Rot, rot, rot von Ixtli ================================================================================ Bonustrack : Today Your Love, Tomorrow the World ------------------------------------------------ Es war einmal ein Junge, den hatte ein jeder lieb, der ihn auch nur ansah. Am allerliebsten aber hatte ihn der Wolf. Und weil der ihn so lieb hatte, schenkte er ihm sein Herz. "Pass schön auf mein Herz auf", sagte der Wolf zu dem Jungen. "Geh nicht vom Weg ab, sonst fällst du und zerbrichst es." Der Junge versprach es und von diesem Tag an trug er das Herz des Wolfs bei sich, wo immer er auch hin ging. Eines Tages, als der Junge seine Großmutter besuchte, um ihr Kuchen zu bringen, den die Mutter gebacken hatte, traf er dort den Jäger. Der Junge hatte keine Ahnung, wer der Jäger war und ging ein Stück des Weges neben ihm her. Nach einer Weile fragte der Jäger: "Was hast du da in deiner Hand? Es schimmert so schön und die Sonnenstrahlen springen so lustig darin hin und her." "Das ist das Herz vom Wolf", antwortete der Junge unbekümmert und hielt dem Jäger das Herz entgegen, damit er es besser betrachten konnte. Der Jäger stieß das Herz sachte an. Es war aus zartem Glas und so klar, dass man durchsehen konnte. Dort, wo die Sonnenstrahlen durch es hindurch fielen, schillerte die Luft in tausend Farben. Der Jäger, der bisher nur blutige Herzen in den Händen gehalten hatte, wurde traurig. "Sag, Jäger, warum bist du auf einmal so betrübt?" "Weil ich noch nie ein so reines und zerbrechliches Wolfsherz gesehen habe", antwortete der Jäger und gab dem Jungen das gläserne Herz zurück. "Du kannst es gerne eine Weile tragen, wenn dich das glücklich macht", sagte der Junge und bot dem Jäger das Herz erneut an. "Du musst mir nur versprechen, es nicht fallen zu lassen", ermahnte er den Jäger, dessen Gesicht sich erhellte, als er das kühle Glas in seinen Händen hielt. "Ich werde gut darauf aufpassen", sagte der Jäger und hielt das Wolfsherz in die Sonne, damit deren Strahlen weiter darin umher springen und tanzen und Farbenfunken versprühen konnten. Johan huschte ein flüchtiges Lächeln übers Gesicht, als er Tim und Marek sah. "Hallo", begrüßte er die beiden. Er sah, wie blass Tim war und nickte Marek zu, der etwas hinter Tim stand. Die beiden hatten sicher schon darüber gesprochen. "Setzen wir uns?" Marek deutete ins Wohnzimmer. Ohne Johan aus den Augen zu lassen, ließ Tim ihn zuerst ins Wohnzimmer gehen. Johan steuerte ohne Umschweife auf den Sessel zu und Tim und Marek nahmen auf dem Sofa Platz. Tim versuchte, abwechselnd in Johans und Mareks Gesicht abzulesen, was das sollte. Doch beide hätten auch draußen aneinander vorbei gehen können. Keiner wirkte, als wären sie Drei nicht gerade eine etwas seltsame Gruppierung. Tim und Johan hatten sich miteinander getroffen und Johan und Marek auch. Jeder wußte eigentlich von dem anderen Bescheid. Aber was sollte das hier? "Möchtest du was trinken?", unterbrach Marek ihr Schweigen. "Ja, danke", antwortete Johan und lächelte Marek zu. Als Marek aus dem Zimmer war, wartete Tim, dass Johan endlich die Initiative ergriff und sagte, warum er hier war. Doch Johan sah sich nur interessiert im Wohnzimmer um. Tim rutschte etwas auf seinem Platz nach unten, bis er die Rückenlehne in seinem Nacken spürte. Er schloss kurz die Augen und versuchte sich auszumalen, wie sie alle erst in diese Situation geraten waren und wie sie nun weitergehen sollte. Was war der erste vernünftige Satz, den sie gleich miteinander wechseln würden? War es seine Schuld? Stellten sie ihn vor die Wahl? Er wollte keine Wahl treffen. Konnte es gar nicht. Marek stellte eine Flasche vor Johan auf den Tisch, der sich zwar erneut bedankte, aber die Flasche keines Blickes mehr würdigte. Das Sofapolster sank etwas an Tims Seite ein, als sich Marek nebem ihm niederließ und Tim öffnete die Augen. Er setzte sich wieder auf und spürte Mareks Arm auf seine Schulter herabsinken. Johan lächelte auch jetzt noch. Wenn er gekommen war, um Marek zu eröffnen, dass er Tim niemals aufgeben würde, wäre jetzt der ideale Zeitpunkt dafür. Oder ging es hier nicht um ihn? Mareks Fingerspitzen zeichneten kleine Kreise auf Tims Schulter. Tims Anspannung war kurz vorm Platzen. Gott, warum sagte niemand etwas? Johan setzte sich etwas auf. Seine Finger hatten sich haltsuchend ineinander verschlungen. "Esther ist vor einer Stunde verstorben", sagte Johan endlich vorsichtig und im gleichen Atemzug tat es ihm auch schon leid, als er sah wie Tims Kopf hochfuhr und ihre Blicke sich trafen. Hatte er das richtig verstanden? Tim drehte sich zu Marek um, der ihn keine Sekunde aus den Augen ließ und gerade ansetzte, etwas zu sagen. Tim schüttelte den Kopf. Von allen schrecklichen Sachen, die es hätten sein können, war das die unglaubwürdigste. "Meine Mutter", flüsterte Tim und brach mitten im Satz ab. "Sie ist schon auf dem Weg zu ihr." Johan kämpfte mit sich. Er wäre gerne aufgestanden und hätte sich zu Tim gesetzt, der gar nicht richtig zu realisieren schien, dass die Nachricht wahr war. Aber das konnte er nicht einfach so bringen. Noch nicht. "Ich hole die Autoschlüssel." Marek bewegte sich erst von der Stelle, nachdem Tim, der Johan seit dem Satz mit Esther anstarrte, als ob er darauf warte, dass der sagte, es wäre nur Spaß gewesen, ihn ansah und nickte. "Lass nur", wandte Johan ein, "ich bin sowieso mit dem Auto hier." Er erhob sich und schob die Hände in die Hosentaschen. "Ich warte unten auf euch." Schweigend fuhren sie zu Haus Waldfrieden, das seinem Name entsprechend ruhig da lag. Hinter einigen Zimmerfenstern brannten gedimmte Nachtlichter. Johan parkte neben dem Wagen von Tims Eltern und wartete dann auf Tim und Marek, die beide auf der Rückbank gesessen hatten. Marek hielt Tims Hand. Seine Finger waren eiskalt und Marek drückte sie sachte. Er hatte sich nie Gedanken über seine Besuche hier gemacht, aber jetzt, wo er wusste, dass er das letzte Mal den Weg nach oben auf die Station machte, um seine Oma zu sehen, fielen Tim alle möglichen Sachen auf. Das Muster auf den Granitstufen, das freundliche Orange, in dem die Wände des Treppenhauses gestrichen waren, Bilder in alten verschnörkelten Holzrahmen, die die Wände zierten und den Menschen hier ein heimisches Gefühl vermitteln sollten. Jeden Schritt, den Tim tat, tat er mit dem schrecklichen Gefühl, dass es wirklich das letzte Mal war, dass er hierher kam. Und dann spürte er Johans Arm, der unabsichtlich gegen seinen stieß und er musste sich korrigieren. Er war eben nicht das letzte Mal hier. Seine Oma würde zwar nicht mehr hier auf ihn warten, um mit ihm im Gemeinschaftszimmer Patience zu spielen, aber Johan war schließlich noch hier. Johan sah zu Tim, dessen freie Hand ganz kurz gegen seine stieß und schnell über seinen Handrücken strich. Seine Eltern standen an Esthers Bett. Zwischen ihnen konnte Tim ein Stück von Esthers Arm erkennen, der still neben ihr auf der Matratze ruhte. Tim blieb stehen und atmete tief durch. Mareks Hand hatte ihren Griff etwas gelockert, als wolle er ihm die Wahl lassen, alleine zu Esther ans Bett zu gehen oder zusammen mit ihm. Johan war an der Tür stehen geblieben und beobachtete von dort die Szene. Simone hatte wie üblich alles gut vorbereitet. Das Licht war gedimmt, weil die meisten Leute erschraken, wenn sie ihre Verstorbenen das erste Mal in diesem Zustand sahen. Ein Körper, dessen Blutkreislauf zum Stillstand gekommen war, sah nun einmal anders aus, als normal durchblutetes Gewebe. Das sanfte Licht machte die Haut weicher und ließ die erschlafften Konturen nicht ganz so scharf hervortreten. Marek verstand das sofort. Er ließ Tims Hand los, als er sie aus seinem Griff gleiten spürte. Seine Mutter legte einen Arm auf Tims Schulter und drückte ihn schnell an sich. Es tat ihm weh, als er ihre Tränen sah, die ihr über die Wangen liefen. Er wandte die Blicke ab und sah zu Esther. Der Anblick erinnerte ihn an seinen zweiten Besuch hier, als sich Esther tot gestellt hatte. Es gab tatsächlich kaum einen Unterschied. Mit angehaltenem Atem wartete er auf ein Zucken ihrer Lider, die sich gleich heben würden. Wo war das Pulsieren ihrer Schläfen? Wann öffnete sie endlich den Mund und rief wieder fröhlich Angeschmiert? Tim sah so konzentriert zu seiner Oma, dass es in seinen Augen zu brennen begann. Vielleicht tat sie ja doch nicht nur so. Vielleicht war sie wirklich tot? Tim wandte sich zur Tür. Johan und Marek standen dort nebeneinander und erwiderten seine Blicke. Marek lächelte leicht und Johan schien nicht ganz zu wissen, wie er reagieren sollte. Es war das erste Mal, dass er jemandem, den er kannte, die Nachricht hatte überbringen müssen, dass jemand gestorben war. Dass er Tim liebte, machte es nur noch schwerer. Johans Augen sagten ihm, dass es wirklich kein Spiel war und er sich verabschieden musste. Tim tat es. Mit allem, was dazu gehörte. Er war dabei, als Marek Esther abholte. Er fuhr mit zum Laden und folgte Marek mit klopfendem Herzen in die Räume dahinter. Zweimal fuhren sie zum Krematorium und schritten nebeneinander durch den Steinsäulenwald. Tapfer hielt Tim auf der Rückfahrt des zweiten Besuchs im Krematorium Esthers Urne auf seinem Schoß. Und dann stellte er sie auf den mit einem schwarzen Tuch verdeckten und mit Blumen geschmückten Sockel in der Einsegnungshalle. Sie waren alleine in der Halle. Marek und Tim. Das Wachs verbrannte zischend in den Kerzen, die um den Sockel mit Esthers Urne aufgebaut waren. Marek dachte darüber nach, dass er der Letzte von ihnen gewesen war, der Esther lebend gesehen hatte. Und er war der Letzte, der sie tot gesehen hatte. Die Tür zur Halle schwang sanft auf. Kurz hörte man Vogelgezwitscher, das von draußen in die stille Einsegnungshalle drang wie ein frischer Luftzug. Dann wurde es wieder still. Tim sah zu Johan auf, der sich an seiner freien Seite auf dem Stuhl niederließ. Er hielt den Topf mit den Calla in den Händen. Dann sah Tim zu Marek, der auf seiner anderen Seite saß. "Ich habe noch was für dich." Tim drehte den Kopf zu Johan, der in seine Hosentasche griff und eine kleine rechteckige Schachtel hervorholte, die er Tim gab. Es waren Esthers Spielkarten. Tim öffnete die Packung und ließ die Karten in seine Hand gleiten. Er ging jede einzelne Karte durch. Sie waren noch so geordnet, wie sie Esther das letzte Mal benutzt hatte. Kreuz Zehn, Karo Bube, Pik Dame, Herz König. Dahinter lagen der Kreuz König und der Karo König. Für Tim machten sie keinen Sinn. Tränen tropften auf die Karten in Tims Händen. Es waren die ersten Tränen, die er seit Esthers Tod weinte. Sie fielen auf die drei Könige und rollten auf seine Hände. "Ich weiß nicht mal, wie man Patience spielt", stieß Tim leise aus. Er hatte nur bei seiner Oma gesessen und darauf gewartet, dass die Zeit umging. Er war nicht Rotkäppchen. Er war in Wirklichkeit der böse Wolf, der nacheinander in sämtliche Rollen geschlüpft war, damit er alle Beteiligten auffressen konnte. Zuerst Marek, dann Johan und zum Schluss seine Oma. Johan presste die Lippen fest aufeinander. Er hatte Esther so oft ihr Kartenspiel spielen sehen, aber er kannte die Regeln selbst nicht. Zögernd legte er seine Hand auf Tims Rücken und zuckte kurz zurück, als er Mareks Hand direkt daneben spürte. Er sah zu Marek, der kaum merklich mit dem Kopf schüttelte und lächelte. Mareks Hand legte sich auf Johans und seine Finger glitten sachte zwischen Johans Finger. Marek neigte seinen Kopf zu Tim. Mit seiner freien Hand strich er ihm über den Unterarm, bis hinunter zu seinen Händen, die die Karten festhielten. "Ich weiß, wie das geht", sagte Marek und wartete, bis Tim ihn ansah. "Esther hat es mir beigebracht. Wenn ihr wollt, zeige ich es euch." Tim sah zu Johan, der nun ebenfalls nach Tims Hand griff, sich zu ihm beugte und ihm einen Kuss auf die Wange gab. Ja, warum nicht?! Ende Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)