Elemente - Die Auserwählten von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel 1 - Elementzeremonie --------------------------------------- Kapitel 1 - Elementzeremonie Der Wind streicht durch die Blätter und lässt sie singen. Er bringt die schwarzen Strähnen meines Haares zum Tanzen, doch er kann mich nicht vom Dach schubsen. Ich habe die Hände und Füße fest aufgesetzt und trotze ihm entgegen. Die Dunkelheit der Nacht weicht dem Licht und färbt den Himmel in warme Gelb- und Rottöne. Die Sonne klettert hinter den Bäumen hervor und blendet mich für einige Sekunden, doch auch sie kann mich nicht bezwingen. Hier oben auf dem Dach unseres Hauses ist mein Reich und nur alle vier Elemente zusammen könnten mich dazu zwingen, herunter zu fallen. Heute ist der Tag der Elemente. Jedes Jahr zum Sommeranfang findet die Zeremonie statt, an der jeder 18jährige erfährt, zu welchem Element er gehört: Wasser, Erde, Feuer oder Luft. Das Element bestimmt, in welcher der vier Städte man lebt. Welchen Beruf man ausübt. Welche Freunde man hat. Mein Vater gehört zu Erde. Ebenso wie meine zwei älteren Brüder, Zait und Varon. Meine Mutter gehörte ebenfalls zur Erde, doch sie starb vor einigen Jahren an der Geburt meines kleinen Bruders, Caron. Er ist erst vier Jahre alt, weswegen er ein Elelo, ein Elementloser, ist. Ich werde heute erfahren, zu welchem Element ich gehöre. Alle glauben, dass ich Erde bin wegen meiner Familie, die seit mehreren Generationen nicht ein einziges Mal einen Elementwechsel in der Linie hatte. Wegen meiner Augen, die wie Erde sind: Grün, umrandet von hellem Braun. Dann würde ich mit meinem Vater im Wald arbeiten, zusammen mit meinen Brüdern. Ich würde meine gewohnte Umgebung behalten und weiterhin in dem Haus wohnen, in dem ich aufgewachsen bin. Alles würde beim Alten bleiben. Und was ist, wenn ich nicht Erde bin? Wenn ich meine Familie enttäusche, weil ich sie verlassen muss? Weil ich sie nie wieder sehen werde, da ich ein neues Leben in einer anderen Stadt beginne? „Was ist, wenn ich Luft bin? Oder sogar eine Auserwählte?“, frage ich die Sonne, dessen warme Strahlen mir ins Gesicht scheinen. Doch die Antwort auf die zweite Frage kann ich mir selbst geben: Ich werde niemals eine Auserwählte sein. In meiner Familie gibt es keine Auserwählten. Und weil ich weiblich bin, sind die Chancen noch geringer, denn Auserwählte sind fast immer männlich. Auserwählt zu sein ist die einzige Chance in der fünften und reichsten Stadt des Landes zu leben: Mittelstadt. Die einzige Stadt, in der junge Menschen nicht eingeteilt werden, sondern privilegiert sind. Die Auserwählten sind diejenigen, die bei dem Test mehrere Ergebnisse bekommen. Bei ihnen überwiegt nicht ein Element, sondern sie tragen alle in sich. Sie werden als etwas Besonderes angesehen. Und damit ihre Talente nicht verschwendet werden, werden sie zu Mittelstadt geschickt, der Regierungssitz von Allegria und Mittelpunkt des Landes. Dort werden sie ausgebildet, denn die Auserwählten sind unsere Hoffnung und unsere stärkste Waffe, falls ein zweiter großer Krieg ausbrechen sollte. Der erste große Krieg fand Jahrhunderte vor der Zeit meiner Großeltern und meiner Urgroßeltern statt. In den Geschichtsbüchern steht, dass es einst tausende von Städten in Allegria gegeben hat. Doch seit dem großen Krieg gibt es nur noch vier: Nord, Ost, Süd und West. Und dazwischen hat die Natur zurück erobert, was sie einst hatte aufgeben müssen. Meine Familie und ich leben in Nord. Dort, wo die Wälder wachsen und die Berge uns an der nördlichen Seite schützen. Dort, wo Erde ist. Hier sind die Sommer mild und die Winter hart. Sehr hart. Da mein Vater Förster ist, kann unsere Familie Holz hacken um die Kamine und Holzöfen brennen zu lassen und es an andere in der Stadt verkaufen. Dadurch haben wir genug Geld, dass wir unsere vierköpfige Familie ohne Schwierigkeiten ernähren können. Genug Geld, dass wir manchmal anderen helfen können, die in Not sind und nicht genug für die kalten Winter haben. Von den fünf Städten ist Nord die Kleinste und meine Familie ist durch ihre Großzügigkeit bei fast allen Bewohnern bekannt. „Vana!“ Als ich meinen Namen höre und nach unten blicke, steht Zait im Licht der aufgehenden Sonne und hat die Hände in die Hüfte gestemmt. „Komm runter“, formt er lautlos mit den Lippen. Er weiß, dass, sobald der Winter vorbei ist, ich jeden Morgen hier oben sitze und mir den Sonnenaufgang ansehe. Und jeden Morgen warnt er mich, denn unser Vater darf es nicht sehen. Er hasst es, dass ich klettere. Im Wald kann ich mich einfacherer verstecken, aber hier oben sehe ich mehr. Keine Blätter die mir die Sicht versperren, keine Äste die im Weg sind und keine Waldtiere, die mein Reich mit mir teilen. Hier oben sind nur ich und die Elemente. Nur einmal hat mein Vater mich beim Klettern erwischt. Das einzige und für mich auch das letzte Mal. Er hatte die Hand erhoben um mich zu schlagen, doch meine älteren Brüder hatten ihn aufhalten können. Danach habe ich mich nie wieder vollkommen sicher gefühlt. Seit dem Tod unserer Mutter hatte er sich verändert. Die Freude, die einst sein Gesicht beherrscht hatte, war mit ihr tief unter der Erde begraben. Der kleine Caron wurde von mir und seinen Brüdern aufgezogen, da sein eigener Vater sich nicht um ihn kümmern wollte. Ein letztes Mal sehe ich zu den Bergen, ehe ich meinen Abstieg beginne. Zielsicher finden meine Füße die Stellen, die ich zum Klettern nutze und bevor mein Bruder mich noch einmal warnen kann, stehe ich neben ihm auf dem Boden. Das Haar meiner Brüder ist genauso rabenschwarz wie mein Eigenes. Zait ist der ältere der Beiden und obwohl ihn drei Jahre von Varon trennen, sehen Beide wie Zwillinge aus. Derselbe dunkle Schatten auf den Wangen, dasselbe kinnlange Haar, dieselben haselnussfarbenen Augen. Die Augen unserer Mutter. Ich bin die einzige, die die Augen unseres Vaters geerbt habe. „Danke, Zait“, sage ich leise und er nickt. „Schon okay. Sieh zu, dass Caron die Zähne putzt und sich anzieht, dann sehe ich zu, dass Varon aus dem Bett kommt“, sagt er schmunzelnd und sieht mich neugierig an. „Bereit für deinen großen Tag?“ „Warst du damals bereit?“, weiche ich der Frage aus. Zait lacht. „Natürlich nicht. Ich war einfach nur froh, als alles vorbei war. Aber ich wusste schon immer, dass ich Erde war.“ Mit diesen Worten dreht er sich um und ich folge ihm leise. Ich wünschte, ich hätte seine Zuversicht. Ich wünschte, ich wüsste was er damals wusste. Im Haus gehe ich meinen täglichen Aufgaben nach. Nachdem ich Caron geweckt habe, sorge ich dafür dass er sich vernünftig anzieht. Er hat die wilden Locken unserer Mutter geerbt und sie stehen in allen Richtungen ab. Die großen braunen Augen schauen aus dem engelsgleichen Gesicht zu mir hoch und füllen sich mit Tränen. „Ich will nicht, dass du weg gehst“, sagt er mit zitternder Stimme. Er ist erst vier, doch er versteht das, wenn ich nicht Erde bin, ich ihn verlassen muss. Für Caron bin ich mehr Mutter als Schwester. Ich geh runter auf die Knie und lege meine Arme schützend um ihn, nachdem er seine um meinen Hals geworfen hat. „Ich gehe nicht weg“, versichere ich ihm und streiche durch seine dunklen Locken. „Ich werde Erde sein, genauso wie Dad und Zait und Varon. Wir werden alle zusammen sein.“ Meine Worte beruhigen ihn wieder und nachdem seine Augen klar und sein Gesicht trocken ist, putzen wir gemeinsam unsere Zähne und gehen die Treppe runter in die Küche. Ich decke den Tisch und bereite Frühstück für alle vor, hole die Zeitung für meinen Vater von der Veranda und versichere mich, dass sein Kaffee an dem richtigen Platz steht. Beim Essen sagt niemand etwas und ich stochere lustlos im Haferbrei herum. „Heut‘ ist der große Tag, hm?“, fragt mein Vater mürrisch, ohne mich dabei anzusehen oder von seiner Zeitung aufzublicken und ich nicke nur. „Wird langsam Zeit. Dann kannst du endlich deinen Brüdern und mir helfen.“ Er geht davon aus, dass ich Erde bin. Und wie ich ihn kenne, hat er das immer geglaubt und nie angezweifelt. Es vergehen mehrere Minuten, ehe ich Caron sage, dass er schon mal hochgehen soll um seine Schuhe anzuziehen. Erst, als ich seine Schritte nicht mehr höre, traue ich mich die Frage zu stellen. „Was ist, wenn ich nicht Erde bin?“ „Unsinn! Die ganze Familie ist Erde. Da wirst du nichts anderes sein. Wer soll sich vor allem um deinen kleinen Bruder kümmern?“ Mit diesen Worten ist die Unterhaltung beendet und bis wir das Haus für die Zeremonie verlassen, sagt keiner ein Wort. Doch meine Gedanken kreisen in meinem Kopf. Mein Vater hat Recht, wer würde sich um Caron kümmern? Meine Brüder müssen arbeiten und mein Vater sieht in dem kleinen Jungen den Grund, warum unsere Mutter gestorben ist. Er würde sich niemals um ihn kümmern. Wenn ich in der Schule war, war er im Kindergarten, doch danach war mein Tag mit Caron gefüllt. Ich kümmerte mich um ihn, spielte mit ihm und schützte ihn. Nur die späten Abendstunden - nachdem er im Bett war - und die frühen Morgenstunden - bevor alle wach waren - gehörten mir allein. Ich tausche die braune Hose und das karierte Hemd, welches ich so gerne trage, gegen ein hellgrünes Kleid ein. Das lange Haar stecke ich zu einem Knoten hoch und auch meine Brüder und mein Vater ziehen ihre beste Kleidung an, ehe wir zur großen Halle gehen. Als wir ankommen, herrscht ein einziges Durcheinander. Jeder versucht einen guten Platz zu ergattern und Freunde und Nachbarn gleichzeitig zu grüßen. Bekannte Gesichter schütteln meine Hand und ich kann nicht verhindern, dass ich immer wieder einen Blick auf die fremden Hände werfe. Dort, auf dem rechten Handgelenk, ist die Zugehörigkeit unter die Haut tätowiert. Nach der Zeremonie bekommt jeder seine Tätowierung. Wird auf meinem Handgelenk bald die Zugehörigkeit für Erde zu sehen sein? Ein Kreis mit einer einfachen Linie in der Mitte, die einen Riss zeigt? Mein Vater hat sich bereits in die hintere Ecke der Halle gestellt, doch meine Brüder wünschen mir Glück, ehe ich mich mit den anderen 18jährigen in eine Reihe stelle. Für die Zeremonie reisen die Forscher aus Mittelstadt zu den vier Städten und führen die Tests durch. Von jedem wird Blut abgenommen und anschließend überprüft. In der darin enthaltenden DNA können Forscher lesen, welchem Element wir angehören. Als ich an der Reihe bin, sehe ich auf das Handgelenk der fremden Frau. Unter ihre Haut ist ein Kreis mit einem Stern darin tätowiert. Das Zeichen für Mittelstadt. Nachdem alle eine Blutprobe abgegeben und sich gesetzt haben, tritt der Bürgermeister auf die Bühne. Er ist ein kleiner, runder Mann, der mit jedem Jahr mehr Haare auf dem Kopf verliert. Es dauert nicht lange bis er alle um Ruhe bittet und die Gespräche langsam verebben. Er begrüßt die Anwesenden und verkündet, wie viele junge Leute heute erfahren werden, zu welchem Element sie gehören. Dieses Jahr sind es 132. Es sind fast 50 Menschen mehr als letztes Jahr. Und während unser Blut in einem anderen Raum mithilfe von silbernen Maschinen überprüft wird, erzählt der Bürgermeister die Geschichte der Elemente. Dass es einst, vor langer Zeit, ein Land namens Amerika gegeben hat und die Menschen unzufrieden waren. Bürgerkriege brachen aus und stürzten die damalige Regierung. Unzählige Menschen starben, Städte wurden verwüstet und erst nach vielen, vielen Jahren kehrte wieder Ruhe ein. Als diese Ruhe kam, gründete man das Land Allegria mit ihren vier Städten und wies ihnen Elemente zu. Biologen und Forscher hatten herausgefunden, dass unterschiedliche Charakterzüge und Lebenseinstellung zu diesem großen Krieg geführt hatten und deshalb führte man das Elementsystem ein: Wenn ein jeder in einer Stadt leben würde mit Menschen, die denselben Charakter und dieselben Erwartungen habe, dann könne kein Krieg mehr ausbrechen. Und die DNA eines jeden Kindes sollte im Alter von 18 überprüft werden, um sicherzustellen, dass das Gleichgewicht gewahrt bleibt. Doch im Krieg hatten sich Menschen entwickelt, die zu keinem Element gehörten: Die Auserwählten. Sie wiesen besondere Eigenschaften und Talente auf, die man nirgendwo einsortieren konnte. Sie wurden auserwählt, als Krieger und Beschützer Allegrias zu leben und zu dienen. Die Regierung des Landes wurde in die Mitte gesetzt, in Mittelstadt, umgeben von hohen und dicken Zäunen. Dort wohnten die Erfinder des Systems und all diejenige, die im Krieg etwas Besonderes geleistet hatten. Ihre Kinder mussten sich nicht in das System einordnen, denn die Gene ihrer Vorfahren wiesen auf, dass sie bereits Großes geleistet hatten. Ich höre neben mir, wie mein Bruder Varon verächtlich schnaubt und mit den Augen rollt. Ich greife hart nach seinem Arm und schüttle ihn. Sein Verhalten grenzt an Verrat. Wer das System nicht ehrt, der steht auch nicht vollkommen dahinter und ist somit ein Verräter. Doch Varon schüttelt mich nur ab und richtet seine Augen wieder auf die Bühne. Er hasst das System. Seit seine große Liebe Lilian nach Ost ziehen musste, weil sie Luft war, trug er diesen Hass mit sich. Es ist verboten mit Menschen eines anderen Elements zu sprechen. Sie zu lieben ist Hochverrat und wird mit dem Tod bestraft. Nur mit Mühe und Not hatten Zait und ich es damals geschafft, ihn davon abzuhalten nach Ost zu reisen. Wir dürfen die eigene Stadt nur auf Anweisung von Mittelstadt verlassen. Der Bürgermeister leckt sich aufgeregt über die Lippen und wischt sich mit einem Taschentuch über die Stirn. In der kurzen Zeit, in der Varon und ich unsere kleine Auseinandersetzung hatten, kam ein Forscher auf die Bühne und hatte dem Bürgermeister etwas ins Ohr geflüstert. Etwas Wichtiges, denn der kleine Mann kann sich nur schwer wieder beruhigen. „Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen verkünden, dass wir dieses Jahr zwei Auserwählte haben“, sagt er ins Mikrofon und sorgt dafür, dass erstauntes Murmeln durch die Menge geht. Auserwählte sind selten, besonders in Nord. Das letzte Mal, das ein Auserwählter aus Nord kam, war vor acht Jahren. Und dieses Jahr gibt es gleich Zwei. Der Bürgermeister bittet die Anwesenden um Ruhe und winkt einen der Forscher zu sich, der ihm zwei Umschläge in die Hand drückt. Die Spannung im Raum ist beinahe greifbar, als er den ersten Brief öffnet und den Namen vorliest, der auf dem kleinen Zettel darin steht. „Deron Cathal.“ Gemurmel erfüllt wieder den Raum und Köpfe drehen sich, um den Auserwählten zu suchen. Die Masse macht Platz für Deron und alle Augen richten sich auf ihn. Ich kenne Deron. Er ist der Sohn eines Schmieds, seine Familie ist einer unserer besten Kunden. Damit das Feuer in der alten Schmiede nie ausgeht, brauchen sie ständig Holz. Deron hat kurz geschorenes blondes Haar und breite Schultern. Er ist groß, bestimmt einen Kopf größer als ich, und die markanten Gesichtszüge lassen ihn älter wirken. Die muskulösen Oberarme zeigen deutlich, dass er seit mehreren Jahren seinem Vater in der Schmiede hilft. Die hellblauen Augen strahlen oft eine greifbare Lebensfreude aus und in der Schule hat er viele Freunde. Doch wir reden so gut wie nie miteinander. Meistens sind es meine Brüder, die ihm das Holz verkaufen. Die einzigen Male, die wir uns unterhalten haben, haben wir nicht viele Worte miteinander gewechselt. Deron scheint zu zögern, ehe er langsam zu der Bühne geht. Heute trägt er ein weißes Hemd und eine dunkelgraue, ausgewaschene Jeans. Die Menschen, an denen er vorbei geht, lächeln ihm zu, einige klopfen ihm auf die Schulter und beglückwünschen ihn. Als ich zu seiner Familie sehe, glitzern Freudentränen auf den Wangen seiner Eltern. Es ist eine große Ehre auserwählt zu sein. Es bedeutet, dass man in Mittelstadt lebt, dass die Familie zu Hause einen privilegierten Stand bekommt und dass die Regierung einen genetisch passenden Partner für einen findet. Der einzige Nachteil besteht darin, dass die Kinder von Auserwählten ein Teil des Elementsystems sind. Die meisten Eltern müssen zusehen, wie ihre Kinder zurück in das System geschleust werden, dem sie selbst entkommen sind. Derons Gesicht ist verschlossen, dennoch kann man ihm die Überraschung anmerken. Doch ganz anders als unser letzter Auserwählter, ganz anders als die meisten Menschen hier im Raum, zeigt er weder Begeisterung noch Freude. Der Bürgermeister schenkt Deron ein Lächeln und schüttelt seine Hand. „Deron Cathal“, verkündet er ein weiteres Mal und beginnt zu klatschen. Die Anwesenden folgen seinem Beispiel, während er den Auserwählten zur rechten Seite der Bühne dirigiert. Nachdem der Applaus verklingt, erinnert der Bürgermeister daran, dass es noch einen zweiten Auserwählten gibt und Ruhe kehrt ein. Dieses Mal braucht er länger, bis er den Brief geöffnet hat. Die Anspannung kehrt zurück und macht mich nervös. Es ist so leise geworden, dass mein eigener Atem viel zu laut erscheint. Während alle zur Bühne sehen, lasse ich meinen Blick wandern. Wer wird der Zweite sein? Welcher Junge könnte in meinen Augen fähig sein, ein Auserwählter zu sein? Ich kenne nicht viele Jungs. In der Schule werde ich von ihnen ignoriert oder ich ignoriere sie, weil ich viel lieber aus dem Fenster sehe und träume. Ich träume von den Wäldern neben unserem Haus und wie es wäre, wie ein Vogel über sie zu fliegen. Und nach der Schule kümmere ich mich um Caron. Erst nachdem er im Bett ist, nehme ich mir die Messersammlung, die Varon mir geschenkt hat und werfe sie an die große Eiche auf unserem Grundstück. Als ich gerade einmal acht Jahre alt war hat mein Vater mir Messerwerfen beigebracht. Es war ihm wichtig, dass ich mich zu verteidigen wusste, falls er und meine Brüder mal nicht da sein sollten. Vor dem Tod meiner Mutter hat er mir immer stolz zugesehen, wie ich von Jahr zu Jahr besser wurde. Nach der Geburt von dem kleinen Caron hat Varon mein Training übernommen. Mittlerweile bin ich gut genug, dass er mir nichts mehr beibringen kann. Fast unbemerkt streift meine Hand an meiner Hüfte entlang und sucht nach dem Gürtel, den ich jeden Tag trage. An ihm habe ich Haltegriffe für zwei Messer genäht, ohne die ich nie in den Wald hinein gehe. Wenn ich zur Stadt laufe, habe ich die Messer in meinen Stiefeln versteckt. Jetzt vermisse ich das Gefühl von ihnen. Ich lasse meinen Blick weiter über die Menschenmenge streifen und bemerke nicht, dass der Bürgermeister den Brief geöffnet hat und den zweiten Namen vorliest. „Vana Brenoth.“ Ich höre, wie neben mir mehrere Leute nach Luft schnappen und die ersten Gesichter, die ich vorhin noch unbemerkt beobachtet habe, drehen sich nun zu mir. Haben sie etwa bemerkt, dass ich sie angestarrt habe? Als ich mich weiter umschaue, sehe ich, dass sich nach und nach jeder anwesende Kopf in meine Richtung dreht. Warum sehen mich alle an? Als ich stirnrunzelnd zu meinen Brüdern blicke und die mich mit offenen Mündern anstarren, dämmert es mir langsam. „Vana Brenoth“, verkündet der Bürgermeister ein weiteres Mal, etwas lauter als zuvor und dieses Mal höre ich es klar und deutlich. Noch immer starren mich die Anderen an und meine Beine zittern, als die Menschenmenge sich von mir entfernt und mich umkreist. „Da ist sie ja!“, höre ich den Bürgermeister sagen und er klingt ein wenig erleichtert. Er winkt mich zu sich auf die Bühne, doch meine Beine wollen mir nicht gehorchen. Los, bewegt euch!, sage ich in Gedanken zu meinen Füßen und sie folgen meinem Befehl nur langsam. Die Masse macht mir sofort Platz und der Weg zur Bühne liegt vor mir. Er ist endlos. Ich mache einen Schritt nach dem anderen und scheine mein Ziel nie zu erreichen. Gesichter sehen mich voller Erstaunen und Unglauben an. Keiner kann verstehen, warum mein Name genannt wurde. Keiner freut sich, klopft mir auf die Schulter oder beglückwünscht mich. Alle sehen mich nur an und selbst als ich die Bühne erreicht habe, spüre ich ihre Blicke in meinem Rücken. Der Bürgermeister ist der Einzige, der mich anlächelt. Doch es ist nicht echt, denn in seinen Augen sehe ich dasselbe Erstaunen wie in allen anderen. Ich schüttle die Hand des Bürgermeisters, ehe er noch einmal meinen Namen nennt und beginnt zu klatschen. Die wenigen Augenblicke vollkommener Stille danach zwingen mich beinahe in die Knie, ehe meine Brüder beginnen laut zu klatschen. Andere folgen ihrem Beispiel und bald ist die Halle von dem Geräusch erfüllt, wie es zuvor bei Deron der Fall gewesen war. Doch es ist verhalten und langsam. Der Einzige, der nicht applaudiert ist mein Vater. Seine harten Augen sehen direkt in meine und in ihnen steht nur eins: Verrat. Er dachte ich bin Erde. Er war fest davon überzeugt. Dass ich der Familie helfen würde, wie es meine Brüder taten und dass alles so laufen würde, wie er es sich gedacht hatte. Wie sich nun herausgestellt hat, war ich nie Erde. Ich bin eine Auserwählte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)