Elemente - Die Auserwählten von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Kapitel 1 - Elementzeremonie --------------------------------------- Kapitel 1 - Elementzeremonie Der Wind streicht durch die Blätter und lässt sie singen. Er bringt die schwarzen Strähnen meines Haares zum Tanzen, doch er kann mich nicht vom Dach schubsen. Ich habe die Hände und Füße fest aufgesetzt und trotze ihm entgegen. Die Dunkelheit der Nacht weicht dem Licht und färbt den Himmel in warme Gelb- und Rottöne. Die Sonne klettert hinter den Bäumen hervor und blendet mich für einige Sekunden, doch auch sie kann mich nicht bezwingen. Hier oben auf dem Dach unseres Hauses ist mein Reich und nur alle vier Elemente zusammen könnten mich dazu zwingen, herunter zu fallen. Heute ist der Tag der Elemente. Jedes Jahr zum Sommeranfang findet die Zeremonie statt, an der jeder 18jährige erfährt, zu welchem Element er gehört: Wasser, Erde, Feuer oder Luft. Das Element bestimmt, in welcher der vier Städte man lebt. Welchen Beruf man ausübt. Welche Freunde man hat. Mein Vater gehört zu Erde. Ebenso wie meine zwei älteren Brüder, Zait und Varon. Meine Mutter gehörte ebenfalls zur Erde, doch sie starb vor einigen Jahren an der Geburt meines kleinen Bruders, Caron. Er ist erst vier Jahre alt, weswegen er ein Elelo, ein Elementloser, ist. Ich werde heute erfahren, zu welchem Element ich gehöre. Alle glauben, dass ich Erde bin wegen meiner Familie, die seit mehreren Generationen nicht ein einziges Mal einen Elementwechsel in der Linie hatte. Wegen meiner Augen, die wie Erde sind: Grün, umrandet von hellem Braun. Dann würde ich mit meinem Vater im Wald arbeiten, zusammen mit meinen Brüdern. Ich würde meine gewohnte Umgebung behalten und weiterhin in dem Haus wohnen, in dem ich aufgewachsen bin. Alles würde beim Alten bleiben. Und was ist, wenn ich nicht Erde bin? Wenn ich meine Familie enttäusche, weil ich sie verlassen muss? Weil ich sie nie wieder sehen werde, da ich ein neues Leben in einer anderen Stadt beginne? „Was ist, wenn ich Luft bin? Oder sogar eine Auserwählte?“, frage ich die Sonne, dessen warme Strahlen mir ins Gesicht scheinen. Doch die Antwort auf die zweite Frage kann ich mir selbst geben: Ich werde niemals eine Auserwählte sein. In meiner Familie gibt es keine Auserwählten. Und weil ich weiblich bin, sind die Chancen noch geringer, denn Auserwählte sind fast immer männlich. Auserwählt zu sein ist die einzige Chance in der fünften und reichsten Stadt des Landes zu leben: Mittelstadt. Die einzige Stadt, in der junge Menschen nicht eingeteilt werden, sondern privilegiert sind. Die Auserwählten sind diejenigen, die bei dem Test mehrere Ergebnisse bekommen. Bei ihnen überwiegt nicht ein Element, sondern sie tragen alle in sich. Sie werden als etwas Besonderes angesehen. Und damit ihre Talente nicht verschwendet werden, werden sie zu Mittelstadt geschickt, der Regierungssitz von Allegria und Mittelpunkt des Landes. Dort werden sie ausgebildet, denn die Auserwählten sind unsere Hoffnung und unsere stärkste Waffe, falls ein zweiter großer Krieg ausbrechen sollte. Der erste große Krieg fand Jahrhunderte vor der Zeit meiner Großeltern und meiner Urgroßeltern statt. In den Geschichtsbüchern steht, dass es einst tausende von Städten in Allegria gegeben hat. Doch seit dem großen Krieg gibt es nur noch vier: Nord, Ost, Süd und West. Und dazwischen hat die Natur zurück erobert, was sie einst hatte aufgeben müssen. Meine Familie und ich leben in Nord. Dort, wo die Wälder wachsen und die Berge uns an der nördlichen Seite schützen. Dort, wo Erde ist. Hier sind die Sommer mild und die Winter hart. Sehr hart. Da mein Vater Förster ist, kann unsere Familie Holz hacken um die Kamine und Holzöfen brennen zu lassen und es an andere in der Stadt verkaufen. Dadurch haben wir genug Geld, dass wir unsere vierköpfige Familie ohne Schwierigkeiten ernähren können. Genug Geld, dass wir manchmal anderen helfen können, die in Not sind und nicht genug für die kalten Winter haben. Von den fünf Städten ist Nord die Kleinste und meine Familie ist durch ihre Großzügigkeit bei fast allen Bewohnern bekannt. „Vana!“ Als ich meinen Namen höre und nach unten blicke, steht Zait im Licht der aufgehenden Sonne und hat die Hände in die Hüfte gestemmt. „Komm runter“, formt er lautlos mit den Lippen. Er weiß, dass, sobald der Winter vorbei ist, ich jeden Morgen hier oben sitze und mir den Sonnenaufgang ansehe. Und jeden Morgen warnt er mich, denn unser Vater darf es nicht sehen. Er hasst es, dass ich klettere. Im Wald kann ich mich einfacherer verstecken, aber hier oben sehe ich mehr. Keine Blätter die mir die Sicht versperren, keine Äste die im Weg sind und keine Waldtiere, die mein Reich mit mir teilen. Hier oben sind nur ich und die Elemente. Nur einmal hat mein Vater mich beim Klettern erwischt. Das einzige und für mich auch das letzte Mal. Er hatte die Hand erhoben um mich zu schlagen, doch meine älteren Brüder hatten ihn aufhalten können. Danach habe ich mich nie wieder vollkommen sicher gefühlt. Seit dem Tod unserer Mutter hatte er sich verändert. Die Freude, die einst sein Gesicht beherrscht hatte, war mit ihr tief unter der Erde begraben. Der kleine Caron wurde von mir und seinen Brüdern aufgezogen, da sein eigener Vater sich nicht um ihn kümmern wollte. Ein letztes Mal sehe ich zu den Bergen, ehe ich meinen Abstieg beginne. Zielsicher finden meine Füße die Stellen, die ich zum Klettern nutze und bevor mein Bruder mich noch einmal warnen kann, stehe ich neben ihm auf dem Boden. Das Haar meiner Brüder ist genauso rabenschwarz wie mein Eigenes. Zait ist der ältere der Beiden und obwohl ihn drei Jahre von Varon trennen, sehen Beide wie Zwillinge aus. Derselbe dunkle Schatten auf den Wangen, dasselbe kinnlange Haar, dieselben haselnussfarbenen Augen. Die Augen unserer Mutter. Ich bin die einzige, die die Augen unseres Vaters geerbt habe. „Danke, Zait“, sage ich leise und er nickt. „Schon okay. Sieh zu, dass Caron die Zähne putzt und sich anzieht, dann sehe ich zu, dass Varon aus dem Bett kommt“, sagt er schmunzelnd und sieht mich neugierig an. „Bereit für deinen großen Tag?“ „Warst du damals bereit?“, weiche ich der Frage aus. Zait lacht. „Natürlich nicht. Ich war einfach nur froh, als alles vorbei war. Aber ich wusste schon immer, dass ich Erde war.“ Mit diesen Worten dreht er sich um und ich folge ihm leise. Ich wünschte, ich hätte seine Zuversicht. Ich wünschte, ich wüsste was er damals wusste. Im Haus gehe ich meinen täglichen Aufgaben nach. Nachdem ich Caron geweckt habe, sorge ich dafür dass er sich vernünftig anzieht. Er hat die wilden Locken unserer Mutter geerbt und sie stehen in allen Richtungen ab. Die großen braunen Augen schauen aus dem engelsgleichen Gesicht zu mir hoch und füllen sich mit Tränen. „Ich will nicht, dass du weg gehst“, sagt er mit zitternder Stimme. Er ist erst vier, doch er versteht das, wenn ich nicht Erde bin, ich ihn verlassen muss. Für Caron bin ich mehr Mutter als Schwester. Ich geh runter auf die Knie und lege meine Arme schützend um ihn, nachdem er seine um meinen Hals geworfen hat. „Ich gehe nicht weg“, versichere ich ihm und streiche durch seine dunklen Locken. „Ich werde Erde sein, genauso wie Dad und Zait und Varon. Wir werden alle zusammen sein.“ Meine Worte beruhigen ihn wieder und nachdem seine Augen klar und sein Gesicht trocken ist, putzen wir gemeinsam unsere Zähne und gehen die Treppe runter in die Küche. Ich decke den Tisch und bereite Frühstück für alle vor, hole die Zeitung für meinen Vater von der Veranda und versichere mich, dass sein Kaffee an dem richtigen Platz steht. Beim Essen sagt niemand etwas und ich stochere lustlos im Haferbrei herum. „Heut‘ ist der große Tag, hm?“, fragt mein Vater mürrisch, ohne mich dabei anzusehen oder von seiner Zeitung aufzublicken und ich nicke nur. „Wird langsam Zeit. Dann kannst du endlich deinen Brüdern und mir helfen.“ Er geht davon aus, dass ich Erde bin. Und wie ich ihn kenne, hat er das immer geglaubt und nie angezweifelt. Es vergehen mehrere Minuten, ehe ich Caron sage, dass er schon mal hochgehen soll um seine Schuhe anzuziehen. Erst, als ich seine Schritte nicht mehr höre, traue ich mich die Frage zu stellen. „Was ist, wenn ich nicht Erde bin?“ „Unsinn! Die ganze Familie ist Erde. Da wirst du nichts anderes sein. Wer soll sich vor allem um deinen kleinen Bruder kümmern?“ Mit diesen Worten ist die Unterhaltung beendet und bis wir das Haus für die Zeremonie verlassen, sagt keiner ein Wort. Doch meine Gedanken kreisen in meinem Kopf. Mein Vater hat Recht, wer würde sich um Caron kümmern? Meine Brüder müssen arbeiten und mein Vater sieht in dem kleinen Jungen den Grund, warum unsere Mutter gestorben ist. Er würde sich niemals um ihn kümmern. Wenn ich in der Schule war, war er im Kindergarten, doch danach war mein Tag mit Caron gefüllt. Ich kümmerte mich um ihn, spielte mit ihm und schützte ihn. Nur die späten Abendstunden - nachdem er im Bett war - und die frühen Morgenstunden - bevor alle wach waren - gehörten mir allein. Ich tausche die braune Hose und das karierte Hemd, welches ich so gerne trage, gegen ein hellgrünes Kleid ein. Das lange Haar stecke ich zu einem Knoten hoch und auch meine Brüder und mein Vater ziehen ihre beste Kleidung an, ehe wir zur großen Halle gehen. Als wir ankommen, herrscht ein einziges Durcheinander. Jeder versucht einen guten Platz zu ergattern und Freunde und Nachbarn gleichzeitig zu grüßen. Bekannte Gesichter schütteln meine Hand und ich kann nicht verhindern, dass ich immer wieder einen Blick auf die fremden Hände werfe. Dort, auf dem rechten Handgelenk, ist die Zugehörigkeit unter die Haut tätowiert. Nach der Zeremonie bekommt jeder seine Tätowierung. Wird auf meinem Handgelenk bald die Zugehörigkeit für Erde zu sehen sein? Ein Kreis mit einer einfachen Linie in der Mitte, die einen Riss zeigt? Mein Vater hat sich bereits in die hintere Ecke der Halle gestellt, doch meine Brüder wünschen mir Glück, ehe ich mich mit den anderen 18jährigen in eine Reihe stelle. Für die Zeremonie reisen die Forscher aus Mittelstadt zu den vier Städten und führen die Tests durch. Von jedem wird Blut abgenommen und anschließend überprüft. In der darin enthaltenden DNA können Forscher lesen, welchem Element wir angehören. Als ich an der Reihe bin, sehe ich auf das Handgelenk der fremden Frau. Unter ihre Haut ist ein Kreis mit einem Stern darin tätowiert. Das Zeichen für Mittelstadt. Nachdem alle eine Blutprobe abgegeben und sich gesetzt haben, tritt der Bürgermeister auf die Bühne. Er ist ein kleiner, runder Mann, der mit jedem Jahr mehr Haare auf dem Kopf verliert. Es dauert nicht lange bis er alle um Ruhe bittet und die Gespräche langsam verebben. Er begrüßt die Anwesenden und verkündet, wie viele junge Leute heute erfahren werden, zu welchem Element sie gehören. Dieses Jahr sind es 132. Es sind fast 50 Menschen mehr als letztes Jahr. Und während unser Blut in einem anderen Raum mithilfe von silbernen Maschinen überprüft wird, erzählt der Bürgermeister die Geschichte der Elemente. Dass es einst, vor langer Zeit, ein Land namens Amerika gegeben hat und die Menschen unzufrieden waren. Bürgerkriege brachen aus und stürzten die damalige Regierung. Unzählige Menschen starben, Städte wurden verwüstet und erst nach vielen, vielen Jahren kehrte wieder Ruhe ein. Als diese Ruhe kam, gründete man das Land Allegria mit ihren vier Städten und wies ihnen Elemente zu. Biologen und Forscher hatten herausgefunden, dass unterschiedliche Charakterzüge und Lebenseinstellung zu diesem großen Krieg geführt hatten und deshalb führte man das Elementsystem ein: Wenn ein jeder in einer Stadt leben würde mit Menschen, die denselben Charakter und dieselben Erwartungen habe, dann könne kein Krieg mehr ausbrechen. Und die DNA eines jeden Kindes sollte im Alter von 18 überprüft werden, um sicherzustellen, dass das Gleichgewicht gewahrt bleibt. Doch im Krieg hatten sich Menschen entwickelt, die zu keinem Element gehörten: Die Auserwählten. Sie wiesen besondere Eigenschaften und Talente auf, die man nirgendwo einsortieren konnte. Sie wurden auserwählt, als Krieger und Beschützer Allegrias zu leben und zu dienen. Die Regierung des Landes wurde in die Mitte gesetzt, in Mittelstadt, umgeben von hohen und dicken Zäunen. Dort wohnten die Erfinder des Systems und all diejenige, die im Krieg etwas Besonderes geleistet hatten. Ihre Kinder mussten sich nicht in das System einordnen, denn die Gene ihrer Vorfahren wiesen auf, dass sie bereits Großes geleistet hatten. Ich höre neben mir, wie mein Bruder Varon verächtlich schnaubt und mit den Augen rollt. Ich greife hart nach seinem Arm und schüttle ihn. Sein Verhalten grenzt an Verrat. Wer das System nicht ehrt, der steht auch nicht vollkommen dahinter und ist somit ein Verräter. Doch Varon schüttelt mich nur ab und richtet seine Augen wieder auf die Bühne. Er hasst das System. Seit seine große Liebe Lilian nach Ost ziehen musste, weil sie Luft war, trug er diesen Hass mit sich. Es ist verboten mit Menschen eines anderen Elements zu sprechen. Sie zu lieben ist Hochverrat und wird mit dem Tod bestraft. Nur mit Mühe und Not hatten Zait und ich es damals geschafft, ihn davon abzuhalten nach Ost zu reisen. Wir dürfen die eigene Stadt nur auf Anweisung von Mittelstadt verlassen. Der Bürgermeister leckt sich aufgeregt über die Lippen und wischt sich mit einem Taschentuch über die Stirn. In der kurzen Zeit, in der Varon und ich unsere kleine Auseinandersetzung hatten, kam ein Forscher auf die Bühne und hatte dem Bürgermeister etwas ins Ohr geflüstert. Etwas Wichtiges, denn der kleine Mann kann sich nur schwer wieder beruhigen. „Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen verkünden, dass wir dieses Jahr zwei Auserwählte haben“, sagt er ins Mikrofon und sorgt dafür, dass erstauntes Murmeln durch die Menge geht. Auserwählte sind selten, besonders in Nord. Das letzte Mal, das ein Auserwählter aus Nord kam, war vor acht Jahren. Und dieses Jahr gibt es gleich Zwei. Der Bürgermeister bittet die Anwesenden um Ruhe und winkt einen der Forscher zu sich, der ihm zwei Umschläge in die Hand drückt. Die Spannung im Raum ist beinahe greifbar, als er den ersten Brief öffnet und den Namen vorliest, der auf dem kleinen Zettel darin steht. „Deron Cathal.“ Gemurmel erfüllt wieder den Raum und Köpfe drehen sich, um den Auserwählten zu suchen. Die Masse macht Platz für Deron und alle Augen richten sich auf ihn. Ich kenne Deron. Er ist der Sohn eines Schmieds, seine Familie ist einer unserer besten Kunden. Damit das Feuer in der alten Schmiede nie ausgeht, brauchen sie ständig Holz. Deron hat kurz geschorenes blondes Haar und breite Schultern. Er ist groß, bestimmt einen Kopf größer als ich, und die markanten Gesichtszüge lassen ihn älter wirken. Die muskulösen Oberarme zeigen deutlich, dass er seit mehreren Jahren seinem Vater in der Schmiede hilft. Die hellblauen Augen strahlen oft eine greifbare Lebensfreude aus und in der Schule hat er viele Freunde. Doch wir reden so gut wie nie miteinander. Meistens sind es meine Brüder, die ihm das Holz verkaufen. Die einzigen Male, die wir uns unterhalten haben, haben wir nicht viele Worte miteinander gewechselt. Deron scheint zu zögern, ehe er langsam zu der Bühne geht. Heute trägt er ein weißes Hemd und eine dunkelgraue, ausgewaschene Jeans. Die Menschen, an denen er vorbei geht, lächeln ihm zu, einige klopfen ihm auf die Schulter und beglückwünschen ihn. Als ich zu seiner Familie sehe, glitzern Freudentränen auf den Wangen seiner Eltern. Es ist eine große Ehre auserwählt zu sein. Es bedeutet, dass man in Mittelstadt lebt, dass die Familie zu Hause einen privilegierten Stand bekommt und dass die Regierung einen genetisch passenden Partner für einen findet. Der einzige Nachteil besteht darin, dass die Kinder von Auserwählten ein Teil des Elementsystems sind. Die meisten Eltern müssen zusehen, wie ihre Kinder zurück in das System geschleust werden, dem sie selbst entkommen sind. Derons Gesicht ist verschlossen, dennoch kann man ihm die Überraschung anmerken. Doch ganz anders als unser letzter Auserwählter, ganz anders als die meisten Menschen hier im Raum, zeigt er weder Begeisterung noch Freude. Der Bürgermeister schenkt Deron ein Lächeln und schüttelt seine Hand. „Deron Cathal“, verkündet er ein weiteres Mal und beginnt zu klatschen. Die Anwesenden folgen seinem Beispiel, während er den Auserwählten zur rechten Seite der Bühne dirigiert. Nachdem der Applaus verklingt, erinnert der Bürgermeister daran, dass es noch einen zweiten Auserwählten gibt und Ruhe kehrt ein. Dieses Mal braucht er länger, bis er den Brief geöffnet hat. Die Anspannung kehrt zurück und macht mich nervös. Es ist so leise geworden, dass mein eigener Atem viel zu laut erscheint. Während alle zur Bühne sehen, lasse ich meinen Blick wandern. Wer wird der Zweite sein? Welcher Junge könnte in meinen Augen fähig sein, ein Auserwählter zu sein? Ich kenne nicht viele Jungs. In der Schule werde ich von ihnen ignoriert oder ich ignoriere sie, weil ich viel lieber aus dem Fenster sehe und träume. Ich träume von den Wäldern neben unserem Haus und wie es wäre, wie ein Vogel über sie zu fliegen. Und nach der Schule kümmere ich mich um Caron. Erst nachdem er im Bett ist, nehme ich mir die Messersammlung, die Varon mir geschenkt hat und werfe sie an die große Eiche auf unserem Grundstück. Als ich gerade einmal acht Jahre alt war hat mein Vater mir Messerwerfen beigebracht. Es war ihm wichtig, dass ich mich zu verteidigen wusste, falls er und meine Brüder mal nicht da sein sollten. Vor dem Tod meiner Mutter hat er mir immer stolz zugesehen, wie ich von Jahr zu Jahr besser wurde. Nach der Geburt von dem kleinen Caron hat Varon mein Training übernommen. Mittlerweile bin ich gut genug, dass er mir nichts mehr beibringen kann. Fast unbemerkt streift meine Hand an meiner Hüfte entlang und sucht nach dem Gürtel, den ich jeden Tag trage. An ihm habe ich Haltegriffe für zwei Messer genäht, ohne die ich nie in den Wald hinein gehe. Wenn ich zur Stadt laufe, habe ich die Messer in meinen Stiefeln versteckt. Jetzt vermisse ich das Gefühl von ihnen. Ich lasse meinen Blick weiter über die Menschenmenge streifen und bemerke nicht, dass der Bürgermeister den Brief geöffnet hat und den zweiten Namen vorliest. „Vana Brenoth.“ Ich höre, wie neben mir mehrere Leute nach Luft schnappen und die ersten Gesichter, die ich vorhin noch unbemerkt beobachtet habe, drehen sich nun zu mir. Haben sie etwa bemerkt, dass ich sie angestarrt habe? Als ich mich weiter umschaue, sehe ich, dass sich nach und nach jeder anwesende Kopf in meine Richtung dreht. Warum sehen mich alle an? Als ich stirnrunzelnd zu meinen Brüdern blicke und die mich mit offenen Mündern anstarren, dämmert es mir langsam. „Vana Brenoth“, verkündet der Bürgermeister ein weiteres Mal, etwas lauter als zuvor und dieses Mal höre ich es klar und deutlich. Noch immer starren mich die Anderen an und meine Beine zittern, als die Menschenmenge sich von mir entfernt und mich umkreist. „Da ist sie ja!“, höre ich den Bürgermeister sagen und er klingt ein wenig erleichtert. Er winkt mich zu sich auf die Bühne, doch meine Beine wollen mir nicht gehorchen. Los, bewegt euch!, sage ich in Gedanken zu meinen Füßen und sie folgen meinem Befehl nur langsam. Die Masse macht mir sofort Platz und der Weg zur Bühne liegt vor mir. Er ist endlos. Ich mache einen Schritt nach dem anderen und scheine mein Ziel nie zu erreichen. Gesichter sehen mich voller Erstaunen und Unglauben an. Keiner kann verstehen, warum mein Name genannt wurde. Keiner freut sich, klopft mir auf die Schulter oder beglückwünscht mich. Alle sehen mich nur an und selbst als ich die Bühne erreicht habe, spüre ich ihre Blicke in meinem Rücken. Der Bürgermeister ist der Einzige, der mich anlächelt. Doch es ist nicht echt, denn in seinen Augen sehe ich dasselbe Erstaunen wie in allen anderen. Ich schüttle die Hand des Bürgermeisters, ehe er noch einmal meinen Namen nennt und beginnt zu klatschen. Die wenigen Augenblicke vollkommener Stille danach zwingen mich beinahe in die Knie, ehe meine Brüder beginnen laut zu klatschen. Andere folgen ihrem Beispiel und bald ist die Halle von dem Geräusch erfüllt, wie es zuvor bei Deron der Fall gewesen war. Doch es ist verhalten und langsam. Der Einzige, der nicht applaudiert ist mein Vater. Seine harten Augen sehen direkt in meine und in ihnen steht nur eins: Verrat. Er dachte ich bin Erde. Er war fest davon überzeugt. Dass ich der Familie helfen würde, wie es meine Brüder taten und dass alles so laufen würde, wie er es sich gedacht hatte. Wie sich nun herausgestellt hat, war ich nie Erde. Ich bin eine Auserwählte. Kapitel 2: Kapitel 2 - Auserwählt --------------------------------- Kapitel 2 - Auserwählt Während ich auf der Bühne stehe, erzählt der Bürgermeister was für eine große Ehre es ist, dass es nach acht Jahren gleich zwei Auserwählte in Nord gibt. Was für eine Ehre es für die Familienangehörigen ist. Doch es ist keine Ehre für meinen Vater. Nachdem meine Mutter ihn verlassen hat, lasse ich ihn nun im Stich. Meine Hilfe im Wald, von der er sich sicher war, dass er sie hatte, wurde ihm vor wenigen Minuten entrissen. Sieht er denn nicht, dass es nicht meine Schuld ist? Das ich nicht bestimmen kann, was die Forscher in meiner DNA sehen? In den Gesichtern der Anderen sehe ich keine Enttäuschung, aber auch keine Freude. Eine Wand aus Gesichtern sieht zu mir hoch und saugt mir das Blut aus den Adern. Einige sind vollkommen überrascht, einige stutzig und einige andere sehen regelrecht vorwurfsvoll zu mir hoch. Sie glauben, dass ich die Ergebnisse gefälscht habe. Sie legen eine Hand auf die Schulter ihrer Söhne und fragen sich, warum ein Mädchen auf der Bühne steht und kein Junge. Der Bürgermeister redet immer noch, als ich ein weiteres Paar Augen auf mir spüre. Ich sehe hinüber zu Deron, der mich ebenso anstarrt wie der Rest. Doch in seinem Blick sehe ich keine Überraschung, kein Unglauben. Keinen Vorwurf. Sein Blick wirkt, als hätte er es gewusst. Als hätte er all die Zeit gewusst, dass aus den 18jährigen, die dort unten stehen, ich diejenige sein werde, die nun mit ihm hier auf der Bühne steht. Ich runzle die Stirn, während wir uns weiterhin ansehen. Deute ich ihn wirklich richtig, auch wenn es für mich keinen Sinn macht? Was sieht er in mir, was all die anderen nicht sehen? Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als der Bürgermeister uns näher zu sich holt und sich selbst in die Mitte stellt. Er greift je eine Hand und reißt sie in die Höhe. Die Anwesenden beginnen wieder zu klatschen und dann kommen zwei Forscher auf die Bühne. Sie überreichen Deron und mir je eine Medaille auf der das Zeichen der Auserwählten ist: Ein Kreis, mit einem dicken Rand und einem Loch in der Mitte. Es ist dasselbe Zeichen, wie es die Elemente haben, nur das zu symbolisierende Element in der Mitte fehlt. Dies wird das Zeichen sein, was sie mir heute auf das rechte Handgelenk tätowieren werden. Im nächsten Moment werden Deron und ich in zwei separate Räume geführt, in denen wir uns von unserer Familie verabschieden können, bevor die Reise zu Mittelstadt losgeht. Ich muss nicht lange warten, ehe die Tür sich wieder öffnet und meine älteren Brüder im Türrahmen stehen. Sie scheinen zu zögern, ganz anders als Caron. Er zögert keine Sekunde, als er zwischen die langen Beine seiner Brüder rennt. Im nächsten Moment bin ich auf meinen Knien und er wirft sich in meine ausgebreiteten Arme. „Ich will nicht, dass du gehst!“, weint er und seine Tränen tränken den grünen Stoff meines Kleides an meiner Schulter. „Du darfst nicht gehen!“ Mir sind die Worte im Hals stecken geblieben und alles was ich tun kann, ist ihn zu halten und sein lockiges Haar zu streicheln. Ich spüre die Arme meiner großen Brüder um mich, wie sie mich und den kleinen Caron halten. Wir bleiben eine Weile so, in der sich der Jüngste von uns wieder ein wenig beruhigt und ich die Wärme und Nähe meiner Familie genieße. Irgendwann küsst Varon meine Stirn und nimmt den Kleinen in seine Arme. Als sie Beide den Raum verlassen, schreit Caron meinen Namen. Er schreit nach mir, wie das Kind nach der Mutter und es nimmt mir die Luft zum Atmen und zerdrückt mein Herz. Erst als die Tür hinter ihnen schließt und ich Zaits Finger auf meiner Wange spüre, merke ich, dass ich weine. Meine Sicht verschwimmt, als ich hoch in das Gesicht meines ältesten Bruders sehe. „Es tut mir so leid“, flüstere ich und als er die Arme um mich schlingt, kann ich mich nicht mehr beherrschen. Ich weine lange an seiner Schulter, während es meinen Körper schüttelt und seine schützende Umarmung mich hält. Es ist, als wären wir wieder Kinder, als ich mir das Knie aufgeschlagen habe und er mich getröstet hat. Erst nachdem ich wieder ruhig bin, lösen wir uns voneinander und ich sehe, dass seine Wangen ebenso nass sind wie meine, seine Augen ebenso rot. „Ich pass auf die Beiden auf“, sagt er mit erstickter Stimme. „Ich pass auf Dad auf. Ich werde den kleinen Caron erziehen, ich verspreche es dir, Vana.“ Mit zitternden Fingern zieht er den einzigen Schmuck, den er besitzt über seinen Kopf. Es ist eine dünnes, schwarzes Lederband an der ein kupferfarbenes Symbol hängt: ein Kreis mit einer Linie in der Mitte, die einen Riss aufweist. Das Zeichen für Erde. Unsere Mutter hat ihm das Geschenk zu seiner Elementzeremonie vermacht. Es ist die einzige Erinnerung, die er an sie behalten hat. Zait legt die Kette in meine Hand und schließt sie zu einer Faust, umfasst meine Finger mit seinen eigenen Händen. „Ich kann das nicht annehmen“, erwidere ich, doch er schüttelt nur den Kopf. „Vergiss uns nicht“, flüstert er. „Vergiss niemals, wie sehr wir dich lieben, Vana. Du wirst immer unsere kleine Schwester bleiben.“ Neue Tränen bahnen sich ihren Weg über meine Wangen und bevor ich noch ein Wort sagen kann, steht Zait auf und verlässt den Raum. Ich bleibe auf meinen Knien in der Mitte des leeren Raumes und warte. Schluchzer schütteln meinen Körper, als ich begreife, dass mein Vater nicht kommen wird. Er wird sich nicht von mir verabschieden. Ich werde ihn nie wieder sehen. Meine Zeit ist um, als die Wachen mich abholen. Meine Wangen sind gerade getrocknet, als sie mir hochhelfen und ich das Zeichen der Auserwählten auf ihren Handgelenken sehe. Sie waren einst in meiner Position, mit einer leuchtenden Zukunft vor ihnen. Doch jeder Auserwählter muss am Ende seines Trainings die Prüfungen bestehen. Wer nicht besteht, wird zurück in die vier Städte geschickt, um dort als Wache zu dienen. Eine Aufgabe, die niemand freiwillig will. Zurück zu gehen, mit der Schande über dem Kopf, dass man die Chance seines Lebens hatte und sie nicht bestanden hat. Dass man nun Verräter exekutieren und Verbrecher bestrafen muss. Dass man ein Außenseiter ist, der weder zu den Städten gehört, noch gut genug für Mittelstadt ist. Ein Leben, das ich niemals will. Deron und ich werden aus der großen Halle und zum Bahnhof eskortiert. Dort wartet die große Maschine, mit der die Forscher aus Mittelstadt angereist sind. Sie wird zurück zu ihrem Ursprungsort fahren, doch dieses Mal werden zwei Passagiere mehr an Bord sein. Zwei Wagons sind für die Auserwählten reserviert: ein Schlafraum mit angrenzendem Badezimmer und ein Wohnraum, in dem wir auch unsere Mahlzeiten zu uns nehmen werden. Ich hab kaum Zeit darüber nachzudenken, ob meine Augen immer noch rot vom Weinen sind, als Deron und ich in den Zug geschoben werden und mein Magen sich dreht. Wir stehen im Schlafwagon, doch hier gibt es keine separaten Räume für Jungs und Mädchen. Die meisten Auserwählten sind männlich und da Nord so wenige in all den Jahren hatten, hat man den dritten Wagon für die Mädchen weggelassen. In dem großen Schlafraum befinden sich zehn Einzelbetten, die von kleinen Nachttischen am Kopfende getrennt werden. Schmale, lange Fenster sind über den Betten und am Ende des Wagons ist die Tür zum Badezimmer. „Wir fahren drei Tage bis Mittelstadt“, sagt die Wache hinter uns, während wir uns umsehen. „Seht zu, dass ihr euch bis dahin benehmt. Zwischenmenschliches Verhalten, welches über Freundschaften hinaus geht ist verboten.“ Mit diesen Worten dreht er sich um und die Tür hinter uns gleitet mit einem Zischen zur Seite. Als wir alleine sind, bewegt sich keiner und die Stille, die folgt, liegt schwer auf den Schultern. Meine Gedanken sind bei meinen Brüdern und dem Geschenk, das Zait mir vermacht hat. Meine Hand hat sich darum verkrampft, sodass die Knöchel weiß hervorstechen. Mein Herz schmerzt, wenn ich an Caron denke. Noch heute Morgen habe ich ihm gesagt, dass ich nicht weggehe. Dass wir alle zusammen bleiben werden. Was wird er von mir denken, nachdem ich ihn angelogen habe? Wie will Zait sich vernünftig um ihn kümmern, wenn er doch die meiste Zeit des Tages mit Varon und unserem Vater im Wald arbeiten muss? „Du hast deine Dolche nicht dabei“, sagt Deron neben mir und weckt mich aus meinen Gedanken. Meine Dolche? Unbemerkt gleitet meine Hand zu meiner Hüfte und erinnert mich daran, dass mein Gürtel an meiner Hose zu Hause hängt. Natürlich liegen meine Waffen zu Hause. Hätte ich sie mit zur großen Halle genommen, hätten sie sie mir weggenommen. Es ist niemandem in den vier Städten gestattet Waffen mit sich zu tragen. Die Waffen, die Derons Familie in der Schmiede anfertigt, sind für Mittelstadt oder für Arbeitszwecke gedacht. Aber woher weiß er, dass ich mehrere Dolche besitze? Oder sollte ich besser sagen besaß? Als ich nichts sage und ihn nur anstarre, fährt Deron fort. „Varon hat sie damals bei uns gekauft. Ich habe meinem Vater geholfen, sie zu schmieden.“ Seine Stimme ist tief und hat einen angenehmen Klang. Seine Worte erinnern mich daran, dass er vermutlich sein ganzes Leben lang Stahl durch die Luft geschwungen hat. Als mein Blick auf die Muskeln fallen, die sich durch sein weißes Hemd pressen, erinnere ich mich an das Training, das auf uns in Mittelstadt wartet. Wie soll ich das jemals bestehen? Im Vergleich zu Deron bin ich klein und zierlich, ein Stück Glass zu einem Brocken Stein. Wenn ich Pech habe, werde ich das einzige Mädchen dort sein. Und das Training ist vor allem körperlich sehr anstrengend. Man erwartet von den Auserwählten, dass sie das Land und die Menschen schützen. Wie soll ich mich gegen die anderen Jungs behaupten? Wie soll ich das Training bloß überleben? „Was meinst du, wann wir unsere Tattoos bekommen?“, reißt Deron mich wieder aus meinen Gedanken, doch er sieht mich nicht an. Sein Blick schweift durch den Wagon, in dem wir beide schlafen werden. „Weiß nicht“, antworte ich nur. Danach sind wir beide wieder still. Während ich den Jungen neben mir aus den Augenwinkeln betrachte, kommt mir ein neuer Gedanke. Ich muss nicht die Beste im Training sein. Ich muss einfach nur bestehen. Und wenn ich es gerade eben mit Ach und Krach schaffe, bestanden ist bestanden. Hoffnung keimt in mir auf. Welches andere Mädchen hatte schon jemals das Glück auserwählt zu sein? Ich werde diese Chance nicht vergeuden. Ich werde hart arbeiten und mir meinen Platz in den Reihen sichern. Als Deron sich zu mir dreht und auf die Tür in unserem Rücken deutet, habe ich die Schultern zurück geworfen und den Kopf erhoben. „Sollen wir uns mal umsehen?“ Ich nicke und er deutet an, dass ich als Erstes gehen soll. Die Gänge zwischen den Wagons sind schmal, gerade einmal so breit wie Deron selbst. Der Wohnraum für die Auserwählten ist der letzte Wagon. Fenster ziehen sich an der Wand entlang und enden in einem großen Panorama am Ende des Raumes. Es erstreckt sich vom Boden zur Decke und gibt die optische Täuschung, dass der Wagon länger ist als die anderen. Im vorderen Bereich des Raumes befindet sich ein Tisch auf jeder Seite mit je fünf Stühlen. Im hinteren Bereich zieht sich eine Couch an dem Panorama entlang, ein großer Bildschirm steht auf einem der kleinen Tische, doch er ist ausgeschaltet. Überall findet sich der teure Stil von Mittelstadt wieder. Die Möbel sind aus Chrom gefertigt, die Polster sind in hellen Grau- und Blautöne gehalten und die Teppiche auf dem Boden sind strahlend weiß. Deron und ich stehen beide davor, als würden wir uns nicht trauen, darauf zu treten. Als wären wir zu schmutzig für einen Teppich. „Es tut mir leid, wegen deinem Vater“, sagt er leise zu mir und als ich ihn ansehe, scheinen meine Gesichtszüge völlig entgleist zu sein. Hat er es etwa gesehen? Hat er den Verrat in den Augen meines Vaters gesehen, als ich auf der Bühne stand? Ich bin sprachlos und er scheint zu registrieren, dass er diesen Gedanken lieber für sich behalten hätte. „T-tut mir leid, ich, äh… ich hätte nicht…“, stammelt er, während er sich mit einer Hand über den Nacken streicht und meinem Blick ausweicht. „Ich geh mir mal das Badezimmer ansehen.“ Ehe ich ihn aufhalten kann, hat er sich umgedreht und verschwindet aus dem Wagon. Doch meine Gedanken bleiben bei mir. Warum hatte Deron seine Augen auf meinen Vater gerichtet? Warum hatte er nicht zu seiner Familie gesehen, die stolz darauf gewesen waren, dass er auserwählt war? So läuft es normalerweise ab. Die Familie ist stolz, obwohl es ein Abschied für ewig ist. Sie sind stolz, denn das eigene Kind hat die Chance auf Freiheit. Auf ein Leben in Mittelstadt, welches wir nur von Bildern oder Fernsehübertragungen kennen. Ein Leben, von dem alle anderen nur träumen können. Erst als ich mich auf die Couch setze bemerke ich, dass ich Zaits Geschenk noch immer fest umschlossen halte und die Medaille um meinen Hals trage. Schmerz durchflutet meine Finger, als ich die Anspannung löse und die Kette betrachte, während ich das Geschenk der Forscher neben mir auf die Couch lege. Der schwarze Lederband ist alt und an einigen Stellen fast durchgebrochen. Ich werde in Mittelstadt ein Neues kaufen müssen. Oder werden sie es mir wegnehmen? Es ist bekannt, dass Auserwählte nichts von zu Hause mitnehmen, denn in der Hauptstadt fangen sie ein neues Leben an. Alles ist neu: Kleidung, Schmuck, Identität. Ich werde nicht mehr die Tochter eines Försters sein. In der neuen Stadt bin ich Vana, die Auserwählte aus Nord. Als ich mit den Fingern die Rundungen des Anhängers nachlaufe, fallen mir Zaits Worte ein. Er wusste das. Er wusste, dass alles was mich an meine Heimat bindet, in Mittelstadt verloren gehen wird. Dennoch könnte ich ihn und meine Brüder niemals vergessen. Ich bleibe den Rest des Tages auf der Couch sitzen und schaue aus dem Fenster. Deron kommt nicht zurück. Ich frage mich nicht, wo er wohl hingegangen ist und was seine Abwesenheit bedeuten könnte. Aber als es draußen langsam dunkler wird und ich Stimmen höre, kann ich nicht mehr länger still sitzen. Ich will gerade die Tür zum Wagon öffnen, als sie mit einem Zischen zur Seite gleitet und vor mir ein fremder Mann steht. Er hat eine schokoladenfarbige Haut, die über und über mit Tätowierungen bedeckt ist. Nur sein Kopf und sein rechter Arm wurden von der Tinte verschont. Einzig das Zeichen der Hauptstadt ziert das rechte Handgelenk. Er trägt ein dunkelblaues Hemd, welches keine Ärmel besitzt und dessen Kragen so hoch ist, dass er um seinen Hals und seinen Nacken drapiert ist. Die Beine stecken in einer schwarzen Hose und die Füße in schwarzen Schuhen, die an den Zehen viel zu lang scheinen. An der linken Augenbraue hängen mehrere silberne Ringe und als er beginnt zu sprechen, kann ich eine silberne Kugel auf seiner Zunge entdecken. „Da ist sie ja!“, sagt er begeistert und legt beide Hände auf meine Schultern. „Wir haben schon den ganzen Zug nach dir abgesucht.“ Wir? „Ein Glück, dass wir Deron gefunden haben!“, zwitschert eine weibliche Stimme im Hintergrund. Bevor ich ihn stoppen kann, dirigiert der tätowierte Mann mich zurück zur Couch und drückt mich sanft, aber bestimmt nach unten. Hinter ihm folgen die Frau und Deron. Ich hatte mir bei dem Auftreten des Mannes schon gedacht, dass seine Kleidung seltsam wirkt, aber im Vergleich zu der Frau sieht er noch normal aus. Der Kopf der Frau ist völlig kahl geschoren und mit goldenen Ketten und Kugeln geschmückt. Einige sind davon an ihren Ohren befestigt, doch das meiste scheint irgendwo unter ihrer Haut verankert zu sein. Goldene Ringe finden sich in ihrer Lippe und den Nasenlöchern wieder und passen farblich zu ihrer Kleidung. Sie trägt einen weißen Ganzkörperanzug, der mit goldenen Elementen verziert ist. Die Füße stecken in hohen goldenen Stiefeln, die bis zum Knie reichen und einen so hohen Absatz besitzen, dass ich mich frage, wie sie darin laufen kann. Mit kleinen Schritten tänzelt sie auf mich zu und küsst mich auf beiden Wangen. „Ich bin so froh, dass es endlich wieder Auserwählte aus Nord gibt“, flötet sie, während sie in ihrem seltsamen Gang zurück zu Deron geht. „Ich habe Kasai schon gesagt, dass es endlich mal wieder Zeit wird. Und dann sind es gleich zwei Stück!“ Deron trägt in der linken Hand einen schwarzen Koffer, während das Handgelenk des rechten Armes bandagiert ist. Wurde er bereits tätowiert? Und als mein Blick zurück zu den zwei Mittelstädtern fällt, dämmert es mir, dass sie die Tätowierer sind. „Ich bin Kasai“, stellt sich der Mann mit den vielen Tattoos vor und schüttelt meine Hand, ehe er zu seiner Kollegin deutet. „Und das ist Emalia. Wir sind die Tätowierer für Nord.“ Jedem Tätowierer, der an der Elementzeremonie teilnimmt, wird eine Stadt zugeteilt, um die er sich kümmern muss. Beide mussten allen 132 18jähigen heute ihr Element unter die Haut stechen. Ich bin die Einzige, die noch fehlt. Auf Anweisungen von Emalia hin, stellt Deron die Tasche neben Kasai auf den Boden und setzt sich mir gegenüber und somit ans andere Ende der Couch. Kasai sucht alle benötigten Werkzeuge in der Tasche, während Emalia sich schwungvoll neben mich setzt und nach meinem linken Arm greift. Sie redet auf mich ein, erzählt mir wie blass meine Haut doch sei und dass man das in Mittelstadt schnell ändern könnte, denn dieses Jahr ist eine dunkle Hautfarbe im Trend. Doch ich höre ihr nicht zu und sehe stattdessen hinüber zu Deron. Er nickt mir mit einem leichten Lächeln zu. Würde er nicht so oft lachen und lächeln, könnte man sein Auftreten als hart und erbarmungslos beschreiben. Das blonde Haar ist so hell und so kurz, dass es die kantigen Züge deutlich hervor bringt. Die blauen Augen sind intensiv wie Messer, die aus ihren Höhlen hervorstechen. Ich fühle mich gefangen in seinem Blick, ehe ich einen brennenden Schmerz spüre. Als ich auf mein rechtes Handgelenk sehe, hat Kasai angefangen die schwarze Farbe unter meine Haut zu stechen. Emalia hält meine andere Hand und tätschelt sie immer wieder. „Es ist gleich vorbei, Süße“, sagt sie zu mir, ohne Luft zu holen. „Wir machen das hier jedes Jahr und ich sage es dir, jedes Jahr erzählen uns die jungen Leute immer wieder, wie sanft wir Beide sind, nicht wahr, Kasai? Du bist hier in guten Händen, Süße. Ich sage es dir, du hast großes Glück bei uns zu sein und nicht in Ost. So oft habe ich schon gehört, dass die Beiden in Ost nicht so sanft sind wie wir, nicht wahr, Kasai? Ich sage es dir Süße, bei uns…“ Doch ich höre ihr nicht mehr zu, denn der Schmerz nimmt meine ganze Aufmerksamkeit ein. Ich hatte mir oft vorgestellt, wie es sich anfühlen würde, wenn ich endlich mein Element unter die Haut bekommen würde. Meine Brüder hatten mir erzählt, dass es pikst. Das es manchmal etwas unangenehm werden kann, aber es alles in allem nicht sehr schlimm wäre. Doch es pikst nicht, sondern brennt wie Feuer. Instinktiv will ich meinen Arm zurückziehen, doch Kasai macht diese Arbeit nicht zum ersten Mal. Er hat meine Hand in einem festen Griff, welches den Blutfluss stoppt und mir keine Möglichkeit gibt zu entkommen. Die andere Hand fährt unbeirrt weiter mit der Tätowiernadel mein Handgelenk zu foltern. Meine Atmung wird immer schneller und Emalias Geplapper lenkt mich nicht wirklich ab. Auf der andere Seite des Wagons sitzt Deron, die Arme auf die Lehne hinter sich gelegt und die Beine locker von sich gestreckt. Er hat eine entspannte Position, doch seine Augen beobachten mich aufmerksam. Sie studieren mein vor Schmerzen verzerrtes Gesicht und lassen mich nicht los. Es irritiert mich und bringt mich dazu, mich zusammenzureißen. Ich will nicht, dass er mich so sieht. So verletzlich und offen. Ich werde bald mit ihm trainieren und dann soll er wissen, dass ich kein kleines Lamm bin, welches auf den hungrigen Wolf wartet. Als ich meine Gefühle unter Kontrolle habe, ist Kasai fertig. Er stellt die Maschine ab und betrachtet sein Werk, ehe er zufrieden nickt. Mein Handgelenk schmückt nun ein Kreis mit einem schwarzen, dicken Rand, doch seine Mitte ist leer. Kein Element, welches es füllt. „Na, siehst du, jetzt ist es geschafft“, sagt Emalia neben mir und drückt meine Hand ein letztes Mal. „Du tapferes Ding, du! Lass mich schnell einen Verband darum wickeln, damit die Haut in Ruhe abheilen kann und dann bist du fertig.“ Während Kasai die Handschuhe abstreift und seine Werkzeuge zurück in die Tasche legt, holt sie einen weißen Verband daraus hervor und hat mein Handgelenk schnell damit umschlungen. Als ich wieder zu Deron blicke, ist derselbe wissende Ausdruck in seinen Augen, den ich heute Morgen auf der Bühne gesehen habe. Er wusste, wie ich mich verhalten würde. Er wusste, dass ich entschlossen war, keine einzige Träne zu vergießen. Kapitel 3: Kapitel 3 - Nicht allein ----------------------------------- Kapitel 3 - Nicht allein Kasai und Emalia leisten uns beim Abendessen Gesellschaft. Sie sollten eigentlich mit den Forschern zusammen im Wagon am anderen Ende des Zuges essen, aber Emalia hat beschlossen, dass wir „viel interessanter und frischer“ seien. Ich gebe nur ungern zu, dass ich darüber froh bin. Ich bin nicht gerne mit Deron allein in einem Raum. Es gibt nichts, worüber wir reden können und seine hellen blauen Augen scheinen mich überall hin zu verfolgen. Wenn er mich ansieht, fühle ich mich wie eine Motte, die versucht dem Spinnennetz zu entkommen. Nachdem die Tätowierer und die Forscher eingestiegen sind, waren wir auf dem Weg zur Hauptstadt. Ich war so beschäftigt mit meinem ersten Tattoo und dem damit verbundenen Schmerz gewesen, dass ich nicht bemerkt hatte, wie der Zug sich in Bewegung setzte. Auch jetzt spüre ich nicht, dass wir uns bewegen. Die Maschine gleitet lautlos durch die Dunkelheit. Das Essen, das vor uns steht, habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen. Ich habe immer genug zu essen gehabt und meine Mutter konnte gut kochen, aber es sah immer wie Essen aus. Das Essen auf diesem Tisch ist eher eine Ansammlung kleiner Kunstwerke. An der einen Ecke ist ein überdimensional großes, grünes Blatt auf dem ein gelber Schmetterling aus Zucker und Zitronenscheiben thront. Dort drüben ist ein aus flüssiger Schokolade geformter Teich, an dem aus Erdbeeren geschnittene Blüten sitzen. Neben meinem Teller liegt eine Rose, die aus… Ich bin mir nicht sicher, woraus sie besteht und Deron scheint dasselbe zu denken, denn er streckt die Hand aus und berührt sie vorsichtig. „Alles auf diesem Tisch ist essbar“, verkündet Emalia mit ihrer schrillen Stimme gerade. „Außer die Tischdecke natürlich.“ Sie lacht über ihren eigenen Witz, ehe sie kleine Portionen von jedem Gericht auf ihren Teller häuft. Sie beginnt wieder zu reden ohne Luft zu holen, während ich gespannt zu Deron blicke, der ein Stück von der Rose abgerupft hat und es sich in den Mund steckt. „Hm… Fleisch“, verkündet er und ich sehe verblüfft zu der Blüte. Das soll Fleisch sein? Kasai und Deron beginnen ihre Teller zu füllen und ich tue es ihnen gleich. Das Essen ist eine einzige Explosion auf der Zunge. Einige Gewürze habe ich noch nie zuvor geschmeckt und von vielen Früchten habe ich noch nicht einmal den Namen gehört. Zum Ende hin ist es nur noch ein Stopfen. Ich kann nicht mehr essen, obwohl ich gerade einmal die Hälfte von allem probiert habe. Ich sehe Deron an, dass es ihm ähnlich geht, obwohl er doppelt so große Portionen wie ich verschlungen hat. Gesättigt lehne ich mich in meinem Stuhl zurück und lasse meinen Blick schweifen. Draußen ist es dunkel, sodass sich das Licht der Innenbeleuchtung in den Fenstern spiegelt. Ich sehe mich selbst, das schwarze Haar immer noch hochgesteckt. Ich trage weiterhin das grüne Kleid, welches ich zur Elementzeremonie anhatte. Mein Anblick in einem Kleid, welches ich so selten trage, bringt mich dazu Emalia in ihrem Selbstgespräch zu unterbrechen. „Gibt es auf diesem Zug Kleidung zum Wechseln?“ Emalia hält inne und sieht mich verblüfft an, ehe sich ihr Gesicht verzerrt und sie mir voller Bedauern entgegen sieht. „Oh, Schätzchen! Es gab hier schon so lange keine weiblichen Auserwählten mehr und… also, deshalb ist der Wagon, und… siehst du, wenn wir einmal in Mittelstadt sind, dann…“ „Es gibt nur Kleidung für Jungs“, übersetzt Kasai für mich und lächelt freundlich. „Aber die Auswahl ist groß. Du wirst schon was finden.“ Er scheint zuversichtlich zu sein, während Emalia die Meinung vertritt, dass es ein Desaster ist. „Oh, Vana, Liebes! Wir werden was Hübsches für dich finden, sobald wir ankommen! Und im Trainingszentrum werden sie dir alles in deiner Größe liefern. Ist das nicht toll? Ein großer Kleiderschrank voll mit Kleidern, alle in deiner Größe!“ Sie beginnt davon zu erzählen was zurzeit im Trend ist und welche Farbe mir ihrer Meinung nach am besten stehen würde, doch ihre Worte driften bald in den Hintergrund. Ich habe kein Problem damit Männerkleidung zu tragen. Als ich kleiner war, trug ich öfters die Kindersachen meiner Brüder. Die Erinnerung an meine Brüder bringt mich zu einem anderen Gedanken. Meine Finger gleiten an dem Messer entlang, welches ich zum Essen benutzt habe. Ich denke sehnsüchtig an die Waffen, die ich zu Hause lassen musste. Dessen Gewicht an meiner Hüfte mir fehlt. Werde ich in der Hauptstadt Waffen mit mir tragen dürfen, da ich eine Auserwählte bin? Ich hoffe sehr, dass dem so ist. Vorsichtig sehe ich zu Kasai und Emalia, doch beide beachten mich nicht. Mein Blick ruht auf ihnen, während ich langsam das Messer in meinen Schoß fallen lasse und es dann unter meiner Serviette verstecke. Als ich zu Deron sehe, hat er die Augen halb geschlossen und versucht ein Gähnen zu unterdrücken. Erleichtert stelle ich fest, dass anscheinend niemand bemerkt hat, dass ich mir das Messer genommen habe. Doch wo verstecke ich es am besten, um es mit in den Schlafraum zu nehmen? Mein Blick gleitet suchend an meinem Körper hinab, doch ich finde nichts. An diesem Kleid gibt es keine Taschen, keinen Gürtel, nichts woran man ein Messer befestigen könnte. Ich bin gerade dabei die Suche aufzugeben, als ich neben meinem Knie eine Hand sehe. Fragend sehe ich hoch in Derons Gesicht, der nur eine Augenbraue hebt. Er weiß es. Er weiß, dass ich das Messer in meinem Schoß liegen habe. Der Tisch an dem wir sitzen ist rund und Deron sitzt nicht weit neben mir, weshalb er seine Hand ungesehen unter der Tischdecke zu mir strecken kann. Ich zögere noch einige Momente, ehe ich mich geschlagen gebe und ihm das Messer aushändige. Sobald er das Metall auf seiner Haut spürt, zieht er die Hand wieder zurück und sieht hinüber zu Emalia und Kasai, als wäre nichts gewesen. Ich sollte mich glücklich schätzen. Er hat mich nicht verpetzt und mich auch nicht auffliegen lassen. Vermutlich hat er mich soeben von Ärger gerettet, den ich mir definitiv hätte einfangen könne, hätte ein anderer als Deron das Messer entdeckt. Dennoch frustriert mich die Tatsache, dass ich meine einzige Waffe abgeben musste. Emalia ist plötzlich still, als ich aufstehe und die Serviette auf meinen Teller werfe. „Ich werde mal sehen, welche der Kleiderstücke mir passen und mich dann ins Bett legen“, verkünde ich und verlasse den Wagon, ohne eine Antwort abzuwarten. Als ich im Schlafraum stehe und daran erinnert werde, dass ich meine Nächte nicht allein verbringen werde, will ich am liebsten frustriert aufschreien. Drei Tage werden wir unterwegs sein. Drei Tage, in denen ich diesen intensiven blauen Augen nicht entkommen kann. An einem Ende des Raumes steht ein deckenhoher Kleiderschrank, dessen Türen zur Seite gleiten wie die Türen zwischen den Wagons. Ich nehme mir einige T-Shirts und Hosen raus und überprüfe die Größe. An die oberen Regale komme ich nicht ran, doch es stellt sich heraus, dass ich das auch nicht muss. Die kleinste Größe befindet sich auf dem untersten Regal, die Fächer darüber sind immer eine Nummer größer. Ich knie mich auf den Boden und durchwühle, was ich finde. Neben den Hosen befinden sich viele Gürtel, was mich erleichtert. Die T-Shirts und Hemden werde ich an der Taille zusammenknoten können. Das Einzige, was mir Sorgen bereitet, ist die Unterwäsche. Ich weiß, dass ich keine BHs in diesem Schrank finden werde. Als ich plötzlich eine Hand an meiner Schulter spüre, zucke ich überrascht zusammen und stoße mir den Kopf an dem Regalbrett über mir. „Tut mir leid“, höre ich die leise Antwort, als mir ein lauter Fluch entfährt. Neben mir auf dem Boden hockt Deron. Er balanciert sein Gewicht auf den Zehenspitzen und hat das Messer in der Hand, welches er mir vorhin abgenommen hat. Als ich es sehe, bin ich sprachlos. „Ich wollte dir das Messer geben“, sagt er und reicht es mir mit dem Griff voran. „Warum hast du es mir abgenommen, wenn du es mir jetzt wiedergibst?“ „Ich habe gesehen, wie du es dir genommen und dich dann suchend umgesehen hast. An deinem Kleid gibt es so gut wie kein Versteck für ein Messer.“ Ich zögere einige Momente, ehe ich das Messer entgegen nehme und ein leises „Danke“ murmle. Deron ist clever. Viel zu clever für meinen Geschmack. Er hat die ganze Situation beobachtet und analysiert und mir dabei das Gefühl gegeben, als hätte er nichts mitbekommen. Als er aufsteht und sich von mir entfernt, folge ich ihm. „Du beobachtest mich ständig.“ Es ist eine Feststellung, keine Frage und nur für einen kurzen Moment wirkt er ertappt, ehe er sich selbst wieder unter Kontrolle hat. „Ich weiß, dass du gut mit Messern bist“, antwortet er nach einer Weile. „Deine Brüder haben immer damit geprallt und es zu ihrer Aufgabe gemacht mich daran zu erinnern, dass ich es auch nicht vergesse. Ich will sichergehen, dass ich am nächsten Morgen nicht eines in der Brust stecken habe.“ Was er sagt, macht für mich kaum Sinn. „Warum haben meine Brüder dich ständig daran erinnert?“ „Du bist clever. Du wirst schon noch darauf kommen“, erwidert er schmunzelnd. Er dreht sich um und geht hinüber zum Badezimmer, doch hält inne, als er meine Stimme hört. „Ich hatte nie vor, das Messer in deine Brust zu stecken.“ Deron betrachtet mein Gesicht, doch sagt nichts. Die Stille veranlasst mich dazu, mich zu erklären. „Zu Hause habe ich meine Messer immer bei mir. Ich fühle mich unwohl, wenn… wenn ich nichts zu meiner eigenen Verteidigung habe.“ „Deine Verteidigung gegen wen?“ „Die Stadt. Das Neue und Ungewohnte. Ich weiß nicht, was auf mich zukommt und es macht mich unruhig.“ Deron nickt langsam und schenkt mir ein kurzes Lächeln. „Ich weiß, wie du dich fühlst. Mir geht es genauso.“ Ich erwidere sein Nicken ohne einen bestimmten Grund und drehe das Messer gedankenverloren in meinen Händen, während wir uns noch einige Augenblicke stumm ansehen, ehe er im Badezimmer verschwindet. Während ich höre wie das Wasser im Nebenraum rauscht, suche ich mir Kleidung für die Nacht heraus. Dank des Gummizugs hält die Schlafanzugshose an meiner Hüfte und auch das T-Shirt würde mir gut passen. Doch ich entscheide mich für ein viel zu großes Oberteil, denn es erinnert mich daran, dass ich zu Hause immer in den T-Shirts meiner großen Brüder geschlafen habe. Die Unterwäsche, die an den Jungs vermutlich hauteng sein soll, ist nicht zu locker oder zu eng an meinem Körper. Den BH habe ich beschlossen zu waschen und über Nacht im Badezimmer trocknen zu lassen. Ich weiß, dass ich die Erste sein werde, die morgens wach ist und kann somit die Peinlichkeit umgehen, dass Deron es sieht. Nachdem er fertig ist, schnappe ich mir meinen kleinen Kleiderhaufen und sperre mich im Badezimmer ein. Da er bereits fertig ist, lasse ich mir Zeit mich zu duschen und meine Zähne zu putzen. Der Verband um mein Handgelenk ist wasserfest und ich muss mir auf die Finger beißen, ihn nicht abzureißen. Die Haut darunter juckt fürchterlich. Als ich fertig bin und mit noch feuchten Haaren in den Schlafraum gehe, liegt Deron im Bett. Ich weiß nicht ob er bereits schläft oder nicht, aber weder öffnet er die Augen, noch sagt er etwas. Das Bett, welches er sich ausgesucht hat, liegt mittig zwischen all den anderen. Ich hatte mir vorgenommen das Bett zu nehmen, welches am nächsten zur Tür liegt. Doch als ich daran denke, was er heute für mich getan hat, beschließe ich etwas von dem Vertrauen, welches er mir gegeben hat, zurück zu geben. Nachdem das Licht ausgeschaltet ist, schleiche ich zu dem Bett, welches direkt neben seinem steht und krieche unter die Decke. Sie ist weich und umhüllt mich wie die Umarmung meiner Mutter. Das Messer wird sicher unter mein Kopfkissen verstaut. Erst als mein Kopf das Kissen berührt, spüre ich wie müde ich wirklich bin. Mein Blick geht hinüber zu Deron, der auf seinem Rücken liegt und dessen Brust sich langsam hebt und senkt. Ich weiß noch nicht, wo ich ihn einordnen soll. Aber er ist von zu Hause und je weiter wir uns von Nord entfernen, desto näher will ich meiner Heimat sein. In der Nacht verfolgen mich die Ereignisse des Tages. Ich höre Carons Schreie nach mir und kann den Augen meines Vaters nicht entkommen. Augen, die über mir thronen und mich in die Knie zwingen. Augen, die meinen kleinen Bruder verfolgen. Als ich eine Hand an meinem Arm spüre, greife ich sie und werfe sie über meine Schulter. Im nächsten Moment sitze ich auf dem Gegner und halte eines meiner Messer an seinen Hals. Erst, als es viel zu spät ist, realisiere ich, dass ich wach bin. Die Hand, die ich mit dem Angreifer in meinem Traum verwechselt habe, war Derons Hand. Ich habe keine Ahnung, wie ich ihn hatte werfen können, aber er liegt auf meinem Bett, während ich breitbeinig auf ihm sitze und das stumpfe Messer vom Abendessen an seinen Hals halte. Er sieht völlig überrascht zu mir hoch, in seinem Gesicht steht deutlich, dass er das nicht hatte kommen sehen. Als ob die Situation nicht schlimm genug wäre, stelle ich fest, dass ich mir im Schlaf die Hose von den Beinen getreten habe. Mit nichts mehr als einem viel zu großen T-Shirt und Unterwäsche sitze ich auf seinem Bauch. Die Hitze, die meinen Hals und meine Wangen hinauf klettert kann ich nicht zurück halten. „Ich… es tut mir… also, ich weiß nicht wie…“, stottere ich und versuche schnell von ihm herunter zu klettern ohne darauf zu achten, ob das T-Shirt alle wichtigen Bereiche verdeckt. Ich lasse das Messer nicht los, als ich ins Badezimmer flüchte und die Tür hinter mir abschließe. Im Spiegel an der Wand sehe ich, dass meine Wangen leuchtend rot glühen. Überraschenderweise scheint das Tageslicht durch das einzige Fenster im Raum und erinnert mich daran, dass Deron vor mir wach war. Ich lasse mir viel zu viel Zeit damit meine Zähne zu putzen und mein Haar zu kämmen. In Wellen fallen mir die langen Strähnen bis zu den Ellbogen hinab und locken sich am Ende. Ich denke daran es wieder hochzustecken, als mir auffällt wie lange ich mich schon im Badezimmer verstecke. Ich sollte mich bei Deron entschuldigen und ihm erklären, dass ich eine schreckhafte Person bin. Dass es nie eine gute Idee ist mich zu berühren, um mich zu wecken. Doch als ich wieder in den Schlafraum trete, ist er nicht da. Ich kann die Erleichterung, die mich bei dieser Tatsache durchflutet, nicht verleugnen und nutze die Zeit, um mich anzuziehen. Die dunkelgrüne Hose passt mir fast wie angegossen, doch das rote Hemd knote ich am Ende zusammen und in die braunen Stiefel, die mir ein Stück weit die Wade hinauf reichen, muss ich Socken hinein stopfen. Meine Hände fahren unruhig durch das offene Haar, als ich in den Wohnwagon trete. Emalia und Kasai sind nicht da, aber Deron sitzt auf der großen Couch mit einem Schachspiel neben sich. Als ich eintrete, hebt er den Kopf. „Tut mir leid“, sagen wir gleichzeitig, nachdem zuerst keiner von uns etwas sagen wollte. Ich spüre wie meine Wangen wieder heiß werden, doch ich muss das jetzt hinter mich bringen. Als Deron zum Sprechen ansetzt, rede ich einfach über ihn hinweg. „Ich wollte das wirklich nicht, also das… Ich hatte einen schlechten Traum und… ich bin immer auf der Hut, auch im Schlaf. Anschreien ist definitiv sicherer als anfassen.“ „Das habe ich gemerkt“, erwidert er schmunzelnd und ich atme langsam aus, erleichtert dass ich die Worte losgeworden bin. Ich hasse es mich zu entschuldigen. „Ich werde es mir fürs nächste Mal merken“, sagt Deron, während ich langsam auf ihn zugehe. Mein Blick fällt auf das Schachbrett, die Figuren sind über das Spielfeld verteilt. „Du spielst Schach?“, frage ich ihn. Deron nickt. „Hast du Lust eine Runde zu spielen?“ „Ich kann kein Schach.“ „Ich kann es dir beibringen.“ Ich zögere nur kurz, ehe mir einfällt, dass ich auf diesem Zug gefangen bin und nichts Besseres zu tun habe. Also setze ich mich auf die andere Seite des Schachbrettes und schlage ein Bein unter, während Deron beginnt mir die Regeln zu erklären. Es stellt sich heraus, dass der ruhige Sohn des Schmiedes, der sonst nie ein Wort mit mir gewechselt hat, ein guter Lehrer ist. Die ersten paar Runden reden wir viel – ich frage und er erklärt – doch bald habe ich das Spiel verstanden und es wird still. Keiner von uns sagt ein Wort, während wir Figur um Figur verschieben. Als Deron mich irgendwann ansieht, trifft seine Frage mich vollkommen unvorbereitet. „Warum bist du immer auf der Hut? Du bist mit zwei großen Brüdern aufgewachsen, die mit Sicherheit immer auf dich aufgepasst haben.“ Ich war gerade dabei meinen Reiter zu verschieben, doch nun halte ich in der Bewegung inne und starre ihn an. Ich kann ihm nicht davon erzählen, dass mein Vater mich schlagen wollte. Ich kann ihm nicht erzählen, dass ich mich danach nie wieder sicher fühlte. Ich kann ihm nicht erzählen, dass jedes Mal, wenn mein Vater mir zu nahe stand, ich instinktiv nach meinen Messern gegriffen habe. Ich überlege nach einer glaubhaften Lüge, doch die Stille zieht sich in die Länge, bis Deron den Kopf schüttelt. „Ich hätte nicht fragen sollen, es geht mich nichts an.“ Er schaut wieder auf das Schachbrett und wartet darauf, dass ich meinen Zug zu Ende führe. Doch ich habe völlig vergessen, wo ich meinen Reiter hinbewegen wollte, also lasse ich ihn stehen. Am Abend nimmt Kasai die Verbände um unsere Handgelenke ab und betrachtet seine Werke. Meine Haut ist empfindlich, aber gut verheilt. Als ich mit dem Finger über die schwarze Tinte fahre, spüre ich nichts. „Im Badezimmer findet ihr eine Creme in einer weißen Schale“, sagt Kasai zu uns. „Tragt sie jeden Morgen und jeden Abend auf. Wenn wir in Mittelstadt ankommen, wird eure Haut wieder so frisch wie gestern sein.“ Beim Abendessen leisten er und Emalia uns wieder Gesellschaft, wobei Letztere davon erzählt, wie sie fast einen Streit mit einem der Forscher hatte. Den ganzen Abend über kann ich nicht die Augen von meinem Tattoo nehmen. Nicht einmal in meinen Träumen hätte ich gedacht, dass der innere Kreis leer bleiben würde. Dass ich eine Auserwählte sein würde. Ich weiß, dass Deron mich wieder beobachtet hat, denn als ich zu ihm sehe, schenkt er mir ein kleines Lächeln. Und zum ersten Mal, erwidere ich dieses Lächeln. Kapitel 4: Kapitel 4 - Ungerechtigkeit -------------------------------------- Kapitel 4 - Ungerechtigkeit Den nächsten Tag verbringen Deron und ich mit weiteren Schach- und Brettspielen. Es stellt sich heraus, dass es in diesem Zug eine Kiste voll mit solchen Spielen gibt. Die meisten kann Deron mir beibringen, aber einige kennt selbst er nicht. Dann stehen wir vor dem Spielbrett und stellen Überlegungen an, welche Farbe und welche Form was bedeuten könnte. Am Ende haben wir unsere eigenen Regeln und spielen nach ihnen. Deron stellt mir Fragen über mich und meine Familie, aber ich bin nicht gut darin private Dinge zu erzählen. Also erzählt er mir über sein Leben. Er hat eine 12jährige Schwester, die Daria heißt und allen in seiner Familie den Kopf verdreht. In der Schmiede arbeitet Deron seit er zehn Jahre alt ist, was seine vielen Muskeln erklärt. Sein Vater hat die Schmiede von seinem Vater geerbt und der hat sie von seinem Vater. Das liegt allerdings nur daran, dass bisher alle Söhne immer Erde waren. Jetzt, wo Deron ein Auserwählter ist, wird sein Vater sich etwas anderes überlegen müssen. Scheinbar hat ihn das aber nicht allzu sehr gestört, denn immerhin war seinem Sohn eine große Ehre zuteil geworden. Derons Mutter war Luft, doch bei der Elementzeremonie kam als Testergebnis Erde heraus und sie und sein Vater haben sich bei der Willkommensfeier kennen gelernt, die jedes Jahr für alle Neuankömmlinge veranstaltet wird. Während Deron erzählt, erlaube ich es mir ihn zu betrachten. Er ist ausgesprochen attraktiv und das Spiel seiner Muskeln, wann immer er sich bewegt, ist mehr als irritierend. Dennoch gelingt es mir ihm zuzuhören, was für mich eine große Leistung ist. Meine Konzentrationsspanne war noch nie besonders lang. Meine Gedanken driften zu schnell in Träumereien ab oder ich bin an meiner Umgebung mehr interessiert, als an meinem Gesprächspartner. Deron stellt sich als äußerst interessanter Gesprächspartner heraus. Ich höre seiner tiefen Stimme gerne zu und er ist ein guter Erzähler. Irgendwann wird es wieder still zwischen uns und ich fühle mich, als wäre ich ihm etwas schuldig. Er hat mir so viel von sich erzählt, da sollte ich ihm etwas von mir erzählen. Aber was? „Mein Vater hat mir das Werfen von Messern mit acht Jahren beigebracht“, platzt es aus mir heraus und bevor ich mich bremsen kann, erzähle ich schnell weiter. „Wir haben immer draußen geübt, aber an einem Tag stürmte es fürchterlich. Ich nervte meinen Vater so lange, bis er zustimmte im Haus zu üben. Er baute die Zielscheibe im Wohnzimmer auf, während meine Mutter in der Küche stand und backte. Über dem Tisch, auf dem der halbfertige Kuchen stand, hingen viele Töpfe und Kellen an einem Gitter, gehalten von vier kurzen Seilen. Meine zwei Brüder waren mit mir im Wohnzimmer und beobachteten mich, wie ich mit der Zielscheibe übte. Irgendwann verschwand Varon in der Küche, um meine Mutter zu nerven und ein Stück vom Kuchen zu klauen. Das war der Moment, als Zait meinen Ellbogen anstieß, während ich zum Wurf ausholte. Das Messer verfehlte die Scheibe und flog im hohen Bogen durch den Raum und in die Küche. Es zerschnitt zwei der Seile, die das Gitter mit den Töpfen hielt und genau in diesem Moment hatte Varon sich über den Kuchen gebeugt. Die Kochtöpfe fielen krachend und scheppernd auf seinem Kopf und drückten sein Gesicht direkt in den Teig hinein. Meine Mutter war furchtbar wütend, weil Varon ihren Kuchen ruiniert hatte, doch Zait konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten vor Lachen.“ Ein kleines Schmunzeln ziert meine Lippen als ich zurück denke, doch Deron beginnt laut zu lachen. Sein ganzes Gesicht strahlt auf, wenn er lacht. Es ist ein Lachen, nach dem jeder sich umdrehen würde um an der Freude teilzunehmen. „Ich sehe das Bild genau vor meinen Augen“, sagt er grinsend. „Dein armer Bruder mit dem Gesicht voller Teig und Sahne.“ „Oh, es hat ihm gar nicht gefallen. Aber trotzdem hat er sich vorher mehrmals die Lippen geleckt, ehe er wütend wurde.“ Das verstärkt Derons Lachen und dieses Mal steckt es mich an. Wir lachen bis die Augen tränen und die Wangen schmerzen. Erst als wir uns wieder beruhigen und eine Weile still sind, merken wir, dass der Zug angehalten hat. Wir sind gleichzeitig auf den Beinen, doch ich bin schneller. Ich bin bei der Tür und öffne sie ungeduldig, Deron dicht auf meinen Fersen. Einer der Forscher kommt durch die schmalen Gänge auf uns zu, doch bevor er mich aufhalten kann, habe ich die dicke Tür zur Außenwelt geöffnet und atme frische Luft ein. „…ist verboten“, höre ich den Mann hinter mir sagen, ehe ich hinaus auf die Gleise trete. Um mich herum sind nur Wälder. Grün und weit und endlos. Es ist deutlich wärmer als in Nord, doch die Luft ist unnatürlich still. Hier sind keine Vögel, die singen. Kein Wind, der durch die Blätter streicht. Nichts. Deron ist neben mir und sieht sich misstrauisch um, wobei mir die kleine Falte, die sich zwischen seinen Augenbrauen bildet, nicht entgeht. „Was glaubst du, warum wir angehalten haben?“, fragt er mich, doch ich zucke nur mit den Schultern. Der Forscher steht weiterhin in der Tür und redet eindringlich auf uns ein. Dass es gefährlich außerhalb des Zuges sei und wir schnell wieder reinkommen sollen. Doch als ich von weit weg ein Jammern höre, kann ich meine Füße nicht mehr stoppen. Der Forscher folgt mir nicht als ich beginne zum Anfang des Zuges zu joggen, doch Deron ist direkt hinter mir. Das Jammern wird lauter, es verzerrt sich in Schmerzensschreie und ich beginne zu rennen. Als ich den Anfang des Zuges erreicht habe und die Szene sich vor mir entfaltet, bleibe ich so plötzlich stehen, dass Deron fast mit mir zusammenprallt. Die Schreie gehören einer jungen Frau, die von zwei Wachen gehalten wird. An den Uniformen kann ich sehen, dass sie von Mittelstadt stammen. Die Frau zwischen ihnen ist in dunkelgrün und braun gekleidet, getrockneter Schlamm klebt an den robusten Schuhen. Der Mann in der Mitte der Gleise ist ebenso gekleidet wie sie. Sie müssen beide aus den Wäldern um uns herum gekommen sein. Doch während die Frau gehalten wird, kniet der Mann in der Mitte der Gleise und gibt keinen Ton von sich. Eine dritte Wache steht vor ihm und hat ein Schwert in seinen Bauch gestoßen. Deron und ich kommen gerade an, als er das Schwert wieder herauszieht. Der Mann lebt noch, denn er sieht an sich hinab, als könnte er es nicht glauben. Nur Momente später hebt die Wache sein Schwert und köpft ihn. Die Schneide fährt durch Muskeln und Knochen wie ein Messer durch warme Butter. Mir bleibt der Atem im Hals stecken und die Frau scheint alle Sinne zu verlieren. Sie schreit und rebelliert nun so stark, dass die zwei Männer größte Mühe haben, sie zu halten. Doch als der Mann mit dem Schwert zu ihr geht und die Waffe zwischen ihre Rippen stößt, ist sie still und sackt in den Armen der Wachen zusammen. Meine Augen sind weit aufgerissen und das Herz klopft so stark gegen meinen Brustkorb, dass es schmerzt. Ich kann nicht atmen und es dauert nicht lange, bis meine Lungen nach Luft dürsten. Der Kopf des Mannes rollt noch einige Male über die Gleise, ehe er zum Stehen kommt und die toten Augen mich direkt ansehen. Panik kriecht in mir hoch und ich höre nicht, wie Deron mir leise etwas zuflüstert. Nun haben uns auch die Wachen bemerkt und sie brüllen in unsere Richtung, doch ihre Worte machen für mich keinen Sinn. Ich schnappe hörbar nach Luft und meine Atmung ist laut und schnell. Ein Schrei bahnt sich seinen Weg hinauf und Deron scheint es zu merken, denn bevor der Laut meine Lippen erreicht, legt er eine Hand auf meinen Mund. „…und was macht ihr überhaupt hier?“, schreit die Wache uns an, als Deron seinen Arm um mich schlingt, mich hochhebt und mit mir davonläuft. Den ganzen Weg über schreie ich in seine Hand hinein und trete und kämpfe. Die Panik hat meine Sinne fest im Griff und ich will laufen, ich will von diesem Horror davonrennen bis meine Beine schmerzen und ich keine Luft mehr bekomme. Doch es bringt nichts, denn sein Arm um mich klemmt meine Arme an meinen Körper und sein Griff ist stark. Mein Rücken ruht an seiner Brust, sodass meine Tritte ihn nicht erreichen. Ich habe gegen ihn keine Chance. Erst als wir wieder im Zug sind und die Tür zum Schlafwagon sich hinter uns schließt, lässt er mich los. Aber nicht lange, denn er dreht mich in seinen Armen um und legt beide Hände auf meine Schultern. Bevor ich ein Wort sagen kann, redet er eindringlich auf mich ein. „Hör mir gut zu. Wenn die Wachen gleich kommen und dich fragen, was du gesehen hast, dann sagst du ihnen, du kannst dich nicht erinnern. Du stehst unter Schock und alles ging so schnell, dass du nicht mehr weißt, was passiert ist, verstanden?“ Als ich ihm keine Antwort gebe, schüttelt er mich hart. „Verstanden?“ Ich nicke hastig. „Was hast du gesehen?“, fragt er mich und ich weiß, dass er keine ehrliche Antwort will. „Ich habe nichts gesehen“, antworte ich mit zitternder Stimme, die dazu beiträgt, dass es selbst in meinen Ohren glaubhaft klingt. „Es ging alles so schnell.“ Deron nickt zufrieden und richtet sich auf. Keine Sekunde zu spät, denn die Tür gleitet zischend zur Seite und die Wachen von vorhin stehen im Raum. „Was habt ihr Beide gesehen?“, brüllt der Erste uns gleich an und es klingt wie ein Befehl, nicht wie eine Frage. Er sieht zu Deron, der ihm standhaft und emotionslos entgegensteht, doch dann fällt sein Blick auf mich. Bevor Deron die Frage beantworten kann, deutet die Wache auf mich. „Du! Antworte mir.“ „I-ich weiß es nicht…“, stotterte ich und muss mich nicht allzu sehr anstrengen, denn der Mann flößt mir Angst ein, auch wenn ich es nicht zugeben will. „E-es ging a-alles so schnell und…“ „Sie steht unter Schock“, kommt mir Deron zur Hilfe und die Hand, die er auf meine Schulter legt gibt mir Halt. „Ich versichere Euch, wir haben nichts gesehen.“ Die Wache sieht mich noch einmal prüfend an, ehe er seinen Blick auf den Jungen neben mir fixiert. „Falls ihr Zwei doch etwas gesehen habt, dann sagt mir Bescheid. Ich kann das schnell ändern.“ Mit diesen Worten verlassen uns die drei Männer und die Tür gleitet hinter ihnen zu. Ich schlucke die Angst hinunter und versuche mich wieder zu beruhigen, doch alles was ich sehe ist wie der Mann sein Schwert schwingt und der Kopf sich vom Körper löst. Ich spüre Derons Augen auf mir und ich sehe zu ihm hoch. „Später“, ist alles was er sagt, denn er weiß, dass ich Fragen habe. Den Rest des Tages sagt keiner von uns ein Wort. Wir spielen weiterhin unsere Brettspiele, doch ich verliere jedes einzelne Spiel. Nach einer Weile gibt Deron auf und schaltet den Bildschirm an, doch alles was wir sehen sind Nachrichten aus Mittelstadt. Der neuste Modetrend, der neuste Schmuck, die beste Farbe für den Sommer, der neuste Millionär, der noch nicht verheiratet ist, die neuste Fernsehserie, das neuste Parfum, die neuste… Genervt wende ich mich ab und höre nicht mehr zu. Ich setzte mich auf die andere Seite der Couch und schaue aus dem Fenster, während die Geräusche im Hintergrund ineinander übergehen. Der Zug fährt so schnell, dass ich nur erahnen kann was draußen ist. Es ist immer noch grün, weshalb ich glaube, dass wir im Wald sind. Die Konturen verschwimmen vor meinen Augen und meine Gedanken sind weit weg. Sie sind bei meinen Brüdern und ich frage mich, ob sie auch an mich denken. Was wird der kleine Caron ohne mich machen? Werden seine Brüder gut auf ihn aufpassen? Meine Hand fischt die Kette, die Zait mir gegeben hat, aus meiner Hosentasche. Ich traue mich nicht sie im Schlafwagon zu verstecken oder sie um den Hals zu tragen, aus Angst jemand könnte sie mir wegnehmen. Also trage ich sie ständig bei mir, denn bei mir ist sie am Sichersten. Ich fahre mit den Fingern über das Symbol für Erde und meine Gedanken gehen wieder zurück zu den zwei Menschen, die heute getötet wurden. Welchem Element haben sie angehört? Und warum waren sie in den Wäldern, aber so nah an den Schienen? Es ist offensichtlich, dass sie vor etwas weggerannt sind. Aber vor was? Beim Abendessen sind Kasai und Emalia bei uns, doch auch sie sagen kein Wort. Die Stille, die während des Essens herrscht, lastet schwer auf den Schultern und macht das Essen ungenießbar. Aber auf mich wartet ein hartes Training in der Hauptstadt, also würge ich jeden Bissen hinunter. Als Deron und ich uns schlafen legen, bin ich froh, dass ich das Bett neben seinem ausgewählt habe. War mir seine Anwesenheit in den ersten zwei Tagen noch unangenehm, bin ich nun erleichtert nicht alleine sein zu müssen. Dennoch kann ich nicht schlafen. Ich wälze mich unruhig hin und her und versuche die Ereignisse des Tages hinter mir zu lassen, doch sie verfolgen mich. Deron liegt still auf seinem Rücken, doch nach einer langen Weile scheint meine Unruhe seinen Geduldsfaden strapaziert zu haben. „Willst du darüber reden?“, fragt er mich ruhig und als ich zu ihm sehe, blicken seine intensiven blauen Augen direkt in Meine. Selbst in der Dunkelheit behalten sie ihre Wirkung. Ich setzte mich auf und lehne mich an die Wand in meinem Rücken, während ich die Bettdecke in meinen Händen zerknittere. „Ich will wissen, was genau passiert ist.“ Deron schiebt den Nachttisch beiseite, greift nach meinem Bett und plötzlich bin ich direkt neben ihm, ohne einen Raum zwischen uns. Meine Augen weiten sich und ich halte unbewusst den Atem an, während er sich zu mir beugt, als würde er mich küssen wollen. „Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube in jedem Raum gibt es Abhörwanzen“, flüstert er mir zu, was seine merkwürdigen Aktionen erklären. Doch er macht es mir schwer, mich auf seine Worte zu konzentrieren. Sein Atem ist warm und streicht über meine Wangen, während er spricht. „Ich glaube, die Beiden, die wir gesehen haben, waren ein Paar mit unterschiedlichen Elementen. Sie dürfen sich nicht lieben und nicht zusammen sein, also sind sie davon gelaufen. Doch ich verstehe nicht, warum sie so nah an den Schienen war. Anders hätten die Wachen sie nicht entdecken können.“ „Aber warum haben sie sie direkt getötet?“, frage ich leise und versuche mich nicht auf die Tatsache zu konzentrieren, wie nah er mir ist. Oder wie weich seine Lippen aus dieser Entfernung aussehen. „Warum wurden sie nicht festgenommen und in die Stadt gebracht, wo sie einem Gericht vorgeführt werden?“ „Weil es hier auf den Schienen schneller geht. Wir hätten es nicht sehen dürfen und das wir nun Zeugen sind, bringt uns in eine gefährliche Position. Das Einzige was uns schützt ist die Nachricht, die am Tag der Elementzeremonie zur Hauptstadt geschickt wurde und verkündet, dass zwei Auserwählte aus Nord auf ihrem Weg sind. Als die Wachen zu uns kamen, wollten sie sicher gehen, dass wir es keinem erzählen. Sie werden weiterhin ihre Augen prüfend auf uns haben.“ „Aber das ist keine Gerechtigkeit“, entfährt es mir frustriert. Deron schenkt mir ein kurzes Lächeln, welches völlig deplatziert wirkt und schüttelt leicht den Kopf. Mein Atem stockt, während er den Mund zu meinem Ohr bewegt und als er spricht, muss ich genau hinhören, um die Worte zu verstehen. „Vana, in Allegria gibt es keine Gerechtigkeit.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)