Der Sohn des Leuchtturmwärters von Shunya ================================================================================ Kapitel 4: Wahrheit und Illusion -------------------------------- Tom und ich zwängen uns auf die Rückbank des Polizeiautos, zwischen uns sitzt unser Rapunzel und Jannes hat das Privileg vorne sitzen zu dürfen. Ich hingegen komme mir eher vor wie ein Schwerverbrecher. Was ist das nur für eine verkorkste Wendung? Im ersten Moment wollen wir den geretteten Jungen der Polizei übergeben, damit er wieder zu seiner Familie kann und schon im nächsten Augenblick gilt er als vermisst? Mit diesem Leuchtturmwärter stimmt ebenfalls etwas nicht. Ganz und gar nicht! Ich traue der Sache nicht über den Weg. Er ist ein Entführer! Ich sehe zu dem Jungen neben mir, der sich gebannt die Inneneinrichtung des Autos ansieht. Er scheint auch irgendwie nicht von dieser Welt zu sein. Alles ist fremd für ihn. Wie lange war er bloß in diesem Leuchtturm eingesperrt? Der Beamte fährt mit uns zurück an den Strand was weder mir noch meinen Freunden in den Kram passt. All die Mühe, die wir auf uns genommen haben ist vollkommen umsonst gewesen. Der Junge kommt zurück und wir bekommen den Ärger. Nach einiger Zeit kommt der Leuchtturm in Sicht. Am liebsten würde ich aus dem fahrenden Auto springen und mit dem Jungen zurück zur Hütte laufen. Dort ist er wenigstens sicher. Jetzt muss er wieder zu diesem Mann dort oben in den Turm. Selbst der Polizist wollte uns das alles nicht glauben. Er denkt lediglich, dass wir eine rege Fantasie haben. Vor dem Leuchtturm hält er an und widerwillig steigen wir aus. Zu unserem Ärger läuft der Blondschopf natürlich direkt zum Turm. Missmutig folgen wir ihm und werfen einander frustrierte Blicke zu. Der Beamte klopft an die Tür und nach wenigen Sekunden öffnet sie sich. Ich zucke heftig zusammen, als ich die dunklen kräftigen Konturen eines Männerkörpers sehe. Doch schon kurz darauf tritt er näher ins Tageslicht und sieht uns mürrisch an. Ein alter Mann, der an einen Seefahrer erinnert mit Rauschebart und vom Wetter gezeichneten Gesichtszügen. Er mustert einen nach dem anderen und tritt beiseite. „Kommt rein.“ Der Polizist zögert nicht lange und auch wir folgen ihm, wenn auch mit einem unbehaglichen Gefühl. Es ist komisch dem Entführer direkt gegenüber zu stehen. Ich versuche etwas aus seinem Gesicht heraus zu lesen, doch es ist unmöglich. Seine Augen verraten nichts. Stur blickt er mich flüchtig an und schlurft die Treppe hinauf. Wir folgen ihm hoch in die Küche. Dort setzt er sich an den Tisch und nach einer kurzen Aufforderung durch eine Geste seinerseits setzen wir uns ebenfalls. „Ihr seid hier gestern eingebrochen!“, unterstellt er uns sachlich. „Habt meinen Jungen entführt.“ „Wir haben ihn gerettet!“, stellt Jannes richtig und knallt die Faust auf den Tisch. „Er war hier eingesperrt! Das ist unmenschlich!“ „Zu seiner eigenen Sicherheit.“ Der Alte sieht uns ernst an. „Reden Sie sich nicht heraus! Was kann ihm hier schon passieren?“, meckert Jannes ungehalten. „Damit ihn hier keiner findet, du dummer Junge!“, wettert der alte Leuchtturmwärter. „Wie meinen Sie das?“, fragt der Polizist. „Ist 'ne lange Geschichte. Der Junge muss hierbleiben.“ „Wir haben Zeit!“, meint Jannes, verschränkt die Arme vor der Brust und auch der Beamte nickt zustimmend. Ich sehe zu dem Blondschopf, der auf der Treppe nach oben hin kauert und mich zu keiner Sekunde aus den Augen lässt. „Also erst ma'! Ich bin kein Entführer! Das habt ihr Lausbuben euch doch ausgedacht!“, meint der Mann und räuspert sich. „Das war so. Die Eltern von dem Bengel hatten Spielschulden.“ Er deutet mit einer vagen Handbewegung zu dem Jungen auf der Treppe. „Die hatten sich nich' mehr unter Kontrolle, versteht ihr? Haben sich so lauter Zeugs gekauft was nicht gut is'. Drogen und so. Da fielen auch noch ma' Schulden an. Der is' gewachsen, der Schuldenberg. 'N paar Leute hatten sie halt aufm Kieker, ne? Das is' der Sohn von meinem Bruder. Dem seine Frau war auch so verkorkst. Hat sich nich' um den Bengel gekümmert. Der war verwahrlost. 12 Jahre alt und dürr bis auf die Knochen, weil sie ihn nicht regelmäßig gefüttert hamm. Da hab ich ihn weggeholt. Kann man ja nich' mit ansehen, ne? So'n kleiner Lausbub und kurz vorm Hungertod. Hab ihnen Geld dagelassen, das sie bestimmt verprasst haben. Der Jung' war ihnen egal. Hat sie nich' gekratzt wo der steckt, wisst ihr? Also habe ich ihn hierher gebracht mit auf'n Leuchtturm.“ Der alte Mann blickt zu dem Jungen. „Aber der is' nich' richtig gesund. Kann nich' hören oder sprechen. Keine Ahnung wie man das nennt, aber der kriegt von draußen nich' viel mit. Der lebt in seiner eigenen Welt.“ Ich schaue zu dem Blondschopf und irgendwie tut er mir schon leid. „Hatte ihn als Kind nich' unter Kontrolle. Der is' mir ständich ausgebüxt. Auf die Straße isser gelaufen. Der Bengel hört ja nix. Da musste ich die Tür zumachen, damit er mir nicht tot geht oder ins Wasser läuft und abgetrieben wird. Der kann ja nich' schwimmen und um Hilfe rufen.“ „Wie heißt der Junge?“, fragt der Beamte und holt seinen Notizblock hervor. „Aike, wie Eike, nur mit A statt 'nem E!“, brummt der Alte. „Und der Nachname?“ „Na, genau wie ich. Sybrands. Aike Sybrands.“ „In Ordnung. Ich werde einige Nachforschungen über die Eltern anstellen. Beherrscht der Junge die Gebärdensprache?“ „Nee~ so wat kann er nich'! Woher auch? Habe ihm ja in all den Jahren nich' viel beibringen können.“ „Wieso haben Sie ihn nicht zu einer entsprechenden Einrichtung gebracht?“, fragt der Polizist. „Na, er is' doch Familie. Familie gibt man nich' weg!“, meint der alte Mann entschlossen. „Da kümmert man sich drum, ob's einem passt oder eben nich', aber man hat Verantwortung!“ „Als wir ihn gefunden haben war er ziemlich dreckig.“ Jannes sieht zum Beamten. Zustimmend nicke ich. „Na, die Wasserleitung is' im Eimer. Gab 'nen Rohrbruch außerhalb. Da muss die Stadt das in Ordnung bringen!“ „Verstehe, aber hier bleiben kann er nicht. Nicht in solchen Umständen. Der Leuchtturm ist ziemlich herunter gekommen. Das ist kein Ort für einen Jungen in seinem Alter. Er ist überhaupt nicht sozialisiert.“ Der Polizist schaut zu Aike, der den Kopf auf die Knie gebettet hat und sich nicht weiter um uns kümmert. „Nehmen Sie mir den Jungen wech'?“, fragt der Alte misstrauisch. „Hier bleiben kann er nicht. Verstehen Sie doch, Herr Sybrands. Er muss in eine Einrichtung, in der man auf seine Bedürfnisse eingehen kann und wo er Freunde in seinem Alter kennen lernt.“ Ratlos sehe ich zu meinen Freunden. Dass das alles solche Ausmaße annimmt, damit hat wohl keiner von uns gerechnet. Ich sehe Aike an und knabbere auf meiner Unterlippe. „Ich schicke morgen jemanden her damit der Junge abgeholt wird. Keine Sorge, es wird ihm gut gehen.“ Der Polizist sieht Herrn Sybrands aufmunternd an, der seinen Blick mürrisch erwidert. Dann wendet der Mann sich an uns. „Ich ziehe die Anzeige zurück, aber kommt nich' mehr her!“ Betreten nicken wir und verlassen mit dem Polizisten den Leuchtturm. Ich werfe noch einen letzten Blick zu Aike und mir rinnt eine Gänsehaut über den Körper als er mir direkt in die Augen schaut. Ich ringe mir ein Lächeln ab und hebe kurz zum Abschied die Hand, doch er reagiert nicht und guckt mir lediglich nach. Draußen angekommen steigen wir in das Polizeiauto und werden zum Haus der Fendels gebracht, die dummerweise bereits auf uns warten und entgegen kommen als der Wagen am Haus ankommt. Der Polizist hält das Auto an und wie geprügelte Hunde steigen wir aus und lassen die Köpfe hängen. Natürlich erwartet uns eine deftige Standpauke. Wir sind immerhin die ganze Nacht weg gewesen und haben keinerlei Nachricht hinterlassen. Es dauert eine Weile bis alles herauskommt und wir wirklich die Wahrheit erzählen, allerdings mit einigen Ausnahmen. Sie müssen ja nicht erfahren was Tom und Jannes ursprünglich mit Aike vorhatten, als sie noch nicht wussten, dass er eigentlich ein Junge ist und auch dass ich ihn gewaschen habe, behalte ich für mich und die Jungs sagen zum Glück auch nichts. Dieser eine Moment geht mir kaum noch aus dem Kopf. Dieser winzig kleine Augenblick in dem wir uns beinahe geküsst hätten. Was gäbe ich dafür, wenn ich es tatsächlich getan hätte. Den nächsten Tag verbringen wir am Strand. Die Nacht über haben wir kaum geschlafen, weil wir uns tierisch über unsere Rettungsaktion geärgert haben, welche natürlich ein totaler Reinfall gewesen ist! Mürrisch sitze ich am Strand, während Tom und Jannes unbekümmert im Wasser herumbalgen. Ich bin müde und wütend. Alles ist umsonst gewesen. Wir hätten uns von Anfang an nicht darauf einlassen sollen! Ob Aike bereits abgeholt worden ist? Wahrscheinlich werde ich ihn ohnehin nie wieder sehen. Es heißt zwar man sieht sich immer zwei Mal im Leben, aber der Junge landet bestimmt in irgendeinem Kaff und wird von Psychiatern oder so was betreut. Therapeuten. Nein, erst mal muss er ja lernen sich zu verständigen. Wer weiß überhaupt auf welchem Stand er ist? Vielleicht ist er im Kopf noch wie ein Kleinkind, wenn er nichts gelernt hat? Dabei sieht der Kerl verdammt umwerfend aus und ich hätte ihn total gerne geküsst... Ich raufe mir die Haare und stehe abrupt auf. Ich klopfe mir den Sand vom Hintern und renne brüllend zu den Jungs, stürze mich auf Tom und falle mit ihm ins Wasser. Jannes schmeißt sich lachend auf uns und so toben wir noch eine Weile herum, bis meine Tante uns zum Essen hereinruft. Abends lungere ich im Wohnzimmer auf dem Sofa herum. Tom kommt in den Raum und stützt sich auf der Rückenlehne ab. Er sieht auf mich herunter und zieht die Stirn kraus. „Willst du jetzt nur noch mit diesem Sieben-Tage-Regenwetter-Gesicht herum laufen? Ich meine, wir können es halt nicht ändern. Er ist weg. Wir haben einen Fehler gemacht. Das ist alles.“ Ich sehe müde zu ihm auf und dann wieder zum Fernseher, den ich auf stumm geschaltet habe. Zwei Frauen streiten sich wegen irgendeiner Belanglosigkeit. „Was guckst du da?“ „Keine Ahnung...“, murmele ich und schließe meine Augen. „Irgendeine blöde Realityserie.“ „Markus? Stehst du auf ihn?“ Ich öffne die Augen und sehe zu Tom auf. „Was?“ „Ich will wissen, ob du auf ihn stehst, diesen Jungen aus dem Leuchtturm?“ „Er heißt Aike.“ „Ja, meine ich doch. Also wie sieht's aus?“ Ich schlucke und weiche seinem Blick aus. „Ein bisschen, irgendwie... Ich bin nicht verliebt oder so was, aber... Er hat mich schon irgendwie...fasziniert.“ „Weil er anders ist als wir?“ „Vielleicht...?“ Fragend sehe ich zu Tom auf. „Ich weiß es nicht.“ Er seufzt und schaut auf den Fernseher. „Ich glaube wir drei haben einfach kein Glück mit der Liebe.“ „Ja, wahrscheinlich...“ Ich lächele gezwungen und zucke mit den Schultern. „Hast du was dagegen, wenn ich mal etwas Verrücktes ausprobiere?“, fragt Tom und sieht mich nachdenklich an. „Und was?“, frage ich belustigt. Er stützt sich an der Rückenlehne ab und klettert darauf, lässt sich auf meiner Seite auf dem Sofa nieder und setzt sich breitbeinig auf mich. Mein Herz klopft auf einmal wie ein Presslufthammer in meiner Brust, als Tom sich zu mir herunter neigt und sein Gesicht sich mir stetig nähert. Zentimeter um Zentimeter. Ich halte die Luft an und rühre mich nicht vom Fleck, so aufgeregt bin ich. Toms Hand berührt mich am Hals was mich erschaudern lässt und dann berühren sich unsere Lippen. Erst zögerlich, dann etwas intensiver. Ich liege noch immer stocksteif auf dem Sofa. Irritiert schließe ich meine Augen und lasse mich von Tom küssen. Komisch, diesen Moment habe ich mir immer viel aufregender und schöner vorgestellt. Wieso kann ich mich nicht entspannen? Ich sollte mich freuen, immerhin ist es Tom der mich hier küsst! Trotzdem bleibe ich auf dem Boden der Tatsachen und kann es einfach nicht genießen. Vielleicht ist es auch nur der falsche Zeitpunkt? Tom löst sich von mir. Wir beide wirken nicht wirklich überzeugt von dem was hier gerade abgegangen ist. „Irgendwie ist das nicht so mein Ding...“, meint er und verzieht sein Gesicht. Ich lächele kläglich. „Na ja, du hast mich halt immer so angeguckt, da wollte ich dich aufmuntern, aber das war wohl nichts...“ „Danke, Tom.“ Ich umarme ihn und drücke ihn fest an mich. „Ich gehe mal wieder nach oben. Kommst du gleich nach? Der Film scheint ja nicht so der Hammer zu sein.“ Ich nicke und sehe ihm nach. Mit den Fingern berühre ich meine Lippen. Da war kein kribbeln, keine Freude, irgendetwas hat gefehlt... Ich erhebe mich vom Sofa, schalte den Fernseher aus und schleppe mich nach oben ins Zimmer. Die Jungs liegen bereits in den Betten und so schalte ich das Licht aus und krieche auf meine Matratze. Obwohl ich todmüde bin kann ich nicht einschlafen. Unruhig wälze ich mich im Bett hin und her. Schließlich stehe ich auf und schleiche mich hinaus. Ich durchquere das Haus, öffne die Terrassentür und setze mich draußen auf einen Gartenstuhl. Müde blicke ich auf das Meer hinaus, rieche die salzige Luft und starre in den Himmel. Was habe ich mir davon eigentlich versprochen? Hätten wir ihn gerettet, wäre er auch so oder so weg vom Fenster gewesen. In beiden Situationen hätte ich ihn nicht mehr wiedergesehen. Rettung... das war doch nur eine Illusion. Unser Abenteuer. Genau wie der Dikjendälmann. Den gibt es auch nicht. Tom hat Recht, ich sollte mich davon nicht so frustrieren lassen. Das bringt mir nun mal nichts. Bald ist der Urlaub auch schon wieder vorbei und wenigstens den sollte ich noch in vollen Zügen genießen, ehe ich mit der Ausbildung beginne. Seufzend ziehe ich meine Beine eng an den Körper, schlinge meine Arme darum und lege meinen Kopf auf den Knien ab. „Was willst du hier?“, fragt der Leuchtturmwärter misstrauisch, als er morgens am Turm ankommt. Er trägt ein blaues Flanellhemd mit Karomuster und eine ausgewaschene beigefarbene Hose sowie dreckige schwarze Stiefel. Ich sitze auf dem Boden vor der Tür zum Turm. „Ist er gestern abgeholt worden?“, frage ich ihn. „Ja, der Bengel is' wech. Den krieg ich so schnell nimmer wieder.“ Der alte Mann bleibt etwa zwei Meter von mir entfernt stehen. „Was willste hier? Hab doch gesacht, ihr sollt nich' mehr herkommen!“ „Ich weiß. Können Sie mir sagen wo Aike jetzt ist?“, frage ich hoffnungsvoll. „Hm, na in so 'ner Einrichtung. Weiß nich' wie die heißt. Die hamm mir 'nen Zettel dagelassen.“ „Darf ich den sehen?“ „Wieso? Willst ihn noch ma' entführen?“ „Wir wollten ihm nur helfen. Wir konnten doch nicht wissen, dass Sie auf ihn aufpassen! Ich mache mir nur Sorgen.“ „Aha...“ „Also was ist jetzt?“ „Hm, na gut. Komm mit hoch.“ Ich erhebe mich hastig, als er zur Tür tritt und sie öffnen will. Er zieht die schwere Tür mühelos auf und läuft die Treppe langsam hoch. Ich folge ihm in einigem Abstand. Wir erreichen die Küche und ohne ein weiteres Wort zeigt er auf einen Zettel am Tisch. „Da.“ Ich gehe darauf zu und ziehe die Visitenkarte mit den Fingern näher zu mir heran. Kurzerhand hole ich mein Handy aus der Hosentasche und schreibe mir die Adresse und auch die Telefonnummer ab. „Und Sie wissen nicht, wann er dort entlassen wird?“, frage ich den Mann, der mittlerweile auf der einem Stuhl sitzt. „Nee...“ „Ähm...“, beginne ich zögernd. „Wie alt ist Aike eigentlich?“, frage ich nervös. „Hm. 17 oder 18, ganz sicher bin ich mir da nich'.“ Ich atme erleichtert durch. Warum genau, kann ich mir allerdings selber nicht erklären. „Okay, danke.“ Etwas rastlos sehe ich mich um. „Der Polizist meinte doch, es liegt an der Umgebung oder nicht? Also, dass der Turm so heruntergekommen ist... Deswegen darf Aike nicht hier bleiben oder?“ „Kann schon sein. Vielleicht bringen sie ihn aber auch wieder zu seinen Eltern.“ „Haben Sie deren Adresse?“, frage ich mutig weiter. „Ja, schon. Was willst'n mit der?“ Ratlos kratze ich mich am Kopf. „Na ja, vielleicht könnte ich ihn dann mal besuchen? Schauen wie es ihm so geht?“ „Aha...“ Der alte Mann holt ein Portemonnaie aus seiner Hosentasche, welches auch schon mal bessere Tage gesehen hat. Das hellbraune Leder ist ganz rissig. Er holt ein kleines Adressbüchlein heraus. „Ich kann nich' mit solchen Dingern. So moderne Technik liegt mir nich'.“ Er deutet auf das Handy in meiner Hand. Ein Lächeln kann ich nur schwer unterdrücken. „Da hast du sie.“ Ich trage die Adresse von Aikes Eltern in mein Handy ein und überprüfe, ob auch alles stimmt. „Okay, danke.“ „Und nu' hau ab, Junge!“ „Danke und tschüss.“ Ich laufe die Treppen herunter und verlasse den Leuchtturm. Langsam schlendere ich über den Strand und ziehe mir Schuhe und Socken aus. Der warme Sand unter meinen Füßen fühlt sich gut an. Barfuß laufe ich weiter und fühle mich irgendwie besser. Somit habe ich ihn noch nicht ganz verloren. Ich kann noch etwas machen. Ein Blick zurück zum Leuchtturm sagt mir auch schon, was als erstes zu tun ist. „Du willst was?“, fragt Tom entgeistert und auch Jannes schaut mich verblüfft an. „Also, es kann gut sein, dass es ja nichts bringt. Möglich, dass er zurück zu seinen Eltern kommt, aber überlegt mal, wenn er wieder am Leuchtturm sein kann... Ich meine, er ist dort immerhin aufgewachsen. Es ist sein Zuhause.“ „Du spinnst doch!“, fährt Tom mir dazwischen. „Er war dort praktisch gefangen! Er durfte nicht raus und hat keine Freunde! Glaubst du, es geht ihm besser, wenn er dort zurückkehrt?“ Ich lasse betreten den Kopf hängen. „Markus! Er ist weg! Vergiss ihn!“, redet Tom brüsk auf mich ein. „Wahrscheinlich geht es ihm jetzt besser, dort wo er ist!“ „Aber der Alte ist doch da. Er war nicht ganz allein...“, versuche ich es kläglich. „Krieg dich mal wieder ein, Markus! Du warst doch von Anfang an dagegen und jetzt willst du den barmherzigen Samariter spielen? Ohne mich!“ Tom verschränkt die Arme vor der Brust und auch Jannes wirkt nicht sehr begeistert. „Außerdem, was haben wir davon den Leuchtturm sauber zu machen? Wenn er bei seinen Eltern lebt ist alles umsonst gewesen. Auf noch so eine fixe Aktion habe ich keine Lust mehr.“ Jannes schüttelt entschieden den Kopf. „Falls ich dich erinnern darf. Das ist doch nur deine Idee gewesen! Du hast uns das doch alles eingebrockt!“, meckere ich ungehalten, stehe auf und gehe zur Luke. Wütend klettere ich die Leiter herab und laufe durch die Küche hinaus in den Garten. Frustriert laufe ich runter zum Strand, bis mir das Wasser über die Füße fließt. Ich trete mit dem Bein aus, als würde ich einen Ball wegschießen wollen, woraufhin die klare Flüssigkeit in die Luft spritzt und hocke mich einfach im Wasser hin. Dass meine Kleidung dabei nass wird, ist mir herzlich egal. Abrupt stehe ich auf, zerre mir die Kleider vom Leib, werfe sie achtlos in den Sand wo sie ein paar Meter vom Wasser entfernt liegen bleiben und stürze mich in die Wellen, bis ich tief genug bin und schwimmen kann. Ich tauche kurz unter und komme prustend wieder an die Oberfläche. Ich drehe mich auf den Rücken und schwimme langsam weiter, den Blick gen Himmel gerichtet. Hoch oben am Firmament sind noch leichte Dunstschwaden eines Düsenjets zu sehen, die sich mit der Zeit verflüchtigen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)