Doors of my Mind von Karo_del_Green (Der Freund meiner Schwester) ================================================================================ Kapitel 22: Finnisch für Anfänger --------------------------------- Kapitel 22 Finnisch für Anfänger Die komplette Woche rauscht davon, ohne dass ich Raphael ein einziges Mal zu Gesicht bekomme. Es findet kein Training statt und er hat auch keinen Grund bei uns zuhause aufzutauchen. In einer Pause läuft mir Danny über den Weg und ich frage ihn nach dem Training. Er erklärt mir, dass Raphael als Dank für die guten Leistungen beim Turnier allen eine komplette Woche Ruhe gönnt. Für die Sportler wohl verdient, doch ich habe nicht damit gerechnet. Raphael hat nichts dergleichen erzählt. Für ihn passt das natürlich perfekt und wahrscheinlich hat er mir auch deshalb nichts gesagt. So kann er mir herrlich aus dem Weg gehen. Ich fühle mich als hätte man mir neben dem Internet nun auch die gute Laune abgedreht. Einmal bin ich kurz davor meine Mutter nach seiner Telefonnummer zu fragen. Nur die Tatsache, dass sie mir ein Eis in die Hand drückt, verhindert es. Allerdings bin ich am selben Abend kurz davor mir die Autoschlüssel zu greifen und wie ein Gewitter vor seiner Wohnung aufzutauchen. Mehrmals schleiche ich unten rum und lege sie schweren Herzens wieder in die Kommode zurück. Ich bin keiner dieser Verrückten und bedrängen ist keine Lösung. Auch wenn mir diese unerbittliche Ungewissheit schier Löcher in den Leib frisst. Am späten Freitagnachmittag kommt meine Schwester zurück von ihrer Klassenfahrt in Wien. Es gibt Kaffee und Kuchen. Ich lausche nur mit halbem Ohr den Ausführungen über die schöne Stadt und den Kleinmädchenproblemen. Mayas plüschige Schöngeschichten interessierten mich wenig. Während meiner Klassenfahrten haben wir ständig nur getrunken und Knutschereien zur olympischen Disziplin erklärt. Ich revidiere den Gedanken, denn ich habe lediglich getrunken und niemanden das Gesicht abgeschleckt. Trotzdem war alles aufregender, als das, was Maya hier zum Besten gibt. „Wien ist eine wirklich zauberhafte Stadt. Es war so toll“, schwärmt sie und ich pieke gelangweilt ein Stück vom Kuchen ab. Nusskuchen mit Frischkäsecreme. Sehr lecker, aber mir fehlt jeglicher Appetit. Es klingelt und ich fahre erschrocken zusammen, während Maya freudig quietscht. Raphael. Auch ich sehe ihn das erste Mal wieder nach unseren gemeinsamen Abend. Maya rennt zur Tür und fällt ihm sofort um den Hals, drückt ihn fest, während es mir den Hals zu schnürt. Raphael meidet meinen Blick. Doch ich starre ihn herausfordernd an. Nach guter Schwiegersohnmanier grüßt er meine Eltern, lehnt freundlich ein Stück Kuchen ab und wird von Maya die Treppe nach oben gezogen. Ich schließe die Augen und seufze leise in mich hinein. „Sie haben sich sicher viel zu erzählen“, sagt meine Mutter und sieht den beiden nach. „Uhuhuu...“, kommentiere ich unaufgeregt. „Mark!“, mahnt sie. „Warum? Raphael war schon mal in Wien und er weiß, wie alte Gebäude aussehen und wie seltsam die österreichische Sprache klingt.“ Alle Klassen unserer Schule fahren nach Wien. Alle sind in der selben Unterkunft untergebracht und alle sehen sich die selben Sachen an. „Du verhältst dich unfair und ich meine etwas anderes.“ „Ach und was? Meinst du, Raphael wird auch sooo uuunfassbar entsetzt sein, dass sie ein ganzes Stück Sachertorte allein gegessen hat. Uuhuhuh...“, ahme ich Mayas Erzählung nach und verdrehe die Augen. Nun schreitet auch mein Vater ein. „Herrje, Mark muss das sein?“ Ja! „Jeder findet eben andere Dinge erwähnenswert und ich meinte seine Entscheidung über das Stipendium für die Universität in Kalifornien.“ Stipendium? Uni? Kalifornien? Wie bitte? Ich habe gerade das Gefühl, dass mir die Gesichtszüge eingleisen. „Ein Stipendium für eine Uni in Kalifornien?“, wiederhole ich ungläubig. „Ja. Eine tolle Chance, wenn du mich fragst. Ein ganzes Semester lang. Eine Unterkunft kriegt er gestellt. Er kann an vielen Kursen und Seminaren teilnehmen, die ihm auch hier angerechnet werden und Trainer Müller hat ihm die Möglichkeit verschafft, bei einem der dortigen Trainer als Trainee auszuhelfen“, berichtet sie munter, lächelt und steckt sich den letzten Rest ihres Kuchenstücks in den Mund. Ich bin seltsam sprachlos und vollkommen überrumpelt. „Maya ist natürlich sehr aufgebracht und sieht ihre Beziehung in Gefahr. Er wäre immerhin eine ganze Weile weg. Bist du fertig, Mark?“ Sie deutet auf meinen halbvollen Teller. Die Gabel habe ich noch in der Hand, aber mir ist jeglicher Hunger restlos abhandengekommen. Mein Herz schlägt nicht mehr. Da ich noch atme, wird es nicht stimmen, aber so fühlt es sich gerade an. Meine Mutter wiederholt ihre letzte Frage, nickend reiche ich ihr den Teller. „Ach was, heutzutage gibt es so viele Kommunikationsmöglichkeiten und sie kann ihn in den Ferien besuchen. Unser Okay hat sie dafür“, gibt mein Vater von sich. Ich starre weiterhin auf den Fleck, an dem eben noch mein Teller stand. Mein Vater hat Recht. Es gibt unzählige Möglichkeiten der Kommunikation, aber Raphael scheint keine davon mir gegenüber auch nur in Betracht zu ziehen. Ich fühle mich elendig. Mein Inneres brennt. „Noch hat er sich nicht entschieden und er hat auch noch etwas Zeit. Mark, wusstest du gar nichts davon?“, erkundigt sich meine Mutter, während sie in der Küche verschwindet. Ich sehe auf. „Nein. Warum sollte er mir sowas auch erzählen“, sage ich leise. Ich bin ja nur der Bruder seiner Freundin. Ich verspüre das dringende Bedürfnis mich in meinem Zimmer einzuschließen und in mein Kissen zu heulen. Allerdings habe ich mir vor gut 5 Jahren geschworen, nie wieder wegen sowas zu weinen. Wenn ich so darüber nachdenke, ergibt vieles nun Sinn. Die ständigen Streitereien der beiden. Die Diskussionen. Raphaels kryptisches Gerede, als er mir betrunken durch die Tür fiel. Ich erinnere mich an den Brief in seiner Schublade. Mein Vater sagt etwas, doch ich höre nicht zu. Ich stehe einfach auf und verlasse in Gedanken versunken den Raum. Nach einem lethargischen Moment des Rumstehens setze ich mich an den Schreibtisch und fahre meinen Pc hoch. Mein Blick wandert über den Kalender und mein Hirn beginnt zu rechnen. Ein Semester. Also ein halbes Jahr. In ein, zwei Monaten ist die Schule vorbei und ich werde mich für eine Uni entscheiden müssen. Ich werde ihn vielleicht nicht so schnell wiedersehen, wenn ich wirklich an eine entfernte Universität gehe. Ich wäre nur noch selten zu Hause. Ich denke an die Familienfeste und wie schon des Öfteren kommen mir die Bilder von Mayas und Raphaels Hochzeit, ihren Kindern und den verkrampften Weihnachtsfesten in den Sinn. Ich lasse mich in die Lehne zurückfallen und starre auf den Desktop. Ich weiß, dass der Gedanke übertrieben ist, doch sind das seit jeher die schlimmsten Szenarien für mich. Das Brennen in meiner Brust wird schlimmer und droht mir den Atem zu rauben. Das Schicksal einer unerfüllten Liebe. Warum muss es ausgerechnet mich treffen? Aber ist es wirklich so? Es hat es erwidert. Alles. Meine Berührung. Meine Küsse. Selbst meine Erregung fand eine Antwort. Insgeheim habe ich Blut geleckt. Ich bleibe in meinem Zimmer und lasse mich auch nicht zum Abendbrot blicken. Hunger habe ich sowieso keinen. Als es dunkel wird, setze ich mich mit einem Bier auf den Balkon und beobachte die Sterne. Kondensiertes, kaltes Wasser läuft über meine Finger und ich streiche ein paar Tropfen davon. Es ist kühl, doch es stört mich nicht. Ich höre, wie sich die Balkontür zu Mayas Zimmer öffnet und richte mich auf. Ich nehme einen Schluck aus der Flasche und mache mich bemerkbar. Ich höre ein tiefes Seufzen und weiß, dass es Raphael ist. Meine Gelegenheit. Ich lehne mich an die Brüstung und schaue auf deren Balkonseite. Raphael steht im Türrahmen und scheint sich nicht entscheiden zu können, ob er gehen oder bleiben soll. Die Flasche schlägt mit einem klirrenden Geräusch gegen die Metallbrüstung und mein gewollter Gesprächspartner dreht sich ganz zu mir. „Du weißt, dass Alkohol keine Lösung ist“, kommentiert er in gewohnter Manier mit einem Blick auf die halbleere Glasflasche. „Schweigen ist auch keine“, pariere ich bissig. Ich nehme einen weiteren Schluck und sehe zu ihm. Raphael beißt sich auf die Unterlippe. Mein Spruch hat gesessen. Ich fühle keine Genugtuung. „Kalifornien. Ernsthaft?“, frage ich dann das, was mir wirklich auf der Seele brennt. Sein Blick ist verwundert. Er fragt sich, woher ich das weiß. Ich frage mich nur, warum ich der Einzige bin, dem er es nicht erzählt hat. „Woher weißt du davon?“ „Wieso dachtest du, dass ich es nicht erfahre, wenn es alle umher mich herum wissen?“, belle ich leise. Raphael seufzt und macht die Andeutung wieder reingehen zu wollen. „Wie kam es dazu?“, frage ich hinterher, weil ich verhindern will, dass er geht. „Kontakte“, sagt er knapp und ich atme ungeduldig ein. Er versteht das Geräusch und meine Reaktion. „Trainer Müllers Schwiegersohn kommt aus Amerika und dessen Vater ist Coach an dem Collage in Kalifornien. Sie bauen ein Leichtathletik-Team auf und ich könnte viel lernen.“ Er lehnt sich an die Brüstung und sieht in die Nacht. „Also Trainer und nicht mehr Lehrer?“ „Beides. Die Lehramtsseminare kann ich problemlos nachholen.“ „Wie lange weißt du es schon?“ „Eine Weile.“ „Klingt nach einer guten Chance“, sage ich ehrlich gemeint und sehe ihn von der Seite an. Seine Haare bewegen sich im Wind, streichen über seine Stirn und legen seine Ohren frei. Ich fahre mit meinen Blicken sein Profil ab. Über die spitze Nase, hinab zu seinem Lippen und dem Kinn. Er ist komplett rasiert. Maya mag es so lieber. Ich spüre das Kribbeln in meiner Fingerkuppen, den Wunsch ihn zu berühren. Doch wende seufzend meinen Blick ab. „Wann geht es los?“ „Ich bin noch nicht sicher, ob ich es annehme“, gesteht er, „Ich habe auch hier ein wirklich gutes Leichtathletik-Team, eine gute Uni und auch Chancen.“ „Ja, und eine Freundin.“ Es kommt spitzer und böser, als gewollt. „Genau auch eine Freundin, wie es normal ist.“ Er sieht mich verärgert an. Normal. Da ist es wieder dieses Wort. „Dein Scheißernst? Spielst du jetzt wirklich die homophobe Karte aus? Nicht wirklich, oder?“ Ich funkele ihn wütend an. Es ist lächerlich und das weiß er. „Was willst du von mir hören, Mark?“, fragt er stoisch. „Ich will nur, dass wir darüber reden. Das letzte Mal habe ich dich ziehen lassen, aber diesmal…“ „Was? Ich weiß nicht, was es da zu bereden gibt.“ „Ach, wir ignorieren einfach, was in deiner Wohnung passiert ist? Das kann ich nicht und ich will es auch gar nicht.“ Raphael greift mir an den Arm und zischt mich an. Ich rede zu laut. Auch mein Blick geht kurz zu angelehnten Balkontür rüber. „Es ist überhaupt nichts passiert“, zischt er mir leise zu und lässt mein Handgelenk wieder los. Nichts. Er hat wirklich Nichts gesagt. „Sei nicht albern. Nichts fühlt sich definitiv anders an und vor allem ist Nichts nicht so gut. Das weißt du“, flüstere ich ihm entgegen und bin nicht gewillt alles einfach zu vergessen. Das schaffe ich einfach nicht. Seinen schönen grünen Augen blitzen auf als die Erinnerungen durch seine Gehirnwindungen jagen. Er hat es als genauso gut empfunden und will es sich nur nicht eingestehen. Ich kämpfe mit der Enttäuschung und schlucke sie Stückchenweise hinunter. Raphaels Reaktion ist unfair, verletzend und feige. „Wow, mir war nicht klar, dass du jemand bist, der einen fickt und dann links liegen lässt.“ Meine Wortwahl ist etwas drastisch, aber ich will ihn zu einer Reaktion zwingen. „Was? Mark, verdammt...wir haben nicht ge…“ Er spricht es nicht aus, sondern schluckt den unausgesprochenen Teil einfach nur runter. „Was willst du denn, wir reden doch“, gibt Raphael nach einen Moment von sich und ich würde ihn am liebsten erwürgen. „Das nennst du reden? Dir wäre es doch am liebsten, dass ich schön meinen Mund halte und du dein pseudoglückliches Leben weiterführen kannst. Du hast mich zuerst... Hast du dir jemals darüber Gedanken gemacht, was ich dabei empfinde?“, fauche ich ihm zu. Alles schön leise und sehe ihn eindringlich an. Ich kann sehen, wie er schluckt, aber ich gebe ihm keine Möglichkeit etwas zu erwidern. Ich bin noch nicht fertig. „Dein Körper sprach Bände, also sage mir nicht ständig, dass du nichts empfunden hast. Für dich hat es sich ebenso gut angefühlt, wie für mich. Hör auf, das zu leugnen. Also, wie gehen wir damit um?“ frage ich ihn säuerlich und stoße ihm dabei meinen Finger gegen die Schulter. Er packt ihn. Ich spüre die Wärme, die von seiner Hand ausgeht. Ich erkenne eine weitere Erinnerung, die kurz in seinen Augen aufblitzt und dann sein Kopfschütteln. Er wehrt sich dagegen und mit einmal fühlt es sich an, als hätte ich einen zentnerschweren Stein im Magen. „Ich hab eine Freundin“, spult er ab. „Du hast ein dummes 17-jähriges Mädchen und lässt dich von ihrem Bruder befriedigen“, knurre ich verletzt. Raphael seufzt verbissen und lässt meinen Finger los. „Verdammt, Mark. Du machst mich ganz kirre! Hör auf.“ Raphael fährt sich übers Gesicht und über die glattrasierten Wangen. „Das sind mehr Gefühlsregungen, als du je gegenüber Maya zeigst…Was findest du an ihr? Sie ist zickig, blond, dumm und lässt dich sexuell verhungern?“, frage ich ihn direkt und bin immer noch ungläubig. „Mark, sie ist deine Schwester...“ „Vielen Dank, das ist DIE Information für mich“, gebe ich sarkastisch von mir, „Also, was ist es?“ „Mag sein, aber mit ihr kann ich eine stinknormale Beziehung führen.“ „Normal? Was, bitte soll das bedeuten?“, frage ich ihn verwirrt, doch eigentlich verstehe ich es. „Das mit uns wird nie…“ Raphael bricht ab, als Maya auf den Balkon tritt. Ich verfluche sie und ihre ganze Existenz. „Raphael, kommst du ins Bett?“ Ihre langen blonden Haare liegen über ihren nackten Schultern. Ihr Gesicht liegt im Schatten, so dass ich ihr Gesicht nicht lesen kann. Brauche ich auch nicht, denn ich weiß, was ich sehe würde. Meine Schwester bleibt stur stehen und wartet. Mir dreht sich der Magen um. „Ja. ich komme. Gute Nacht!“, sagt er nur noch und lässt mich allein auf dem Balkon stehen. Ich denke über den angefangen Teil seines Satzes nach und schlucke. Er hat mit Sicherheit sagen wollen, dass es keine Bedeutung oder Chance haben wird. Doch das glaube ich nicht. Mir bedeutet es etwas. Doch eine realistische Chance sehe ich auch immer mehr verblassen. Was habe ich erwartet? Dass er sich mir nichts, dir nichts für mich entscheidet. Enttäuscht über seine Ablehnung setze ich mich zurück auf den Balkonstuhl. Ich will es nicht ignorieren und schon gar nicht einfach vergessen. Es war nicht nur eine zweimalige Verirrung. Raphael wird es mir erklären müssen, denn ich bin mir sicher, dass er etwas dabei gefühlt hat. Warum sonst hätte er es zulassen sollen? Warum sonst hat er mich nicht einfach von sich gestoßen und mich beschimpft? Für gewöhnlich waren das die normalen Reaktionen, wenn Heteromänner von anderen Männern angemacht wurden. Ich werde ihn zum Reden bringen. Irgendwie. Von meinen Gedanken überzeugt, werfe ich mich aufs Bett und habe trotzdem meine Probleme einzuschlafen. Er hat ´uns´ gesagt, geht mir durch den Kopf, kurz bevor ich einschlafe. Das Wochenende verläuft wie erwartet. Raphael geht mir aus dem Weg. Er sorgt sogar dafür, dass Maya und er am Samstag woanders Essen und den gesamten Sonntag spontan unterwegs sind. Ich vegetierte gelangweilt in meinem Zimmer rum, helfe meiner Mutter bei ein paar Gartenarbeiten und fülle mein Gehirn mit sinnlosen Fernsehersendungen. Ein hoch vergeudetest Wochenende. Am Montag bin ich froh Sharis lächelndes Gesicht zu sehen. Ich umarme sie spontan und seufze theatralisch. Ich hänge mich quasi an die schöne Inderin und komme mir selbst reichlich verdrießlich vor. „Hyvää päivää“, begrüße ich sie auf bröckeligem Finnisch und ernte sofort ein herzhaftes Lachen. „Oh weh, das mit dem Finnisch musst du aber noch üben, mein Lieber.“ Shari hat eine finnische Freundin, mit der sie sich Briefe schreibt und telefoniert. Sie hat großes Interesse an dem großen kühlen Norden. Ich stehe mehr auf Irland. Reichlich Grün und massig Schafe. Ich schwärme innerlich. Äußerlich wirklich ich wie ein Schluck Wasser. „Da du schon Mal Finnisch gesprochen hast, weißt du wie schrecklich kompliziert es ist. Finnisch hat mehr Äs, als andere Sprachen“, sage ich beleidigt, löse mich von ihr und nehme ihr die Tasche ab. „Es ist, wie mit den Üs im Türkischen“, vergleicht sie und grinst. „Als ob ich türkisch kann“, sage ich salopp und sehe sie etwas plemplem an. „Komm wir sprechen es zusammen. Es ist ganz leicht“, schlägt sie vor. Sie spricht es mir vor. Ich wiederhole es, doch es klingt weiterhin grausig. Ich gebe mir keine Mühe. Sie wiederholt es erneut. Ich hebe eine Augenbraue und fühle mich in die erste Klasse zurückversetzt. „Na komm, Hyv_ää päi_vää“, sagte sie überdeutlich und macht dabei an den passenden Betonungen eine lustige Handbewegung. „Du bist eine Streberin!“, kommentiere ich kindisch. „Na und? Neea übt immer fleißig mit mir.“ Sie streicht sich ein paar schwarze Strähnen hinters Ohr und sieht mich aufmerksam an. Hätte ich auch eine finnische Freundin würde ich es wahrscheinlich auch besser lernen wollen. Ich schultere ihren Rucksack und gehe Richtung Schuleingang. Shari folgt mir. „Alles okay bei dir?“, fragt sie mich und ich schaue sie verwundert an. „Ja, wieso?“ „Du wirkst komisch und so überschwänglich begrüßt du mich selten. Es ist schön, aber seltsam.“ Ich schmunzele über ihre Feinfühligkeit und lächele verlegen. „Ja, alles spitze. Ich hatte nur ein schrecklich langweiliges Wochenende und zurzeit ist die Stimmung zu Hause etwas kriselnd.“ „Maya oder deine Eltern?“, fragt sie besorgt und folgt mir die Treppen hoch. „Maya und Raphael. Er hat ein Stipendium angeboten bekommen für ein Austauchsemester an einer Universität in Kalifornien.“ Ich versuche, nicht allzu deprimiert und vorwurfsvoll zu klingen. „Er weiß noch gar nicht, ob er zusagt, aber Maya ist schon jetzt komplett Etepetete. Du weißt ja, meine Schwester mit schlechter Laune ist, wie ein Supergau.“ Ich verdrehe wenig elegant meine Augen. Shari nickt und lässt mich weiterreden. „6 Monate wäre er weg“, ergänze ich und schweige dann. Die Vorstellung verursacht mir Magenschmerzen. Raphaels ständige Anwesenheit in unserem Haus hat mich anscheinend verweichlicht. Ich bin so sehr an seine stille Nähe gewöhnt, dass mir der Gedanken seiner Abwesenheit nicht behagt. Auch, wenn mich seine Nähe gleichwohl peinigt. „Das ist wirklich sehr lange“, sagt sie seufzend, „Ich wäre auch geknickt, wenn mein Freund so lange weg ist. Aber wieso klingst du, als würde man dir ein Spielzeug wegnehmen?“ Ich spüre einen Ruck, der durch meinen Körper geht und verfluche Shari, weil sie so empathisch ist und mich so gut kennt. Ich brauche eine überzeugende Ausrede. Irgendwas. Mein Gehirn verweigert mir den Dienst. Mayas Launen. Ihre Launen gehen immer. „Maya wird einfach alle im Hause nerven. Wie sehr sie ihn vermisst, wie wenig sie nun angeben kann. Bla bla bla.“ Ich klinge überzeugend und vermeide einen prüfenden Blick zur Seite. Erst als Shari nichts weiter sagt, sehe ich zur ihr rüber. Ihr Blick ist forschend und ich befürchte, dass sie nicht vollständig überzeugt ist. Gerade als ich noch eine weitere Erläuterung abspulen will, beginnt sie zu sprechen. „Du jammerst immer wegen deiner Schwester. Ich will dich mal mit so vielen Geschwistern sehen, wie ich mich rumplagen muss. Meine Brüder gehen mir oft derartig auf die Nerven, das ich sie am liebsten eigenhändig zu Hackfleisch verarbeiten möchte.“, erläutert sie und ich empfinde definitiv Mitleid. Ich schimpfe viel über meine Schwester und denke wenig daran, dass Shari drei kleine Brüder und zwei Ältere hat. Sie ist mit ihrer Mutter allein unter 6 Männern. Ich weiß nicht, ob es mir mit Brüdern besser ergehen würde, aber immerhin habe ich nur ein weiteres Geschwisterkind. Allerdings, wäre die Wahrscheinlichkeit weitaus geringer, dass sich mein Bruder Raphael als Freund nehmen würde. „Tut mir leid. Ich weiß, dass du es auch nicht einfach hast mit deinen Brüderchens“, sage ich und tätschele ihr sanft das Haupt. Sie schubst meine Hand weg. „Pah, dein gespieltes Mitleid kannst du dir sparen. Pass lieber auf, dass ich nicht irgendwann Devdan und Kiran bei dir absetze und du dich mal ein paar Tage um sie kümmern musst.“ Devdan und Kiran sind die beiden jüngsten Brüder und zwei ausgenommene Frechdachse. Sharis Erzählungen sind stets sehr belustigend. Natürlich nur für diejenigen, die nicht daran beteiligt sind. Allerdings kann ich gut mit Kindern. „Oh, böse Drohung. Böse Drohung. Ich werde wieder brav und lieb sein.“ „Nein. Nein. Dann könnte ich nämlich mit Andrew ausgehen und habe meine Ruhe.“ Bei der Erwähnung von Andrew horche ich kurz auf. „Er will ein Date?“ „Ja, und ich weiß nicht, wie ich ihm erklären soll, dass das aussichtslos ist.“ „Ist es das denn?“, frage ich und sie stupst mir empört gegen die Brust. „Weißt du doch. Er ist wirklich süß, weißt du?“ Ihr Blick wird schwärmerisches. „Ich kann mich nur wiederholen, benutze mich als Tarnung. Dein Dad skalpiert mich sowieso irgendwann, da kannst du dir vorher ruhig etwas Spaß gönnen.“ Sie beginnt zu lachen und schüttelt mit dem Kopf. „Was du gegen meinen Dad hast, ist mir ein Rätsel.“ „Du hast ihn schon lange nicht mehr richtig angeschaut oder?“ Ich strecke meine Hände in die Höhe und danach in die Breite, sehe sie dabei erschrocken an. „Du willst mich heute echt ärgern, oder?“, fragt sie mich und ihre Stirn kräuselt sich. Ich mache eine Schnute und rudere zurück. „Nein. Nein. Niemals! Ich stehe nur zu ihren Diensten, MyLady“ Ich verneige mich tief und spüre den starken Zug in meinem Rücken. Ich brauche mehr Training. Ihr Blick ist kurz misstrauisch, doch dann hält sie mir ihre Hand hin und ich greife danach. „Nun entschuldigt euch, Knecht.“, spielt sie meisterlich mit. Ich hauche ihr einen Kuss auf die Knöchel und Shari kichert. „So, ist es richtig und nun gebet mir meine Tasche, Knecht.“ Ich kann sehen, wie Danny mit einem dicken Grinsen an uns vorbeikommt. Ich richte mich auf. Er bleibt neben uns stehen und klopft mir auf die Schulter. „Nun hat sich euer eigentliches Verhältnis aufgeklärt. Hast du es drauf, Shari!“ Danny lacht, deutet ihr eine High-Five an und auch Shari macht lachend mit. Ich sehe empört zu Danny. „Ich bin schon immer der Überzeugung gewesen, dass sie die Einzige ist, die dich bändigen kann.“ Shari sieht aus, als würde sie vor Lachen fast platzen. Meine Augenbraue wandert nach und ich ziehe übertrieben die Nase hoch. Beide beginnen zu lachen. „Deine Nase sieht gut aus, Danny!“, gebe ich ruhig, aber leicht verbissen von mir, betone jedes Wort einzeln und ausführlich, ernte einen skeptischen Blick. Doch dann lache auch ich. Danny legt seinen Arm um meine Schultern und drückt mich lachend an sich. So wie es auch mein Onkel immer macht. Seine Hand bleibt auf der anderen Schulter liegen. „Du bist echt eine Marke, Dima.“ Ein Klopfen. Ein Griff an meine Schulter und dann zieht er lachend davon. Ich blicke ihm schief grinsend nach und schaue zu Shari. Sie presst ihre Lippen zusammen, ihre Nase wackelt verräterisch und ihr folgendes Lachen ist erhellend. „Kommt, Miss Shari, ich begleite Euch zu eurem Platz“, sage ich respektvoll, verneige mich erneut und ich schiebe sie sanft, in gebückter Haltung in den Klassenraum. „Miss Shari. Das mag ich.“ Sie lässt sich auf ihren Platz nieder. Ihr Blick wird ernst. „Aus Danny werde ich nicht schlau. Mal ist er unausstehlich und dann eigentlich wieder ganz nett“, sagt sie, als ich ihr die Tasche reiche und auf die Uhr sehe. Ein paar Minuten haben wir noch, dann muss ich zu Geschichte. „Ja, das muss man nicht verstehen“, kommentiere ich und schüttele den Kopf. Ich weiß, was Danny meistens denkt und bin froh, dass Shari das nicht interpretieren kann. Obwohl ich mir eingestehen muss, dass ich Dannys Verhalten selbst manchmal nicht verstehe. Seit unserer Prügelei hat sich unser Verhältnis geändert. Allerdings zum Positiven. „Bei dir möchte ich auch gern öfter wissen, was du denkst.“ Ich schüttele energisch den Kopf. „Oh glaub mir, das möchtest du garantiert nicht.“ Ich schultere meinen Rucksack und sehe, wie Sharis Kopf zur Seite kippt. Sie sieht mich skeptisch an. „Ich denke nur Müll“, sage ich und sehe noch einmal zur Uhr. Shari sieht nicht zufrieden aus. „Sehen wir uns in der Pause?“, fragt sie. Ich nicke und laufe winkend zum Ausgang. „Näkemiin“, sagt sie schnell und nimmt meinen finnischen Abschiedsgruß vorweg. Es klingt perfekt und da mir so schnell kein Konter einfällt, rufe ich ihr nur ein ´Sayonara´ zu „Das üben wir noch!“ Sie hat das letzte Wort. Ich grinse und verschwinde in meinen eigenen Kurs. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)