Ein Leben in London von Gepo (Fortsetzung von "Eine Nacht in Bangkok" (ABGESCHLOSSEN!)) ================================================================================ Kapitel 9: Verwicklungen ------------------------ „Kann ich noch etwas für Sie tun, Mister Snape?“, fragte Lydia nach seiner Arbeitsübergabe. „Hm … wenn Sie so fragen“ Hieß, wenn sie seine Verzweiflung erkannt hatte, die nur nicht groß genug war, dass er von sich aus fragte. „Harry hat am Samstag Geburtstag … was kann man denn einem Sechzehnjährigen schenken?“ „Ein IPhone“, erwiderte sie wie aus der Pistole geschossen. „Ich wollte ihm sowieso ein Handy geben, das ist doch eher eine Notwendigkeit als ein Geschenk“ Severus sah zu einer seiner Topfpflanzen, die Lydia für ihn am Leben hielt. „An manchen Tagen vergesse ich, dass ich nur die Sekretärin bin und Sie wahrscheinlich das Drei- oder Vierfache verdienen“ Lydia seufzte. „Sechzehn … High-Tech-Sneaker, Markenjeans, Spielekonsolen, Gaming-fähige Rechner, Verbesserung der Internetleitung, ein Moped, Führerschein … was hat er denn für Hobbys?“ Hobbys … was tat Harry denn außer zu lernen? Er murmelte: „Kochen.“ „Kochen?“ Sie klang überrascht. „Nun … Rezeptbücher, Kochzubehör … haben Sie eine gute Küche? Fehlen noch irgendwelche Küchengeräte, die er brauchen könnte?“ Severus hob nur eine Augenbraue. „Natürlich haben Sie alles“ Sie sah überlegend Richtung Decke und legte eine Hand an ihr Kinn. Einen Moment lang fühlte er sich schlecht, dass er sie nun dumm fühlen ließ, obwohl er es war, der keinerlei Ahnung hatte, was überhaupt in eine Küche gehörte. Mehr als Kaffee-, Brotschneidemaschine und Toaster hatte er noch nie benutzt. Sein Ofen und die Kochplatten waren vor Harrys Erscheinen das letzte mal von irgendeinem One-Night-Stand benutzt worden, als er die noch hatte und mit nach Hause nahm. „Ansonsten sind gemeinsame Unternehmungen immer etwas Schönes. Konzertkarten zum Beispiel. Aber die meisten Sechzehnjährigen gehen lieber mit ihren Freunden weg … Bücher und CDs sind auch eine schöne Sache. Die haben einen bildenden Wert.“ „Was für Kinderbücher haben Sie gelesen?“ Er sah auf zu ihr. Vielleicht sollte er sie beim nächsten längeren Gespräch einladen, sich zu setzen. „Kinderbücher?“ Sie blinzelte überrascht. „Mit sechzehn habe ich keine mehr gelesen. Da waren Krimis und Thriller mein Hauptlesestoff.“ „Nun, er lernt ja gerade Englisch … ich dachte, mit einfachen englischen Geschichten kann man ihm das Lernen vielleicht erleichtern. Und er lernt gleichzeitig etwas über unsere Kultur“ Severus sah wieder zur Topfpflanze. „Oder ist das eine dumme Idee?“ „Nein, gar nicht … eigentlich ist das genial“ Sie lächelte. „Und sehr viel besser als den Konsumwahn der Kinder zu unterstützen. Das sind vielleicht keine coolen Geschenke, die man all seinen Freunden zeigt, aber es sind bedeutungsvolle Geschenke.“ „Also sollte ich die ihm nicht vor seinen Freunden überreichen?“ Severus speicherte diese Information sofort ab. Würde er Harry auf der Feier halt sein IPhone schenken und die Bücher morgens vor der Feier. „Und was haben Sie als Kind gelesen?“ „Die Mutter-Gans-Reime. Und Tolkien, Mark Twain, Charles Dickens … und die Bücher mit Mary Poppins. Ich wette, etwas von Mark Twain würde Harry gefallen. Aber vielleicht sind die auch noch zu schwer? Wie schnell lernt er denn Englisch? Vielleicht sollte man mit einem Grundschulbuch anfangen?“ Mark Twain. Der hatte doch Oliver Twist geschrieben, richtig? Lektüre für das Alter acht bis zwölf, wenn er sich nicht irrte. Das würde Harry schon hinkriegen, auch wenn er das Buch vielleicht erst in ein paar Monaten lesen konnte. Ihm gefiel die Idee äußerst gut. Für Kinder waren Kindergeschichten wichtig, auch wenn es schon etwas ältere Kinder waren. In einem Land zu leben, in dem jeder gewisse Geschichten kannte und selbst keinen Schimmer zu haben, klang wenig angenehm. Er selbst hatte das schmerzlich erfahren dürfen, bis seine Mutter ihm zum elften Geburtstag einen Ausweis für die Bibliothek geschenkt hatte. Um den hatte er lang betteln müssen, aber es hatte sich mehr als gelohnt. „Waren das passende Ideen?“, fragte Lydia nach, um ihn in die Realität zurück zu befördern. „Ja, vielen Dank“ Er nickte. „Sie können sich wieder Ihrer Arbeit zuwenden.“ „Immer gern doch, Chef.“ Dienstag fragte Harry, ob er am nächsten Tag etwas mit Ginny unternehmen dürfte. Severus tat sein Bestes, die Zähne zusammen zu beißen, in aller Ruhe zu nicken und den Jungen nur daran zu erinnern, zum Abendessen wieder zuhause zu sein. Was sollte er schon sonst tun? Jetzt konnte er diese Lawine eh nicht mehr aufhalten. Nicht, dass er es gewollt hätte. Zumindest logisch nicht. Am Mittwoch selbst dachte er allerdings erstaunlich wenig darüber nach, was die zwei wohl gerade machten. Nicht nur war sein Tag sehr arbeitsintensiv, auch war die Gruppe mehr als anstrengend. Hatten sie letzte Woche nur theoretisch besprochen, wie man sich in Situationen zu benehmen hatte, sollten sie es diesmal üben. Ein Bewerbungsgespräch, eine falsche Rechnung, ein betrunkener Passant … das alles ohne Aggressionen zu lösen war verdammt schwer. Während das Bewerbungsgespräch kein Problem darstellte, tat er sich extrem schwer daran, seinen von Draco gespielten Kellner nicht zu Lachsschinken zu verarbeiten. War der Junge bisher noch meist ein recht unbeherrschter Großkotz gewesen, schlich er nach der Szene nur noch auf Zehenspitzen mit großem Bogen um Severus herum. Mit dem betrunkenen Passanten Sirius ging er ähnlich unfreundlich um, aber dieser war recht immun gegen Einschüchterung. Insgesamt durfte er den Abend als höchst anstrengend und wenig erfolgreich verbuchen … zumindest hatte er einiges an Tipps und Handlungsanweisungen mitgenommen. Die Ankündigung, dass sie das nächste Woche mit anderen Szenen nochmal machen würden, war wenig angenehm. Zuhause legte sich Severus mit Migräne auf die Couch und ließ sich von Harry ein paar Brote servieren. Zum Glück nahm der Junge es ihm nicht übel, wenn er so völlig ausgelaugt war. Er arbeitete einfach still an seinen Aufgaben und las danach ein weiteres Buch, das er aus Severus Bücherschrank hatte. Ihm mehr Bücher zu schenken erschien ihm als eine immer besser wirkende Idee. Severus nutzte seinen Freitag Nachmittag zum Einkaufen. Ein hübsches Handy war schnell gefunden, eine Hülle mit Orchideen darauf ebenso, nur die Bücher waren nicht ganz einfach. Es war zwar einfach, gut geschriebene Kinderbücher zu finden, aber nicht ganz so einfach, sich zu entscheiden. Im Endeffekt kaufte Severus sieben statt der geplanten zwei. Zum Glück konnte man mittlerweile alles einpacken lassen, sodass er sich keine Gedanken darum machen musste. Als Harry sie am nächsten Morgen – voller Überraschung, dass er Geburtstag hatte und dann auch noch Geschenke für ihn auf dem Tisch lagen – auspackte, breitete sich ein Strahlen auf seinem Gesicht aus. Dass Harry ihn sogar umarmte und einen Kuss auf seine Wange setzte, schien mehr Segen als er je verdient hatte. Vielleicht, ganz vielleicht hielt er ihn einen Moment länger als sozial erwünscht. Aber wer sollte das schon bemängeln in ihrem Haus? „Und was ist es für eine Überraschung?“, fragte Harry bestimmt zum achten oder neunten mal. „Ich sage es dir immer noch nicht“ Severus seufzte nur. „Wir sind in fünf Minuten da.“ Dass Harry hocherfreut war, wäre eine Untertreibung. Jemand hatte an ihn gedacht, hatte ihm sogar Geschenke gemacht und unternahm nun etwas mit ihm. Man sah an seiner kaum zu bändigenden Freude, wie sehr er das genoss. Und Severus freute sich, einmal im Leben etwas richtig gemacht zu haben. „Ich kenne die Straße!“, rief Harry kurz vor dem Ziel. „Du kennst den Ort auch, zu dem wir fahren“, verriet Severus. In wenigen Sekunden würde der Junge es sowieso erkennen. „Wir fahren zu Frau Granger-Weasley?“ Sehr gut. Es hieß noch nicht, ob sie zu Ginny fahren würden. Vielleicht bestand Hoffnung. Im selben Moment schüttelte Severus innerlich über sich selbst den Kopf. Hoffnung auf was? Er hatte entschieden, keine Hoffnung zu haben. Harry war nicht seines und würde es nie sein. Er suchte einen Parkplatz und brach mit Harry zur Feier auf, von der Harry noch nichts wusste. Natürlich hatte er die Professorin kurz vor Abfahrt informiert, sodass alles funktionieren sollte. Er hoffte zutiefst für Harry, dass alles funktionierte. Er wollte ihm nicht seinen ersten Geburtstag in der Freiheit vermasseln. Harry ging voraus, doch wartete unschlüssig vor der Tür, bis Severus ihm zeigte, wo der Knopf zum Klingeln war und demonstrierte, dass ein Geräusch in Haus erschallte, wenn man sie drückte. Es dauerte einen längeren Moment, bis ihnen geöffnet wurde – wahrscheinlich die letzten Handgriffe der Feier. Es war die Frau Professorin höchstpersönlich, die Harry zur Begrüßung in eine Umarmung zog und ihn anwies, die Augen zu schließen, um ihn ins Wohnzimmer zu führen. Ganz wie in einem gut einstudierten Film wurde er dort von einem Chor mit „Überraschung!“ begrüßt, bevor alle ein Geburtstagslied anstimmten. Severus zog währenddessen lieber den Mantel aus und hängte ihn an die Gaderobe. Sein letztes Geschenk, das er darunter getragen hatte, nahm er mit zum Wohnzimmer. Die Masse der Leute dort erstaunte ihn kurz, bis er sich erinnerte, welch eine große Familie die Weasleys waren. Auch waren viele ältere Leute anwesend, die lang ergraut waren. Eine richtige, große Familie. Severus schluckte und blieb halb vom Türrahmen des Flures versteckt stehen. Er erkannte alle, die er bisher kennen gelernt hatte – inklusive Ginny – und jede Menge Menschen, die er vorher noch nicht gesehen hatte. Nachdem er die alten Leute sowie die kleinen Kinder gezählt hatte – es hüpften vier im Alter von unter fünf Jahren herum – fiel sein Blick in der Masse junger bis mittelalter Ehepaare auf ein paar vereinzelte Männer, die ohne Frau da standen. Einer im speziellen stach für Severus hervor. Charlie. Innerlich verfluchte er das Zentrum für ihre Namenspolitik, durch die er Charlies Nachnamen nie erfahren oder nie bewusst wahrgenommen hatte, aber bei so einer großen Familie war es wohl kein Wunder, an verschiedenen Stellen auf sie zu treffen. Bei diesem Percy hatte er bereits das Gefühl gehabt, ihn schonmal gesehen zu haben. Das blendend rotorange Haar hätte ihm einen Hinweis geben sollen, dass es eine Verwandschaft geben könnte. Wie hatte er nicht vorher darüber nachdenken können? Es war zutiefst nachlässig von ihm. Da Harry der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit war, war er zum Glück im Gegenzug nicht bemerkt worden. Er zog sich ganz auf den Flur zurück, wo die Professorin ihn nach einigen Momenten auch suchen ging. „Mister Snape, kommen Sie doch herein.“ „Guten Mittag, Misses Professor Granger-Weasley“ Er nickte ihr zu. „Ich danke Ihnen für die Einladung und dass sie dies für Harry tun. Ich fürchte nur, dass ich kein guter Mensch für Feiern bin. Könnten Sie ihm dies später von mir überreichen und mich anrufen, wenn ich ihn wieder abholen soll?“ „Wie bitte?“ Ihre Gesichtszüge fielen in Entsetzen. „Mister Snape, Sie können doch jetzt nicht gehen. Auch wenn er sich hier wohl fühlt, der Junge kennt uns doch kaum. Er ist ein sensibles Kind, ihm wird ein vertrautes Gesicht an seiner Seite gut tun. Wollen Sie das nicht überdenken?“ Severus schluckte. Hätte er es sich erlaubt, er hätte in Gedanken geflucht. Aber er tat es nicht. Schlechte Manieren begannen stets im Kopf. Daher atmete er nur tief durch und entschied, den Bogen bei ihr besser nicht zu überspannen. Trotz allem wollte er Harry nicht vollständig verlieren. Jetzt noch nicht. „Dürfte ich mich in ihre Küche zurück ziehen, wenn es mir ein wenig zu viel der Menschen werden?“, fragte er in aller Höflichkeit. „Natürlich. Sie müssen sich ja nicht zwingen“ Die Dame lächelte mit Erleichterung. Severus lag es auf der Zunge, ihr zu sagen, dass sie ihn hier gerade förmlich zwang, aber er unterließ es. Er wollte auf gutem Fuß mit dieser Frau bleiben. Nur setzte sie noch eine Krönung darauf: „Dann treten Sie doch erstmal ein und feiern ein wenig mit uns.“ Natürlich gab es so keine Chance, nicht früher oder später entdeckt zu werden. Severus entfuhr nur ein tiefes Seufzen, als Charlie am Kuchenbüffet neben ihn trat, während die meisten gerade an mehreren riesigen Tischen saßen. Er hatte ja gehofft, der junge Mann hätte den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden, als Severus ihn die komplette Zeit ignorierte. Selbst bei der Vorstellung hatte er nur genickt und seinen Blick nicht lange auf ihm liegen lassen. „Entschuldige“, murmelte Charlie sofort, der das Seufzen anscheinend gehört hatte, „das ist eine eigenartige Situation.“ „Sie könnten mich siezen, Mister Weasley“, zischte Severus mit scharfer Stimme, „Und so tun als würden wir einander nicht kennen.“ „Ich … es … ist Harry Ihr Sohn?“, stammelte Charlie hervor. Man musste kein soziales Genie sein, um den eifersüchtigen Ton heraus zu hören. Eifersüchtig auf einen gerade Sechzehnjährigen … wusste Charlie wohl, welche Komplikationen und unterstellte Intentionen er damit in den Raum warf? „Ihr Ton sagt mir, dass sie glauben, ich hätte eine Affäre mit einem gerade sechzehn Jahre alt gewordenen Jungen. Und dass die Affäre ernst genug ist, dass ich ihn adoptiert habe, um dem ganzen irgendeine Art von legalem Rahmen zu geben und eine Geschichte zur Ablenkung zu haben, falls irgendwer meinem schmutzigen Geheimnis zu nahe kommt“ Severus abfälliger Blick fiel auf Charlie. „Ist es das, was Sie von mir glauben?“ „Es tut mir Leid“ Charlie war erbleicht während der Worte, was sich mit seinem Haar stark kontrastierte. „Das glaube ich natürlich nicht. Das ist … das sind eher grässliche Vermutungen, die mein verletztes Herz aufstellt.“ Severus hob eine Augenbraue und fragte: „Wie habe ich Ihnen das Herz gebrochen, wenn wir uns praktisch nicht kennen? Wir haben uns bisher viermal getroffen und das würde ich nicht gerade als Dates bezeichnen.“ „Sagen Sie das meinem Herzen. Meine Hormone spielen verrückt, wenn ich verliebt bin“ Der Andere errötete prompt. „Können Sie bitte so tun als hätte ich das nie gesagt?“ Severus gab aus Unsicherheit einfach mal gar keine Reaktion. Es schmeichelte ihn ja schon ein gutes Stück, dass ein junger, gutaussehender Mann wie Charlie an ihm interessiert war, aber er traute ihm keinen Millimeter weit. Charlie wusste praktisch nichts über ihn, aber sprach von Liebe. Severus hätte es eher als hormonale Reaktion abgetan. So etwas hatte auch bisher noch nie jemand für ihn empfunden, aber er kannte die Krankheit aus seiner eigenen Jugend zu gut. Natürlich waren seine Angebeteten immer die charismatischen Sportler gewesen, auf die praktisch jeder abfuhr. Zum Glück war er erwachsen geworden. Er nahm sich ein Stück Kuchen und kehrte damit zurück zu dem Tisch, an dem die mittelalten Herren der Familie saßen. In der Altersklasse um die fünfzig fühlte er sich am heimischsten. Schließlich waren das auch solche Leute, mit denen er täglich zu tun hatte. Sie sprachen über ihre Jobs, Autos, die Börsenkurse, die Weltpolitik und andere Themen, über die man sich so austauschte. Schwerer wurde der Teil nach dem Auspacken der Geschenke – von den Weasleys bekam Harry ein Kochbuch und ein paar seltene Gewürze – wo von ihm erwartet wurde, frei durch den Raum zu flattern und sich Gesprächspartner zu suchen. Die Kinder spielten größtenteils miteinander, die jüngeren setzten sich halb auf Kissen, halb auf dem Boden zusammen, die mittelalten teilten die Couch und die ältere Generation blieb an den Tischen sitzen. Severus suchte sich eine strategisch gut platzierte Wand, wo er wenig auffiel, aber Harry im Auge behalten konnte. Der Junge war von all den Menschen natürlich völlig überwältigt und hatte seit Betreten des Hauses nicht einmal in seine Richtung geblickt. So viel dazu, dass der Junge einen Anker der Sicherheit brauchte. Und natürlich ließ Charlie nicht lange auf sich warten. Zumindest hatte er die Intelligenz, sich nicht vor Severus zu stellen sondern sich neben ihm an die Wand zu lehnen. Er hatte in jeder Hand einen Drink und reichte Severus ein Glas mit den Worten: „Minzlimonade. Meine Schwägerin macht sie selbst.“ Reine Kuriosität ließ Severus daran nippen, allerdings musste er zugeben, dass das Getränk wirklich gut war. Nicht zu süß und sehr erfrischend. Allerdings bedankte er sich weder noch gab er Charlie irgendein Wort zur Anerkennung seiner Präsenz. „Unsere Familie ist für Fremde schnell überfordernd, aber die meisten von uns vergessen das oft“ Charlie sah zu den Kleinsten, die auf dem Boden irgendetwas mit kleinen Plastikfiguren und -wagen spielten. „Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen gern das Haus zur Ablenkung.“ Das klang nicht nur inhaltlich nach einem sehr guten Vorschlag. Es erinnerte Severus scharf daran, was für ein Idiot er war, nicht vor Charlie auf die Knie zu fallen und sich auf alle Ewigkeit an ihn zu binden. Der Mann kannte seine Schwächen, konnte mit ihnen umgehen und mochte ihn trotzden. Severus erwiderte mit nichts als einem Nicken und folgte dem anderen auf die andere Seite des Wohnzimmers, wo es durch eine Doppeltür in einen Wohntrakt ging, an deren Ende eine Treppe in die Höhe führte. „Hier wohnen meine Eltern. Sie sind mittlerweile über siebzig, ich bin ihr jüngster Sohn. Meine Tanten und Onkel, die da auch mit sitzen, leben für sich selbst, auch wenn mehrere meiner Cousins und Cousinen auch hier oder in der Nachbarschaft wohnen“ Sie gingen die Treppe hinauf, während Charlie sprach. „Die jüngste im Haus ist meine Nichte Ginny. Sie ist auch sechzehn. Die ganzen Kleineren sind Kinder meiner Brüder oder Cousins und Cousinen. Mein ältester Bruder Bill zum Beispiel hat zwei Kinder und die Älteste heiratet bald selbst. Durch den Kinderreichtum bei uns ist das mit den Generationen ziemlich fließend“ Sie hatten den nächsten Stock erreicht. „Hier wohnen die Älteren mit ihren Kindern, also meine Brüder Fred, George und Ron mit ihren Familien. Ansonsten ist auf dieser Etage ein großes Kinderspielzimmer. Die Kinder hier haben meist eher kleine Zimmer und teilen sich ihre Bücher und Spielzeuge mit allen anderen.“ Severus überkam eine Sehnsucht, wie er sie lang nicht gespürt hatte. Es klang alles so friedlich. Liebende Eltern, überall nette Tanten und Onkel, ein eigenes Zimmer zum Spielen, ganz viele andere Kinder in einem großen Haus. Würde hier jemand ein Kind schlagen oder auch nur anschreien, es wären massenhaft andere da, um die zwei sofort zu trennen. Und die Kinder unten hatten so glücklich ausgesehen … sie hatten mitten zwischen all den anderen gespielt und niemand hatte sie angeschrien oder weggeschickt. Charlie schien von all diesen Gedanken in Severus nichts mitzubekommen. Er sah manchmal über die Schulter, ob Severus ihm noch folgte, aber ansonsten war er glücklich damit, erzählen zu können. „Meine Brüder Bill und Percy sind mit ihren Kindern ausgezogen. Bills Frau wollte ans Wasser und Percy ist nicht so der Mensch für riesige Familien. Der mag seine Privatsphäre“ Sie nahmen die Treppe ins zweite Obergeschoss. „In dieser Etage ist etwas Mischung. Meine Cousine Rose lebt hier mit ihrem Freund, der ist vor kurzem her gezogen. Ansonsten leben hier Tante Margy, meine Cousine Ginny, Onkel Bard und seine Frau Rachel. Meine Cousins Edward und Morten leben zum Studium hier und ich wohne am Ende dieses Korridors“ Den Charlie ihn auch entlang führte. „Dachboden und Keller sind Lagerräume. Waschraum und Vorratskammer sind auch da unten. Und mein Onkel Paul lebt im Keller, der ist ein bisschen komisch.“ Charlie öffnete ihm die Tür, die in sein Zimmer führte. Bei der Masse an Räumen hatte Severus trotz des Wissens um die Außenmaße des Hauses nicht erwartet, dass es so groß sein würde. Aber zwanzig Quadratmeter fasste der Raum sicherlich. Darin standen ein richtig großes, sehr einladend aussehendes Bett, ein Kleiderschrank, ein Bücherschrank und zwei Schreibtische, einer davon mit einem beeindruckend neu aussehenden Computer. „Mittlerweile schäme ich mich nicht mehr zu sagen, dass ich bei Mama und Papa wohne“ Charlie war in den Raum getreten und kratzte sich am Hinterkopf. „Ich bin ein paar mal ausgezogen, aber … na ja, sagen wir, es lief nicht gut. Im Endeffekt bin ich immer wieder hierher zurück gekehrt. Zum Glück nimmt meine Familie es mir nicht krumm, wenn ich von der nächsten gescheiterten Beziehung heimkehre.“ „Gab es davon viele?“, kam Severus nicht umhin, zu fragen. Er war per se nicht neugierig, aber … na gut, vielleicht war er doch etwas neugierig. „Gescheiterte Beziehungen? Ziemlich viele“ Charlie seufzte. „Die längste war anderthalb Jahre lang. Und das auch nur, weil ich mich nicht getraut habe, abzuhauen … er war kein netter Mann.“ „Ich bin auch kein netter Mann“, stellte Severus nüchtern fest. „Ja, aber du würdest mich nicht zusammen schlagen und zum Sex nötigen“ Charlie wandte den Blick ab. „Ich war jung und dumm. Selbst die beste Familie schützt nicht vor solchen Kerlen.“ Hm … erstaunlich. Bis heute hatte Severus wirklich gedacht, dass es nur Leuten wie ihm passierte, an solche Kerle zu geraten. Sein Ex war ein Paradebeispiel dieses Typus. Er hatte nie zu geschlagen, aber er hatte Severus viele Dinge tun lassen, die bei ihm Ekel und Abscheu auf sich selbst ausgelöst hatten. „Das bist du immer noch“ Severus legte nicht einen Hauch von Mitgefühl in seine Stimme. „Sich an einen Kerl aus einem Anti-Aggressions-Programm ranzuschmeißen zeugt von einer gewissen Selbstmissachtung. Warum suchst du dir nicht einen netten Freund?“ „Weil ich keine Lust habe, dass mein Kerl sich während der Beziehung durch die halbe Stadt schläft“ Ein bitterer Unterton legte sich in Charlies Stimme. „Ich mag es, mit Eifersucht besessen zu werden. Dann weiß ich, dass ich der einzige bin. Wenn's dann halt manchmal Geschrei gibt, weil ich mit Freunden weg war … ist dann halt so.“ Severus schluckte. Könnte der Kerl bitte etwas weniger perfekt für ihn sein? Er führte keine Beziehungen, er beanspruchte Menschen für sich selbst. Er hatte nunmal kein Vertrauen. Er kontrollierte andere eher oder ließ sich kontrollieren. Es war die einzige Art und Weise, wie er genug Sicherheit hatte, um einen anderen an sich heran zu lassen. „Und warum hat ein Mann mit einem solchen Hintergrund wie du Probleme zu vertrauen?“, fragte er, da er seine eigene Unsicherheit in Charlie wiedererkannte. Charlie sah mit weiten Lidern auf als hätte Severus eine völlig schockierende Frage gestellt. Mit zwei vorsichtigen Schritten kam er heran und flüsterte: „Bisher bin ich an die falschen geraten.“ „Du ziehst die falschen an wie das Licht die Motten“, erwiderte Severus nur. „Vielleicht ...“ Charlie lehnte sich näher, legte den Kopf zur Seite, die Intention klar in seinen Augen. Severus überlegte kurz, ob er ihn aufhalten sollte. Mehr konnte er ihr Arbeitsverhältnis nun auch nicht mehr zerstören. Er könnte sich einen anderen Kurs suchen oder aus dem Buch lernen. Und der Junge schien eine weitere Lektion darin zu brauchen, sich nicht auf beißende Hunde einzulassen. Charlie verlangte nicht nach seiner Nummer, einer Verabredung oder einem einzigen Wort, dass Severus das hier irgendetwas bedeutet hatte. Es schien ihm vollkommen zu reichen, dass Severus nach dem Sex einen Arm um ihn legte und ihn zu sich zog, während sich ihrer beider Atem beruhigte. In Severus Augen war das erstaunlich einfach. Kein Geld, keine Versprechen, nicht die kleinste Gegenleistung … es war entschieden zu einfach. Zu einfach. Er erhob sich und zog sich an. Charlie blieb liegen, die Augen auf das Fenster gerichtet. Ein wenig tat es Severus Leid, ihn dort einfach liegen zu lassen, aber er wusste auch nicht, was er sonst tun sollte. Er hatte nicht vor, irgendein Versprechen zu geben. Er hatte keine lieben Worte für Charlie, außer dass er ein ziemlich guter Fick war und er vermutete, das auszusprechen wäre keine gute Idee. Manchmal war es besser zu schweigen als unbedacht die falschen Worte zu sagen. Und in seinen Augen schuldete er Charlie nichts für diese Sache. „Severus?“, fragte dieser leise, was den Angesprochenen innerlich seufzen ließ – ging es doch noch los mit den Versprechungen und Forderungen, „Wirst du trotzdem weiter zum Kurs kommen?“ „Tust du dir damit nicht nur selbst weh?“, fragte er mit einem Hauch von Freundlichkeit in der Stimme. Nach Sex konnte nicht einmal er vollkommen schlecht gelaunt sein. „Es täte mehr weh, dich nie wieder zu sehen“, murmelte der Andere. „Hmpf“ Severus schnaubte. „Stell keine Erwartungen. Ich werde kommen, aber wir werden das hier nicht wiederholen.“ Sagte er so einfach. Warum nicht? Nur weil er Angst hatte, er könnte beginnen, Charlie zu mögen? Es war nicht so als … Severus verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich nicht gerade leise. Harry. Es war nicht so als wäre er gebunden und müsste sich schuldig fühlen, aber mit einem mal tat er es. Das mit Harry würde nie etwas werden, aber er konnte seinem Herz die Hoffnung nicht ausreden. Genau so wie Charlie jedes mal hoffen würde, wenn er ihn sah und ihn dadurch mit seinen Erwartungen still bedrängen würde. So würde Severus sich nun jedes mal schuldig fühlen, wenn er Harry sah, auch wenn er nicht den geringsten Grund dazu hatte. Er stieß ein tiefes Seufzen aus, während er zurück zur Feier ging. Keiner schien seine Abwesenheit bemerkt zu haben und keiner schien sich zu wundern, dass er aus dem Familientrakt kam. Er ging nach vorne zum Gästebad durch und versuchte dort, die schlimmsten Spuren und Gerüche zu beseitigen. Zum Glück war Harry nicht geübt darin, nach Zeichen von Betrug zu suchen. Und Grund dafür hatte er auch nicht. Es ließ Severus trotzdem mit jedem Moment schmutziger fühlen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)