Appartement. Levi schnalzte mit der Zunge. Die Einrichtung war hochwertig und schlicht. Er ging ein paar Schritte hinein und strich mit den Fingern über die Küchentheke. Es war sauber. Levi nickte. „In Ordnung. Es müsste alles da sein. Falls du etwas brauchst, mach eine Liste. Um 7:00 Uhr ist Frühstück. Ich hole dich fünf vor ab.“ Das waren nicht mal vier verfickte Stunden. Levi nickte und ging tiefer in die Wohnung hinein. Er hörte die Wohnungstür klicken und die automatische Verriegelung. Levi suchte das Schlafzimmer und zog sich aus. Er machte sich nicht mehr die Mühe auszupacken, sondern legte seine Kleidung zusammen und deponierte sein Gepäck neben der Tür. Eine weitere Türe führte direkt ins weiß geflieste Badezimmer, wo er sich eine ausgiebige Dusche gönnte und die Zähne putzte. Dann legte er sich nackt ins Bett und seufzte zufrieden, als er die Nase in die frische Bettwäsche presste und sich fest in die weiche Decke wickelte. Er war so erschöpft, dass er sofort einschlief. *** Erwin war noch nicht den letzten Absatz ganz emporgestiegen, als Levi die Wohnungstür öffnete und ihm entgegenkam. „Guten Morgen! War das Bett zu deiner Zufriedenheit?“ Levis Gruß und Antwort beschränkte sich auf ein Zucken der rechten Augenbraue. Er war müde und dieser Tag nervte ihn seit er wusste, dass er hier anfangen würde. Erwin störte sich nicht daran und schwieg. Er führte ihn aus dem Gebäude. Vor ihm lag ein graugepflasterter Gehweg und andere teuer aussehende Wohnkomplexe. Linker Hand waren die Unterkünfte der Rekruten. Ein großes, klobiges Gebäude. Rechts waren die Gebäude und das Gelände, wo die Rekruten ausgebildet werden würden. Eine hohe und streng gesicherte Mauer schirmte den gesamten Komplex von der Außenwelt ab. Er war sehr groß, modern und völlig überzogen. Sie gingen in die Mensa und benutzten augenscheinlich eine Hintertüre. Es war relativ kühl in dem Gebäude, mehr nahm er im ersten Moment nicht wahr, denn die Zeit blieb stehen. Zwei Arme legten sich fest um seinen Hals, als sich der schlanke Körper an ihn drückte. Ein hysterisch-glückliches Lachen schmerzte direkt neben seinem Ohr und ihr Duft stieg ihm in die Nase. Sie umarmte ihn nur kurz. Zu kurz, um zu reagieren. „Hanji.“ Die Erkenntnis traf ihn eiskalt und unvorbereitet. Sie grinste ihn bloß treudoof und euphorisch an. Sie hatte mit keiner anderen Reaktion gerechnet. Levi starrte sie weiterhin an. Er hätte niemals gedacht, dass sie sich wiedersehen würden. Aber gut, gestand er sich ein, er hätte auch niemals damit gerechnet nach allen vergangenen Geschehnissen von Erwin ein solches Angebot zu bekommen, geschweige denn, dass er selbst dieses auch annehmen würde. „Hanji wird den theoretischen Teil der Ausbildung leiten und die Rekruten auf ihre psychischen Fähigkeiten hin aussortieren“, erklärte Erwin mit einem amüsierten Schmunzeln. „Ich dachte, die Rekruten seien einem adäquaten Auswahlverfahren unterzogen worden?“ So funktionierte Levis Gehirn, wenn er emotional überfordert wurde. „Ich habe jeden Einzelnen persönlich ausgesucht.“ Levi verdrehte die Augen und auch Hanji lachte, während sie ihm den Arm um die Schultern legte und ihn einen schmalen Gang entlang bugsierte, der zu den separierten Tischen der Ausbilder führte. „Du kannst dir vorstellen wie breit das Spektrum ist. Erwin hat schon dafür gesorgt, dass uns nicht langweilig wird. Du reibst sie im Feld auf und ich seziere sie. Wer übrig bleibt, geht mit uns die bösen Buben kastrieren.“ „Wenn die Rekruten so verwöhnte Pisser sind, wie dieser Komplex vermuten lässt, können wir uns gleich selbst ans Messer liefern.“ „Ich bin davon überzeugt, dass sie dir gefallen werden, Levi.“ Erwin sah ihn entschlossen an. Levi kannte diesen überzeugten Ausdruck in den blauen Augen. Er ließ ihm keinen Raum für Diskussionen. Ihr Tisch war auf einem Podest im letzten Viertel der Mensa und einige Ausbilder saßen bereits, aßen und plauderten. Sie machten Anstalten sich zu erheben, als sie Erwin sahen, doch er hob die Hand, um ihnen zu bedeuten sitzen zu bleiben. „Ich möchte euch General-Leutnant Levi Rivaille vorstellen. Er wird die praktische Ausbildung der Rekruten leiten und überwachen“, stellte Erwin ihn vor und wies ihm dann den Platz zu seiner Rechten zu. Hanji setzte sich zu Erwins Linken und vor ihn. Sie grinste ihn unablässig an und freute sich über ihn. Die Kollegen beobachteten ihn teils abschätzend, teils überrascht, tuschelten. Er wusste nicht was schlimmer war. Obwohl es eine Mensa war, war der Tisch üppig gedeckt. Er nahm an, dass es sich um eine Ausnahme handelte und machte sich keine weiteren Gedanken darüber. Er griff nach einer Semmel und aß sie mit Tomaten, Mozzarella und Essig. Zumindest das schmeckte. Beim Schinken wollte er es nicht unbedingt riskieren, obwohl Hanji sich damit vollstopfte. Aber sie hatte auch einen Magen wie ein Schwein. „Guten Morgen, sorry, dass ich spät bin. Ich hab verschlafen.“ Levi lief ein Schauer über den Rücken und er blickte in die verschmitzt blitzenden Augen von Mike Zacharias. Er war ebenfalls ein Kamerad von früher gewesen. Allerdings hatten sie nie eng zusammengearbeitet. Er kannte ihn vor allem als Erwins Freund. „Hey, Mann! Lange nicht gesehen. Drei Jahre sind es nun, oder?“ Mike reichte ihm freundlich die Hand, als er sich neben ihn setzte. „Vier“, Levi wandte sich Erwin zu, „Noch jemand?“ Erwin schmunzelte. „Nein, das sind alle, die du kennst. Deswegen habe ich sie im selben Haus einquartiert. Ich wollte keine Unstimmigkeiten.“ „Unstimmigkeiten?“, hakte Levi pikiert nach, es klang drohend. Hanji lachte. „Na ja, alle anderen würden dich wahrscheinlich aufknöpfen, wenn sie merken, was für ein Sauberkeitsfanatiker du bist.“ „Ich glaube eher die Zahl der anderen würde sich rapide reduzieren“, kommentierte Mike und gab damit Anstoß zu einer scherzhaften Diskussion mit Hanji über Levis Macken, der die anderen Kollegen befremdet lauschten. Erwin frühstückte schweigend mit amüsiert zuckenden Mundwinkeln. Levi seufzte genervt und ignorierte die Idioten. Er würde seinen Job machen, nichts weiter. Es war ihm egal, was andere von ihm hielten. Der Geräuschpegel in der Mensa stieg mit der Anzahl der Rekruten, die sich niederließen und Levi beschloss in Zukunft der Erste zu sein. Er zog die Ruhe vor. *** Es waren 65 Rekruten. 47 Männer. 18 Frauen. Mit Glück würden 15 übrig bleiben. Zumindest war das das Ziel, doch Levi glaubte nicht, dass es so viele schaffen konnten. Sie standen zum Appell am Platz in Reih und Glied. Sie waren jung, Anfang bis Mitte Zwanzig, und blickten lächerlich ernst und selbstbewusst drein als wären sie schon wichtig. Sie waren es nicht. Kaum ein Mensch wurde wichtig. Ihre militärischen Uniformen waren schlicht und sauber. Sie trugen sie zum ersten Mal. Es waren keine Soldaten, nur ähnlich ausgebildete und qualifizierte Polizisten. Das würde sich nun ändern und während ein alter Ausbilder die Namen durchging, stieg Levi die Treppen der Trainingshalle hinab, von dessen Fluchttreppe aus er die Rekruten eine Weile ungesehen beobachtet hatte. Als der alte Ausbilder ihn entdeckte salutierte er überschwänglich. Was für ein Trottel. „General-Leutnant Rivaille!“ Die Rekruten salutierten korrekt, aber man sah ihnen an, dass sie es nicht gewohnt waren und ihn lieber anglotzen wollten, statt geradeaus zu sehen. „Weitermachen“, sagte Levi desinteressiert und ignorierte das beleidigte Zusammenziehen der Augenbrauen des Alten, der für seinen Salut wohl am Bauch gekrault werden wollte. Er schritt die Reihen entlang und musterte jeden einzelnen Rekruten. Er sah Irritation, Überraschung oder stille Entschlossenheit in ihren Augen. „Warum bist du hier?“, fragte er einen blonden Jungen, der etwas verschreckt wirkte. „Ich bin hier, um dem Staat zu dienen, Sir“, antwortete der Junge laut und als ob er sich selbst davon überzeugen wollte. Levi starrte ihm direkt in die verunsicherten blauen Augen. Er kam ganz nah an ihn heran und sprach vollkommen ruhig. „Und wer ist der Staat, du kleiner Wurm? Glaubst du, du erlangst Ruhm, Reichtum und Weiber, wenn du deinen Arsch eine Weile im Namen des Staates hinhältst?“ Dem armen Kind entgleisten sämtliche Gesichtszüge, aber er brachte immerhin eine Antwort zustande. „N-Nein, Sir. Ich will mein Leben den Menschen widmen, um ihnen eine sichere Zukunft zu ermöglichen.“ „Dann hättest du in die Politik gehen sollen“, erwiderte Levi trocken und ließ von ihm ab. Erwin hatte sich bestimmt etwas bei der Auswahl dieses Bürschchens gedacht. Ein lautes Magenknurren ließ ihn erneut inne halten. Er sah in das verkniffene Gesicht einer braunhaarigen Frau mit Pferdeschwanz. Wieder knurrte ihr Magen laut, was sie noch verkniffener gucken ließ. Levis Augenbraue zuckte. „Hast du nichts gefrühstückt?“ Er hörte belustigtes Schnauben von den anderen Rekruten. „Nein, Sir. Also doch, Sir. Aber...“ „Aber?“ „Aber es war nicht genug, Sir.“ Diesmal lachten einige leise, was durch ein nochmaliges Magenknurren zusätzlich angeheizt wurde. „Warum war es nicht genug?“ „Ich habe verschlafen und dann nur noch Zeit für eine Salamisemmel gehabt... Sir!“ Ihre Mimik und Sprache amüsierten Levi. Er wollte sie nicht quälen, dafür würden schon ihre Kameraden sorgen. „Wenn du so verfressen bist, solltest du dich daran gewöhnen Staub zu fressen. Bis heute Abend gibt es für dich nichts anderes mehr.“ Auch ihre Gesichtszüge entgleisten und Tränen benetzten ihre Augen. Was für ein Exemplar. Er suchte sich als nächstes einen schlanken, großen Jungen aus. Er wirkte wie ein Schnösel. „Hast du dich verirrt, Prinzchen?“ „Nein, Sir. Ich bin hier genau richtig", antwortete er selbstbewusst. „Wie ist dein Name?“ „Jean Kirschstein, Sir.“ „Ein Jude, was? Ich finde Prinzchen passt besser zu dir. Was willst du mal werden, wenn du groß bist?“ „Verteidigungsminister.“ Unheil spiegelte sich in Levis Augen. „Und da dachtest du, dass sich dieser Job hier gut im Lebenslauf macht.“ Levi wartete gar nicht erst auf eine Antwort und ging weiter. Diesem Schnösel würde nach den ersten Ausbildungstagen der Arsch auf Grundeis gehen, wenn das sein einziges Ziel war. Levi machte noch einem Jungen mit kurz geschorenen Haaren namens Connie Springer das Leben schwer, weil der Idiot seine Uniform falsch zugeknöpft hatte, beschränkte sich ansonsten auf musternde Blicke. Menschen gut einzuschätzen fiel ihm leicht. Er konnte sich bereits die Rangordnung der Rekruten untereinander herleiten und war gespannt darauf, wer die erste Woche überstehen würde. Danach konnte man sagen, wer Potenzial hatte. Der Rest würde das Handtuch werfen oder rausgeschmissen werden. *** Montag bis Samstag 06:00 Uhr: Aufstehen 07:00 Uhr: Frühstück 08:00 Uhr: Appell 08:10 Uhr: Krafttraining 10:00 Uhr: Ausdauertraining 12:00 Uhr: Mittagessen 14:00 Uhr: Theorie 19:00 Uhr: Abendessen 22:30 Uhr: Nachtruhe Sonntag frei Levi überflog den Ausbildungsplan der Rekruten am Abend. Er hatte den ersten Tag damit verbracht die Kollegen und Rekruten zu beobachten. Selbst in den Theoriestunden von Hanji und Mike war er gewesen. Er wollte sich einen allgemeinen Überblick verschaffen. Was er hier sah war der letzte Witz. Was sollte er den Kindern in bloß vier Stunden täglich beibringen? Das reichte gerade, um ihre Konstitution zu halten, aber nicht, um sie ernsthaft fit für ihre Einsätze zu machen. Natürlich wusste er, dass sich die Ausbildung über 18 Monate à 6 Einheiten erstreckte und der Ausbildungsplan alle drei Monate modifiziert wurde, um die Rekruten intensiv und umfangreich zu schulen, dennoch glaubte Levi nicht daran so zum Erfolg zu gelangen. Daher klopfte er um zehn Uhr abends noch an Erwins Wohnungstür, die ihm bereitwillig geöffnet wurde. Erwin stand im grauen Pyjama vor ihm und ging einen Schritt zur Seite, um ihn hineinzulassen. Er schien milde überrascht. „Ich dachte, du schläfst bereits.“ „Wie soll ich mit dem Fraß im Magen schlafen, den ihr hier verfüttert.“ „Ich habe dir ja angekündigt, dass das Essen schlecht sein würde.“ „Ihr spart am falschen Ende.“ Levi folgte Erwin ins Wohnzimmer. Sie setzten sich auf eine schwarze Ledercouch, wo er Erwin wortlos den ausgedruckten Ausbildungsplan übergab. Er hatte daneben seine Vorstellung eines Trainingsplans geschrieben. Montag bis Freitag 05:00 Uhr: Aufstehen 05:15 Uhr: Ausdauertraining 06:30 Uhr: Pause 07:00 Uhr: Frühstück 07:30 Uhr: Appell 07:35 Uhr: Theorie 09:00 Uhr: Ausdauertraining 11:45 Uhr: Pause 12:00 Uhr: Mittagessen 13:00 Uhr: Theorie 15:00 Uhr: Parcours 17:00 Uhr: Gymnastik 18:00 Uhr: Theorie 19:00 Uhr: Abendessen 21:00 Uhr: Nachtruhe Samstag 06:00 Uhr: Aufstehen 07:00 Uhr: Frühstück 08:00 Uhr: Appell 08:10 Uhr: Theorie 12:00 Uhr: Mittagessen 13:30 Uhr: Feldtraining 18:30 Uhr: Pause 19:00 Uhr: Abendessen 22:00 Uhr: Nachtruhe Sonntag Eine Stunde Schwimmen zwischen 08:00 Uhr und 12:00 Uhr Erwin studierte seinen Plan genau und bedachte ihn anschließend mit gerunzelter Stirn. „Parcours und Feldtraining kämen ab der zweiten Einheit dran und es erinnert mich eher an einen militärischen Ausbildungsplan. Levi, es sind keine Soldaten.“ „Deswegen sind es auch keine Menschen dritter Klasse. Du hast mich geholt, um sie auszubilden. Das ist der Plan, nach dem ich sie ausbilden werde. Entweder du segnest das ab oder ich gehe wieder.“ Erwin blickte ihm direkt in die Augen. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte mit ihm darüber zu diskutieren. „Du bringst mich in Teufels Küche.“ „Dann erkläre den Arschlöchern, die du lecken musst, dass die Terroristen, mit denen wir es zu tun haben werden, weitaus gefährlicher sind als feindliche Soldaten. Sie sind fanatisch, hervorragend organisiert und völlig von ihrer Mission überzeugt. Und nein, es sind und werden keine Soldaten. Diese Gören müssen besser ausgebildet werden als Soldaten.“ Erwin seufzte. Es hatte einen nachgebenden, zuerkennenden Klang. „So einen Trainingsplan kann man bei 200 Rekruten erstellen - ich gehe davon aus, dass die nächsten Einheiten auch dieses Niveau abverlangen - und nicht bei 65. Levi, es müssen mindestens 15 die Ausbildung meistern.“ „Wenn du nicht nur Schrott ausgesucht hast, werde ich mich darum bemühen die Rekruten so gut zu fördern wie ich kann.“ „Ich werde den Plan den anderen Ausbildern zukommen lassen.“ „Ich möchte ab Mittwoch mit diesem Plan arbeiten. Ich werde mich persönlich um sie kümmern.“ „Das wirst du müssen, denn die anderen Ausbilder werden streiken.“ „Ich bin hier, um zu arbeiten“, erwiderte Levi trocken. Und wenn das hieß, er müsse alle praktischen Aufgaben alleine mit den Rekruten durchnehmen, dann war das auch kein Problem für ihn. Er hielt sowieso nicht viel von den voreingenommenen Polizisten, die meinten, sie müssten einen Klassenkampf gegen Erwin, Mike, Hanji und ihn führen, weil sie Militärs waren. „In Ordnung. Ich nehme an, du wirst morgen nur Beobachter spielen“, lächelte Erwin milde. Levi nickte und stand auf. Er wollte Erwin nicht weiter stören. „Wenn du möchtest, kannst du noch ein wenig bleiben. Wir hatten noch keine Gelegenheit zu reden“, schlug Erwin mit sanfter Stimme vor, was Levi innerlich zusammenzucken ließ. „Das tun wir gerade“, blockte er schroff ab. „Levi“, seufzte Erwin. Eigentlich waren sie Freunde. „Wir werden uns noch eine Weile sehen, nicht?“, lenkte er mit desinteressierter Stimme doch noch ein. „Sicher“, lächelte Erwin befriedet und legte seine Hand auf sein Schulterblatt, als er ihn zur Wohnungstür begleitete. Sie wünschten sich eine gute Nacht und Levi verdrängte gekonnt das hohle Gefühl in seiner Brust, als er alleine in dem hübschen Appartement stand, in dem er wohnen durfte. Es war ihm alles etwas zuviel. Erwin und Hanji wiederzusehen. Ihr Interesse an ihm. Die Freude über ihn. Er verdiente das alles gar nicht. Nicht nachdem, was er vor fast vier Jahren getan hatte. *~* Am Abend zuvor war ihnen erklärt worden, dass sie am nächsten Tag um Viertel nach fünf auf dem Sportplatz zu stehen hätten und ein neuer Ausbildungsplan war ihnen ausgeteilt worden. Ihnen wurde nicht offiziell gesagt, weshalb nach den ersten zwei Tagen der Ausbildung ein neuer Plan aufgestellt wurde, der alles auf den Kopf stellte, aber beim Abendessen hatten einige von ihnen ein paar Ausbilder lästern hören. Der Name Levi Rivaille war gefallen und sie schienen nicht einverstanden mit seiner Anwesenheit und Einmischung zu sein. Die Begeisterung der Rekruten hielt sich entsprechend in Grenzen, nachdem einige von dem General-Leutnant vorgeführt worden waren und der neue Plan verglichen mit ihren Gewohnheiten die pure Hölle war. „Eren! Komm! Wenn wir zu spät kommen...“ Die Stimme seines besten Freundes holte ihn aus seinem tranceartigen Zustand und er knöpfte schnell seine Jacke zu. „Bin schon da“, erwiderte er mit einem müden Lächeln. Er folgte Armin aus ihrem gemeinsamen Zimmer und traf dabei auf andere Rekruten, die schlaftrunken oder bemüht neutral den Gang und die Treppe runtergingen. Ihr Wohngebäude war in mehrere Wohneinheiten aufgeteilt, wo je Zwei in einem Zimmer wohnten und sich mit sechs weiteren Leuten Küche und Bad teilten. Armin und er lebten noch mit Connie Springer, Thomas Wagner, Sasha Braus, Annie Leonhardt, Marco Bott und Jean Kirschstein zusammen, wobei letzterer Eren überhaupt nicht sympathisch war. „Ich hab gehört, dass dieser Rivaille vor vier Jahren das Handtuch beim Militär geworfen hat und dann untergetaucht ist“, flüsterte Marco Jean zu, der schnaubte. „Dieser antisemitische Dreckskerl-“ „Jean!“, unterbrach Marco ihn etwas entsetzt, „Du kannst doch nicht so reden! Außerdem glaube ich nicht, dass es für ihn eine Rolle spielt, welcher Religion du angehörst.“ „Ja“, mischte Connie sich in das Gespräch der Beiden ein, „Du hast halt einen jüdischen Namen.“ „Und was ist an meinem Namen jüdischer als an deinem?“, wollte Jean gereizt wissen. „Ich bin evangelisch“, grinste Connie aufgeweckt. „Was hat das denn mit dem Ursprung deines Namens zu tun?“ Genervt schnaubte Jean und sah auf den viel kleineren Connie hinab. Der wollte gerade etwas erwidern, als er auf der Treppe angerempelt wurde und eine Stufe herunterrutschte, nur mit Glück nicht fiel. „Hey! Kannst du denn nicht aufpassen?“, rief er wütend dem Rempler hinterher. Dieser drehte sich schwungvoll um, woraufhin er und die anderen beiden Jungs zusammenzuckten. Ein blasses, völlig zerknautschtes Gesicht mit leidender Miene sah ihnen entgegen. „Wat? Hadtdu wat gesagt?“, nuschelte es und sie erkannten Sasha, die vom General-Leutnant am ersten Tag wegen ihres Magenknurrens angesprochen worden war. „Vergiss es“, erklärte Connie wild gestikulierend und ließ sie weiterziehen, wobei sie ständig etwas von „Frühstück“ und „unmenschlich“ vor sich hin murmelte. „Oh Mann, die sah aus wie aus einem Horrorfilm“, schauderte Connie, was die anderen zum Lachen brachte. Eren ignorierte ihr Gerede als sie in die eisige Morgenluft traten. Es lag kein Schnee, aber der Boden war gefroren und etwas glatt. Die Lampen am Wegrand tauchten die Umgebung in ein kaltes, unwirkliches Licht. Der Sportplatz lag hinter ihrem Wohnkomplex und war ebenfalls in grelles Licht getaucht. Sie wurden bereits erwartet. Es war nicht schwer die Silhouette zuzuordnen und unwillkürlich begannen alle einen Takt schneller zu gehen und sich brav in Reih und Glied aufzustellen. General-Leutnant Rivaille persönlich und allein stand vor ihnen. Anders als sie trug er keine Uniform, sondern gemütlich aussehende, graue Trainingskleidung, einen Schal, Handschuhe und eine Mütze. Das änderte jedoch nichts an seinem Ehrfurcht gebietenden Auftreten. Rivaille ging ein paar Schritte auf sie zu. Er war recht klein für einen Mann, aber jede seiner Bewegungen war kraftvoll und geschmeidig. Sie erinnerten Eren an eine Raubkatze. Er strahlte etwas selbstbewusstes, respekteinflößendes aus. Das konnte man nicht ignorieren, egal wie wenig ihn alle mochten, nachdem er einige am ersten Tag blöd angeredet hatte - darunter auch Armin, Erens besten Freund, der als erstes gescholten worden war und es seiner Ansicht nach überhaupt nicht verdiente. „Guten Morgen Ladies and Gentlemen. Wir beginnen gleich mit ein paar Dehnübungen und dann werden wir bis 06:30 Uhr joggen“, begrüßte Rivaille sie. Obwohl seine Stimme ein sehr angenehmer Bariton war, brachte er es fertig kalt und desinteressiert zu klingen. Es machte ihn nicht sympathischer, aber einschüchternder. Eren wunderte sich über die Wortwahl des General-Leutnants und sah an den zusammengezogenen Augenbrauen seines Nebenmanns, dass der ebenso irritiert war. Wir? Und tatsächlich fing Rivaille damit an sich zu dehnen. Sie rückten alle ein paar Schritte auseinander und machten ihm die Übungen nach. Da Eren ziemlich in der Mitte in der ersten Reihe stand, hatte er perfekte Sicht und schaute nicht schlecht, als Rivaille während den Dehnübungen einen Quer- und Seitspagat machte. Letzteres konnte Eren und wohl die meisten seiner Kameraden auch, beim Querspagat setzte es jedoch aus. Zwischen ihm und dem Boden lagen sicherlich noch gut 15 Zentimeter. Ähnlich schwierig wurde es bei der Brücke. Rivaille ließ sich problemlos im Stand nach hinten sinken und stemmte die Hände am Boden ab, sodass sich sein Rücken mustergültig durchbog. Eren gelang das nur aus der Hocke und selbst da zog es unangenehm in seinen Armen. Er schien nicht der Einzige zu sein, der mit der Gelenkigkeit ihres General-Leutnants leicht überfordert war, denn es rumpelte einige Male in ihren Reihen, als Kameraden zu Boden fielen oder sich nicht mehr halten konnten, was für Unruhe sorgte. Einige lachten leise spöttelnd vor sich hin oder lästerten von wegen, ob sie in einem Yoga-Kurs seien. Die unnachgiebige Stimme Rivailles ließ sie alle wieder verstummen: „Mir nach!“ Er lief los und sie alle in Zweierreihen hinter ihm her. Sie joggten in einem ziemlich hohen Tempo gleichmäßig Runde um Runde auf der Rennbahn des Sportplatzes und obwohl Eren sehr gut trainiert war, machte ihm sein leerer Magen und die schneidende Kälte nach einiger Zeit schwer zu schaffen. Der Schweiß kühlte seinen Körper, sodass er bald fror wie Espenlaub und sich Handschuhe und Mütze herbeisehnte. Jetzt verstand er die Kleidung des General-Leutnants und ärgerte sich darüber, dass ihnen zuvor nicht Bescheid gesagt worden war. Die Runden schienen sich ewig hinzuziehen und ihr Atem wurde immer lauter und gehetzter, aber bis auf ein paar Fehltritte gelang es ihnen das gleichmäßige Tempo zu halten. Umso erleichterter waren sie, als Rivaille langsamer wurde und auslief. Sie folgten ihm zurück zu der Stelle, wo sie sich aufgestellt hatten und reihten sich wieder auf. Zitternd, hungrig und müde atmeten sie tief ein und aus, während sich ihre Blicke auf den General-Leutnant richteten, der sie mit dieser desinteressierten, unleserlichen Miene betrachtete, die man ihm am liebsten aus dem Gesicht wischen mochte. „Wie Sie bemerkt haben werden, meine Damen und Herren“, begann Rivaille spöttisch, „können Sie nun Ihre Uniformen in die Wäsche treten. Ich mache Sie darauf aufmerksam“, erläuterte er und ging dabei vor ihnen auf und ab und blickte jedem von ihnen direkt ins Gesicht, „dass ich die Viertelstunde zwischen Aufstehen und Training angesetzt habe, damit Sie Ihre Ärsche aus dem Bett schieben und hier herkommen und nicht, um sich vorher hübsch zu machen. Es ist mir scheißegal, ob Sie gekämmt, gewaschen oder geschminkt sind.“ Das Wort „geschminkt“ klang besonders verächtlich. „Zum Aufhübschen, meine Damen und Herren, haben Sie die halbe Stunde vor dem Frühstück Zeit und ich möchte vorsorgehalber betonen, dass jeder, der morgen früh nicht adäquat gekleidet ist, mit mir am Samstag und Sonntag von 05:00 Uhr bis 07:00 Uhr eine Extrarunde drehen wird.“ Ein Schnauben ging durch die Reihen. Zu Erens Schrecken traute sich tatsächlich einer direkt hinter ihm den Mund aufzumachen. „Entschuldigen Sie, Sir! Aber man hatte uns nicht über die Kleiderordnung informiert, Sir!“ Eren erschauderte, als sich Rivailles Augen direkt neben hinter ihn richteten und ein unheilvolles Blitzen durch sie hindurchzuckte. Obwohl es nicht ihm galt, verkrampften sich all seine Muskeln, als Rivaille auf ihn zuschritt. Er bemühte sich weiter geradeaus zu blicken, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, doch als Rivaille fast neben ihm war, zuckten seine Augen kurz zu ihm. Wieder war er überrascht davon, dass er fast einen halben Kopf kleiner war und dennoch so eine wahnsinnige Ausstrahlung besaß. Zu gern hätte er sich umgedreht, um zu sehen, wie der vorlaute Kamerad reagierte. Er hörte wie Rivaille stehenblieb und spürte förmlich die Spannung in der Luft. Er sah zu seinem Nebenmann, der ebenfalls zur Seite schielte, es jedoch ebenso nicht wagte den Kopf zu drehen. „Wie ist dein Name?“, erkundigte sich Rivaille scheinbar im normalen Plauderton. „Markus Nehring, Sir!“ „Gut, Markus. Wir sehen uns am Wochenende um 05:00 Uhr“, erklärte Rivaille sachlich. „Mit Verlaub, Sir, wären Sie so freundlich mir zu erläutern, weshalb Sie mir diese Maßnahme zuerkennen?“ Ein ungläubiges Schnaufen ging durch die Reihen, doch Rivaille schwieg einige Sekunden, die ihnen wie Minuten vorkamen. Eren begann sichtbar zu schlottern vor Kälte und hoffte, dass dieser Disput ein Ende nehmen möge. Irgendjemand nieste. „Nein, bin ich nicht. Da es dir scheinbar an dem nötigen Hirn fehlt, wäre es ohnehin verschwendete Zeit.“ Eren hörte Schritte und erschauderte, als er die ausstrahlende Wärme von Rivailles Körper spürte, als er an ihm vorbeiging. Er biss die Zähne zusammen, damit sie nicht zu klappern anfingen. „Sir!“, ertönte nochmals die Stimme dieses Markus, was nicht nur bei ihm ein genervtes Schnauben auslöste, „Wir sind hier nicht beim Militär. Sie müssen Ihre Maßnahmen begründen!“ Rivaille drehte sich gemächlich um. Seine Augen waren ausdruckslos und seine ganze Haltung entspannt. Keine Verärgerung. Keine Ungeduld. Nur stille Überlegenheit. „Keine Sorge. So egoistische Gören wie du werden auch nicht in die ESE kommen“, erwiderte Rivaille unbeeindruckt und drehte sich erneut um. „War das etwa eine Drohung?“ „Jetzt halt schon mal deine Fresse!“, keifte es ungehalten aus den hinteren Reihen, was mit zustimmendem Nicken und Schnauben bekräftigt wurde. Rivaille drehte sich noch einmal schwungvoll, diesmal um die eigene Achse, um ihnen nur einen kurzen Blick zuzuwerfen. Er entließ sie legere, ohne sie anzusehen beim Davongehen und mit denkbar unpassenden Worten. „Geht euch waschen oder braucht jemand auch zum Scheißen eine Anleitung?“ Doch Eren war das ziemlich egal. Er rannte sofort so schnell ihn seine steifen Glieder trugen zum Wohnkomplex zurück, dicht gefolgt von den anderen verfrorenen Kameraden. Es war kurz vor sieben. *** Sie schafften es kaum etwas herunterzuwürgen bis sie um halb acht zum Appell auf dem Platz erscheinen mussten, wo ihre Anwesenheit kontrolliert wurde und wo sie anschließend von Generaloberstabsärztin Hanji Zoë für die Theoriestunde abgeholt wurden. Zoë war eine sehr laute, temperamentvolle Frau, die eindeutig ein paar Räder locker hatte, aber es war amüsant mit ihr und sie schien Freude daran zu haben ihnen etwas beizubringen. In diesem Abschnitt der Ausbildung wurden ihnen Grundlagen gelehrt, sodass sie alle in einem großen Saal saßen, vornehmlich zuhörten und notierten. Auf dem Lehrplan standen Weltgeschichte, Weltpolitik, Grundzüge medizinischer Hilfeleistung und Psychologie, wobei sie nur am Samstag Psychologie haben sollten. Außer Zoë unterrichtete sie auch General-Leutnant Mike Zacharias, welcher die Ausbildung in Politik übernahm. Das meiste wussten sie bereits aus der Schule und der Polizeiausbildung, sodass die Theoriestunden relativ entspannt waren. Um 09:00 Uhr ging es jedoch schon wieder weiter und sie beeilten sich schnell zum Umziehen, um zum Ausdauertraining zu kommen. „Was sollen wir jetzt eigentlich anziehen?“, fragte Armin leicht panisch vorm Kleiderschrank stehend, „Felduniform oder legere Trainingsklamotten?“ Eren schmiss seine Hose aufs Bett und stellte sich dann ebenfalls vorn Kleiderschrank. „Ich ziehe mir Trainingsklamotten an. Ich bin immer noch völlig durchgefroren von heute früh und es ist windig.“ Zweifelnd beobachtete Armin, wie er sich die gemütlichen und vor allem warmen Klamotten aus dem Schrank zog und seufzte. „Wenn wir angeschrieen werden, bin ich wenigstens nicht alleine.“ Nicht nur Eren und Armin waren verunsichert gewesen, sodass sie als bunter Haufen zum Sportplatz marschierten - die einen mit, die anderen ohne Uniform. Zu ihrem völligen Entsetzen wurden sie dort bereits erwartet und zwar von keinem geringeren als dem General-Leutnant Rivaille, wieder ohne weiteren Ausbilder. Wo waren die anderen von den letzten zwei Tagen plötzlich hinverschwunden? Zu Erens und Armins Erleichterung stand Rivaille auch wieder in normalen Trainingsklamotten da, sodass sie wohl richtig entschieden hatten und im Stillen mit jenen litten, die ihre Ersatzuniform nun trugen. Sie stellten sich wieder auf und diesmal konnte man im Tageslicht das ganze nichtvorhandene Spektrum der Mimik des General-Leutnants sehen. Er schien nicht einmal von ihrem uneinheitlichen Auftreten Notiz zu nehmen. „Im Großen und Ganzen machen wir dasselbe wie in der Früh, nur mit mehr Variationen in den Tempi. Macht mir alles nach und lauft hintereinander“, verlautbarte Rivaille und begann sich zu strecken. Sie liefen zweiundeinhalb Stunden. Mal langsam, mal schnell, mal rückwärts. Es war der pure Horror, vor allem für diejenigen, die nicht warm angezogen waren. Eren fror diesmal nicht, kochte stattdessen und sehnte sich nach der zweiten Dusche an diesem Tag. Rivaille entließ sie pünktlich, auf beiden Seiten ohne Zwischenfälle. Fürs Mittagessen hatten sie fast eine Stunde Zeit, danach folgten zwei Stunden Theorie. Sie spürten deutlich, was sie heute schon getan hatten und bangten ein wenig auf den Parcours. Hierfür standen sie - diesmal alle in legeren Trainingsklamotten - wieder vor Rivaille auf dem Sportplatz. Zwei Drittel des Platzes war mit einem Hindernisparcours ausgestattet worden. Tunnel, Stacheldraht, Böcke, Reifen, Schwebebalken, Holzstämme, Kletter- und Holzwände würden ihnen die folgenden zwei Stunden zur Verfügung stehen. Rivaille machte ihnen vor, was sie zu tun haben würden und absolvierte dabei alle Übungen zügig und mit einer beispiellosen Eleganz. Es sah so einfach aus. Wie gesagt. Sah. Durch den Tunnel kriechen und unter Stacheldraht durchzurobben, bereitete Eren keine Schwierigkeiten. Auch über Böcke springen, durch Reifen laufen und über den Schwebebalken gehen konnte er gut. Den Handstandüberschlag über die Holzstämme schaffte er auch noch gerade so, aber bei der Kletterwand verließen ihn dann allmählich die Kräfte. Sie war fünf Meter hoch und man musste sich drei Meter hangeln, bevor man auf der anderen Seite wieder runterklettern durfte. Bei der 2,50m hohen, 90° steilen Holzwand brauchte er zwei Versuche, bevor er sich mit seinen 1,70m mühevoll drüber hieven konnte. Und das war erst der erste Durchgang. Bei 65 erschöpften Leuten dauerte es zwar, aber er kam im Laufe der zwei Stunden trotzdem ganze fünfmal dran. Diesmal beschränkte sich Rivaille aufs Beobachten. Nur einmal befahl er, dass sie einfach weitermachen sollten, wenn einer an der Holzwand stand und nicht drüber kam und nicht auf denjenigen warten mussten. Im Endeffekt schafften sie alle die Hindernisse und keiner gab auf, egal wie zittrig sich ihre Glieder anfühlten, als sie dem General-Leutnant in die große Turnhalle folgten, um dort Gymnastik zu machen - was auch immer man sich darunter vorstellen mochte. Die Turnhalle war groß und ungewöhnlich warm. Entweder die Heizung war defekt oder irgendein Schussel hatte sie falsch eingestellt, jedenfalls fragte sich Eren, wie sie sich hier eine Stunde lang bewegen sollten, ohne wegen Dehydration umzufallen. „Jeder sucht sich einen Partner und dann setzt ihr euch voreinander auf den Boden“, befahl Rivaille und wartete geduldig bis jeder einen hatte. Allerdings waren sie 65 Rekruten, sodass einer übrig blieb. Wie sich zu Erens Verwunderung herausstellte stand prompt dieser Markus Nehring verlassen da, wie Armin ihm erklärte. Er sah den jungen Mann zum ersten Mal, da der schließlich hinter ihm gestanden hatte. Unwillkürlich hatte Eren etwas Mitleid mit ihm, weil er nach seiner Aktion in der Früh jetzt bereits die Quittung dafür bekam. Er wandte sich an Armin, der ebenfalls unentschlossen schien: „Wir können die Übungen bestimmt auch zu Dritt machen.“ Armin nickte, woraufhin Eren den Kerl zu sich winkte: „Komm her!“ Nehring wirkte sehr stolz, wrang sich dennoch ein kurzes Nicken ab, das wohl Dankbarkeit suggerieren sollte. Eren seufzte. Der Kerl war ihm nun endgültig unsympathisch. Sie merkten erst, dass sie beobachtet wurden, als Rivaille intervenierte. „Das sind Zweierübungen. Du! Komm zu mir.“ Sie zuckten alle drei zusammen und blickten zum General-Leutnant. Zu Erens Entsetzen blickte dieser ihm direkt in die Augen. Sie waren hart und grau. Wie matte Dolche stachen sie in die seinen. Er brauchte ein paar Sekunden, bevor er sich stockend in Bewegung setzte. „General-Leutnant, Sir!“ Eren salutierte vor ihm, wie man es ihm vor Beginn der Ausbildung eingeschärft hatte. Es fühlte sich ein wenig seltsam an, weil er runtersehen musste. Rivaille betrachtete ihn weiterhin mit seinen stahlgrauen Augen. Er wirkte emotionslos und einschüchternd. „Wie heißt du?“, fragte Rivaille ruhig, doch der Ausdruck seiner Augen änderte sich nicht. „Eren Jäger, Sir!“ „Schrei nicht so, ich bin nicht taub“, schnaubte Rivaille, „Setz' dich hin.“ Sie setzten sich auf den Boden und Eren kopierte Rivailles Haltung. „Beine spreizen, Fußsohlen an die des Partners legen und an den Händen fassen. Wir dehnen uns erst einmal“, erklärte der General-Leutnant den anderen. Es war immer befremdend, wenn man einem Vorgesetzten nah kam, aber Eren versuchte es zu ignorieren. Nicht die einfachste Sache auf der Welt, wenn man vor jemandem saß, der eine dunkle Wolke auszudünsten schien. Nachdem er den anderen erklärt hatte, was sie tun sollten, sah Rivaille wieder ihn an und streckte seine Hände aus, damit Eren sie ergriff. Sie mussten sich vorbeugen und umfassten ihre Handgelenke. Eren erschauderte leicht, als er die warme Haut seines Ausbilders unter seinen kalten Fingern spürte, und ärgerte sich im selben Moment über die dumme Reaktion. Er sollte sich nicht so grundlos einschüchtern lassen. Bisher hatte Rivaille ihm nichts getan, nur Armin einmal dumm angeredet. Rivaille zog ihn zu sich nach vorne. Dabei sollte er sich entspannen und gestreckt werden, aber Eren konnte sich nicht richtig entspannen. Ihm tat alles weh und sein Gegenüber machte ihn etwas nervös. Als Eren sich nach hinten beugen wollte, um den General-Leutnant zu dehnen, stemmte der sich gegen die Bewegung. „Du bist hart wie ein Brett“, erklärte Rivaille und zog ihn wieder zu sich herüber, „Lass locker.“ Langsam verstärkte er den Zug an seinem rechten Arm, dann an seinem Linken. Die Übung sollte seine Muskeln lockern und ihn weich machen. Eren entschloss sich einfach die Augen zu schließen und atmete tief durch. Der Sinn der Sache änderte sich nicht mit der Person, mit der er die Übung machte, also müsste er Rivaille einfach machen lassen. Allmählich entspannte er sich und der Schmerz begann gleichmäßig zu pochen. Gerade als er Rivaille zu sich ziehen wollte, ließ der seine Handgelenke los und wandte sich wieder den anderen Rekruten zu. „Jetzt legt sich einer mit ausgezogener Jacke auf den Bauch und lässt sich massieren“, verkündete er und bedeutete Eren mit einer geringschätzigen Handbewegung sich hinzulegen. Der gehorchte widerwillig und erstaunt. Welcher Ausbilder tat sowas schon? Normalerweise redeten die nur und korrigierten Fehler. Auf jeden Fall machte die hohe Temperatur in der Halle nun Sinn. Er zog sich die Jacke aus und bettete seinen Kopf darauf als er sich flach und mit verschränkten Armen auf den Boden legte. Rivaille kniete sich neben ihn und erklärte, was sie tun mussten und worauf sie zu achten hatten. Er brauchte es nicht näher auszuführen, sie hatten sowas während ihrer Ausbildung schließlich auch schon gemacht. Eren zuckte leicht zusammen, als er die warmen Finger in seinem Genick spürte, die kraftvoll und langsam begannen ihn zu massieren. Er musste ein wohliges Aufseufzen herunterschlucken, ob der guten Behandlung. Egal wie seltsam es war von seinem Ausbilder massiert zu werden wie von einem Gleichrangigen, Rivaille wusste verdammt nochmal wo er hinlangen musste, um seine schmerzenden Muskeln zu entspannen. Die geschickten Finger wanderten von seinem Genick seine Wirbelsäule hinab und nahmen sich viel Zeit. Das T-Shirt störte ein wenig, aber es tat trotzdem unheimlich gut und Eren vergas bald, dass er hier vor einem hochrangigen Offizier lag. Umso mehr erschrak er, als er die Hände plötzlich an seinen Oberschenkeln spürte und zuckte zusammen. Peinlich berührt sah er nach hinten und und begegnete den grauen Augen Rivailles, die ihn unbeeindruckt ansahen. „Keine Angst, Jäger. Ich vergewaltige dich schon nicht“, meinte Rivaille trocken, was Eren die Schamröte ins Gesicht steigen ließ und sich wieder abwandte. Dieser Kerl war echt kein normaler Ausbilder. Wie konnte der sowas mit so einem nüchternen Gesichtsausdruck sagen? Eren ärgerte sich über seine plötzliche Obrigkeitsscheue. Wenn er seine Gedanken zur Seite schob, konnte er die Massage sogar richtig genießen und er verstand, wie sinnvoll dieser Tagespunkt war. Rivaille massierte seine Beinmuskulatur an Ober- und Unterschenkeln und Eren merkte erst dadurch, dass er überall angespannt gewesen war. „Dreht euch auf den Rücken“, befahl er laut, woraufhin auch Eren sich umdrehte und sich geflissentlich einen Punkt an der Decke suchte, um nicht in dieses ausdruckslose Gesicht sehen zu müssen. Er würde sich ja doch nur wieder schämen. Dummerweise kniete sich Rivaille direkt neben seine Brust und begann seine Schulter- und Armmuskulatur zu massieren, sodass Eren doch die Augen schließen musste. Er wollte nicht faul wirken, aber wie der letzte Depp wollte er auch nicht erröten. Selbst die Hände wurden ihm massiert und irgendwann befand er sich in einem Stadium, in dem er sofort hätte entspannt einschlafen können. Dann war es plötzlich vorbei und die warmen Finger verließen seinen Körper und er hörte das Rascheln von Kleidung, als Rivaille aufstand. „Jetzt tauscht die Rollen.“ Eren stand auf und bemerkte dabei erstaunt, wie weich und ruhig er sich fühlte. Ganz im Gegensatz zum Anfang, an dem ihm alles wehgetan und sich steif angefühlt hatte. Etwas verzögert wurde ihm bewusst, dass sie jetzt tauschen sollten und sah daher mit großen Augen zum General-Leutnant, nicht ganz komfortabel mit der Situation. Rivaille bemerkte seinen Blick und erwiderte ihn erst kühl, dann schien er zu verstehen, was in Erens Kopf vorging und zuckte mit der Augenbraue. „Setz' dich wieder hin, sonst tust du dir noch weh, Balg.“ Mit diesen Worten ließ Rivaille ihn stehen und ging durch die Reihen, um die anderen zu korrigieren. Etwas vor den Kopf gestoßen, setzte sich Eren tatsächlich wieder hin und starrte die restlichen zwanzig Minuten vor sich hin, bevor sie sich für die Theoriestunde umziehen gehen durften. Das Abendessen verlief sehr still. Alle waren fertig und teilweise sogar zu müde zum Essen. Spätestens um 20:00 Uhr fielen sie beinahe bewusstlos ins Bett und schliefen bis 05:00 Uhr morgens durch. *~* „Nicht einmal der erste Tag ist ganz vorbei und ich durfte mir bereits eine Beschwerde anhören“, begrüßte ihn Erwin nach dem Abendessen, das Levi hatte ausfallen lassen, nachdem er gesehen hatte was es gab. Lieber verhungerte er als schlabbrige Brote mit altem Schinken und geschmackloses Gemüse zu essen. Stattdessen hatte er es vorgezogen in die Sauna zu gehen und sich etwas zu entspannen. Er stieg gerade aus dem eisigen Tauchbecken, als Erwin plötzlich vor ihm stand. Der betrachtete ihn mit ernster Miene, doch seine blauen Augen verrieten sein Amüsement. „Und hier hatte ich gehofft, die erste Bitte um Entlassung unterschreiben zu dürfen“, erwiderte Levi trocken und rubbelte sich mit einem großen Handtuch trocken. „Nicht der Rekrut hat sich bei mir beschwert, sondern Roland Becker, ein ehemaliger SEK'ler. Der Junge wurde unter anderem von ihm ausgebildet.“ „Dann hätte er dem feigen Affenpinscher Benimm und Schneit beibringen sollen.“ Levi konnte nicht fassen, dass sich das Bübchen bei seinem Mentor ausgeheult hatte, statt gleich zu Erwin zu gehen, wenn ihm was nicht passte. „Nicht jeder ist so forsch wie du und richtet sich gleich an den Höchstrangigen“, tadelte Erwin ihn schmunzelnd. Levi schnaubte. Er wusste, dass er eine freche Schnauze hatte und ziemlich dreist sein konnte, aber er hatte auch Selbstbeherrschung. Wenn es etwas wirklich wichtiges war, dann sagte er seine Meinung und hielt ansonsten die Klappe. „Das kleine Arschloch wird nicht lange durchhalten.“ Und mit ihm auch einige andere nicht. „Du scheinst genau zu wissen, um wen es geht. Gab es noch mehr, die du herausgepickt hast?“ Nun wurde Erwins Ausdruck wirklich ernst. „Dieser Markus Nehring ist ein besserwisserisches, egoistisches Arschloch. Wie du auf den gekommen bist, ist mir ein Rätsel. Aber da gibt es noch einige“, sinnierte Levi und wickelte das Handtuch um seine Hüfte, schlüpfte in Badeschuhe und machte sich auf den Weg zum Treppenhaus, „Ich habe mich sehr zurückgehalten, obwohl er förmlich darum gebettelt hat einen saftigen Arschtritt zu kassieren. Er hat auch die Chance sich zu bessern, aber eine kleine Strafe musste ich ihm auferlegen.“ Erwin folgte ihm die Stufen nach oben und beide ignorierten Hanjis begeisterten Ausruf, als sie Levi halbnackt an ihrer Wohnungstür vorbeigehen sah. „Habt ihr zwei Hübschen noch was vor?“, zog sie sie trotzdem weiter auf und trällerte, „Vergesst nicht, wir wollten unten noch ein wenig reden, also macht nicht zu lange~!“ „Gut, nichts anderes wollte ich hören. Ist dir sonst noch jemand aufgefallen?“ Erwin sah ihn erwartungsvoll an, als sie auf dem Absatz von Erwins Stockwerk standen. Levi verkniff sich ein genervtes Augenrollen. „Nein. Diese Bälger sind hilflos und unprofessionell. Das einzig Gute ist ihre Sturheit. Damit kann ich eventuell arbeiten.“ Erwin nickte und ließ ihn dann zu seiner Wohnung rauf gehen, erinnerte ihn jedoch noch an Hanjis Worte: „Komm dann bitte noch zur Besprechung in den Gemeinschaftsraum.“ Levi winkte ab. Was auch immer. Er trat in sein Appartement, hängte sein Handtuch im Bad an der Wandheizung auf und schlenderte dann ins Schlafzimmer, wo er sich einen bequemen Rollkragenpulli und Jeans anzog. Er hatte keine Lust mit Hanji alleine im Gemeinschaftsraum zu sein und schlug daher noch ein paar Minuten mit Lesen tot, bevor er sich wieder auf den Weg nach unten machte. Lautes Gelächter klang durch die Tür des Gemeinschaftsraums, das musste ja eine lustige „Besprechung“ sein. Und tatsächlich hockten seine drei Kameraden mit Wein und Whiskey in der Couchecke, hörten leise Rockmusik und grinsten über alte Witze. „Sind wir im Feldlager gelandet“, mischte sich Levi ein und zog so die Aufmerksamkeit auf sich. „Leviiii!“, rief Hanji euphorisch und streckte die Arme dabei ruckartig hoch, sodass sie ihr Whiskeyglas halb verschüttete. Sie bemerkte es jedoch nicht und die anderen achteten nicht darauf. „Wein, Whiskey oder Bier?“, fragte Mike und deutete auf den vollen Couchtisch. „Bier“, entschied sich Levi schnell. Er hatte seit Ewigkeiten keins mehr getrunken und er wollte nichts hartes auf quasi nüchternen Magen. Mike füllte ihm ein Bierglas ein, das Levi dankend annahm und sich vor Hanji in einen Sessel setzte. „Wir haben gerade über Dita Ness und sein imposantes Ross geredet“, erzählte Erwin ihm schmunzelnd. Levi erinnerte sich: „War das nicht in Chagang-do?“ „Chagang-do! Ja, natürlich!“, rief Hanji und klatschte in die Hände, „Ich wusste doch, dass es was mit Chag war!“ „Soweit ich mich erinnere haben ein paar Burschen seinen Araberhengst gestohlen und ihn gegen ein Minipony ausgetauscht“, holte er sich die Ereignisse zurück ins Gedächtnis. „Ja“, lachte Mike, „Ich werde nie sein Gesicht vergessen, als er seinen Gaul abgeholt hat und vor dem Pony stand.“ Er schüttelte sich vor Gelächter und trank bebend einen großen Schluck Whiskey. „Aber er hat das Pony mitgenommen“, grinste Erwin. „Hieß es nicht Bert?“, gluckste Hanji, „Oder war es Bud?“ „Ich glaube, es war Bert.“ Levi würde nicht vergessen, wie Dita Ness das kleine Pferd an der Leine geführt hatte und es mit klackenden Schritten und wehender Mähne hinter ihm her getrabt war, während sie alle auf ihren Pferden gesessen waren. Das waren die lustigen Momente ihres Einsatzes in der Provinz Chagang-do in Nordkorea gewesen. Zu der Zeit war der Bürgerkrieg beinahe überstanden und sie hatten nur noch zur Gewährleistung der Sicherheit im Land zu patrouillieren. Sie hatten zu der Zeit nicht ahnen können, dass der eigentliche Krieg erst noch bevorstand. „Bert war toll“, seufzte Hanji verträumt. „Das waren lange Fußmärsche, so ohne Gaul.“ Mike füllte Hanjis Glas unaufgefordert nach. „Wo ist er eigentlich abgeblieben?“, wollte Levi nach kurzem belustigten Schweigen von Erwin wissen. „Bert?“ Hanji sah ihn mit großen Augen an. Levi schenkte ihr einen zweifelnden Blick und wandte sich zu Erwin, als er ihm antwortete. „Immer noch in China. Er überwacht die Friedenskorps.“ „Hör mal, Levi!“, schnipste Hanji vor ihm, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen, „Wo hat dich Erwin eigentlich aufgetrieben?“ „Peru.“ „Ist ein schönes Land, oder?“, bohrte Hanji weiter nach, auf einmal ruhig und ernst. „Leute, ich wollte in erster Linie mit euch über euren ersten Eindruck von den Rekruten und Ausbildern reden“, lenkte Erwin von Levi ab, wofür er dankbar war. Mike runzelte die Stirn. „Der neue Trainingsplan haut rein. Die Rekruten konnten heute ja kaum mehr 'nen Löffel halten.“ „In der letzten Theoriestunde sind sie auch nur noch drin gehangen“, beschwerte sich Hanji, „Was hast du mit ihnen gemacht?“ „Ich bin mit ihnen gelaufen und am Nachmittag mussten sie einen Parcours absolvieren.“ „Eigentlich müssten sie fit sein. Das sind gestandene Polizisten, viele aus der SEK und ein paar von der GSG9“, wunderte sich Mike. „Sie sind auch fit, aber bequem. Ich denke sie haben sich nach einer Woche an den Trainingsplan gewöhnt“, meinte Levi und trank ein paar Schluck Bier. Es schmeckte wirklich gut und beruhigte seine Nerven. „Ganz allgemein gesprochen“, ergriff Erwin das Wort, „Es müssen mindestens 15 Rekruten die Ausbildung abschließen und davon sollten wenigstens drei Frauen dabei sein.“ „'Ne Quote. Ist das dein ernst?“, hakte Mike nach. „Nach der Ausbildung haben wir noch ein halbes Jahr Zeit, bevor die richtige Arbeit beginnt. Was in dieser Zeit geschieht, interessiert niemanden.“ „Ach so und da sollen die unfähigen Frauen dann rausgehauen werden?“ Hanji zog missbilligend die Augenbrauen zusammen. „Mir ist egal welches Geschlecht die Rekruten haben oder wie viele übrig bleiben sollen. Ich werde niemanden durchkommen lassen, für den ich keine sinnvolle Verwendung sehe“, stellte Levi klar, „Und wenn du dir bei deiner Auswahl etwas gedacht hast, Erwin, werden schon genügend übrig bleiben.“ Erwin blickte ihm lange und ernst in die Augen. Letztlich lenkte Hanji ihn von Levi ab. „Ich muss Levi zustimmen. Er ist ein hervorragender Ausbilder und nach dem ersten Monat wird vielleicht nur noch die Hälfte da sein, aber mit der werden wir arbeiten können.“ „Seh ich auch so“, pflichtete Mike seiner Kameradin bei, „Ich habe den Eindruck, dass sich zu viele Traumtänzer eingeschlichen haben, die nicht hart genug für den Job sind.“ Levi war froh, dass seine Kameraden seine Ansicht teilten. Aus irgendeinem Grund schien Erwin an seinen Methoden zu zweifeln, was ihn ziemlich ärgerte. Schließlich wusste er, wie Levi ausbildete und hatte ihn extra hier hergeholt, warum also dieses unbegründete Misstrauen? „Wir haben noch sechs Ausbilder, die wir ins Training involvieren müssen.“ „Dann sag ihnen, dass sie den Klassenkampf beenden sollen und stell' sie als Aufsicht neben Levi“, schlug Mike vor, bevor Levi den Mund aufmachen konnte. „Das tue ich“, erwiderte Erwin etwas unzufrieden mit dem Ton. Levi überkam plötzlich eine heiße Wut und ihm wurde das Gespräch zuviel. „Entschuldigt mich“, meinte er knapp, stand auf und ging zielstrebig zur Tür. „Levi? Alles in Ordnung?“, erkundigte sich Hanji besorgt. „Levi!“, rief ihm Erwin hinterher, doch er reagierte nicht und verließ den Raum. Er hatte keinen Bock auf diese Kindereien. Wenn diese Wichser von Altpolizisten meinten hier einen auf gekränktes Fräulein tun zu müssen, bitte, aber ohne ihn. Jetzt war er hier und verdammt nochmal, er würde diesen Job machen und diese Gören zu einer polizeilichen Anti-Terroreinheit erziehen. Er würde niemandem dabei in den Arsch kriechen und wenn Erwin es wagen sollte von ihm derartiges zu verlangen, würde er ihn einfach stehen lassen. Er hatte nicht 13 Jahre als Soldat und dabei drei Jahre im 4. Weltkrieg gedient, um jetzt an seinem Führungsstil bemängelt zu werden. Es war Erwins Aufgabe das Projekt zum Erfolg zu führen und das hieß nun einmal Prioritäten zu setzen. Als Levi in der Nacht im Bett lag, kam ihm der kalte Graus bei dem Gedanken mit den anderen Ausbildern interagieren zu müssen. Er hatte ihre abschätzigen Blicke gesehen, das tratschsüchtige Flüstern gehört. Sie widerten ihn an. +++ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)