Ein Leben in London von Gepo (Fortsetzung von "Eine Nacht in Bangkok" (ABGESCHLOSSEN!)) ================================================================================ Prolog: Der Weg nach London --------------------------- „Wie bitte?“ Severus Stimme war kaum mehr als ein Zischen. „Es tut mir außerordentlich Leid, Sir. Jedoch muss ich darauf hinweisen, dass unser Haus diesen Umgang nicht duldet. Wir müssen sie bitten, ihre privaten … Liaisons außerhalb des Hauses nach zu gehen.“ „Der Junge, den sie gerade einen Prostituierten schimpfen, ist mein Sohn“ Severus ließ seine Stimme um eine Oktave nach unten sacken. Er wusste, was er mit Menschen anstellen konnte. Er wusste, wie er sie an einem Stock zappeln lassen konnte. „Ich verlange, sofort den Manager im Dienst bezüglich dieser Beleidigung zu sprechen.“ Das Lächeln des Mannes ihm gegenüber hielt nur durch gute Übung an seinen Lippen, während er sich tief verbückte und erwiderte: „Ich werde ihn sofortig rufen lassen.“ „Das kann einen Moment dauern“ Severus trat den kurzen Schritt zu Harry, der artig in kurzer Entfernung hinter ihm stehen geblieben war. „Geh schon einmal rauf und leg dich schlafen. Und plündere ja nicht die Minibar, hörst du? Die muss ich selbst bezahlen“ Er hielt dem Jungen seine Zimmerkarte hin. Der Junge nahm sie, drehte sie mehrfach in seiner Hand und sah mit geweiteten Lidern auf. Das Fragezeichen sprang selbst einem mimischen Legastheniker entgegen. Severus seufzte und trat noch etwas näher, sodass der Concierge ihn keinesfalls überhören konnte. Er griff das Schild an der Karte und erklärte: „Das steht für den dritten Stock. Das hier ist die Zimmernummer. Du suchst eine Tür, wo genau diese Zahlen drauf stehen und öffnest die Tür mit dieser Karte. Verstanden?“ Harry nickte langsam und fragte leise: „Wo sind die Treppen?“ „Die Aufzüge sind ...“ Severus unterbrach sich selbst während seiner Geste. „Die Treppen sind neben den Aufzügen dort hinten.“ Der Junge begab sich in die Richtung, in die er zeigte und ließ Severus mit einem tiefen Seufzen zurück. Natürlich … es war nicht so, als hätte der Junge je eine Möglichkeit gehabt, Bangkok zu erkunden. Er war auf dem Land aufgewachsen und an ein Bordell verkauft worden – ein Bordell, das er seitdem auch nicht verlassen hatte. Die Mutter hatte ihn bestimmt nicht raus gelassen. Die Chance, dass er reißaus genommen hätte, wäre zu groß gewesen. Natürlich hatte er keinerlei Wissen über moderne Technik. „Womit kann ich behilflich sein?“, fragte ein Herr mit überzogener Höflichkeit an seiner Seite und zog Severus Aufmerksamkeit zurück in das Hier und Jetzt. „Sind Sie der Manager im Dienst?“ Der Herr verbeugte sich anstatt eines Nickens. „Ihr Concierge hat meinen Sohn als einen Prostituierten beschimpft.“ „Dieses Missverständnis tut uns außerordentlich Leid“ Der Mann sah wirklich so aus, als würde er meinen, was er sagte. Eine erstaunlich gute Wahl für einen Manager. „Die Prostitution ist großes Geschäft in Thailand und viele Besucher nutzen die Situation aus, dass die Polizei keinen ausreichenden Überblick über die Situation in Bangkok hat. Wir unterstützen die Polizei nach besten Kräften. Wenn sie den Ausweis ihres Jungen oder ein ähnliches Dokument bei sich führen, was beweisen kö-“ Severus hatte bereits in die Innentasche seines Jacketts gegriffen und Harrys Ausweis hervor gezogen, um ihn den Manager zu reichen. Er erklärte dazu: „Seine Mutter und ich sind nicht verheiratet, er trägt ihren Namen. Sie haben Glück, dass ich morgen zum Amt wollte und demnach die Papiere dabei habe.“ „Vielen Dank für Ihre Kooperation“ Der Manager verbeugte sich, ohne auch nur in den Ausweis zu sehen. „Bitte verstehen Sie, dass viele Ausländer hier kriminelle Taten begehen und wir nur unsere Mitbürger schützen wollen. Es lag uns fern, Sie oder Ihren Sohn beleidigen zu wollen. Lassen Sie uns als Entschuldigung Ihnen und Ihrem Sohn morgen früh ein opulentes Frühstück schenken. Bitte nehmen Sie dies als Geste der Entschuldigung.“ Ein Frühstück. Nun gut, eine magere Ausbeute, aber in Ordnung. Severus nickte nur und steckte den Ausweis wieder ein. Er wandte sich mit dem Hauch eines Lächelns an den Concierge, der den Kopf ein wenig eingezogen hatte: „Ich benötige eine zweite Zimmerkarte.“ „Aber natürlich, Sir“ Er hastete, ihm eine zu besorgen. Severus hatte vermutet, dass er Harry suchen gehen müsste. Oder Streit mit Nachbarn schlichten müsste, da Harry doch die falsche Tür genommen hatte. Selbst wenn er es ins Zimmer geschafft hatte, so hatte Severus vermutet, dort zumindest ein riesiges Chaos vorzufinden. Oder eine geplünderte Minibar. Er hatte nicht vermutet, Harry brav im Bett liegend vorzufinden. Er revidierte die Einschätzung, als er seinen Schlafanzug nehmen wollte und dabei einen vollkommen nackten Fünfzehnjährigen aufdeckte. Er knüllte das Oberteil seines Schlafanzugs zusammen und schmiss es dem nicht ansatzweise Schlafenden an den Kopf mit dem Kommentar: „Zieh dir was über.“ Echt, dieser Junge … er hätte wenigstens seine Unterhose anbelassen können. In seinem Kleiderpack war doch eine gewesen, oder? Severus war sich nicht vollkommen sicher. Er schüttelte wirsch den Kopf, zog seine Schlafanzughose über und legte sich ins Bett. Ein Glück, dass er sowieso immer ein Zimmer mit Doppelbett buchte. Nicht, dass er je Besuch mit aufs Zimmer nehmen würde. Es war nur bequemer. Er hob die Decke wieder, stellte befriedigt fest, dass Harry seinem Befehl gefolgt war und legte sich hin. Kaum zwei Sekunden später schlang sich ein Arm und Bein über ihn und ein warmer Körper drückte sich an seine Seite. „Was zur Hölle machst du da?“ Er stieß den Jungen mit einer Hand von sich. „Ich ...“ Zwei Hände schnappten nach seiner, die er wegziehen wollte. „Ich dachte … ich bin doch dein.“ „Du bist fünfzehn. Mit dir zu schlafen ist illegal“ Severus versuchte die zwei Hände abzuschütteln, doch er wollte auch nicht gewalttätig werden. „Hier wird es doch niemand erfahren“ Harry zog die Hand zu seinem Gesicht und küsste Severus Fingerknöchel. Fünfzehn. Fünfzehn. Fünfzehn. Das Gesicht seiner Großmutter. Das Gesicht seiner Mutter. Seine Mutter beim Se- Severus seufzte langsam und zog seine Hand weg. Diesmal ließ Harry sie los. Er erwiderte: „Es wäre nicht richtig.“ Einen Moment lang herrschte Schweigen. Severus überlegte, Harry einfach den Rücken zuzudrehen und zu schlafen. Doch irgendwie fühlte sich das falsch an. Etwas hielt ihn fest. Irgendetwas metaphysisches. Das Schweigen war geladen mit Emotionen, die außerhalb seines Erkenntnishorizonts lagen. Aber irgendwie wusste er, dass dieser Moment wichtig war. Harrys Stimme, als er sprach, war von einer Mischung aus Misstrauen, Enttäuschung und Trauer durchzogen: „Warum bin ich dann hier?“ „Weil ich dir helfen will“ Und welch eine ungewöhnliche Einstellung das schon wieder war. Seit wann half Severus Snape anderen? Sollte er sich nicht lieber die Wahrheit eingestehen, dass er den Jungen bis ins Morgengrauen vögeln wollte? Oder vielleicht noch länger? Selbst das Bild seiner Mutter beim Sex schien seine Erektion gerade nicht beeinflussen zu wollen. „Dann schlaf mit mir“, verlangte Harry und rückte näher. Zumindest schlang er nicht wieder ein Bein um Severus Hüfte, dann hätte er den Plan der Enthaltsamkeit gänzlich vergessen können. „Wieso sollte ich?“ Wut – oder eher Frustration – legte sich in Severus Stimme. „Weil ich dir nicht glauben kann.“ Severus legte das Gesicht zur Seite. Die Lichter der Stadt beleuchteten selbst hier im siebenundzwanzigsten Stock noch das Zimmer, sodass er Harrys Gesicht gut betrachten konnte. Seine Züge schienen verhärtet. Die Augenbrauen weiter zusammen, jedoch ohne Falten zu werfen. Die Wangen weniger füllig, sodass die Wangenknochen mehr betont wurden. Die Lippen leicht gespitzt, die Mundwinkel dabei jedoch nicht gehoben. Das Funkeln zwischen den verengten Lidern sprach von Misstrauen. Es ließ ihn laut auflachen. Mit einem amüsierten Grinsen drehte er sich zu dem näher gerückten Jungen, sodass sie Brust an Brust lagen und flüsterte: „Und du glaubst, du machst es besser, indem ich mit dir schlafe? Was erwartest du von mir? Schuldgefühle? Beschützerinstinkte? Liebe?“ - das letzte Wort war tief in Sarkasmus getränkt - „mit dir zu schlafen heißt nichts anderes als dass ich dann meinen Spaß mit dir gehabt habe, naives Kind. Vebrauchte Güter sind nicht allzu begehrenswert.“ Harrys Lider waren vor Schreck geweitet. Er wehrte sich nicht einmal, als Severus mit einer Hand sein Kinn griff und mit der anderen seinen Hintern, um seine Hüfte gegen Severus Erektion zu ziehen. „So bist du unerreichbar. Du bist wertvoll, denn ich will dich haben und darf nicht. Verspiele das nicht, indem du dich mir anbietest“ Er drückte seinen Unterleib in Harrys unresponsive Front und seine Lippen auf Harrys. Kein Zungenkuss, aber sicherlich etwas, was brutal genug war, dass das Wort Kuss dafür nicht ausreichte. Schließlich nutzte er beide Hände, um Harry von sich zu drücken und drehte sich um, um zu schlafen. Hinter ihm herrschte Stille. Zumindest hatte der Nachtmanager mit dem Wort opulent nicht übertrieben. Das Frühstück, das man ihnen aufs Zimmer brachte, hatte eine exzellente Auswahl. Severus allerdings war ein Gewohnheitstier, demnach blieb es für ihn bei zwei Brötchen mit Marmelade – eines mit Orange, eines mit Kirsche. Dazu ein Earl Grey mit einem Schuss Zitrone. Harry währenddessen probierte alles, was er in die Finger kriegen konnte. Ehrlich gesagt wusste Severus nicht, woraus ein normales thailändisches Frühstück bestand, aber höchstwahrscheinlich war es irgendeine Reispampe. Dagegen mussten Donuts und Muffins sehr verführerisch aussehen. Ebenso wie kleine Minicroissants, Schokoladentaschen, Toast mit Nutella, Marmelade, Erdnussbutter, Pfannkuchen, Würstchen, Spiegelei … hoffentlich war der Junge noch im Wachstum und verwandelte das nicht alles in Fett. Hin und wieder erklärte Severus, wie die Sachen hießen, die der Junge da verschlang und zwischen den Bissen wiederholte dieser die fremdartigen englischen Namen. Nach einem Moment der Betrachtung erfüllt von Ekel und Faszination zugleich erklärte er auch, wo die einzelnen Speisen her kamen und welche normalerweise in Kombination gegessen wurden und welche nicht. Nicht, dass es Harry davon abhielt, wahllos alles in sich hinein zu stopfen. „Nach dem Frühstück werden wir zur englischen Botschaft gehen.“ Der Junge sah kurz auf, blinzelte und konzentrierte sich schließlich wieder auf seinen Muffin. „Ich habe heute morgen das englische Adoptions- und Asylrecht nachgelesen. Es ist nicht so einfach, dich nach England mitzunehmen. Wir müssen deine Vorgeschichte ein wenig abändern“ Harry kaute den Rest des Muffins und sah ihn mit aufmerksamem Blick an. „In Wirklichkeit bin ich dein Vater. Deine Mutter hatte eine Affäre mit mir. Natürlich wollte sie das nicht sagen, daher steht dein Vater in deiner Geburtsurkunde“ Harry hatte kein Lächeln mehr auf den Lippen, aber zumindest widersprach er nicht. „Nach dem Tod deiner Eltern warst du wie alt?“ „Ein Jahr“, antwortete dieser leise. „Gut. Du bist zu deinen Verwandten gekommen. Dort habe ich dich ein- bis zweimal im Jahr besucht, seit du fünf warst. Ich habe dir auch von Anfang an die Wahrheit gesagt, nämlich, dass ich dein leiblicher Vater bin. Vor ein paar Monaten, kurz nach meinem letzten Besuch, haben deine Verwandten dich an ein Bordell verkauft. Ich wollte dich ganz normal besuchen, habe dich nicht bei deinen Verwandten gefunden, habe von ihnen erfahren, wo du bist und dich aus dem Bordell geholt. Und jetzt willst du nicht mehr zu deinen Verwandten zurück sondern bei mir bleiben. Kannst du dir das alles merken?“ Harrys Blick senkte sich auf die Tischplatte. „Ist etwas?“, fragte Severus etwas schroffer. „Es … warum hast du mich nicht vorher mitgenommen in dieser Geschichte?“ Als Harry den Blick hob, waren seine Augen voller Trauer. „Wäre das wirklich passiert … ich wäre schon damals mit dir gegangen.“ Severus seufzte leise. Schon wieder hatte er das ominöse Gefühl, dass es gerade um mehr ging als den reinen Inhalt dieser Frage. Aber was sollte er schon anderes tun außer ehrlich zu sein? Er meinte: „Hätte ich wirklich einen illegitimen thailändischen Sohn, ich hätte ihn bei seiner Familie gelassen. Ich hätte stets gedacht, dass es ihm bei seinen Verwandten in seinem gewohnten Umfeld am besten geht. Bis mich der Schock wachrüttelt.“ „Das heißt, ich habe dir nie erzählt, wie sie mich behandelt haben? Und du hast weggesehen?“ „Ich … ich hätte mir nicht zugetraut, dir ein besserer Vater sein zu können“ Severus seufzte hörbar und wandte den Blick ab. „Das kann ich auch jetzt nicht. Ich werde dir sowieso kein Vater sein. Ich muss mich stets daran erinnern, dass du erst fünfzehn bist“ Er ließ den Rest des Satzes in der Luft schweben. „Ich kann auch nicht versprechen, dass ich dich gut behandeln werde. Ich bin ein jähzorniger Mensch. Ich teile nicht gern. Dich in mein Leben zu lassen ist … eine Umstellung.“ Nochmal: Warum machte er das hier? „Also war ich ein Unfall? Von Mutter und dir?“ „Du … nein, ich denke, es ist besser zu sagen, dass ich deine Mutter geliebt habe. Es erklärt, warum ich mich auch Jahre nach ihrem Tod noch um dich sorge.“ „Du hättest dich um dein eigenes Kind nicht gesorgt?“ Das leichte Lächeln verschwand wieder von Harrys Lippen. „Ich … weiß es nicht“ Severus sog den Blick über die Stadt in sich ein. „Ja … ich weiß es nicht.“ Seine Glückssträhne schien zu halten. Die Sachbearbeiterin, auf die sie in der englischen Botschaft trafen, war eine junge, sensible Frau, deren Herz für Harry praktisch ausblutete. Umso einfacher. Er musste sie weder bedrohen noch ihr Gesetzestexte um die Ohren werfen. Ein Asylantrag, eine Vorsorgevollmacht, ein Reisepass und zwei Verhöre der thailändischen Polizei später – was zwei Tage in Anspruch nahm – saßen sie im Flieger zurück nach London. Das einzige, was Severus bereute, war, dass er Kalebirth nicht hatte vorhalten können, mit was er da geschlafen hatte. Er konnte es sich allerdings für eine passende Gelegenheit aufbewahren. Vielleicht seine Hochzeit. Ja, das war eine famose Idee. Harry war natürlich völlig aus dem Häuschen. Angefangen beim Shoppen in Thailand über den Flug selbst bis zur Taxifahrt durch London war für ihn alles groß, bunt und neu. Und es hatte nur diesen einzigen Tag gebraucht, damit er eine tiefe Abneigung gegen Sitzgurte entwickelte. Sitzgurte hießen, still sitzen zu bleiben. Und das schien etwas, zu dem Harry nicht fähig war. Hätte er gekonnt, er hätte die Fahrt quer über Severus liegend mit dem Kopf aus dem Fenster verbracht, um ihm ein Ohr abzukauen. Jugendliche waren nervtötend. Harry dabei zu haben war wie als hätte man einen jungen Hund gekauft, der nicht aufhören wollte zu bellen. Er war nur still, wenn er etwas wirklich Außergewöhnliches sah – dann brachte er eine überzeugende Imitation eines Goldfisches – oder wenn Severus ihm etwas erklärte oder erzählte. Konsekutiv begann Severus, immer mehr zu reden, bis er am Ende das Gefühl hatte, mehr geredet zu haben als sein ganzes Leben zuvor. Dementsprechend erschlagen von der Welt kam er zuhause an. Sein Haus lag im Außenbezirk von London, nicht übermäßig teuer, aber auch nicht gerade für jeden bezahlbar. Zwei Etagen, ein Witz von einem Garten und völlig von Efeu überwuchert, da ihm neue Anstriche zu teuer waren. Er zeigte Harry grob, was wo zu finden war – Küche, Wohnzimmer und Abstellkammer unten, Schlafzimmer, Bad und Arbeitszimmer oben – und brachte ihn ins Gästezimmer. Er hatte es einst für seine alternde Mutter eingerichtet, aber der alte Knochen hatte lieber in ihrem eigenen Haus sterben wollen. Somit war der Raum noch nie benutzt worden. Selbst Harry konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, nachdem das Tohuwabohu nun rum war, doch Severus klärte ihn auf, dass er wach zu bleiben hatte, um nicht dem Jetlag zu erliegen. Er sah sich also gezwungen, eine genauere Tour durch sein Haus zu geben und dem Jungen die Bedienung des Fernsehers zu erklären. Zwar verstand Harry nichts, aber die bunten Bilder fand er aufregend. In der Werbung, die sich bereits zum dritten mal wiederholte, fragte der Junge ihn: „Was arbeitest du?“ „Ich arbeite als Anwalt in der großen Stadt, durch die wir her gefahren sind.“ „Fährst du jeden Tag in die große Stadt?“ Anscheinend war er doch interessanter als Tyrrells Chips. Wie beruhigend. „Die Stadt heißt London. Ja, dort fahre ich jeden Tag hin. Außer Sonntag. Da habe ich meist frei.“ „Soll ich den Haushalt machen, während du arbeitest?“ „Das kannst du?“ Severus hob eine Augenbraue in Erstaunen und Unglaube. Wenn er das konnte, könnte man die Haushälterin einsparen. Und der Junge brauchte eine Beschäftigung. Bestimmt könnte er irgendwo im Internet eine Seite finden, wie man seine importierte Frau beschäftigt hielt. „Ich kann kochen, putzen, waschen und den Garten ordentlich halten“ Harry beobachtete sein Gesicht vorsichtig. „Zwei Tage die Woche kommt eine Haushälterin. Sie kann dir beibringen, wie du was zu putzen hast und wo du die Sachen dafür findest“ Und zum Dank würde er sie dann feuern. Er sollte ihr die Kündigung erst später überreichen, auch wenn das hieß, dass er sie noch ein oder zwei Monate länger beschäftigen musste. Außerdem bestand noch die Frage, ob Harry seine Erwartungen erfüllen konnte. „Vor allen Dingen musst du die Sprache des Landes erlernen. Ich werde mich morgen erkundigen, wo ich einen Lehrer finden kann.“ Harry nickte und lächelte. Severus brachte ein halbherziges Lächeln zustande. Er musste sich selbst erinnern, dass der Junge Thailänder war. Es würde ihn erschrecken, kein Lächeln zu sehen. Nur fühlte sich seine Gesichtsmuskulatur jetzt schon überanstrengt an. „Ich gehe schlafen“ Er erhob sich und warf einen mahnenden Blick zu Harry. „Wage es nicht, mein Schlafzimmer zu betreten.“ Kapitel 1: Die ersten Tage in London ------------------------------------ Severus ließ den Jungen schlafen. Eigentlich war es ihm ganz recht, dass er noch immer schlief, er hatte keinerlei Lust, sich mit dem Jungen schon am Morgen abzuplagen. So konnte er in Ruhe seinen Kaffee und sein Müsli zu sich nehmen, ohne dabei eine Menschenseele erblicken zu müssen. Er hatte das Gefühl, das würde sich schneller ändern als ihm lieb war. Auf der Arbeit grüßte er die Sekretärin seines Vorgesetzten im Vorbeigehen, ließ sich von seiner eigenen Sekretärin einen Kaffee geben und setzte sich an die Briefe, die in seiner Abwesenheit eingegangen waren. Lydia wusste es besser als dass sie ihn um diese Uhrzeit bereits ansprechen würde. Sie wartete minutengenau eine halbe Stunde, bevor sie sein Zimmer betrat. „Guten Morgen, Mr. Snape.“ Er nickte nur. „Hatten Sie einen guten Rückflug?“ „Er lastet auf meinen Nerven“ Severus wandte sich wieder den Briefen zu. „Was ist in der Zwischenzeit passiert?“ „Ijagi, Dorovitch und Donathan haben Anfragen geschickt, sie sind in ihrer Mappe in der vierten Partition. BlackRock wünscht eine Beurteilung von vierzehn neuen Investments, Partition fünf. Und Mr. Johnson wünscht einen offiziellen Bericht über die Verhandlungen, die sie geführt haben. Außerdem wünscht er eine Erklärung, warum sie zwei weitere Tage in Thailand geblieben sind.“ „Persönliche Angelegenheiten. Es wird nicht wieder vorkommen“, erwiderte Severus nur. „Soll ich ihm das so sagen oder es ausschmücken?“ „Was auch immer sozial angemessener ist“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. Wenn sie kein weiteres Anliegen hatte, brauchte sie ihn ja auch nicht stören. „Darf ich fragen, was das für persönliche Angelegenheiten waren?“ Sie lockerte ihren Stand langsam und lehnte sich vor, während sie ihre Lautstärke senkte. „Was sagt Ihnen das Wort persönlich?“ Er hob eine Augenbraue. „Nun … ich meine … Entschuldigung“ Sie seufzte leise. „Außerdem hat ihre Ex-Frau angerufen. Sie hat sich von ihrem Mann getrennt und wollte wohl für ein paar Tage bei ihnen unterkommen. Ich habe in ihrem Namen abgelehnt.“ „Gut. Ich bin nicht die Caritas.“ Er setzte weiter Unterschriften unter mehr oder weniger wichtige Dokumente ohne aufzusehen. „Sie können gehen.“ Lydia nickte nur und verließ den Raum. Ehrlich, was dachten manche Leute sich? Er hatte sich vor achtzehn Jahren von ihr scheiden lassen, nachdem sie gerade mal vier Monate verheiratet gewesen waren. Für wen hielt die Frau ihn? Unfassbar, diese Dreistigkeit. Er schlug in der Mappe Partition fünf auf. „Hier sind die gewünschten Rufnummern“ Lydia übergab ihm einen kleineren Stapel mit Namen, Ausbildungen, Rufnummern und Preisen von Lehrern für Thailändisch. „Ich habe mir die Freiheit genommen, unseriöse Angebote auszufiltern.“ „Gut“ Er nahm den Stapel entgegen. Thailologe, gebürtiger Thailänder, Philologin, Dolmetscher, Philipine … „Ich werde mir das durchsehen.“ „Mister Snape … sie sprechen Thai, oder?“ „Natürlich“ Er sah nicht einmal auf. „Haben Sie in Thailand jemanden kennen gelernt?“ Der gefährliche Unterton. Sie versuchte wieder, Dinge über sein Privatleben zu erfahren. Er wusste noch nicht genau, warum sie das stets tat. Sie schien nicht im romantischen Sinne an ihm interessiert. Also was wollte sie mit solcherlei Informationen? „Das ist keine Information, die sie für ihre Arbeit benötigen.“ Sie seufzte kurz – eher ein Schnauben als ein Seufzen – und wandte sich zur Tür. „Lydia“ Sie drehte sich um mit einem erwartungsvollen Lächeln auf den Lippen. „Einen Kaffee. Schwarz.“ Sie drehte sich langsam wieder um, während sie tief durchatmete. Einen Moment schien es, als wolle sie sich noch einmal umdrehen und etwas sagen, doch im Endeffekt ging sie. Gutes Mädchen. Es gab schon einen Grund, warum sie als erste bereits mehr als sechs Monate mit ihm ausgehalten hatte. Severus hatte bei seiner Rückkehr einiges erwartet. Chaos vor allem anderen. Herumstehende Putzmittel und -lappen. Ein angebranntes Essen vielleicht. Was er nicht erwartet hatte, war ein Streifenwagen vor seiner Tür, eine weit offen stehende Haustür und laute Stimmen aus seiner Küche. Was in Gottes Namen hatte der Satansbraten jetzt angestellt? Er parkte seinen Wagen in der Auffahrt und hastete – natürlich gehend, ein Gentleman rannte nicht – in sein Haus. In der Küche fand er zwei Polizisten, die auf Harry einredeten. Es waren nicht diese zwei, die schrien, sondern Harry. Er drückte sich in eine Ecke und schrie auf thailändisch, sie sollten ihn in Ruhe lassen. Die beiden Polizisten, die natürlich kein Thai sprachen, redeten beruhigend auf ihn ein. Nicht, dass das irgendeinen Effekt hätte. „Was machen Sie in meiner Küche?“, heischte er die beiden Polizisten an. Noch bevor diese ihm antworten oder sich auch nur zu ihm drehen konnten, war Harry schon aufgesprungen und an den beiden vorbei gehuscht. Er drückte sich von hinten an Severus und beobachtete die zwei Männer unter Severus Armbeuge hinweg. „Sind Sie Mister Snape?“, fragte einer der Polizisten nach einem kurzen Blick auf seinen Notizblock. „Sehr wohl. Was machen Sie in meinem Haus?“, fragte er erneut – diesmal etwas ruhiger. Sie schienen in friedlicher Absicht hier zu sein. Nicht, dass man eine Widersetzung des Besitzrechts wirklich unter die Kategorie friedlich fassen konnte. „Ihre Alarmanlage hat uns her gerufen. Ihre Tür stand offen“, erklärte der Polizist, der ihn auch schon vorher angesprochen hatte. Bei genauerem Hinsehen wirkte er etwas älter als der andere. Es änderte nicht daran, dass beide so aussahen, als hätten sie noch mindestens drei Donuts gegessen, bevor sie dem Alarm gefolgt waren. Er sprach auf Thai, ohne den Blick von den beiden Polizisten zu lassen: „Hast du die Haustür offen stehen lassen?“ „Eh? Err … ja. Ich habe einen Stuhl dazwischen gestellt, damit sie nicht zu fällt, während ich draußen bin“ Vom Ton her war der Junge sich keiner Schuld bewusst. „Draußen?“ Severus schärfte seine Stimme. „Wo draußen?“ „Ich wollte mir den Garten ansehen. Und Gemüse ernten, falls welches reif ist“ Er wurde etwas kleinlauter. Zumindest schien er zu ahnen, dass er etwas falsch gemacht hatte. „Hier wird kein Gemüse angebaut“ Severus drehte sich ein wenig zu dem Jungen und atmete tief durch, um ihn nicht doch noch anzuschreien. „Die Haustür hat eine Alarmanlage. Du darfst sie nicht offen lassen.“ „Ich darf das Haus nicht verlassen?“ Harrys Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Severus seufzte tief. Er musste dringend die Website zur Beschäftigung importierter Frauen suchen. Stattdessen sagte er: „Ich werde dir einen Schlüssel machen lassen.“ „Ich vermute, es handelte sich um einen Fehlalarm, Sir?“, fragte ihn der Polizist. „Mein Sohn hat die Haustür offen stehen lassen“ Er wandte sich wieder den zwei Herren zu. „Er ist erst gestern hier angekommen. Ich konnte ihm noch nicht alles erklären, bevor ich zur Arbeit musste. Bitte entschuldigen Sie die Mühen.“ „Kein Problem, Sir“ Der Blick des Polizisten wechselte zwischen ihnen beiden. Wahrscheinlich prüfte er, ob er der Aussage „mein Sohn“ Glauben schenken wollte. „Lassen Sie mich bitte noch Ihrer beider Daten aufnehmen, dann können wir das hier zu den Akten legen.“ Severus hielt sein abfälliges Schnauben zurück. Anscheinend reichte dieselbe Haarfarbe und dieselbe Sprache nicht aus, damit man ihm eine Vaterschaft glaubte. Wenigstens hatte er offizielle Papiere für den Jungen. Er schickte Harry ins Arbeitszimmer, um diese zu holen und behielt die Polizisten im Auge. Er traute keinen Fremden. Auch nicht, wenn sie den Titel von Gesetzeshütern erlangt hatten. Er war auch ein Gesetzeshüter. Das machte ihn nicht zu einem guten Menschen. „Bitte sehr“ Harry überreichte ihm die Unterlagen mit beiden Händen und einer leichten Verbeugung. Severus fiel im selben Moment auf, wie normal das für einen Asiaten war und wie falsch das auf diese zwei Kreatins mit dem kulturellen Wissen von Toastbrot wirken musste. Besonders Thailänder waren höflich in all ihren Gebärden. Auf einen typischen Europäer wirkte so etwas eher sklavisch. Also legte er dem Jungen eine Hand auf den Kopf, wie er es Väter auf der Straße manchmal hatte tun sehen, wenn sie Stolz ausdrücken wollten. Auf ihn hatte es immer gewirkt, als würde man einen Hund belohnen, aber wenn es so eine anerkannte Geste war, sollte er sie nutzen. Das kleine Biest stellte sich dafür lächelnd neben ihn als hätte er nichts zu fürchten, Er währenddessen übergab den kleineren Stapel an die Polizisten und sagte: „Sein Ausweis und dessen Übersetzung, der vorläufige Asylrechtsschein und meine Vorsorgevollmacht.“ „Asyl?“ Der Polizist hob eine Augenbraue und warf einen Blick auf die Unterlagen. Der andere beobachtete ihn. „Asyl aufgrund sexueller Ausbeutung Minderjähriger und Menschenhandel. Der Junge ist Kinderprostituierter?“ „Der Junge ist mein Sohn“ Wut mischte sich in Severus Stimme. Die kalte, schneidende Wut, die Leute stets einen Schritt zurück treten ließ. „Seine Verwandten in Thailand haben ihn verkauft.“ „Sehen Sie zu, dass er in eine Therapie kommt. Der Junge war tief verstört, als er uns beide sah.“ Der Junge war tief verstört, weil ihn zwei Uniformierte auf einer fremden Sprache angesprochen und ihn dann ins Haus verfolgt hatten, nachdem eine jaulende Sirene im Haus losgegangen war. So etwas verbannt er vermutlich mit Polizisten, die die Dörfer nach Verbrechern durchkämmten. Er hatte glauben müssen, sie würden ihn für einen Verbrecher halten und einsperren wollen. Harry verstand zwar die Sprache nicht, aber er verstand Untertöne. Mit dem ersten ansatzweise wütenden Zischen trat er wieder hinter Severus und drückte sich in dessen Rücken. Er traute diesen Männern ganz klar nicht. Für ihn waren Polizisten etwas, vor dem man Angst zu haben hatte. Polizisten im ländlichen Thailand waren auch nicht gerade die freundlichen Helfer von nebenan. „Möchten Sie vielleicht eine Jugendarbeiter zur Unterstützung?“, sagte zum ersten mal der andere etwas, „Sich plötzlich Vollzeit um ein Kind zu kümmern, ist nicht leicht und viele fühlen sich überfordert. Wir könnten jemandem Bescheid sagen, der ihnen Tipps geben kann und ihnen helfend zur Seite steht.“ Übersetzung: Sie sehen nicht aus wie jemand, dem man ein Kind anvertrauen kann. Wir wollen Sie durch das Jugendamt überwachen lassen. „Sollte ich mich überfordert fühlen, werde ich darauf zurückkommen. Wenn Sie uns nun entschuldigen würden“ Severus wies mit einer Hand auf die Tür. Die Zwei verstanden die Geste, verabschiedeten sich freundlich und verließen das Haus. Severus schloss mit Freuden die Tür hinter ihnen. Mit einem Seufzen ließ er auch die Anspannung fahren, die ihn ergriffen hatte. Das hätte auch schlimmer laufen können. Er trat zurück in die Küche, wo Harry sich strategisch auf der anderen Seite des Tisches platziert hatte und ihn aus misstrauischen Augen beobachtete. Severus ließ seinen Blick kurz über ihn wandern. In sich zusammen gezogen, leicht in den Knien stehend, Arme etwas abgewinkelt. Die Pose sprach von Abwehr oder Flucht. „Erwartest du, dass ich dich schlage?“, fragte er auf Thai. Hätte der Junge Katzenohren, sie hätten sich vermutlich überrascht aufgestellt. So zeigte er nicht mehr als ein kurzes Blinzeln und ein Heben des Kopfes. „Ich habe eine bessere Selbstkontrolle. Wenn ich dich bestrafen will, fallen mir sinnvollere Vorgehensweisen als Gewalt ein“ Er ging zum Kühlschrank hinüber. „Hast du etwas zu Mittag gegessen?“ Harry legte nur den Kopf zur Seite und beobachtete ihn. Da der Kühlschrank noch genau so wie nach dem Frühstück aussah, vermutete Severus, dass die Antwort nein war. Wollte er kochen? Wollte er ausprobieren, ob Harry kochen konnte? Hm … nein, wahrscheinlich wäre ein Friedensangebot das beste Vorgehen. Was mochten wachsende Jungs? Pizza sollte genügen. Ein Konkokt aus Fett und Monosacchariden war zwar nicht gerade sein begehrtes Gericht, aber in dieser Angelegenheiten schien es sinnvoll, über seinen Schatten zu springen. „Hast du schonmal Pizza gegessen?“, fragte er den Jungen. Dieser blinzelte nur, bevor er den Kopf schüttelte. „Ich werde welche bestellen“, kündigte er an und trat an Harry vorbei. Dieser blieb auf einem gewissen Sicherheitsabstand, aber mittlerweile hatte sich mehr Neugierde als Vorsicht in seinen Blick gemischt. „Du isst Fleisch, richtig? Salami schmeckt normalerweise jedem.“ Severus seufzte nur, bevor er den Hörer seines Telefons aufnahm. Das hier war ihm zu kompliziert. Soziale Interaktion mit einem missbrauchten Teenager … er konnte nicht einmal mit normalen Menschen reden, ohne ihn andauernd vor den Kopf zu stoßen. Was sollte er denn sagen? Er hasste sinnlose Kommunikation, aber andererseits schien der Junge Angst vor ihm zu haben. Vielleicht sollte er wirklich einen Therapeuten für den Jungen finden. Möglicherweise war nicht einmal ein Jugendamtsmitarbeiter eine schlechte Idee. Er wusste wirklich nicht, was man mit Kindern anzustellen hatte. Nicht mit ihnen schlafen, so viel war ihm bewusst. Seit sie in getrennten Betten schliefen, hatte sich seine Libido auch nicht mehr zu Wort gemeldet. Und er sollte möglichst wenig Gewalt anwenden. Vor seinen Augen zuckte kurz das Bild vorbei, wie sein Vater auf seine Mutter eingeschlagen hatte, bevor er sich ihm zuwandte. Er verbannte die ungewollten Erinnerungen. Besser als das konnte er sich benehmen, da war er recht sicher. So schlimm konnte er demnach nicht sein. Hoffentlich. „Wie … wie bekommt man in diesem Land Essen? Gibt es einen Markt?“, fragte Harry, der ihn einige Minuten still betrachtet hatte. Severus wandte sich wohl oder übel wieder der Realität zu und erwiderte: „Es gibt Supermärkte. Das sind Märkte, die haben den ganzen Tag lang auf und verkaufen alles, was man braucht. Und man kann Essen gehen oder Essen bestellen. Ich habe gerade Essen bestellt, das uns nun gebracht wird.“ „Supermärkte“ Harry wiederholte das Wort, das Severus in englisch gesprochen hatte. „Zeigst du mir irgendwann den Weg zu den Supermärkte?“ „Ja“ Es wäre sehr hilfreich, den Jungen Einkaufen schicken zu können. Außerdem war der nächste Supermarkt fast eine halbe Stunde entfernt. Eine wunderbare Art, um ihn beschäftigt zu halten. Apropos … „Ich habe heute Sprachlehrer für dich gesucht. Ich habe entschieden, dich zu dieser Lehrerin zu schicken.“ Er griff in seine Tasche und zog das Dossier der Philologin Prof. Dr. Granger-Weasley heraus. Ihr Lebenslauf enthielt als einzige eine akademische Karriere mit Erfahrung in der Lehre. Wenn er schon Geld für den Jungen ausgab, sollte es zumindest auch etwas bringen. Sie war zwar jünger, als er erwartet hatte, aber im Endeffekt sprach das für sie. Eine solide Ausbildung, eine steile Karriere – sie hatte etwas Sympathisches. Er reichte Harry die Unterlagen, auch wenn der Junge den Text nicht lesen konnte. „Sie unterrichtet jeden Vormittag unter der Woche für drei Stunden“ Das war eigentlich das Ausschlaggebenste gewesen: ihr Unterricht schien zielorientiert und zeiteffizient. „Ich werde dich morgens mit nach London nehmen und nach dem Unterricht abholen. Sobald du die Gegend kennst, kannst du von selbst nach Hause fahren. Für die ersten paar Tage ist es vermutlich an sinnvollsten, wenn du in meiner Nähe bleibst, bis ich meine Arbeit beende.“ Nicht, dass ihm der Plan zusagte. Aber persönliche Vorliebe hatte sich der Notwendigkeit zu beugen. In diesem Fall blieb ihm nicht viel anderes übrig, wenn er den Jungen nicht am ersten Tag per Polizei suchen lassen wollte. Und von denen hatte er vorerst genug gesehen. Ein plötzlicher Einfall ließ ihn stocken. Er sah auf und fragte: „Bist du schonmal zur Schule gegangen, Harry?“ „Als Kind“, gab dieser zurück. Nicht, dass er das nicht noch wäre. Severus fragte weiter: „Kannst du Lesen und Schreiben?“ „Ein bisschen“ Der Junge hob das Papier und versteckte die untere Hälfte seines Gesichts dahinter. Na wunderbar. Severus seufzte kurz. Er schritt ins Wohnzimmer und suchte ein thailändisches Buch. Ah, hier … Ka Ta Kum Nai Con Do. Irgendwann hatte er sich mal eine Reihe von Krimis und Thriller auf Thai gekauft. Er reichte es dem Jungen und verschränkte nur die Arme. Harry starrte das Buch an, als wüsste er nicht, was damit zu tun sei. „Lies vor“, knurrte Severus nach einigen Sekunden. Vielleicht war es auch weniger als ein paar Sekunden. Niemand hatte ihn je ob seiner Geduld gepriesen. Man hatte ihn sowieso nie gepriesen. „Ka Ta … Kum … Nai Con Do“, sagte der Junge langsam und bedacht. Severus seufzte nur tief. Der Junge dürfte ungefähr auf dem Stand eines Erstklässlers sein. Wenigstens konnte er ansatzweise lesen. „Ich möchte, dass du heute Abend versuchst, das Buch so weit wie möglich zu lesen. Die Lehrerin wird dir nur Englisch beibringen, nicht Lesen und Schreiben. Das ist eine Voraussetzung für ihren Unterricht. Du wirst nachmittags üben müssen.“ Ein Glück, dass er den Jungen nicht unterrichten musste. Ihm würde in Sekunden der Geduldsfaden reißen. Er war nicht für ein Lehrerdasein geschaffen. Leute auseinander zu nehmen oder Zahlen zu analysieren war weit eher das richtige Arbeitsfeld für ihn. Er nahm sich sein eigenes Buch und setzte sich in einen Sessel. Nun, den ersten Tag hatten sie überstanden. „Ah, Sie müssen Mister Snape sein.“ Die Professorin lächelte ihn an und schüttelte ihm die Hand, bevor sie auf Thai wechselte. „Und du bist Harry?“ „Ja, Frau Lehrerin“ Der Junge verbeugte sich. Wenigstens hatte er Manieren. Thailändische Manieren, aber Manieren. Er fürchtete den Moment, wo er Harry das erste mal Messer und Gabel vorsetzen würde. „Dies ist unser Klassenzimmer“ Sie trat zur Seite und brachte sie zu einer Tür vier Schritte weiter. „Die ersten sind schon da. Such dir doch schonmal einen Sitzplatz.“ „Vielen Dank, dass sie ihn in einen laufenden Kurs aufnehmen“ Severus hatte sich diesen Satz auf dem Hinweg gut zurecht gelegt. Es war schlimm genug, ihn über die Lippen bringen zu müssen. Er hasste es, falsche Höflichkeit vorbringen zu müssen. „Wir haben ja gerade erst angefangen“ Sie lächelte ihn an. Ihm fiel ihre Flechtfrisur mehr auf als ihr Lächeln. Kunstvoll. So etwas konnten nicht viele Frauen. Nicht, dass er ihr das sagen würde. „Und ihr Sohn spricht kein Wort Englisch?“ „Ich spreche Thai“, erwiderte er, als würde das ihre Fragen vollkommen klären. Je weniger Details er verriet, desto weniger Nachfragen kamen meist. Das hatte er sich im Beruf schon oft zunutze gemacht. Ihr Lächeln wich langsam von ihren Lippen. Sie warf einen Blick zu Harry, sah zurück zu Severus und betrachtete ihn still, während sich etwas Kalkulierendes in ihren Blick legte. Nach einem Moment biss sie auf ihre Unterlippe, sah wieder zu Harry. Bevor sie eine indiskrete Frage stellen konnte, kam Severus ihr zuvor: „Er hat praktisch keine Schulbildung. Er kann nur leidlich lesen und schreiben. Seine Verwandten sagten mir stets, er würde zur Schule gehen. Ich habe erst vor kurzem heraus gefunden, dass sie Jahre lang gelogen haben. Sprechen Sie ihn nicht auf seine Verwandten in Thailand an. Für Ihre Taten gehören diese Menschen mindestens ins Gefängnis.“ „Oh“ Sie nickte langsam. „Natürlich … ich verstehe“ Sie senkte den Blick. Es gab nichts Besseres als das Schamgefühl von Leuten anzusprechen, wenn man sie zum Schweigen bringen wollte. Menschen waren bisweilen zu einfach. Er zog eine Karte aus seinem Etui und reichte sie ihr. „Sollte etwas sein, rufen sie mich an. Ich werde versuchen, ihn pünktlich abzuholen. Sollte ich mich verspäten, werde ich mich melden.“ „Anwalt für Wirtschaftsrecht“, las sie vor und sah auf, „Sie wirkten auch wie ein Anwalt auf mich.“ „Berufskrankheit“ Er nickte ihr zu. „Einen guten Tag, Professor Granger-Weasley.“ Das hätte besser laufen können. Es hätte jedoch auch schlechter laufen können. Die Polizisten waren noch fast einfach zu vertreiben gewesen. Diese Professorin würde schwerer sein. Sie war wie ein Bluthund. Sie hatte Witterung genommen und sie würde nicht stoppen, bis sie ihre Beute erlegt hatte. Hoffentlich war Harry bis dahin volljährig. Es ließ Severus kurz stocken, was dazu führte, dass er beinahe zu spät bremste. Beinahe. Es war nicht so, als würde er sich in seinen Gedanken verlieren. Er war stets in Kontrolle. Auch, wenn er realisierte, dass er als Vorsorgebevollmächtigter noch insgesamt drei Jahre warten müsste, bevor er Hand an den Jungen legen durfte. Verdammt nochmal … prostituieren durfte der Junge sich mit sechzehn, aber seinen Betreuer anfassen erst mit achtzehn? Wurde das ganze legal, wenn er dem Jungen Geld gab? Er wollte erst gar nicht darüber nachdenken. Es würde ihn nur auf die Frage zurück führen, warum er den Jungen mitgenommen hatte. Eine momentane geistige Umnachtung oder dergleichen schien die einzig annehmbare Erklärung. Vielleicht das thailändische Räucherwerk. Irgendetwas. Er sollte eine Pflegefamilie für den Jungen finden. Was sollte er schon bei ihm? Er hatte kein Interesse und keine Zeit, sich um Kinder zu kümmern. Erst recht, wenn dafür nichts in Aussicht stand. In drei Jahren hätte der Junge genug englische Luft geschnuppert, um sich ganz sicher nicht auf einen Anfang vierzigjährigen, potthässlichen Kerl einzulassen. Und er hatte kein Vertrauen darin, in den nächsten drei Jahren das Herz seines Schützlings zu gewinnen. Auf der Seite für importierte Frauen hatte gestanden, man solle sie nicht die eigene Sprache lernen lassen. Sie würden unabhängig werden und abhauen. Wenn man sie behalten wolle, solle man sie möglichst isolieren. Und was tat er? Er schickte den Jungen zu einem Sprachkurs, wo er viele Leute treffen würde, die seine eigene Sprache sprächen. Und wo er Englisch lernen würde. Wollte er den Jungen nun behalten oder nicht? Er wollte ihn durch die Matratze vögeln, so viel wusste er, aber das würde er nicht kriegen. Was hatte er sich dabei gedacht, den Jungen mitzunehmen? Natürlich, er hatte diesen Blick eines verloren gegangenen Welpen gehabt. Es war nur natürlich, ihn mitzunehmen. Und danach hatte ihn die Ehre gepackt, dass er keine halben Sachen machte. Aber nun? Er hatte den Jungen her gebracht. Die logische Schlussfolgerung war doch, ihm ein liebendes Heim zu suchen. Für ihn war er doch nur noch ein nerviges, Geld fressendes Anhängsel ohne jeden Zweck. Praktisch wie ein Haustier. Aber auch es dreimal zu wiederholen half nicht dabei, dass er irgendwo doch darüber nachdachte, was wäre wenn … was, wenn Harry ihn doch eines Tages begehrte? Er hatte noch nie etwas anderes als Stricher gehabt. Er hatte noch nie auch nur darüber nachgedacht, dass es etwas anderes für ihn geben könnte. Es war Harry, der ihn das erste mal fragen ließ … Nein. Ein Blick in den Spiegel reichte. Was machte er sich denn für Hoffnungen? Die Frauen, die er begehrt hatte, hatten ihn mit dem Arsch nicht angesehen. Die wenigen, die ihn genommen hätten, hatte er versucht. Die vier Monate Ehe waren das Längste und Schlimmste, was je daraus geworden war. Mit Männern war es nie anders. Mit Strichern. Der Sex war besser, das war alles. Er hatte sowieso noch nie einen Kerl getroffen, der das Wort Beziehung ernsthaft in den Mund genommen hatte. Er war nicht für Beziehungen geschaffen. Er war nicht jemand, der auf Langzeit andere aushalten konnte. Das beste Beispiel dafür hatte er doch vor der Nase. Er kannte Harry seit vier Tagen und dachte schon darüber nach, wie er ihn loswerden könnte. Seine Lust war doch sowieso schon erloschen. Keine unerwünschten Erektionen, keine Phantasien – nun, minimale Phantasien – und keine … nun ja, ein paar Träume. Ach, was belog er sich, auch den Jungen täglich zu sehen änderte nichts daran, dass er sich an die Küsse erinnerte. Und an das Gefühl samtiger Haut unter seinen Fingern. Er selbst war praktisch zerknittert. Papierhafte Haut, sehnig über kaum vorhandene Muskel gespannt mit keinem Gram Fett dazwischen. Er fühlte sich kaum besser an als eine Raufasertapete. Harry dagegen … er war so jung und unverbraucht. Den meisten Strichern sah man an, wie viele Drogen sie schon in sich gepumpt hatten. Allen anderen war es schlichtweg egal. Zwischen Junkie und Paar-Minuten-Job ohne viel Enthusiasmus gab es nicht viel in der Auswahl. Harry war anders. Harry war voller Möglichkeiten. Harry hatte nicht mal eine Ahnung von Sex, aber er war zu fast allem bereit. Er war ängstlich und neugierig zugleich. Er versuchte stark zu sein und seine Angst nicht zu zeigen. Und gleichzeitig war er so einfach zu brechen. Ein bestialisches Grinsen legte sich auf Severus Lippen. Wie gut, dass ihm im Auto keiner sah. Wie gut, dass seine Gedanken keiner hören konnte. War es das, auf das er stand? Blinde Naivität und Ängstlichkeit? Sollte er sich gleich im Zirkel anonymer Pädophiler einschreiben? Ein puppenhaftes Gesicht hatte der Junge auch. Er war fünfzehn. Er hatte alles, was ein Kind knapp nach Eintritt in die Welt der sexuellen Freuden so hatte: Unendliche Neugier und keinen blassen Schimmer. Natürlich war der Junge voller Möglichkeiten. Er würde keinen Pieps sagen, wenn Severus ihn anfassen würde. Er müsste es sich nur erlauben. Harry hatte es ihm doch schon angeboten. Er musste nur auf das Angebot zurückkommen. Er sah sich kurz um. Er hatte den Wagen im Hinterhof der Kanzlei geparkt, wo nur die Mitarbeiter Stellplätze hatten. So schnell würde hier wahrscheinlich keiner vorbei kommen, schließlich hatte die Arbeitszeit schon begonnen. Er sank etwas tiefer in den Sitz und öffnete nach einem weiteren Blick zur Sicherheit den Reißverschluss seiner Hose. Er musste es sich nur erlauben … Harry plapperte. Severus wusste nicht genau, ob man ihm sein Leben lang den Mund verboten hatte, aber er stand kurz davor, das auch zu tun. Dieser Junge konnte über schlichtweg alles reden. Den Unterricht, die Leute, die Lehrerin, seine Sitznachbarin, das Klassenzimmer, die Häuser, die er im Vorbeifahren sah. Erneut fühlte Severus sich genötigt eine Erklärung der nächsten folgen zu lassen, damit dieses Blag mal kurzzeitig still war. Er sollte ihm sehr schnell beibringen, wie die U-Bahn und das Bussystem funktionierte. Ein Glück, dass bereits Mittwoch war. Samstag müsste er Zeit für derlei Erklärungen haben. „...und hier arbeite ich“, schloss er seine Erklärung und fuhr auf den Parkplatz hinter der Kanzlei. Die Erinnerung an heute morgen schoss vor seine Augen, bevor sie sich in Millisekunden wandelte in den Gedanken, dass Harry sich nur zu ihm hinüber beugen musste, um- nein. Falsche Richtung. Der Junge war fünfzehn. „Wie lange musst du arbeiten?“ Harry klang nicht ansatzweise traurig oder deprimiert. Eher, als wäre Arbeit ein riesiges Abenteuer für ihn. Jugendliche nahmen die Welt noch so frisch und unverdorben. Vielleicht hatte er sogar den Glauben, man würde das, was man machte, gerne tun. „Bis die Stapel abgearbeitet sind“ Er schloss das Auto hinter sich zu und leitete Harry zum Hintereingang der Kanzlei. „Nun sei still und starr keine Leute an.“ Zum Glück lag sein Büro recht weit hinten. Er empfing selten Kunden selbst und mochte es, so weit wie möglich ab von Klatsch- und Tratschzimmer zu liegen, das man hier als Aufenthaltsraum bezeichnete. Kalebirths Tür war noch immer zu, weil er noch bis zum kommenden Montag auf einer weiteren Geschäftsreise war. Er musste demnach nur an Lydias scharfen Augen vorbei kommen. „Oh, Mister Snape, wer ist denn der junge, hübsche Mann?“ Severus schluckte sein Seufzen, bevor es seine Lippen verlassen konnte. Es wäre ja auch zu schön gewesen. Nein, er hätte sich denken sollen, dass das Vorhaben von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Nun, welche Story sollte er ihr geben? Sie kannte Kalebirth. Sie würde ihn bestimmt über Thailand ausfragen. Er erwiderte: „Mein Sohn.“ „Sie haben Kinder?“ Aus ihrem Gesicht sprach Entsetzen. Zumindest ging ihr Blick nicht sofort mitleidig in Harrys Richtung. Das hätte Severus erwartet. Eher wandelte er sich schon in Millisekunden in gieriges Interesse nach Neuem. „Waren Sie mehrfach verheiratet?“ „Nein“ Severus deutete Harry mit einer Handbewegung an, dieser solle schonmal ins Büro gehen. „Ich habe seine Mutter bei einer Geschäftsreise in Thailand kennen gelernt. Sie ist lange tot. Ich habe den Jungen hin und wieder besucht“ Reichte das schon? Sollte er ihr noch mehr Fakten geben? Zu wenig und sie würde weiter bohren, zu viel und sie würde misstrauisch werden. „Bei der letzten Reise fand ich heraus, dass … sagen wir, seinen Verwandten wurde das Sorgerecht entzogen. Ohne Besuchsrecht. Außer mir hat er wohl niemanden mehr.“ „Nein“ Ihr Blick füllte sich mit Schmerz und eine Hand hob sich vor ihre Lippen. „Das arme Kind“ So ungefähr hatte auch die Dame in der Botschaft reagiert. Es schien im genetischen Code von Frauen zu liegen, diese Reaktion zu zeigen. Lydia wäre allerdings nicht seine Sekretärin, wenn sie ein reines wandelndes Klischee wäre. „Die Sprachlehrer waren also für ihn?“ Severus nickte nur und wandte sich ab in Richtung Büro. Seiner Meinung nach hatte er genug Fragen beantwortet. Warum war diese Frau bloß immer an seinem Privatleben interessiert? Könnte sie nicht einfach ihre Arbeit machen und ansonsten still sein? Weiber … Harry würde definitiv in eine Pflegefamilie kommen. Er war unaushaltbar. Er nutzte keine Stühle, er lag auf dem Boden. Er las sein Buch, indem er es über seinen Kopf hielt und Richtung Decke starrte. Er lächelte zuckersüß, wann immer Lydia herein kam und ihm dies oder jenes – meistens Kekse oder Saft – mitbrachte. Das Biest ließ sich sogar von seiner Sekretärin zum Essen einladen. Und er war laut. Sein Stift kratzte über das Papier, wenn er schrieb. Er summte und verstummte nur auf scharfe Blicke hin. Er ging auf und ab mit dem Buch in einer Hand. Er war ein einziges Energiebündel, immer in Bewegung, immer … strahlend. Wie als würde er von innen strahlen. Es machte ihn schön. Aber das war ein gefährlicher Gedanke. Also schürzte Severus die Lippen und sagte sich, dass nur ein unrealistisches Wahrnehmungskonzept einem solch gute Laune bescheren konnte. Die Kröte würde schnell genug verbittern. „Halb fünf“, sagte Harry irgendwann. „Was?“ Severus sah auf und blickte sich kurz um. „Uhr sein halb fünf“ Der Junge sah ihn an. „Richtig?“ Oh. Er sprach Englisch. Das verlangte ein Lächeln. In Theorie. In Praxis schaffte Severus es gerade noch einen Mundwinkel zu heben und zu nicken. Es ließ natürlich sofort das stolze Lächeln von Harrys Gesicht fallen und ihn den Kopf einziehen. Severus schelte sich innerlich einen Idioten, aber es half seiner äußeren Erscheinung leider nicht. „Ist das schwere Arbeit?“, fragte Harry ihn auf Thai von der Seite seines Stuhles und schielte auf seine Unterlagen. „Nein“ Severus seufzte und vergrub sein Gesicht in einer Hand, bevor er sich für eine Halbwahrheit entschied. „Ich habe nur Kopfschmerzen.“ „Soll ich dich massieren?“ Nein. Absolut nein. Severus fühlte Horror seine Wirbelsäule hinauf kriechen, dass das Wort noch nicht automatisch aus seinem Mund gepurzelt war. Aber auf seiner Schulter lag eine warme Hand und die allein schien bereits Zungen der Entspannung in seinen Körper auszusenden. Was war schon schlimm an einer Massage? Er bezahlte Physiotherapeuten für so etwas. Nun gut, er bezahlte auch Prostituierte … Massagen waren nicht immer ein Vorspiel. Sie waren bisweilen medizinisch notwendig und demnach auch in Ordnung. Nebst der Tatsache, dass Harry sein langes Schweigen sowieso als Zustimmung genommen hatte. Zwei warme Hände fuhren über seine Schultern und Daumen drückten sich in seine angespannten Muskeln. „Warte“ Oh, Severus, wo war deine Selbstkontrolle? Deine Moralvorstellungen? „Das Hemd … wird zerknittern.“ Dieses Biest. Dieses verdammte Biest. Die Hände fuhren seine Brust hinab und begannen die Knöpfe seines Hemdes zu öffnen. Warum fühlte sich das bloß so gut an? Kapitel 2: Das erste Gewitter ----------------------------- Severus Lebensphilosophie hatte ihn weit gebracht. Schamgefühl war für ihn eine angelernte Reaktion, die Menschen geschaffen hatten, um emotionale Strafen geben zu können. Schamgefühl war demnach gegen ihn nutzlos, auch wenn er es als eine Waffe gegen andere benutzte. Das hatte er sich stets gesagt. Seit sein Vater sturzbetrunken beim Elternbesuchstag in der fünften Klasse aufgetaucht war, hatte er es sich selbst vorgebetet. Scham war etwas für schwache Menschen, die keine Kontrolle über ihre Gefühle hatten. Nur was machte das aus ihm? Einen alten Sack, der einem Jungen hinterher hechelte und seine Lüsternheit nicht unter Kontrolle halten konnte? Machte ihn das zu einem schwachen Menschen? Erklärte das das plötzliche Vorhandensein eines Schamgefühls? Denn er empfand Scham. Auch wenn sein analytisches Hirn ihm genau darlegen konnte, wie unnütz das Gefühl war, er empfand es. Es war ein Gefühl, dass nur auftrat, wenn man nichts an der Situation ändern konnte oder wenn sie schon vergangen war. Es war kein Gefühl, das mahnte, wenn man seinen Fehler noch korrigieren konnte. Wie den Fehler sich auf Harry einzulassen. Angefangen dabei, ihn mitzunehmen, darüber, ihn bei sich unterzubringen bis zu dem Moment, ihn nicht daran zu hindern, ihm das Hemd zu entreißen. Auch wenn entreißen eine Übertragung war. Er hatte es ganz artig wieder angezogen, nachdem seine Schultern sich wieder beweglich anfühlten. Und doch hinterließ es das Gefühl des Intimen. Harrys wissendes Lächeln sagte ihm, dass er in seinem Gelöbnis der Keuschheit im Bezug auf den Jungen bereits versagt hatte. Das leichte selbstzufriedene Lächeln, dass er den ganzen Abend getragen hatte, sprach mehr als jedes nicht gesagte Wort, das zwischen ihnen hätte fallen können. Sie schwiegen in Einverständnis. Und Severus empfand Scham. „Sie haben einen ganz wunderbaren Sohn, Mister Snape“ Lydia lächelte ihn breit an. „Wenn Sie meinen“ Severus sah erst gar nicht auf. Weiber. „Was liegt für heute an?“ „Das mit dem Stolz sollten Sie noch üben“ Sie verzog den Mund zu einer Schnute, aber sprach weiter, bevor er sie ermahnen konnte. „Sie haben um zehn Uhr einen Termin mit Derwin, um zwölf einen mit Garwidoff und ab vierzehn Uhr dreißig das Meeting in der Danske Bank London.“ „Heute ist mein sozialer Tag?“ Seine Mundwinkel sackten hinab. „Ein Tag die Woche muss sein“ Sie legte den Kopf zur Seite und lächelte mit einem Hauch von Schadenfreude. „Soll ich Ihren Sohn abholen?“ „Ich schreibe Ihnen die Adresse auf. Schauen Sie, dass er den Nachmittag über seinen Büchern verbringt“ Er musterte sie einen Moment. „Ich werde Ihnen Geld für sein Mittagessen geben. Ich muss Sie vorwarnen, dass er noch nicht weiß, wie man Messer und Gabel benutzt.“ „Isst man in Thailand mit Stäbchen?“ In ihren Augen leuchtete erneut Neugier auf. Im Gegensatz zu ihm schien sie nicht sehr viel zu reisen. „Mit Händen. Stäbchen sind teuer. Nur in den großen Städten benutzt man Stäbchen.“ „Mit Händen?“ Sie blinzelte. „Isst man da nicht meist Reis?“ „Und?“ Er hob eine Augenbraue. „Wie spannend. Ich würde mir die Finger verbrennen. Ich tue mir immer weh, wenn ich meine Reisbeutel aufschneide.“ Sie betrachtete seinen Gesichtsausdruck kurz und senkte die Stimme. „Weniger reden, mehr arbeiten?“ Er nickte. „Sofort, Chef.“ Es gab diese Tage, wo man sich am liebsten ein Maschinengewehr nehmen und alles durchlöchern würde, was man sah. Für ihn war jeder Tag so ein Tag. Heute war es nur besonders schlimm. Heute hatte er drei Treffen mit alten Männern – nicht, dass er sich selbst nicht in die Kategorie zählen konnte – in kreativ dekorativ optimierten Räumen, um sich ein Ohr abkauen zu lassen. Gefolgt davon, dass seine Sekretärin meinte, ihm das zweite mit Erzählungen über Harry zu vernichten. Was hatte es ihn zu interessieren, dass der Junge das Besteck nicht gegen die nächste Wand geschmissen hatte? Natürlich war es irgendwo wichtig, aber Umgang mit Besteck könnten ihm auch Pflegeeltern beibringen. Was ihn erinnerte – er wollte das Jugendamt anrufen. Harry war lang genug bei ihm. Niemand konnte erwarten, dass er das Kind eine ganze Woche behielt. „Lass uns fahren“, knurrte er Harry an. Der Junge, der über einem Buch gebeugt saß, schreckte auf und sah ihm kurz mit weiten Lidern hinterher, bevor er aufsprang und seine Sachen zusammen räumte. Severus schmiss nur die Mappe mit seinen Unterlagen auf den Schreibtisch, nahm seinen Mantel und machte wieder kehrt Richtung Tür. Harry stolperte ihm mehr schlecht als recht hinterher, zwei Bücher im einen Arm, einen Block unter dem anderen, Stifte in seiner Hand und in die Turnschuhe nur getreten. „Guten Abend“, brachte er noch hastig hervor, während er versuchte, beim Gehen nicht die Schuhe zu verlieren. Severus quittierte das nicht einmal mit einem Schnauben. Er hatte auf der Arbeit sozial sein müssen, jetzt war es genug damit. Er ließ sich auf den Autositz sinken und zog die Tür mit jedem Quäntchen Aggression zu, das in ihm war. Harry schaffte es gerade noch ins Auto, als er zurück setzte. Eines der Bücher rutschte unter seine Handbremse. „Pass auf deinen Kram auf!“, heischte er den Jungen an. Harry griff sofort danach und zog es auf seinen Schoß. Im Augenwinkel bemerkte er die ängstlichen Blicke, die Harry ihm zuwarf, doch er entschied sie zu ignorieren. So musste er sich wenigstens nicht noch damit rum schlagen, dass der Junge einen Terz bei der Übergabe machte. Vielleicht könnte er ihn noch vor dem Wochenende rauswerfen. Welcher Tag war heute? Er sah auf seine Uhr. Verdammt, 17:23 Uhr an einem Freitag. Kein Amt dieser Welt hatte um diese Zeit noch auf. Er seufzte tief. Dann eben Montag. Behielt er den Jungen halt für das Wochenende. Es waren nur zwei Tage. Drei Morgen. Drei Abende. So viel würde er schon noch aushalten. Er könnte ja- nein, er würde sich nicht mehr massieren lassen. „Habe ich etwas getan?“, fragte Harry vorsichtig. Severus sah sich nicht genötigt zu antworten. „Hattest … du einen schlechten Tag?“ „Sehe ich aus, als wäre ich mit Feen durch den Wald gesprungen?“ Severus verzog das Gesicht und seine Stimme verbitterte. „Jeder Tag ist ein schlechter Tag, solange ich Menschen sehen muss.“ „Alle Menschen?“ Ein wenig Spannung wich aus Harrys Schultern. Was auch immer ihn an der Aussage entspannt hatte. „Alle“, bestätigte Severus nur. „Das klingt einsam.“ Severus versuchte zu schlucken, doch es blieb ihm im Hals stecken. Da schien eine schwere Last auf seiner Brust, die ihn nicht atmen ließ. Er wollte etwas erwidern, doch auch das blieb ihm im Hals stecken. Im Endeffekt entschied er sich zu schweigen. „Guten Morgen!“, grüßte Harry ihn fröhlich. Was machte die kleine Bazille so früh am Morgen außerhalb seines Bettes? Severus wandte angewidert den Kopf ab und drehte sich in Richtung Kaffeemaschine. Harry öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Severus hob nur die Hand. Die Geste schien der Junge zu verstehen. Zum Glück hatte er sich vor ein paar Jahren selbst überwunden und Geld für einen Kaffeeautomaten ausgegeben, sodass Kaffee nun keine Minuten sondern nur Sekunden brauchte. Und seine Zunge war schon so tief abgestorben, dass glühend heißer Kaffee ihm nichts ausmachte. Mehr als ein kurzes Brennen blieb nicht zurück. „Was ist das?“, flüsterte Harry vorsichtig. „Kaffee“ Severus setzte sich an den Tisch in der Küche. „Rede nicht mit mir, bevor ich keinen Kaffee habe“ Er hielt einen Moment inne. „Rede nicht mit mir, bevor er nicht wirkt.“ Der Junge legte die Arme auf dem Tisch übereinander und seinen Kopf darauf, um Severus zu beobachten. Severus schüttelte innerlich den Kopf. Das Kind wusste doch nicht einmal, auf was es achten musste. Na ja, wenigstens störte es weniger als das sinnlose Geplapper. „Wirkt es?“, fragte der Junge nach ein paar Minuten. „Ja“ Severus Stimme war glatt ruhig. „Ich bin wach.“ „Gut“ Der andere setzte sich auf. „Die Uhr sagt acht Uhr sechzehn“ Er trug ein stolzes Lächeln. „Fahren wir heute nicht in die große Stadt?“ „London. Sie heißt London“ Severus atmete tief durch. „Und nein. Es ist Samstag. Ich habe gestern alles abarbeiten können, ich muss heute nicht hin“ Harry sah ihn mit erwartungsvollem Blick an. „Wir werden später hinfahren und ich erkläre dir, wie man Busse und Bahnen benutzt. Dann kannst du ab Montag selbst zur Schule und zurück fahren.“ „Dann … sehen wir uns dann nicht mehr?“ Das Lächeln wich von Harrys Lippen. „Du siehst mich, wenn ich von der Arbeit komme“ Montag zumindest. Dienstag wäre der Junge hoffentlich schon woanders. Warum brachte er ihm überhaupt den Weg bei? Nun ja, vielleicht würde es Mittwoch werden. Ämter arbeiteten langsam. „Bin ich anstrengend?“ Es war kaum mehr als ein Flüstern. Der Junge schien in sich zusammen zu sinken. „Natürlich bist du das“ Severus knirschte mit den Zähnen. „Du belagerst mein Haus und stiehlst meine Zeit.“ Harry wandte den Blick ab. Seine Augen glänzten verdächtig. Immer diese Kinder mit ihren Tränen. Als würden Tränen ihnen helfen. Was erwarteten die Biester denn? Wenn man heulte, kam auch keiner und half. Das hier war kein Märchen. Er trank den Rest seines Kaffees mit einem Schluck, bevor er aufstand und zur Tür ging. „Wohin gehst du?“ In Harrys Stimme lag Panik. „Die Zeitung holen“ Severus wandte sich um und durchbohrte den Jungen mit einem der Blicke, die Menschen stets vor ihm zurückschrecken ließen. „Fall mir nicht mehr auf die Nerven als sowieso schon.“ Harry zuckte zusammen. Sein Blick fiel in seinen Schoß, der Kopf sank hinterher. Wie einer dieser Käfer, die sich in sich selbst zusammen rollten, weil sie nur auf der einen Seite einen Panzer hatten. Severus hatte als Kind gern auf sie eingepiekst mit einem Stock. Diesmal atmete er nur tief durch und ging zur Tür, um die Zeitung zu holen. Severus spülte die zwei Aspirin mit einem Glas Wasser herunter. Er kämpfte erfolgreich gegen den Würgereiz an, da der Rand des Glases noch Reste der Zahnpasta trug, mit der er sich zuvor die Zähne geputzt hatte. Was für ein bescheidener Tag. Zum Glück war das kleine Biest endlich im Bett. Nicht, dass er irgendetwas angestellt hätte. Er war einfach nur da. Es war genug, um Severus eine der schlimmsten Migräneattacken seit Jahren zu bescheren. Er machte das Licht im Flur und Schlafzimmer erst gar nicht an, als er sich Richtung Bett kämpfte. Licht tat weh. Geräusche taten weh. Alles tat weh. Er hob die Decke und sank mit einem Seufzen der Erleichterung darunter. Schlaf würde ihm die Schmerzen nehmen. Er müsste nur bis zum Einschlafen durchhalten. Nur noch ein kleines bisschen. Er legte seinen Kopf ganz, ganz vorsichtig auf dem Kissen ab und seufzte erleichtert, als kein Schmerz durch ihn zuckte. Jetzt musste er nur durchhalten, bis die süße Dunkelheit der Bewusstlosigkeit von ihm Besitz ergriff. Was nicht ganz in dieses Szenario passte, war der warme, nackte Körper, der sich plötzlich gegen ihn drückte. Da die Schmerzen noch da waren, war Severus sich allerdings sehr sicher, dass er nicht schlief. „Raus aus meinem Bett, du verdammte Bazille!“ Er stieß den anderen von sich, bevor er realisierte, dass er Englisch sprach. Er wiederholte die Worte etwas ruhiger auf Thai, da sein Kopf von seinem eigenen Geschrei schier zu explodieren schien. „Verschwinde aus meinem Bett.“ Harry legte nur den Kopf zur Seite und leckte über die Hand, mit der Severus ihn an der Schulter von sich hielt. „Geh“ Severus konnte fast das Wimmern nicht unterdrücken. Er zog seine Hand zurück, nahm ein zweites Kissen und drückte es sich auf den Kopf. Alles, um diesen grässlichen Schmerz von sich zu halten. Natürlich rückte Harry einfach nur näher und drückte sich wieder an ihn. Die Erschütterung zog an seinen Hirnhäuten und ließ sein überpralles Hirn nur noch schmerzhafter gegen die Innenseite seines Schädels drücken. Zumindest fühlte es sich so an. „Verschwinde. Ich kann dich nicht ertragen. Geh einfach“, flüsterte er. Der warme Körper zuckte und zog sich in sich selbst zusammen. Severus fühlte sich für einen kurzen Moment schlecht, doch der Schmerz ließ das Gefühl schnell wieder versinken. Er hatte keine Kapazitäten, um sich um das Wohlergehen der kleinen Kröte zu sorgen. Nach einem schier ewiglich wirkenden Moment zog Harry sich wirklich zurück. Er schlüpfte aus dem Bett und tappste Richtung Flur. Zum Glück schloss er die Tür leise. Severus konnte in aller Ruhe in sich selbst versinken. Severus schluckte und betrachtete seinen noch von Tau getränkten Garten mit einem Entsetzen, das selbst das Ausreißen all seiner Pflanzen nicht hätte rechtfertigen können. Er war weg. Harry war weg. Er war nicht in seinem Zimmer, er war nicht im Bad, er war nicht in der Küche. Er war nirgendwo. Sein Bett war gemacht als hätte er nicht einmal darin geschlafen. Seine Schuhe waren weg und seine Kleidung auch. Severus trat in seine Schuhe, warf seinen Mantel über und griff nach Schlüssel und Handy. Ganz ruhig. Wo könnte der Junge hingegangen sein? Er ließ den Wagen an. Die Volkshochschule? Er wusste, wie man da hin kommen könnte. Er könnte den Bus genommen haben. Severus stoppte das Ausparken und griff in seine Hintertasche, um das Portmonee hervor zu ziehen. Hm … der Junge hatte kein Geld genommen. Er musste zu Fuß unterwegs sein. Was gab es hier in der Nähe? Severus seufzte. Keine Ahnung. Er war kein Mensch für Spaziergänge, er hatte seine Nachbarschaft nie erkundet. Er würde einfach jede Straße abfahren und sehen, ob Harry irgendwo gelandet war. Vielleicht beim Supermarkt. Er hatte Harry gezeigt, wo der war. Vielleicht hatte der Junge Hunger bekommen und gestohlen. Selbst dann hätte er keinen Ausweis. Und konnte kein Englisch. Severus Finger verkrampften sich am Lenkrad. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Warum war der Junge abgehauen? Weil Severus ihn aus dem Bett geschickt hatte? Was hatte er überhaupt dort gesucht? Er konnte sich nicht erinnern, gewalttätig gewesen zu sein. Hatte der Junge trotzdem Angst vor ihm bekommen? Sein Ton war schlimm gewesen, ja, aber das war doch kein Grund abzuhauen. Hatte er ihn an seine Verwandten erinnert, die ihn verkauft hatten? Severus biss sich auf die Unterlippe. Es war niemand hier, um ihn zu sehen. Kein Mensch war Sonntags Morgens im Dämmerlicht unterwegs. Wenn Harry irgendwo war, würde er schlafen. Gab es hier Parks? Unterstände? Verlassene Häuser? Der Junge wusste doch nicht einmal, was man durfte und was nicht. Was, wenn er an Türen anderer Leute geklopft hatte? Was, wenn er bei jemandem war, der ihn jetzt verletzte? Er ließ das Auto laufend mitten auf dem Parkplatz des Supermarktes stehen. Er schloss nicht mal die Tür. Er lief zum Unterstand der Wagen und sah hinein und unter die Metallvehikel. Er suchte die überdachte Wand ab. Er ging selbst die Büsche, die den Parkplatz umrankten, ab. Hier war er nicht. Er ließ sich wieder ins Auto fallen und fuhr weiter. Am Park der Nachbarschaft – er erinnerte sich an einen auf der Google Map, die er sich angesehen hatte, als er das Haus damals kaufte – parkte er den Wagen, schaltete ihn ab und verschloss ihn, bevor er den Park durchsuchte. Auf den Hauptwegen und den Bänken war niemand, sodass er auch zwischen den Bäumen suchte. Leider Fehlanzeige. Mit einem tiefen Seufzen setzte er sich zurück ins Auto. Wo könnte der Junge noch sein? Am Friedhof? An der Kirche? An einer überdachten Bushaltestelle? Innerlich schlug er sich selbst vor den Kopf, bevor er sein Handy zückte und die Google Map der Gegend aufrief. Es gab einen Friedhof am Stadtrand und mehrere Haltestellen. Außerdem gab es drei U-Bahn-Stationen, die in Frage kamen. Er würde eines nach dem anderen absuchen. Er würde diesen Jungen finden und dann würde es Zeter und Mordio für den Bengel heißen. Zweieinhalb weitere Stunden des Suchens brachten Verzweiflung mit sich. Er war nach Hause zurückgekehrt in der Hoffnung, Harry könnte aufgetaucht sein, aber natürlich war er das nicht. Severus fiel nichts mehr ein, wo er noch suchen könnte. Wenn ein Busfahrer ihn ohne Karte hatte einsteigen lassen oder wenn er über das Ticketrad der U-Bahn gesprungen war … die Möglichkeiten waren schier endlos. Er wohnte am Rande von London. Der Junge könnte überall sein. Was, wenn ihm etwas zugestoßen war? Was, wenn er auf irgendwelche betrunkenen Jugendlichen gestoßen war? Oder auf Kriminelle? Oder wenn ihn jemand für einen Prostituierten gehalten und mitgenommen hatte? Zu viele wenns. Er griff den Telefonhörer und wählte die Nummer der Auskunft, um sich mit dem nächsten offenen Polizeirevier verbinden zu lassen. Was sollte er schon sonst tun? Vielleicht war Harry dort. „Wachtmann Rogers, wann kann ich für Sie tun?“, fragte eine gelangweilte Stimme. „Wurde irgendwann zwischen gestern Abend und heute ein junger Thailänder aufgefunden, der kein Englisch spricht? Mein … Sohn ist ausgerissen“ Er schluckte. Er musste lernen, das flüssiger auszusprechen. „Ich schau mal“ Der Polizist schien nicht weniger gut gelaunt. Man konnte das Geräusch von Tippen auf einer Tastatur im Hintergrund hören. „Wo wohnen Sie?“ Er gab seine Adresse durch. „Das Revier bei Ihnen ist nachts nicht besetzt. Wir hatten eine Streife da … ne, nix von 'nem Jungen. Wenn er bis morgen nicht wieder auftaucht, melden Sie sich nochmal.“ „Ich mache mir Sorgen“ Severus versuchte ruhig zu bleiben. Seine Stimme war trotzdem pures Gift. „Können Sie eine Vermisstenmeldung aufgegeben?“ „Vierundzwanzig Stunden nach Verschwinden, vorher nicht“ Der Mann klang, als spule er eine auswendig gelernte Rede ab, während er sprach. „Rufen Sie morgen wieder an. Wenn dem Jungen zu kalt wird, kommt er schon zurück.“ „Der Junge ist erst seit einer halben Woche in diesem Land und kann nicht mal den Weg zur nächsten Mülltone finden! Er wird sich irgendwo verlaufen haben und könnte erfrieren. Ich suche seit vier Stunden nach ihm!“ Severus schaffte es nicht, seinen Ton unter Kontrolle zu halten. Warum brachte ihn das Blag so durcheinander? „Beruhigen Sie sich. Entweder der Junge kommt zurück oder wir finden ihn morgen. Ein, zwei Nächte draußen überlebt jeder. Es ist erst September. Fahren Sie wieder runter und melden Sie sich morgen.“ Er sollte sich abregen. Er sollte auflegen. Der Mann konnte nichts für ihn tun. Auflegen. „Ihnen ist völlig egal, was die Leute durchmachen, denen Sie das erzählen, oder? Was soll der Mist, dass man zwei Tage draußen überleben kann? Der Junge kommt aus Thailand, er ist weder Kälte noch Engländer noch unsere Infrastruktur gewohnt. Er kann keine zwei Tage draußen überleben!“ „Dann hätten Sie ihn wohl nicht dazu bringen sollen, dass er vor ihnen wegrennt. Arbeiten Sie mal an Ihren Aggressionen, Mann. Ich würde auch abhauen, wenn ich ein Kind wäre. Denken Sie mal darüber nach, warum ihr Junge abgehauen ist, während Sie warten. Schönen Tag noch.“ Tut. Tut. Tut. Severus schmiss den Hörer an die nächste Wand. Verdammt. Verdammt noch mal. Sowas musste er sich nicht sagen lassen von irgendeinem daher gelaufenen Idioten. Darum wollte er den Bengel doch in eine Pflegefamilie stecken. Er war nicht geeignet für diesen Mist. Warum war Harry weggelaufen? Warum? Er ließ seinen Kopf gegen den Türrahmen der Küche sacken und lehnte sich dagegen. Tief durchatmen. Von vorne. Er war mit den Nerven am Ende. Ein Kaffee würde helfen. Er würde jetzt einen Kaffee trinken und dann nochmal in Ruhe nachdenken. Er hatte den Jungen angeschrien. Das hatte ihn nicht sehr beeindruckt. Er hatte ihm gesagt, er solle gehen. Das hatte auch nichts bewirkt. Er hatte gesagt, er könne Harry nicht ertragen. Dabei war er zusammen gezuckt. Aber das hatte er nur gesagt, weil er Migräne hatte … was Harry natürlich nicht wusste. Irgendetwas musste er dabei in Harry angesprochen haben, sodass dieser weglief. Hatte der Junge Angst vor ihm? Wahrscheinlich. Vielleicht hatte einer seiner Verwandten so etwas gesagt. Und ihn verkauft. Und ihn wahrscheinlich geschlagen. Vielleicht hatte Harry Angst, er würde dasselbe mit ihm tun. Wo würde er hinrennen, wenn er solche Angst hatte? In einem Land, wo er niemanden kannte? Obwohl, er kannte Menschen. Er kannte diese Englischlehrerin. Und Lydia, seine Sekretärin. Natürlich wäre keine von ihnen gerade am Arbeitsplatz, aber vielleicht war Harry dorthin? Severus hatte ihm erklärt, wie er zur Volkshochschule kam. Und von da aus zur Kanzlei. Und von dort nach Hause. Er stand auf und schnappte sich seinen Mantel. Er würde diese Orte abfahren. Irgendwo musste Harry sein. Irgendwo würde er ihn finden. Von einem Augenblick auf den nächsten schienen Zentner von Last von Severus abzufallen. Harry war hier. Harry saß auf der Treppe des Hintereingangs der Kanzlei. Er war okay. Severus parkte den Wagen nicht einmal, er blieb einfach mitten auf dem Parkplatz stehen, stieg aus, ohne den Wagen auszumachen und schritt auf Harry zu. Dieser zog nur den Kopf ein und hob die Arme darüber. Severus kannte die Pose. So hatte sich seine Mutter in Ecken verkrochen, um den Schlägen und Tritten seines Vaters so wenig Angriffsfläche wie möglich zu geben. Er schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu verbannen und packte Harrys Arm. „Komm mit“ Er wusste, dass seine Stimme nicht einen Hauch Nettigkeit enthielt. Obwohl er an Harrys Arm zog, verkrampfte dieser sich nur und stemmte die Füße in den Boden. Aber er wehrte sich nicht per se. Er schlug nicht. Er versuchte nicht, sich loszureißen. Severus schlug die Erinnerung in den Kopf, wie sein Vater ihn an den Haaren durchs Haus geschleift hatte. Er hatte sich auch nicht mehr gewehrt. Er wusste, es würde nur schlimmer kommen, wenn er das tat. Wie von selbst ließ sie Hand Harry los, sodass dieser auf die Erde zurück fiel. Sein Blick schnellte sofort zu ihm hoch, suchte Severus Gesicht ab. Der obligatorische Check, wie viel Wut da war. Ob es besser war still zu halten oder zu rennen. Ob es vielleicht half, sich zu entschuldigen. Oder ob schweigen und hoffen, dass nur Beleidigungen und Anschuldigungen zu durchstehen reichen würde. Severus schloss seine Lider, wandte den Kopf ab und atmete tief durch. So wollte er nie enden. Er wollte niemals zu seinem Vater mutieren. Er wollte niemals in die angsterfüllten Augen eines Kindes blicken. „Ich möchte nur, dass du dich ins Auto setzt. Es ist kalt und du warst bestimmt die Nacht draußen. Im Auto kann ich die Klimaanlage anschalten. Dann wird es dort warm. Ich möchte nur … ich will nicht, dass du krank wirst. Bitte setze dich hinein“ Er sprach zwar nur in Richtung eines gelben Fiat auf dem letzten Parkplatz, aber zumindest ließ ihn das ruhig sprechen. Im Augenwinkel sah er, dass Harry den Kopf zur Seite legte. Er ließ ihn zurück blicken. Harry schien ein gutes Stück weniger angespannt. Was immer er sah, es ließ ihn vorsichtig nicken und aufstehen. Im Arm hielt er ein Bündel Klamotten. Seine Kleidung. Wenn man es so betrachtete, war es traurig wenig. Gerade genug, dass er Unterwäsche für ein paar Tage und einen Satz Wechselkleidung hatte. Es waren die Sachen, die sie in Thailand gekauft hatte. Severus war nicht einmal dazu gekommen, dem Jungen eine Winterjacke zu kaufen. Er musste schrecklich gefroren haben. „Ich fahre uns erstmal nach Hause, ja? Dann nimmst du ein Bad, um wieder warm zu werden. Und dann besprechen wir in Ruhe, was das hier sollte“ Harry zuckte. Falsche Wortwahl. „Ich meine … was dir Angst gemacht hat. Ich will dir keine Angst machen. Ich bin nur nicht … gut mit Menschen.“ Der Junge betrachtete ihn erneut. Nach einem Moment der Stille nickte er und stieg ein. Severus kochte dem Jungen heiße Schokolade, während er im Bad war. Nicht heiße Milch mit Kakao, er nahm echte Schokolade und mischte sie mit Milch und Butter. Das hatte seine Mutter gemacht, wenn die Prügel richtig schlimm geworden waren. Zumindest, wenn nicht einer von ihnen beiden zu verletzt war, um sich bewegen zu können. Da es meist sie war, hatte er irgendwann gelernt, selbst heiße Schokolade zu kochen. Es heilte zwar keine Wunden, aber es ließ sie zumindest lächeln. Zumindest, wenn sein Vater sie nach den Prügeln nicht ins Schlafzimmer gezerrt hatte. Dann hatte er sich unter dem Bett versteckt. Selbst noch mit sechzehn, kurz bevor er auszog. Er hatte nie Schokolade für sich selbst gemacht. Es war kein Trost darin, wenn er die Schreie seiner Mutter hinter geschlossener Tür hören konnte. Oder ihre Stille. Severus Hand zitterte, als er die Schokolade eingoss. Doch er war geübt genug, um nichts zu verschütten. Er würde Harry erklären, dass er keine Angst haben brauchte. Severus würde morgen das Jugendamt anrufen, um eine gute Familie für ihn zu finden. Harry würde ihn und seine Launen nicht weiter aushalten müssen. Er brachte die Becher ins Wohnzimmer, ging zum Bad, klopfte und sagte: „Harry? Bist du wieder warm? Wenn ja, komm raus … bitte.“ Was eine Minute später aus dem Bad kam, lächelte, hatte dicke Wasserperlen auf der Haut und trug Severus Bademantel. „Erstens, das ist meiner“ Durch den eher amüsierenden Anblick war zum Glück nicht allzu viel Gift in Severus Stimme. „Zweitens, du musst dich ordentlich abtrocknen, bevor du aus dem Bad gehst. Durch das Wasser gehen das Parkett und die Teppiche kaputt“ Er griff schnell das Handtuch aus dem Gästebad rubbelte damit Harrys Kopf. Dieser ließ das völlig angstbefreit über sich ergehen. „Und kann nicht einmal Wasser diesen Mop bändigen?“ „Nein“ Das kleine Biest lächelte ihn an. „Füße“ Severus reichte ihm nur das Handtuch. „Und dann setz dich.“ Harry tat wie ihm geheißen und ließ sich dann seitlich auf die Couch fallen. Wäre ja auch zu viel verlangt, dass er saß wie ein normaler Menschen. Nein, er hatte sich einmal quer zu strecken und … Severus wandte den Blick ab. Und natürlich verrutschte so der zu große Bademantel und gab ein gelbweißes, verführerisches Bein frei. „Bedeck dich“, forderte Severus. „Huh?“ Harry sah an sich hinunter. „Was denn?“ „Deine Beine“, knirschte der Ältere hervor. „Die findest du … hübsch?“ Harry setzte sich trotzdem auf und bedeckte sich. „Ich dachte, das sei nur … mein Gesicht oder mein Hintern oder so“ Ein gutes Stück Röte schlich sich auf seine Wangen. „Trink“ Severus wies auf die heiße Schokolade. „Hör zu … ich finde dich … erotisch ist wohl das passende Wort. Aber das ist falsch. Du bist zu jung. In diesem Land muss man achtzehn sein, bevor man … du weißt schon.“ „In welchem Land ist denn fünfzehn erlaubt?“ Harrys Augen blitzten ihn über den Becherrand an. „Harry, lass es. Du willst nicht mit mir schlafen. Du hast Angst und bist unsicher und bist schier allein in einem völlig fremden Land, aber das macht dich nicht älter und nicht williger. Nur verzweifelt“ Wow. Er konnte stolz auf sich sein. Das enthielt fast so etwas wie Empathie. „Und was muss ich dann tun, damit du mich nicht wegschickst?“ Der Junge hatte die Tasse weggestellt und schloss die Arme um sich selbst. „Ich schicke dich nicht weg“ Nun … im engeren Sinne. „Ich bin einfach … ich bin nicht geeignet für Kinder. Ich bin bösartig und … ich könnte gewalttätig werden“ Es ging nur schwer über seine Lippen, aber es war die Wahrheit. „Ich möchte dir eine Familie suchen, in der du aufwachsen kannst. Leute, die dich lieben und sich um dich kümmern. Die von … dieser Kinder-Sache mehr verstehen als ich“ Es klang, als würde er sich die Zunge brechen, während er sprach. Es war grässlich schwer. Und es tat weh. Aus irgendeinem Grund tat es weh. Wahrscheinlich war es das Eingeständnis, dass er überfordert war. Er hasste es, etwas nicht zu können. „Du gibst mich weg?“ In Harrys Gesicht mischten sich Entsetzen und Unglauben. „Ich will nicht weg!“ „Das hast nicht du zu entscheiden!“ Severus wäre fast aufgesprungen, aber er hielt seine Kontrolle, indem er seine Finger in die Couchlehne klammerte. „Ich will dich hier nicht haben. Ich will dich nicht verletzen.“ Harry wandte nur den Blick ab. Da waren keine Tränen auf seinen Wangen, aber das Zucken seiner Schultern sagte Severus klar, dass diese nicht allzu weit entfernt waren. Hatte er ihn geängstigt? Oder waren es seine Worte, die weh taten? „Ich will dir hier nicht haben, weil ich dich nicht verletzen will“, sagte er etwas ruhiger. „Und das soll nicht weh tun?“ Harry sah auf, Tränen auf den Wangen, doch das Gesicht in Rebellion und Wut verzogen. „Ich ...“ Severus wandte den Kopf ab. Das war ja nicht mitanzusehen. „Kannst du nicht verstehen, dass das für dein Bestes ist?“ „Kann ich nicht selbst entscheiden, was das Beste für mich ist?“ Aus Harrys Stimme floss Spott. „Nein“ Severus verschränkte die Arme. „Nicht, wenn du ernsthaft lieber hier bleiben willst als Teil einer Familie zu werden.“ Harry schnaubte und ließ den Blick zu Boden fallen. Von seinen Lippen kam das resignierte Murmeln: „Familie ...“ „Es gibt auch gute Familien. Liebende Familien. Du verdienst eine“ Er verdiente auf jeden Fall etwas Besseres als einen potthässlichen, griesgrämigen, alten Mann. „Das ist das einzig Richtige in dieser Situation“ Er wusste, was seine Pflicht war. Bei aller Verschrobenheit wusste er zumindest, was richtig und was falsch war. „Und was bringt mir eine liebende Familie, wenn ich sie nicht haben will?“ Auch Harry hatte die Arme verschränkt. Einen Moment lang sah Severus sich selbst dort sitzen. Sechzehn Jahre, sein Aufnahmegespräch an der Uni. Warum er so weit von seiner Familie weg gezogen wäre? Weil Familien Zweckgemeinschaften seien, deren Sinn und Nutzen die Aufzucht von Kindern sei. Ab dem Eintritt ins Erwachsenenalter verliere diese Zweckgemeinschaft ihre Notwendigkeit. Als Kind hatte er gerne bereits im Wortlaut des Gesetzestextes gesprochen. Wahrscheinlich hatte ihm das trotz seiner miserablen sozialen Ader sein Stipendium eingebracht. Er erwiderte: „Dir macht der Gedanke Angst, dass jemand dich lieben könnte. Du hast den Glauben daran schon aufgegeben.“ „Du doch auch“, erwiderte der Junge mit Gift und Wut in der Stimme. Diesmal erwischte das Blag die Ohrfeige nicht nur in Severus Vorstellungen. Kapitel 3: Jugendamt -------------------- „Jugendamt London, Bezirk 13, guten Tag.“ „Snape, guten Tag“ Er holte tief Luft und schaltete innerlich auf seinen Sozial-Modus. „Ich habe aktuell einen minderjährigen Asylanten bei mir wohnen. Er braucht eine Pflegefamilie“ Er war nie ein Mann vieler Worte gewesen. „Äh … eine Sekunde“ Man konnte leise Stimmen im Hintergrund hören. „Sind Sie noch dran?“ „Natürlich“ Was sollte er schon groß zwischendurch getan haben? „Für Asylanten ist das Sozialamt zuständig. So eine Pflegefamilie gesucht werden sollt, muss das Sozialamt einen Antrag bei uns stellen. Wie alt ist das Kind denn?“ „Fünfzehn“ Er hielt nur schwerlich ein Knurren aus seiner Stimme. Anträge zwischen verschiedenen Ämtern? Wie viele Monate sollte das denn dauern? „Wann wird er sechzehn?“ Severus schlug den Ausweis auf, den er sich schon zurecht gelegt hatte. Als Datum war dort der einunddreißigste Oktober eingetragen. Er erinnerte sich, wie die Dame im Konsulat verzweifelt versucht hatte, ein Datum aus Harry zu bekommen. Er kannte seinen Geburtstag auch nicht, er wusste nur, dass das Datum wichtig war. Also hatten sie das genommen. „Das ist ja schon bald“, meinte der Mann erleichtert, „dann kriegt er eh eine eigene Wohnung. Bei Sechzehnjährigen suchen wir keine Unterkunft mehr. Ne, wahrscheinlich wird man ihn eher im Asylantenwohnheim belassen. Wir haben davon einige hier in London.“ „Aber er braucht eine Familie“ Severus presste die Lippen zusammen. Wie konnte er das ausdrücken, ohne erbärmlich zu klingen? „Er … hat nicht viel Liebe erlebt.“ „Das hat keines der Kinder, die wir betreuen. Und ehrlich gesagt können wir Ihnen auch selten welche bieten“ Der Mann seufzte. „Von uns gibt es ein Bett, ein Dach über dem Kopf und ein relativ gewaltfreies Umfeld. Aber Aufmerksamkeit oder Liebe können wir leider auch nicht her zaubern. Dafür sind wir zu überlastet. Wenn der Junge das bei ihnen kriegt und sie manchmal mit ihm reden, ist er bei Ihnen besser aufgehoben als alles, was wir bieten können. Warum möchten Sie ihn denn abgeben?“ Severus quetschte in seiner freien Hand einen Kugelschreiber. Bei dieser Frage gab dieser ein gefährliches Knacken von sich. Was sollte er sagen? „Sind Sie noch dran?“, fragte der Mann wieder. „Ja“ Diesmal ließ Severus das Knurren nicht aus seiner Stimme. „Ich habe … ich will den Jungen nicht verletzen. Ich weiß nicht, ob ich das kann“ Eigentlich war er ziemlich sicher, dass er es tun würde. Auch mehr als diese Ohrfeige gestern, für die er sich am liebsten selbst zusammen schlagen würde. Allein Harrys erschrockener Blick … „Wie wäre es, wenn wir Ihnen mal einen Mitarbeiter vorbei schicken? Der kann mit Ihnen besprechen, wie Sie Situationen vermeiden können, die für Sie beide gefährlich werden können. Wir haben auch ein sehr gutes Zentrum für Aggressionsbewältigung nahe der Innenstadt. Ich kann Ihnen gerne ein paar Unterlagen zukommen lassen.“ Ein Zentrum für Aggressionsbewältigung. Das klang ungefähr so ansprechend wie eine Malgruppe, um seine Gefühle künstlerisch zum Ausdruck zu bringen. Andererseits … es konnte nicht schaden, sich zumindest mal ein Prospekt durchzulesen. So lange er vermeiden konnte, dass irgendwelche Jugendamtsmitarbeiter meinten, in seinem Haus ein und aus spazieren zu können. „Haben die eine Internetseite?“ „Wenn Sie Zentrum für Aggressionsbewältigung in London bei Google eingeben, sind die der erste Treffer. Ist nicht schwer zu finden“ Zufriedenheit klang in der Stimme des Mannes mit. War das etwas, auf das andere nicht eingingen? Hatte er das Gefühl, über Severus zu triumphieren? „Sollten Sie mal Hilfe brauchen oder Fragen haben, rufen Sie einfach an.“ Vielleicht. Dafür, dass er gerade einem Mitarbeiter des Jugendamts gesagt hatte, dass er möglicherweise ein Kind schlug, reagierte der Mann unerwartet gelassen. Wahrscheinlich nahm er ihn nicht ernst. Ohne eine Verabschiedung legte Severus einfach auf. Harry hatte gekocht, als er zurück kam. Es war nur Reis mit Ei und Gewürzen, aber es schmeckte erstaunlich gut. Severus schaffte es sogar, ein Kompliment dazu hervor zu bringen, dass Harry breit lächeln ließ. Es war einfach zu anstrengend, sozial sein zu müssen. Erst als er darüber nachdachte, über das Gespräch zu erzählen, wurde ihm klar, welche Implikationen es hatte. Es gab keine Pflegefamilie für Harry. Wenn er also nicht wollte, dass man Harry allein in eine Wohnung irgendwo im Nirgendwo steckte, würde er hier bleiben. Es ließ Severus einen Moment lang auf seinen nun leeren Teller starren, während er das Gefühl von Verzweiflung von seiner Miene fern hielt. Harry beobachtete ihn still von der anderen Seite des Tisches. Ausdruckslos. Vielleicht etwas vorsichtig. Der Blick einer Katze, die noch überlegte, ob wegrennen oder sitzen bleiben die richtige Entscheidung war. Konnte er den Jungen ins Asylantenwohnheim stecken? Er wusste nicht, wie es dort aussah, aber ehrlich gesagt konnte er es sich denken. War das wirklich das Leben, das er Harry geben wollte? Allein in einer fremden Stadt, einem fremden Land, wo niemand seine Sprache sprach? Zusammen mit Flüchtlingen aus Afrika, dem mittleren Osten und einigen verlassenen asiatischen Gegenden? Er hatte im Studium natürlich auch über Asylrecht gehört. Man hatte ihnen ein paar Bilder gezeigt … das war kein Leben, dass er für Harry wollte. Von einem Amt zum nächsten für Essen und um zum Sprachkurs gehen zu können und um irgendwo hingehen zu dürfen, das war kein Leben. Keins gegen das, das er Harry bieten konnte. Aber das hieß, dass er ihn hier behalten müsste. Dass er lernen musste, seine Anwesenheit zu ertragen. Er war so in Gedanken versunken, dass er gar nicht bemerkte, dass Harry aufgestanden und hinter ihn getreten war. Warme Hände legten sich auf seine Schultern und begannen, sanfte Kreise über seine Haut zu ziehen. Kurz schoss Severus in den Kopf, dass das ein weiterer Ausdruck von Harrys Angst und Verzweiflung war, aber einen Moment später wurde es ihm egal. Er ließ den Kopf nach vorne sacken und atmete tief aus. Die Daumen in seiner Schulter waren schmerzhaft. Aber er wusste, dass der Druckschmerz seinen Dauerschmerz vertreiben würde. Der Moment der Entspannung, der auf den Schmerz folgte, war schier unglaublich wertvoll. Es war zu lange her, dass er jemand anderem seinen Körper anvertraut hatte. Ehrlich gesagt konnte er sich nicht erinnern, wann er das letzte mal eine Massage außerhalb von Vorspiel gehabt hatte mit Ausnahme von letzter Woche. Vor zehn Jahren? Zwanzig? Eher da. Und Harry schaffte es zwanzig Jahre Verspannung aus ihm heraus zu holen. War es wirklich so schlimm, ihn zu behalten? Die Anspannung, die er verursachte, konnte er doch anscheinend wieder beheben. Irgendetwas nagte an Severus Gedächtnis, das sagte, dass das hier eine ganz schlimme Idee war, aber er schaffte es nicht, den Gedanken zu greifen. Er versuchte es auch nicht mit allzu viel Elan. Als Harry sein Hemd aufknöpfte, nahm er es einfach nur zu Kenntnis. Wärme. Haut. Berührung. Es schien so lange her, dass er das ohne den bitteren Geschmack der Bezahlung gefühlt hatte. Selbst bei seiner Frau hatte es sich falsch angefühlt. Sie waren zusammen gewesen, weil man halt mit jemandem zusammen zu sein hatte. Sie hatten geheiratet, weil man das nach einiger Zeit nunmal so tat. Da war nie Liebe oder Leidenschaft zwischen ihnen gewesen. Nicht einmal Freundschaft. Sie waren beide stolz gewesen, eine Beziehung zu führen. Sie waren beide nie daran interessiert gewesen, diese Beziehung miteinander zu führen. Hätte sie sich nicht verliebt und wäre Hals über Kopf abgehauen, vielleicht würden sie sich heute noch anschweigen. Sie hatten miteinander geschlafen, weil man das halt tat, wenn man verheiratet war. Er konnte sein altes Selbst nur verhöhnen. Was war er doch für ein Trottel gewesen. Zu zugeknöpft, um jemanden an sich heran zu lassen. Zu erbärmlich schwach, um der Welt den Rücken zu kehren und für sich allein zu leben. Und so pendelte er zwischen karriereorientierten Einsiedler und einsamen Nachtschwärmer auf der Suche nach offenen Armen. Wohin hatte ihn das gebracht? In die Hände eines fünfzehnjährigen Bengels. „Besser?“, fragte eben dieser ihn, warme Hände auf den entspannten Muskeln liegend. „Du kannst bleiben“, erwiderte Severus nur. Der Rest der Woche verlief friedlich. Harry lernte, Besteck zu benutzen und was im Supermarkt wo zu finden war. Vor allem begann er, interessante Gerichte zu kochen, nachdem Severus ihm ein Kochbuch für westliche Küche auf Thai bestellte. Die Lesefähigkeiten des Jungen verbesserten sich stetig. Und so lange er Severus abends für eine Massage unter seine Finger bekam, war er ausgeglichen und fröhlich. Er wurde nicht einmal von einem barschen Tonfall verängstigt. Entgegen aller Erfahrungen schien der Junge erstaunlich resistent gegenüber einer aggressiven Körperhaltung und einer abwertenden Stimmlage. Es war Samstag Abend, als Severus feststellte, dass ein Teil davon nur Fassade war. Lydia hatte ihm einen sozialen Tag gelegt, sodass er zwei Besprechungen zum Brunch, zwei zum Mittagessen und noch drei am Nachmittag hatte. Nicht nur war das auslaugend viel, er hatte auch noch mehrfach essen müssen, sodass zu der sowieso vorhandenen Migräne auch noch Übelkeit dazu kam. Als Harry ihn also zur Begrüßung fragte, was er essen wolle, hörte er nur „Schieb dir dein Essen sonst wo hin und geh mir aus den Augen!“. Drei Stunden später ging es ihm insoweit besser, dass er zumindest auf die Idee kam, mal nach Harry zu sehen. Dieses mal versetzte es ihn nicht in Panik, dass er ihn nicht fand. Der Junge hatte anscheinend gelernt, dass Weglaufen bei Gefahr eine gute Idee war. Intelligentes Kind. Seine Mutter war nie auf die Idee gekommen, ihn zu nehmen und einfach nicht da zu sein, wenn ihr Mann nach Hause kam. Andererseits hätte es wahrscheinlich noch mehr Prügel gehagelt. Er verfluchte sich dreifach, dass er dem Jungen noch kein Prepaid-Handy um den Hals gehangen hatte und machte sich auf den Weg, ihn zu suchen. Diesmal fand er ihn im Park. Zusammen gerollt auf einer Parkbank und heftig zitternd. Es war ein erbärmlich genug aussehender Anblick, dass er eine Hand auf die Schulter des Jungen legte. Natürlich ließ es diesen von ihm weg zucken, bevor er die Lider geöffnet und ihn erkannt hatte. „Bist du noch sauer?“, fragte Harry leise. „Ich bin nicht sauer“ Severus zog seinen Mantel aus und legte ihn dem Jungen um. Er hatte ihm immer noch keine Winterjacke gekauft. Er hatte das für heute geplant, aber die vielen Termine waren ihm zuvor gekommen. „Ich habe Kopfschmerzen. Die habe ich immer, wenn ich am Tag viel reden muss“ Er hatte sich diese Worte extra zurecht gelegt. „Ich werde unleidlich, wenn ich Kopfschmerzen habe.“ Das Lächeln des Jungen hätte Schnee schmelzen können. Severus legte nur einen Arm um dessen Schulter und brachte ihn zum Auto mit den Worten: „Komm zurück, bevor du dich erkältest.“ Er hatte Sonntag mit Harry geredet und es hatte ihm keine Migräneattacke eingebracht. Der Junge war irgendwie weniger kompliziert als die meisten anderen Menschen. Vielleicht, weil er ihn und seine Launen kannte und Severus daher seine Zunge nicht völlig im Zaum halten musste. Aber es machte Harry nicht sicher vor ihm. Wäre er Samstag nicht abgehauen, wer wusste schon, was er mit dem Jungen gemacht hätte. Er hasste seinen Job und dass er sozial sein musste, um ihn zu behalten und er hasste sein verpfuschtes Leben und vor allem hasste er sich selbst. Wenn dann noch Migräne dazu kam, war Harry ein zu leichtes Ziel. Und so starrte er auf die Internetseite des Zentrums für Aggressionsbewältigung. Ehrlich gesagt konnte er nicht fassen, dass er sie wirklich aufgerufen hatte. Aber als sich beim Hochfahren automatisch Google geöffnet hatte, hatte er es irgendwie eingetippt. Hatte er ein Aggressionsproblem? Sein Vater hatte fraglos eins gehabt. Er war mit Gewalt aufgewachsen. Er hatte Harry gegenüber Gewalt angewendet. Er könnte natürlich sagen, dass es nur eine Ohrfeige gewesen war, aber er hatte das Gefühl, dass sein Vater auch irgendwann mal mit einer Ohrfeige angefangen hatte. Er schnaubte. Wen wollte er denn belügen? Außer Lydia mied jeder in dieser Kanzlei, ihm auch nur auf drei Meter nahe zu kommen. Sie fürchteten ihn und seine Häme. Er musste nicht zuschlagen, um gewalttätig zu sein. Und Harry hatte er sogar geschlagen. Wenn er kein Aggressionsproblem hatte, würde es wirklich schwer werden jemanden zu finden, der eins hatte. Einzelgespräche, Gruppengespräche, Selbsthilfegruppe … anrufen und sich informieren. Die Informationen reichten ihm eigentlich, um zu verstehen, dass er um das Reden mit mindestens einem Menschen nicht herum kommen würde. Anrufen und einen Termin ausmachen … er schloss die Internetseite und nahm seinen Kaffee, um sich ans Fenster zu stellen. Die Aussicht zeigte ihm eine Betonwand. Er hatte es stets als passend empfunden. So fühlte sich auch sein Leben an. Er hatte immer etwas Großes werden wollen. Und er hatte es auch weit gebracht – er arbeitete bei der berühmtesten Kanzlei für Wirtschaftsrecht auf der ganzen Welt. Er könnte nun zu einer politischen Laufbahn wechseln, aber sowohl wollte er nicht noch sozialer werden müssen, auch war ihm die Anerkennung nicht wichtig. Der einzig höhere Job war der Chef der Kanzlei, aber den wollte er nicht haben. Nicht nur müsste er alle Anwälte koordinieren, auch müsste er von einem sozialen Event zum nächsten. Kurzum: Er hatte alles erreicht, was man erreichen konnte. Er hatte den höchsten Job, der er bekommen konnte, er hatte ein Haus, er hatte genug Geld, um schier endlos lang im Luxus leben zu können, wenn er denn wollte. Nur hatte er auf die harte Art lernen dürfen, dass das nicht glücklich machte. Jetzt war er fast vierzig, vollkommen unleidlich und hatte jeden Menschen von sich gestoßen, der je versucht hatte, ihn kennen zu lernen. Bei Lydia hätte er vielleicht noch eine Chance. Und bei Harry, wenn er es schaffte, weniger aggressiv zu werden. Er wusste das alles, aber er war trotzdem nicht in der Lage, das Telefon zu nehmen und diese Nummer anzurufen. Er war genau derselbe feige Hund, der er immer gewesen war. Er rannte jetzt weg, obwohl es lange zu spät war, um noch wegzurennen. Er wusste das alles und es war nur Zündstoff für den Hass auf sich selbst. So viel Selbsteinsicht hatte er noch. Er hatte sich völlig verrannt. Er wusste, er war unleidlich und er wusste, es gäbe die Möglichkeit das zu ändern, aber diese Veränderung machte ihm weit mehr Angst als der Schmerz über seine Unleidlichkeit groß war. Wer wäre er denn, wenn er nicht der unleidliche Severus Snape wäre? Was für einen Wert hätte sein Leben dann? Eine Gift und Galle spuckende Leitfigur des Hasses zu sein, das war so lange seine Rolle gewesen, dass er sich in keiner anderen vorstellen konnte. Allein der Gedanke, einsehen zu müssen, dass das vielleicht der falsche Weg gewesen war … war nicht der Hass darüber, sein Leben für vierzig Jahre verpfuscht zu haben nicht so schlimm wie der Hass, ein unleidlicher Mensch zu sein? „Chef?“ Lydia klang sehr unsicher. Wahrscheinlich hatte sie geklopft, wie immer keine Antwort bekommen und war herein gekommen, nur um ihren Chef auf eine Betonwand starren zu sehen. Es reichte wohl nicht, dass er unleidlich war, jetzt musste sie ihn auch noch für gestört halten. „Ich denke“ Er drehte sich zu ihr. „Wahrscheinlich ist es gut, wenn Sie mich unterbrechen. Was steht für heute an?“ „Mister Johnson wünscht, dass Sie Kalebirths Arbeit überprüfen. Ich habe Ihnen einen entsprechenden Ordner fertig gemacht“ Sie legte ihm diesen auf den Schreibtisch und die schwarze Mappe mit seiner eigenen Arbeit daneben. „Korrespondenz in Fach eins, Verträge zur Überprüfung in Fach zwei, neue Aufträge in Fach drei und BlackRock in Fach vier. Außerdem hat ihr Assessment-Manager gebeten, dass Sie ihn anrufen“ Sie sah vorsichtig zu ihm und musterte sein Gesicht für einen Moment. „Kann ich etwas für Sie tun?“ „Haben Sie Angst vor mir?“, fragte er sie aus einem Impuls heraus. „Man muss Sie zu nehmen wissen, Sir“ Sie zog die Kladde, die sie immer trug, vor ihre Brust. Er bemerkte zum ersten mal, dass sie ein pastellfarbenes Ensemble aus Jackett und Rock trug, das ihrer Figur schmeichelte. Er hatte eine hübsche Sekretärin. „Nach der Hälfte Ihres sozialen Tages sollte man Sie nicht mehr anrufen.“ Äußerst diplomatisch gesprochen. Allein das sagte ihm, dass die Antwort weit mehr zu ja als zu nein tendierte. Allein, dass er sich nicht wie sonst benahm, machte ihr Angst. Er seufzte und setzte sich, damit er weniger bedrohlich wirkte und ein Tisch zwischen sie kam. Er war kurz davor, sie hinaus zu schicken, als er doch noch fragte: „Denken Sie, ich kann mich ändern?“ Er sah nicht hoch, um nicht direkt von der Ablehnung in ihrem Gesicht getroffen zu werden, aber als sich ihre Pose entspannte, musste er der Versuchung doch nachgeben. Sie lächelte. Das ehrliche, offene Lächeln, dieses belohnende Lächeln, dass auch Harry ihm am Samstag gegeben hatte. Sie sagte: „Jeder kann sich ändern. Es ist nie zu spät dafür.“ Er nickte nach einigen Sekunden des Schweigens. Sie nahm es als ihr Zeichen zu gehen. Ihr Schritt hatte plötzlich etwas Leichtes, als hätte er ihr den ganzen Tag gerettet mit seiner Frage. „Londoner Zentrum für Aggressionsbewältigung, was kann ich für Sie tun?“ Beinahe hätte Severus wieder aufgelegt. Er war nah genug dran, es aus Häme zu tun, weil zweimal besetzt gewesen war. Er wusste selbst, das war kindisch. Aber lieber war er kindisch als die Realität zu akzeptieren, wo er in dieser Beratungsstelle anrief. Er schalt sich einen Feigling. „Ich … denke, ich brauche einen Termin bei Ihnen.“ „Wollen Sie mir persönlich erzählen, mit was sie zu kämpfen haben oder möchten Sie lieber am Telefon sprechen?“ Ich möchte gar nicht mit Ihnen sprechen. Allerdings sprach er diesen Gedanken nicht aus. Stattdessen sagte er: „Was muss ich Ihnen denn erzählen?“ „Den Grund, warum sie anrufen. Damit ich einordnen kann, was Ihr Problem ist und wie wir Ihnen am besten helfen können“ Dass das prinzipiell logisch klang, half nicht, mehr über sich selbst zu sprechen. „Wenn Sie noch nicht bereit sind, darüber zu reden, möchte ich Sie einladen in unsere Selbsthilfegruppe, damit Sie unsere Arbeit kennen lernen können. Sie können sonst auch zu einem anderen Zeitpunkt nochmal anrufen, um mit einem anderen Berater als mich zu sprechen.“ „Ich möchte möglichst wenig mit anderen Menschen zu tun haben“ Er spürte schon jetzt den Beginn einer Migräneattacke. Dabei hatte er nicht einmal seinen Namen genannt. Anonyme Beratung und Schweigepflicht waren die zwei Formulierungen, die ihn dazu bewegt hatten, doch anzurufen. „Wie kommt das?“ Der Mann war freundlich und interessiert. Wahrscheinlich hatte man ihn deshalb ans Telefon gesetzt. Er gab einem das Gefühl, reden zu wollen. Severus gab es ein Ziehen an der linken Schläfe. „Ich kriege Migräne, wenn ich mit Menschen reden muss“ Dass er schon jetzt die Zähne zusammen biss, gab ihm den Beginn eines pochenden Schmerzes. „Ich werde aggressiv, sobald ich Migräne kriege.“ „Dann sollte ich sie wohl nicht dazu zwingen, zu lange mit mir zu sprechen“ Wahrscheinlich hatte der Mann die Veränderung im Tonfall gehört. „In dem Fall sind Gruppen wahrscheinlich etwas viel für Sie. Trauen Sie sich zu, an einem Einzelgespräch teilzunehmen? Die dauern bei uns fünfzig Minuten. Die Gespräche können über die Krankenkasse abgerechnet werden, Sie müssen also nichts zahlen. Nur erscheinen.“ „Wann?“, fragte er nur. Seine soziale Geduldsspanne war fast aufebracht. „Sekunde“ Er blätterte. „Morgen um neun Uhr bei meinem Kollegen oder Donnerstag bei mir um elf Uhr.“ „Donnerstag“, entschied er spontan. Der Mann klang wie das kleinere Übel. „Habe ich markiert. Bitte bringen Sie ihre Krankenversichertenkarte und ihre Migränemedikation mit. Die Chance, dass Sie nach dem Gespräch eine Migräneattacke haben, ist hoch.“ Ach wirklich, Sherlock. Das hätte er ja gar nicht erwartet. Er brummte ein zustimmendes Geräusch und legte auf. Mit einer weiteren Handbewegung fegte er das Telefon vom Tisch gegen die nächste Wand. Wie jeden Abend stand Harry lächelnd in der Tür, als er nach Hause kam. Als würde er nur auf das Geräusch des Automotors warten. Diesen Abend begann er nicht zu plappern sondern trat still zur Seite und half Severus aus seinem Mantel. Als Severus die Hand nach ihm ausstreckte, verkrampfte er sich, aber entspannte wieder, als dieser ihm nur durchs Haar fuhr. „Ich gehe mir ein paar Schmerztabletten holen“, murmelte Severus und ging hoch ins Bad. Das Telefonat heute hatte für eine Migräne vollkommen ausgereicht und auch fünf weitere Stunden ruhiger Arbeit hatten wenig positiven Effekt gehabt. Nicht dass konzentriertes Arbeiten als eine effektive Maßnahme gegen Migräne bekannt wäre. Er nahm zwei höchstwahrscheinlich völlig nutzlose Tabletten, legte Jackett und Krawatte ab und machte sich zurück nach unten. Harry saß im Wohnzimmer über seinem Lehrbuch, neben ihm ein Übungsbuch und ein Block. Als er Severus sah, reichte er ihm den Block und wartete erwartungsvoll. Severus nahm diesen und las dort in reichlich schludrigem Thai »Hast du Kopfschmerzen? Sprechen ist schlecht bei Kopfschmerzen?«. Er musste lächeln. Das kleine Biest war gar nicht so dumm. Am liebsten war er einfach allein in einem dunklen Raum, bis die Migräne nachließ, aber möglicherweise war das hier nicht allzu schlimm. Er könnte es austesten. »Ich habe Kopfschmerzen und Sprechen ist schlecht. Ich weiß nicht, ob Schreiben gut ist. Wir können es ausprobieren.« Als er Harry den Block zurück gab, schenkte ihm dieser wieder eines dieser glücklichen Lächeln. Severus hatte nie viel auf so etwas gegeben, aber so ein ehrliches Lächeln ließ selbst ihn irgendwie besser fühlen. Es könnten natürlich auch die Schmerztabletten sein. »Ich muss Schreiben üben. Die Lehrerin findet viele Fehler.« Das konnte er sehen. Harry war wirklich ungefähr auf dem Niveau eines Zweitklässlers. Seine Schrift war eine einzige Sauklaue und er hatte viele kleine Fehler darin. Man verstand, was er sagen wollte, aber in einer Arbeit hätte das trotzdem höchstens ein Ausreichend bekommen. Sie schrieben mehrere Nachrichten hin und her, in denen Severus ihm einige seiner Fehler erklärte. Harry gab es irgendwann ganz auf so zu tun, als würde er in seinem Buch lesen und setzte sich neben Severus auf die Couch, um mitzulesen. Die Wärme neben ihm hinterließ gleichzeitig ein Prickeln und ein Schaudern. Harry schien so nah und doch so fern. Er war direkt da, aber er durfte doch nicht hin langen. Wie ein duftender Kaffee, gefüllt mit Arsen. Die Wärme tat gut, aber er wusste, mehr durfte er nicht haben. Jetzt nicht. Vielleicht irgendwann. Vielleicht konnte er irgendwann gut genug sein, damit … solche Hirngespinste sollte er sich aus dem Kopf schlagen. Ihre Konversation erlosch irgendwann, sodass Severus sich ein Buch holte und sich damit zurück auf die Couch setzte. Harry drehte seine Unterlagen so, dass er neben Severus sitzend weiterlernen konnte. Nachdem er seine Übungen fertig hatte, nahm er den mittlerweile fast ausgelesenen thailändischen Roman und lehnte sich zurück, um ihn zu lesen. Das ließ ihn Schulter an Schulter mit Severus sitzen. Genau genommen ließ es ihn nach einigen Minuten an Severus lehnend sitzen. Er versuchte sich stur auf sein eigenes Buch zu konzentrieren, aber seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Er war nur froh, dass seine Migräne verhinderten, dass diese Gedanken tiefere Regionen erreichten. „Kalebirth“, sagte Severus anstatt eines Grußes. „Guten Morgen, Mister Snape“ Der Andere nahm tief Luft als würde er sich auf einen Kampf vorbereiten. Wahrscheinlich hatten ihn die Kollegen schon vorbereitet, was es hieß, wenn der Chef die eigene Arbeit von ihm überprüfen lassen ließ. Das war nicht konstruktiv gemeint. Es war eine Strafe. Das wusste Kalebirth und das wusste Severus. „Ich habe mir die von Ihnen erstellten Verträge angesehen“ Severus legte den Ordner vor dem Anderen auf den Schreibtisch. „Sie sind freundlich gesagt Müll. Sowohl fehlen mehrere Sicherheitsklauseln als auch haben Sie Fehler in der Berechnung des erwarteten Gewinnausschusses gemacht“ Er fuhr fort mit seiner Kritik. Er hatte genug Munition. Kalebirth war ein Idiot. Zuerst begegnete der Andere seinem Blick noch. Man sah die Abwehr, die Wut, die Demütigung in seinem Blick. Er wusste, er musste es über sich ergehen lassen. Er nahm sowieso nichts von dem auf, was Severus sagte, das war klar. Es hielt diesen nicht davon ab, diese Tirade fortzuführen. Aus der Rebellion wurde Scham. Aus der Scham Verzweiflung. Zum Ende hin kämpfte Kalebirth mit den Tränen. Nach diesem grässlichen Gespräch am vorherigen Tag genoss Severus den Anblick. „Am schlimmsten von allem ist Ihre Inkompetenz, einfache mathematische Formeln anzuwenden. Wirtschaftsrecht beruht auf der Fähigkeit, wirtschaftliche Berechnungen anzustellen. Das ist keine hohe Kunst, dafür benötigen Sie kein Mathestudium. Dreisatz lernt man spätestens in der achten Klasse. Jeder Schüler würde das besser hinkriegen al-“ „Das reicht!“ Kalebirth schlug seine Hände auf die Ohren als könne er damit den Rest der Welt ausblenden. „Ich weiß, dass Sie mich nicht leiden können.“ „Dass ich Sie nicht leiden kann, hat nichts mit Ihrer Fähigkeit des Rechnens zu tun. Dass Sie ein mathematischer Reinfall sind, ist eine objektive Feststellung und ist unabhängig von der Tatsache, dass ich Sie für eine rückradlose Amöbe halte.“ „Und Sie sind besser, ja?“ Der Jüngere ballte seine Hände zu Fäusten. „Wer von uns hat einen Stricher aus Thailand mitgebracht und gibt ihn jetzt als seinen Sohn aus, um ihn vögeln zu können? Meinen Sie wirklich, Sie können mir Predigten halten?“ „Vollkommen“ Severus warf ihm einen Blick zu, der ihm sagen sollte, dass er gerade selbst den letzten Funken Respekt verloren hatte. „Meine Fähigkeit, ihre mathematischen und juristischen Kompetenzen zu beurteilen, hat keinerlei Bezug dazu, was ich in meinem Privatleben tue. Und ich würde Ihnen raten, noch einmal stark darüber nachzudenken, mit was für Anschuldigungen Sie um sich werfen.“ Man konnte Kalebirths Adamsapfel auf und ab wandern sehen. Sein Körper zog sich von Severus weg in sich zusammen, ohne dass er dabei einen Schritt nach hinten nahm. Das war schon fast zu einfach gewesen. „Lesen Sie meine Anmerkungen und setzen Sie sie um. Wie Ihre Kollegen Ihnen vielleicht schon mitgeteilt haben, das ist Ihre letzte Chance. Nach mir kommt nur noch der Rausschmiss“ Er wandte sich um und ging. Solche Gespräche ließen ihn stets erfrischt und bestärkt zurück. „Guten Tag“ Ein Bär von einem Mann schüttelte ihm die Hand. Von der Stimme her nicht der, mit dem er telefoniert hatte. Plus der Tatsache, dass dieser Slang statt Hochenglisch sprach. „Willkommen im Zentrum für Aggressionsbewältigung. Schon 'nen Termin?“ „Um 11 Uhr bei Ihrem Berater, der mir seinen Namen nicht verraten hat“ Severus hatte das Bedürfnis, seine Hand zu desinfizieren. „Ah, bestimmt Remus“ Der Mann lächelte breit. Er war zu fröhlich für Severus Geschmack. Er blätterte in einem kleinen Buch. „Hier, 11 Uhr. Unbekannter, bitte Karte einlesen. Jopp, dann brauch' ich 'ne Karte.“ Severus unterdrückte das tiefe Seufzen, als er seine Krankenversichertenkarte überreichte. Da ging seine Anonymität dahin. Wenigstens hatte sein Berater Schweigepflicht. Und war hoffentlich besser dressiert als dieser Dummkopf vor ihm. Wer stellte denn so jemanden als Sekretär ein? Als Türsteher würde er sich vielleicht noch machen, aber dafür war er vermutlich zu lieb. Nun ja, vielleicht war er für die Sicherheit hier zuständig. In einem Zentrum für Aggressionsbewältigung ging wahrscheinlich nicht immer alles reibungslos vonstatten. „So, fertig. Dann schreib' ich dem Remus doch mal, dass Sie da sind“ Der Mann begann etwas in ein Smartphone zu tippen, was in seinen Händen kaum größer als ein Keks wirkte. „Remus kommt dann gleich.“ „Kann ich meine Karte zurück bekommen?“ Severus wies auf die noch immer im Lesegerät steckende Karte. „Oh ja, sorry“ Der Mann zog diese heraus und gab sie zurück. „Ich bin ein bissel vergesslich, eh? Na ja, dem Remus habe ich geschrieben. Sein Büro ist das da“ Er wies auf eine Tür rechts hinter sich. „In dem Raum da sind Stühle, falls sie sitzen wollen“ Er wies zu einem großen Gruppenraum links von sich, dessen Tür offen stand. „Und falls Sie was brauchen, mein Name is' Hagrid.“ Wo war er hier gelandet? Er ging zum Gruppenraum, nicht weil er sitzen wollte sondern um von diesem Mann wegzukommen. Der Raum selbst enthielt Platz für einen Stuhlkreis von zehn bis fünfzehn Stühlen. An den Wänden hingen beschriebene Pappen, Zeichnungen, Briefe und schlecht gemachte Werbeplakate. Eine Pappe war groß mit »Gruppenregeln« beschriftet. Wahrscheinlich fanden in diesem Raum die Selbsthilfegruppen statt. Er las sich alles durch, was er finden konnte. Nicht aus Nervosität. Rein aus Langeweile. Er war nicht nervös. Er wanderte durch den Raum und las. Kapitel 4: Aggressionen ----------------------- Er war fast vierzig Jahre alt, ein gestandener Mann und trug einen Anzug. Er war ein feiner englischer Gentleman – zumindest, bis er den Mund öffnete. Er war vielleicht grottenhässlich, aber zumindest hatte er Stil. Selbst sich das zu sagen ließ ihn allerdings nicht besser fühlen. „Sir?“ Er drehte sich zu der Stimme, der der am Telefon stark ähnelte. Im Türrahmen stand ein Mann in seinem Alter, aber das war auch schon jegliche Ähnlichkeit, die sie aufwiesen. Der Andere hatte keinerlei nennenswerte Frisur bei mittelbraunem Haar, Gesichtskluften in der Anordnung von Lachfalten und trug Jeans zu einem ausgewaschenen, karierten Holzfällerhemd. Für Severus war er der Inbegriff einer gescheiterten Existenz. „Ich bin Remus Lupin. Wir hatten telefoniert. Err … folgen Sie mir doch, bitte.“ Warum war er hier? Was machte er hier? Warum war er noch nicht gegangen? Er folgte dem Mann in ein Büro in der Größe seiner Abstellkammer. Ein kleiner Rundtisch, zwei Stühle, im hinteren Teil ein Schreibtisch mit einem Computer in einem Telefon, wie es in seiner Kanzlei vor fünfzehn Jahren aussortiert worden wäre. Er betrachtete den Plastikstuhl, auf dem er Platz nehmen sollte, mit Abscheu, bevor er sich nach einem Moment der Reluktanz setzte. „So … normalerweise duzen wir unsere Patienten, um die Anonymität zu wahren. Ist das in Ordnung für Sie?“ Zumindest war die Frage mit einer sehr guten Portion Selbstzweifel gestellt. Severus hob nur eine Augenbraue. „Ich vermute nicht. Darf ich Sie Mister Snape nennen?“ Er nickte langsam. Selbst wenn sein Chef erfahren würde, dass er hier war, würde er wahrscheinlich eher Luftsprünge machen statt ihn anzuzweifeln. Dass er mit Menschen nicht zurecht kam, war jedem in der Kanzlei hinreichend bekannt. Ein Grund, warum man vor allem die schweren Kunden an ihn abschob. Und solche Mitarbeiter wie Kalebirth. „Möchten Sie mir genauer über sich berichten?“ War das eine ernst gemeinte Frage? Die Antwort war nein. „Nun … ich kann auch erstmal sprechen und Sie antworten auf meine Fragen mit Nicken und Kopfschütteln?“ Der Mann sah etwas eingeschüchtert aus. Aber nicht eingeschüchtert genug, um es nicht weiter zu versuchen. Nun gut, er war schließlich auch Therapeut für Aggressionsprobleme. Da sollte man wohl besser nicht so einfach aus dem Konzept zu bringen sein. Er nickte. Einmal. Und behielt die Mimik, die er stets bei Verhandlungen aufsetzte. Streng, konzentriert, hart. „Viele Leute kommen in die Beratung, weil ein Therapeut sie schickt oder weil die Ehefrau oder Freundin droht, sich zu trennen, wenn man nicht kommt. Hat Sie jemand geschickt?“ Kopfschütteln. „Sie sind aus Eigenmotivation gekommen. Das ist sehr gut. Das ist eine gute Voraussetzung“ Der Mann lächelte. Severus nicht. „Ja … Sie denken also selbst, dass Sie Aggressionen haben, die Sie reduzieren sollten?“ Severus hielt sich davon ab, die Augen zu verdrehen. Er nickte nur. „Sie haben auf jeden Fall eine Aura, die mir Angst einjagt. Geht es darum oder haben Sie auch körperliche Gewalt angewandt?“ Severus hob eine Augenbraue. Wie sollte er auf die Frage mit Ja oder Nein antworten? Dieser Therapeut war nicht besonders schlau. Er antwortete also: „Ich versuche, es zu vermeiden. Ich schaffe es nicht immer. Ich habe letztens jemandem eine Ohrfeige gegeben.“ „Fürchten Sie, dass Sie noch etwas Schlimmeres anwenden könnten?“ Er nickte. „Haben Sie schonmal etwas Schlimmeres getan?“ Kopfschütteln. Er hatte stets Abstand von Menschen gehalten, um so etwas zu vermeiden. „Haben Sie schonmal verbale Gewalt angewandt?“ Severus zog die Augenbrauen zusammen. „Ich meine … haben Sie schonmal jemanden beschimpft und nieder gemacht?“ Die Frage ließ Severus lächeln. Sie war fast genug, um ihm ein Lachen zu entlocken. Sein Anblick ließ Lupin in seinem Stuhl zurück rutschen und die Arme um sich selbst legen. „Wissen Sie … die meisten Menschen, die hier her kommen, sind gar nicht so schlimm wie man denken könnte. Ein paar sehen wie Schlägertypen aus, aber die meisten sind ganz nett. Das kommt daher, dass Sie ihre Anspannung nicht spüren und so lange locker sind, bis der Schalter Klick macht und die Anspannung in Ihnen so viel wird, dass Sie gewalttätig werden. Aber dann prügeln Sie einen auch direkt krankenhausreif“ Lupin schien seine Mimik zu beobachten. Nicht, dass Severus welche hätte. „Einigen merkt man diese Anspannung immer an. Man spürt, dass sie mit Aggressionen herum laufen, die jederzeit ausbrechen können. Wie eine dunkle Energie, die durch den kleinsten Fehltritt überschwappen kann“ Sehr bildlich gesprochen. Severus hätte fast die Nase gerümpft. „Sie gehören zu dieser zweiten Gruppe. Es freut mich sehr zu hören, dass Sie noch keine Menschen lebensgefährlich verletzt haben, aber diese Aura der Wut ist furchteinflößend.“ „Was lässt Sie denken, ich hätte noch keine Menschen lebensgefährlich verletzt?“ Amüsement legte sich in Severus Stimme. „Dass ich sie nicht geschlagen habe, heißt nicht, dass ich sie nicht in Lebensgefahr gebracht habe. Meine Stimme reicht mir vollkommen. Ich brauche keine Fäuste, um gestandene Männer zum Weinen zu bringen.“ „Das glaube ich Ihnen aufs Wort“ Lupin war sichtlich unwohl. Er griff an die Stuhllehne und zog den übergroßen, beigen Pulli an, den er dort drüber gelegt hatte. Schien, als brauche er mehr Schutz. „Mich beunruhigt, wie viel Stolz da in Ihrer Stimme mitschwingt. Machen Sie gern Menschen fertig?“ „Das ist mein Beruf, ich bin Anwalt“ Severus lehnte sich entspannt zurück. Der Funken Migräne hatte sich verflüchtigt. Dieser Mann war keine Gefahr, er könnte ihn jederzeit zerreißen. „Das heißt, Sie wollen Ihre aggressive Aura behalten, aber perfekte Kontrolle darüber haben?“ Lupin betrachtete ihn einen Moment. „Das wird nicht funktionieren, solange Sie die Reaktionen Ihres Gegenübers nicht perfekt kontrollieren können.“ „Es hat vierzig Jahre bestens funktioniert“ Severus legte jeden Tropfen Herablassung in seine Stimme, den er aufbringen konnte. „Und jetzt hat es letztens nicht mehr funktioniert“ In diesem Satz gewann Lupins Stimme an Überzeugung. „Das hat Sie genug erschrocken, dass Sie hergekommen sind.“ Severus wandte den Blick ab. Mehr Eingeständnis war ihm nicht möglich. „Wir können Ihnen hier helfen, aber das benötigt eine Bereitschaft, sich zu verändern. Nicht Ihr ganzes Selbst, aber zumindest an Ihrer Wut, Ihrer Unruhe und Ihrer Aggressivität werden wir arbeiten müssen.“ Severus schwieg nur. Er hatte es befürchtet. Er wollte nur nicht. Er wollte schon – für Harry – aber gleichzeitig auch nicht. Für sich selbst. War diese Boshaftigkeit nicht schon ein integraler Bestandteil seines Selbst? „Machen wir erstmal weiter mit den Fragen, okay? Die sind zur Einschätzung, an was für Punkten wir arbeiten müssen. Verbale Gewalt ist bei ihnen ein Thema. Wie ist es mit emotionaler Gewalt? Das ist, wenn man Leute mit Gefühlen unter Druck setzt. Wenn du nicht zu mir ziehst, verlasse ich dich. Wenn du deine Freunde nicht aufgibst, spreche ich nicht mehr mit dir.“ „Ich benötige keine Erpressungen“ Severus sah noch immer die Wand an. „Aber ich nutze Drohungen. Ich zähle mögliche negative Konsequenzen auf. Ich lasse Sätze in einem bedrohlichen Tonfall auslaufen.“ „Ihnen ist sehr genau klar, wie Sie anderen Menschen weh tun, richtig?“ Severus nickte nur. „Okay, eine Frage noch. Wie steht es bei Ihnen mit sexueller Gewalt?“ „Ich würde niemals jemanden vergewaltigen!“ Severus giftigster Blick bohrte sich in Lupin. Dessen Stuhl schrammte mit einem Quietschen über den Boden, als dieser blitzschnell zurückwich. „Ich bin kein umgänglicher Mensch, ja, aber ich bin auch kein Monster.“ „Das wollte ich nicht unterstellen“ Lupin hatte die Hände gehoben. „Haben Sie sich wieder gefangen?“ „Sie bedeuten mir nicht genug als dass ich Sie verletzen würde. So sehr kommen Sie nicht unter meine Haut“ Severus lehnte sich wieder zurück. „Err … okay“ Der Mann beobachtete ihn kurz. „Der Mensch, den sie verletzt haben, bedeutet Ihnen also viel?“ Babumb. Severus schluckte. Seine Kehle war trocken. Er versuchte erneut zu schlucken und musste tief durchatmen. Ja, exakt das hatte er wohl gerade gesagt. Harry war der erste Mensch, der ihm genug bedeutete, dass er ihn Kontrolle verlieren ließ. Selbst seiner Exfrau hatte er nie etwas getan. Gerade ihr. Er hatte sie nicht einmal angeschrien. Harry hingegen bekam seine Laune andauernd ab. „Haben Sie Angst, Sie könnten diesem Menschen etwas Sexuelles gegen dessen Willen antun?“ Severus schloss die Lider. Genug. Es reichte. Er erhob sich. „Ist okay, Sie müssen nicht antworten. Bitte setzen Sie sich. Ich frage auch nichts mehr“ Severus drehte sich halb zu Lupin und warf ihm nur einen ausdruckslosen Blick zu. „Ich wollte Ihnen nur erklären, was wir Ihnen als Hilfen anbieten können.“ Wollte er Hilfe? Wollte er sich ändern? Harrys Lächeln und die Wärme an seinem linken Oberarm schoss in seine Gedanken. Ja … für Harry würde er versuchen, sich zu ändern. Er setzte sich wieder. „So eine aggressive Aura wie Sie sie haben hat immer zwei Seiten. Zum einen gibt es etwas, was sie auslöst. Dafür würden Sie wahrscheinlich eine Psychotherapie brauchen. Das können Sie irgendwann angehen, aber Sie müssen nicht. Das liegt bei Ihnen. Wir kümmern uns hier um die andere Seite. Aggression wie Ihre hat immer auch einen Zweck. Wir arbeiten hier daran auszuarbeiten, was der Zweck ist und wie man diesen Zweck mit etwas anderem als Aggressionen erfüllen kann. Das ist normalerweise eine Kombination aus Einzelgesprächen und Gruppenunterricht. In den Gruppen müssen Sie nicht mitarbeiten, nur zuhören. Da werden Techniken erklärt, von denen wir gemerkt haben, dass es einfach effektiver ist, wenn man Sie einer Gruppe von Leuten beibringt. Wenn das für Sie gar nicht geht, können wir die auch zusammen durcharbeiten, aber ich möchte Sie ermutigen, dem Gruppenunterricht zumindest eine Chance zu geben.“ Schulbank drücken und seine Seele von diesem Parasiten ausquetschen lassen. Welche wundervolle Vorstellung. Er war wie ein Paradiesvogel zur Brunftzeit – bereit, alles zu tun, um seine Angebetete zu erlangen. Und das, obwohl ihm völlig klar war, dass Harry niemals so jemanden wie ihn wählen würde. Er war erbärmlich. Er sah auf und begegnete einem erwartungsvollen Blick. Anscheinend wollte der Kerl eine Antwort. Mit einem Seufzen nickte er. „Die nächste Gruppe startet in drei Wochen. Sie ist immer mittwochs abends um 19 Uhr und dauert anderthalb bis zwei Stunden“ Das war eine erstaunlich gut gelegte Zeit, dazu konnte er glatt erscheinen. „Vorher würde ich gern noch einmal mit Ihnen reden. Machen Sie doch bitte bei Hagrid einen Termin aus.“ Er nickte nur ergeben, erhob sich und ging. Lupin schien kein Problem damit zu haben, keine Verabschiedung zu hören. Falls er doch eins hatte, interessierte es Severus nicht. Das war bei weitem genug. Er konnte schon spüren, dass die Migräne spätestens beim Schritt aus der Tür über ihn hinein brechen würde. Verdammte Seelenklempner. »Kann ich dir etwas Gutes tun? Darf ich dich massieren?« Das klang nach einer himmlischen Belohnung für das heutige Gespräch. Andererseits erinnerte Severus sich gut, wie allein die Frage nach sexueller Gewalt ihn hatte auffahren lassen. Er wusste, was die ehrliche Antwort gewesen wäre. Allein diese Massagen waren in und an sich schon Gewalt. Er drückte Harry damit in eine Richtung, in die es nicht gehen sollte. Nur tat es zu gut, Harrys Hände auf sich zu spüren als dass er wirklich nein sagen könnte. Harry hatte seine Nichtantwort sowieso schon für sich ausgelegt und knöpfte sein Hemd auf. Nicht, dass Severus sich groß wehren würde. Wenn es nach ihm ginge, müsste Harry nicht mit dem Hemd stoppen. Und er hatte das ungute Gefühl, dass Harrys Nähe heute stärker sein könnte als seine Migräne. Er drehte sich so hin, dass auch Harry es möglichst bequem hatte, während er ihn massierte. Die ersten Male hatte er das nicht getan. Seine kleine Rebellion, um so zu tun als würde ein Teil von ihm doch ablehnen, was geschah. Bis ihm auffiel, wie absolut kindisch dieses Verhalten war. Also schloss er die Augen, genoss die Berührungen und versuchte, leise zu bleiben. Mittlerweile war das ein echtes Problem. Durch die täglichen Massagen hatte er mehr Genuss als Schmerz, was medizinisch vielleicht gut war, aber ihrer Situation nicht unbedingt behilflich. Als Harry ihn als ausreichend durchgeknetet beurteilte, gab er ihm diesmal nicht sein Hemd wieder und setzte sich zurück zu seinem Buch. Stattdessen lehnte er gegen Severus Rücken und schloss die Arme um seine Taille. Severus Hand schnellte zu Harrys, um sie von sich zu reißen, doch stoppte kurz vor der Berührung. Im Endeffekt legte er sie einfach nur auf Harrys ineinander verschränkte Hände. „Was ist?“, flüsterte Severus. Seine Migräne war fast verschwunden. „Ich möchte auch berührt werden.“ Oh Grundgütiger. Severus seufzte. Sein Unterleib schrie sofort ja – was auch sonst – sein Kopf schob einen Riegel davor. Der Junge hatte nicht gefragt, dass er mit ihm schlief. Der Junge wollte berührt werden. Das war ein menschliches Grundbedürfnis. Er könnte sich umdrehen und den Jungen umarmen. Er könnte. Aber es wäre das falsche Zeichen. „Dafür gibt es Mädchen“ Er strich trotzdem mit einem Daumen über Harrys Hände. „Um berührt zu werden, sucht man sich eine Freundin. Jemand, den man mag und den man vielleicht eines Tages heiratet.“ Welch eine erbärmliche Aussage. Da saß er hier mit genau demjenigen, den er berühren wollte und der fragte, von ihm berührt zu werden – und er sagte nein. Aber er wusste, dass Harry fragte, weil er sonst niemanden hatte. „Gibt es ein Mädchen, das du magst? In deinem Kurs vielleicht?“ Allein die Frage fühlte sich an als würde er sich selbst sein Herz rausreißen. „Hm“ Das Brummen vibrierte aus Harrys Brust in Severus. „Es gibt da ein Mädchen … Cho. Sie ist achtzehn.“ „Die ist in deinem Kurs? Sie spricht Thai?“ Seine Augen kribbelten. „Chinesisch und Thai. Sie wurde auch verkauft. Mit elf nach Thailand und nochmal mit siebzehn hierhin. Und dann hat die Polizei ihren Zuhälter festgenommen. Jetzt darf sie auch in Ruhe leben.“ Konnte Harry nicht auch mal normale Menschen kennen lernen? Nun gut, die meisten Mädchen, die einen Sprachkurs von Thai zu Englisch brauchen könnten, hatten wohl so eine Geschichte. Er schwieg einfach nur. Genau genommen wusste er nicht, was er sagen sollte. Das klang nach einem bescheidenen Leben? Das wusste Harry sicherlich. Ob er es bei ihr versuchen sollte? Da war Severus wohl der letzte, der dazu eine Meinung abgeben sollte. Bei der Vorgeschichte vielleicht nicht, aber hatte Harrys Vorgeschichte ihn abgehalten? Harry schien auch nicht so als hätte ihn das alles viel mitgenommen. Angst vor Berührungen hatte er ja kaum. Er hatte Angst vor Wut, aber das war bei einer Missbrauchsgeschichte wohl nichts Ungewöhnliches. Dieser löste sich von seinem Rücken und reichte ihm sein Hemd zurück. Während Severus sich anzog, fragte er: „Hast du Hunger? Möchtest du etwas essen?“ „Nein“ Severus erhob sich, was einen schier unerträglichen Schmerz durch seinen Kopf schickte. „Mein Kopfschmerz ist zu stark. Ich werde mich hinlegen.“ Harry sah ihm nur traurig hinterher, während er ging. Severus verzog das Gesicht im Schmerz. Er könnte es auf die Migräne schieben. Er könnte auch ehrlich sein und sich eingestehen, dass er Harry nicht verlieren wollte. Und er wusste, dass er es gerade tat. Lydia brachte ihm zu seiner Arbeitsmappe noch einen zweiten Kaffee. Severus war in einer Laune, die nicht gut genug war, um es zu wertschätzen, aber er registrierte es. Nach dem zweiten Kaffee – und einigen Stunden ruhigen Arbeitens – kam sie ein drittes mal mit einem schwarzen Tee. Sie beobachtete ihn kurz und beurteilte ihn wohl anscheinend als ansprechbar, da sie fragte: „Wie lief ihr Termin gestern?“ „Man hat mich nicht direkt festnehmen lassen“ Severus warf ihr einen vorwerfenden Blick zu. „Sie werden weiter mit mir leben müssen.“ „Für wann soll ich den nächsten Termin in ihren Kalender schreiben?“ Sie lächelte als hätte er ihr erzählt, dass er ab jetzt neugeborene Kätzchen pflegen würde. Musste man Frauen verstehen? „Übernächste Woche Dienstag um zwölf. Und legen Sie mir für die nächsten Monate keine Termine auf Mittwoch Abends. Ich muss um 19 Uhr dort sein“ Warum machte er das mit? Er wusste, dass er Harry nie bekommen würde. „Habe ich morgen wieder einen sozialen Tag?“ „Nur zwei Termine, versprochen. So etwas wie letzte Woche kommt nicht wieder vor“ Sie senkte den Kopf. Er nickte nur. Gute Frau. Er mochte Leute, die ihre Fehler selbst erkannten. Genau so wie Lydia verstand, dass das ihr Stichwort war, um zu gehen. Sie räumte seinen Kaffeebecher ab und verließ ihn ohne ein weiteres Wort. Ein unbestimmtes zufriedenes Gefühl blieb zurück. Severus genoss die Heimfahrt als würde er eine Spazierfahrt durch eine fremde Gegend machen statt einfach nur die Strecke zu fahren, die er jeden Tag nahm. Allerdings nahm er sie zum ersten mal wirklich wahr. Bäume säumten den Weg und das herbstliche Sonnenlicht fiel durch das nur noch spärliche Blätterdach. Zwischen London und dem Vorort, in dem er lebte, gab es einige grüne Abschnitte. Auf mehreren Feldern lagen noch Heuballen zur Abholung. Er hatte all dem noch nie Beachtung geschenkt. Heute wirkte es friedlich und einladend auf ihn. Als wäre er ein Teil dieser Natur, die er vorher nie als wichtig empfunden hatte. Er erwischte sich sogar dabei, ein leichtes Lächeln auf den Lippen zu tragen. In einer reinen Laune packte er zuhause Harry ein und fuhr mit ihm zu einem Restaurant mit einem Wintergarten, von dem aus man einen wunderschönen Blick auf einen baumumsäumten Teich hatte. Er fragte den Jungen nach seinem Tag aus und versuchte in einfachen Worten zu erklären, was er eigentlich den ganzen Tag in seinem Büro machte. Und Harry lächelte ihn an, als hätte er ihm das erste Weihnachten seines Lebens geschenkt. Ehrlich gesagt konnte Severus sich nicht erinnern, wann er sich das letzte mal so gut gefühlt hatte. Und da er sich das absolut nicht zerstören wollte, entschied er, dass er nicht unbedingt nach dieser Cho fragen musste. Sein kleines Plappermaul würde es ihm sowieso erzählen, wenn etwas Wichtiges geschehen wäre. Kein Grund, sich jetzt zu ärgern. „Magst du nun deine Massage?“, fragte Harry, nachdem sie wieder zu hause waren. „Ich fürchte, ich bin schon entspannt“ Nicht, dass ihn das wirklich abhielt. Es war schließlich nicht so als würde er Harry nur aus medizinischen Gründen an seinen Rücken lassen. „Vielleicht die oberen Muskeln. Aber der Rücken hat eine tief liegende Muskulaturschicht. Die kann nur im Liegen gut massiert werden“ Auf Harrys Lippen lag ein wissendes, erotisches Lächeln, dass keinesfalls auf das Gesicht eines Fünfzehnjährigen gehörte. „Warum willst du mich verführen?“ Severus trat etwas näher an ihn. Harrys Gesicht erschlaffte kurz, bevor sich Verwunderung ausbreitete. Auch seine Stimme klang überzeugend fragend, als er erwiderte: „Du bist lieb. Ich möchte hier bleiben.“ „Ach, Harry“ Severus seufzte, aber lächelte dabei. Ein ungewöhnliches Gefühl. Er wartete noch auf den Moment, wo seine Gesichtsmuskulatur durch die ungewöhnliche Belastung nachgab. „Du bist jetzt in England. In Sicherheit. Niemand wird dich zurück nach Thailand schicken. Du brauchst mit niemandem schlafen, du musst dich von niemandem schlagen lassen. Du musst nicht mehr das wenigst schlimmste Übel wählen. Du kannst hier bleiben, auch völlig ohne mich jemals anzurühren. Du hast jetzt die Freiheit, selbst zu bestimmen, wen und was du möchtest.“ Harry blinzelte nur kurz und sah ihn mit einem etwas undeutbaren Ausdruck an. Die Stirn leicht in Falten, die Lider offen, der Mund schlapp. Als wüsste er nicht ganz, ob er das Wort Freiheit nun kenne oder nicht. „Du musst nicht zwischen mir und jemand anderem wählen. Du kannst auch mit dieser Cho glücklich werden“ Auch wenn ihm die Worte allein einen Stich versetzten. „Oder mit wem auch immer du möchtest. Du musst auch nicht mit irgendwem zusammen sein. Ich war viele Jahre allein glücklich“ Hieß, er hatte sich viele Jahre eingeredet, er wäre glücklich. Nicht, dass er es ansatzweise gewesen wäre. „Du bestimmst nun dein Leben.“ „Aber ...“ Harrys Stirn legte sich in tiefere Falten. „Du hast mir doch diese Freiheit gegeben.“ „Richtig“ Severus konnte dem Drang nicht widerstehen, dem Jungen mit einer Hand durch das Haar zu fahren. „Aber ich kann sie dir nicht wieder nehmen. Die Gesetze dieses Landes schützen dich.“ „Ich bin dir dankbar“ Harry legte eine Hand auf die von Severus, welche mittlerweile zu Harrys Wange gerutscht war. „Das mag sein“ Severus musste einen Kloß schlucken, aber er wusste, es gehörte sich, dass er die Worte aussprach. Auch wenn er nicht wusste, ob er nicht log. „Nur wird es mich nicht glücklich machen, wenn du nur aus Dankbarkeit mit mir schläfst.“ Doch, eine süße Lüge. Sein Körper sprach für ihn. Harry war wie eine pollenschwere Blüte, die er als Biene umflog. Ihm waren die Gründe relativ egal, solange Harry willig war. Und es sah nicht so aus, als würde das hier in einem Missbrauch enden. Trotzdem – wer war er, das zu beurteilen? Harry war zu jung, um solch eine Entscheidung zu treffen. Er war der Erwachsene, er hatte für sie beide zu sorgen. Er würde Harry für sein eigenes Wohl nicht anfassen. Er würde ihn gehen lassen, es würde weh tun, aber er könnte zumindest ohne das Gefühl von Schuld leben. Es war selten genug, dass er im Leben mal das Richtige tat. „Hast du noch Hausaufgaben?“, fragte er Harry. Samstag war nicht so schlimm wie erwartet. Die zwei Termine waren zwar anstrengend, aber reichten nicht für eine Migräne. Das könnte natürlich auch daran liegen, dass Harry brav im Auto wartete und stets lächelte, wenn er zurück kam. Nach seinem letztem Termin fuhr er mit dem Jungen Richtung Innenstadt, um ihm endlich eine Winterjacke zu kaufen. Sie endeten mit zwei weiteren Hosen, fünf Shirts, einem Paar Stiefel, einem guten Satz Wechselwäsche, einer Jeansjacke und einem gefütterten Cord-Mantel. Und so sehr Severus es auch wünschen würde, dieses Ergebnis war nicht Harry anzulasten. Er musste nur darüber nachdenken, aus was er den Jungen gern schälen würde und plötzlich hatte er eine Menge Dinge zum Anprobieren in den Händen. Auch wenn er persönlich Anzüge mit Hemd und Krawatte für sich bevorzugte, passten zu Harry eher lässige Klamotten. Er war jung, schön und trotz seiner Geschichte wirkte er sehr viel unbelasteter als Severus. Severus brauchte seine Kleidung wie eine Rüstung. Harry hingegen schien in Jeans und T-Shirt am freiesten. Nicht, dass ein T-Shirt bei Englands Temperaturen eine gute Idee war, sodass sie jetzt noch nach Pullovern suchten. Als Harry auf einen klar auf Jugendliche ausgelegten Absolut-Nicht-Marken-Laden zeigte, aus dem eine Mischung von Pop und Techno dröhnte, seufzte Severus nur ergeben. Er sah zwischen dem Laden und Harry hin und her, schätzte die Gefahr einer Migräneattacke ab und sagte ihm: „Fünf Minuten. Länger halte ich es darin nicht aus.“ Und ab, der Junge war weg. Severus folgte ihm gemächlichen Schrittes. Natürlich fand er ihn nicht ansatzweise in der Nähe von Pullovern wieder. Nicht, dass er in diesem Laden welche gekauft hätte, er wollte etwas Wärmendes für Harry, keine modisch zerrissenen Stofffetzen. Harry schien auch mehr an den bunten Turnschuhen, Gürtelschnallen und der Dekoration des Ladens interessiert. Severus hingegen besah lieber die über ihn tuschelnden Teenager mit einem bösen Blick. Die impertinenten Bälger lachten nur. Er warf einen Blick auf die Uhr. Noch drei Minuten und siebenundvierzig Sekunden. Ein Verkäufer hatte Harry entdeckt und erzählte ihm wahrscheinlich die wildesten Geschichten über die Schuhe, vor denen er gerade stand. Harry lächelte nur freundlich. Der Verkäufer schien nicht ansatzweise zu bemerken, dass sein Kunde kein Wort verstand. Zwei Minuten dreiundfünfzig. Der Verkäufer hatte Harry die Schuhe in die Hände gedrückt und bemerkte wohl gerade, dass dieser kein Englisch sprach. Wie einen jeden guten Verkäufer hielt ihn das nicht auf. Noch eine Minute und sechsundzwanzig Sekunden. Harry spazierte in völlig überteuerten bunten Turnschuhen durch den Laden und fragte, wie er sie fand. Er entschied sich zu schweigen. Harry lächelte nur, zog die Schuhe wieder aus und gab sie dem Verkäufer zurück. Noch zweiunddreißig Sekunden. Mit einem tiefen Seufzen fragte er den Verkäufern nach den Schuhen in Harrys Größe. Harry, der gerade einem jungen Paar beim Einkaufen zugeguckt hatte, stellte sich auch auf die Zehen und setzte einen Kuss auf seine Wange. Severus wusste, er war verloren. „Guten Morgen, Chef“ Lydia lächelte ihn zur Begrüßung an, während sie ihm den ersten Kaffee des Tages vor die Nase stellte. Den ersten! Sie hatte es nur in ihrer ersten Woche gewagt, ihn vor dem ersten Kaffee anzusprechen – und es bereut. Sein giftiger Blick ließ sie jedoch nicht zusammen zucken. Sie verlor nicht mal ihr Lächeln. Sie verließ wie stets sein Büro, allerdings nicht in Angst. Hatte sein Verhalten ihn ihren Respekt gekostet? Nahm sie ihn nicht mehr ernst, nachdem sie wusste, dass er zu einem Psychodoktor ging? War das eine Information, die ausgeschmückt mit allerlei Zusätzen bereits durch die Gerüchteküche der Kanzlei geisterte? Oder war das Paranoia? Er lehnte sich mit seinem Kaffee zurück. Sollte er sie auf ihr Verhalten ansprechen? Oder sollte er diese Insolenz dulden? Er wünschte keinen Sittenverfall, doch er wollte Lydia auch nicht verjagen. Sie war eine kompetente Sekretärin, die ihm wenig Schwierigkeiten machte. „Guten Morgen“, grüßte sie erneut, als sie nach der Frist einer halben Stunde in den Raum trat, „bereit für eine neue Woche?“ Er brummte nur etwas Unbestimmtes. „Briar und Deslar haben sich bezüglich der Fusion gemeldet. Die letzten Details stehen nun und sie wünschen eine Korrektur der letzten Fassung bis Mitte dieser Woche. Darell hätte gern eine Aussage bezüglich möglicher Konflikte mit dem Kartellamt und Temco hat ihnen ihr neues Rentenmodell geschickt mit Bitte um Überprüfung. Diese nehmen die Fächer zwei bis vier ein. Die üblichen Verdächtigen sind in Fach fünf.“ Severus speicherte die Informationen in einer Ecke seines Hirns und schob sie aus seinem Bewusstsein. Wie sollte er Lydia ansprechen? Sie hatte sensible Informationen und schien dadurch ein Gefühl von Macht entwickelt zu haben. Es wäre jedoch unglaubwürdig, die Informationen zu diskreditieren oder in ihrer Wertigkeit zu mindern. Er musste ihr das Gefühl von Macht nehmen. Aber wie, wenn nicht durch Herabsetzung? Hatte dieser Psychodoktor nicht etwas davon erzählt, das Ziel seiner Aggressionen durch andere Wege zu erreichen? Jetzt wäre ein geeigneter Moment, um die Inhalte des Kurses bereits zu kennen. Wenn es sowieso nur Unterricht war, wieso konnte er das nicht in einem Buch nachlesen? Er sollte es den Mann fragen. Lydia hatte während seiner Überlegungen das Zimmer bereits verlassen. Kapitel 5: Unterricht --------------------- „Einen schönen guten Mittag!“ Dieser Mensch war einfach nur zu fröhlich. Severus nickte und beließ es dabei. Er hatte anscheinend einen psychischen Knacks, dann musste sein Psychodoktor auch damit leben lernen. Er war nur höflich, wenn er dazu gezwungen war. Er folgte ihm schweigend in dessen Büro. Wenigstens trennte ihn damit eine Tür von dem fröhlich blabbernden Bären von einem Rezeptionisten, der mit der Bulldogge eines anderen Patienten spielte als sei diese ein Miezekätzchen. „Wie war Ihre Woche? Irgendwelche unschönen Vorfälle?“ Außer dass er Harry gesagt hatte, er solle sich eine Freundin suchen? Er schüttelte den Kopf. „Sie sagten letzte Woche, ich sei Ihnen nicht wertvoll genug, dass ich bei Ihnen einen Kontrollverlust auslösen könnte. Das ist bereits eine wichtige Erkenntnis, die viele erst später haben“ Lupin betrachtete ihn genau. „Was ich jetzt sagen werde, löst bei vielen Wut aus. Ich möchte sie vorwarnen, dass es auch sie wütend machen kann. Ich bitte sie, trotzdem hier zu bleiben“ Severus nickte nur. „Die Wut, die einen Kontrollverlust auslöst, entsteht aus Angst. Das würde ich gerne genauer erklären.“ Lupin musterte sein Gesicht erneut. Er schien einen Ausbruch zu erwarten. Severus hob nur eine Augenbraue. Er war kein sehr impulsiver Typ, er sah keinen Sinn darin, ob so einer Aussage wütend zu werden. Ohne eine überzeugende Argumentation würde er so etwas sowieso nicht glauben. „Meine Meinung ist Ihnen wirklich nicht wichtig, oder?“ Der andere schien nicht betrübt darüber. „Die Meinung der meisten Menschen ist mir vollkommen gleichgültig“, erwiderte Severus nur. „Das ist sehr gut“ Fand dieser Mann alles gut, was er sagte? Was war denn bitte gut an dieser Einstellung? „Viele Leute, die wir hier haben, wenden ihre Wut gegen jeden möglichen, da sie Angst haben, sonst nicht respektiert zu werden.“ Nun, dann war es schon gut. Nur glaubte er immer noch nicht, dass seine aggressiven Aussetzer aus einer Angst vor fehlender Anerkennung entstanden. Auch wenn es eine interessante Theorie war. „Vielen Leuten, die wir hier behandeln, fehlt das Selbstwertgefühl. Sie haben Angst, von anderen nicht für voll genommen oder nicht gemocht zu werden. Das ist ein Gefühl, was die meisten in ihrer Kindheit begleitet hat“ Severus spürte ein mulmiges Gefühl in seiner Magengegend. Wehe, dieser Kerl würde ihn nach seiner Kindheit fragen. „Die meisten haben nie gelernt, wie sie andere dazu bringen können, sie zu mögen. Also nutzen sie Gewalt gegen die, die ihnen wichtig sind oder gegen Fremde, um sich in den Augen ihrer Bekannten besser zu machen. Daher kommen die meisten der Leute, die wir behandeln, aus einem eher niedrigen sozialen Milieu. Oft sind sie vorbestraft oder können aufgrund ihrer Aggressivität keinen Job halten.“ Wäre er nicht gerade Anwalt geworden, das Problem hätte er auch haben können. Zum Glück erwarteten die meisten Menschen von einem Anwalt keine hohe soziale Kompetenz. Er musste ruhig sein und die Etikette befolgen können. Höhere soziale Fähigkeiten verlangte sein Beruf nicht. „Sie scheinen mir ein sehr intelligenter Mann. Normalerweise erkläre ich das alles nicht gleich in zweiten Gespräch“ Lupin kratzte sich am Hinterkopf. „Ich vermute, Sie können mir so weit folgen?“ Er nickte. Er hätte eine Augenbraue heben können, um den Mann gedemütigt fühlen zu lassen, aber er hatte nicht das Gefühl, das zu benötigen. Wie er gerade gesagt hatte – die Meinung dieses Menschen war nicht wichtig. Er musste keine Lebensmittelverkäufer oder Postboten schlecht fühlen lassen, damit es ihm besser ging. Über diese Phase war er lange hinweg. Harrys Meinung zählte. Lydias Meinung zählte. Und die seines Chefs gewissermaßen. Alle anderen waren nicht wichtig. „Je mehr man jemanden also mag, desto mehr Gewalt wendet man auch an. Und je weniger man gelernt hat, positiv mit Menschen umzugehen, desto verletzender wird diese Gewalt“ Lupin nahm ein bereit liegendes Blatt und schrieb darauf die Worte emotional, verbal, körperlich und sexuell. Die vier Formen von Gewalt, so viel hatte er aus der letzten Stunde mitgenommen. „Von den vier Gewaltformen ist nicht eine schlimmer als die andere. Aber jede hat Ausprägungsgrade. Emotionale Gewalt sind Drohungen. Zum Beispiel „Ich verlasse dich, wenn du mit jemand anderem als mir schläfst“. Das ist eine relativ normale Aussage für eine Liebesbeziehung, wäre in einer Freundschaft aber eher ungewöhnlich. Je näher man sich ist, desto mehr Gewalt wird also auch toleriert.“ „Das Aufzählen von Konsequenzen ist Gewalt?“ Severus hatte die Stirn zweifelnd in Falten gelegt. „Gewissermaßen. Wenn die Polizei jemanden einsperrt, weil dieser einen Mord begangen hat, nennen wir das ja auch Staatsgewalt“ Auffallend richtig. Seine Haut glättete sich während eines Nickens. „Gewalt ist also etwas Allgegenwärtiges und gehört zum Alltag dazu. Gewalt wechselt erst dann von konstruktiv zu destruktiv, wenn Auslöser und Reaktion nicht mehr in einem passenden Verhältnis stehen. Wenn man auf einen neckenden Witz mit körperlicher Gewalt reagiert oder auf eine Verabredung der Frau mit einem Bekannten mit einer Scheidung.“ Schädliche Gewalt war demnach eine Überreaktion auf eine Kränkung. Und das Gefühl der Kränkung war die Angst davor, nicht wert geschätzt oder allein gelassen zu werden. Das war eine logische Schlussfolgerung, aber Severus verzog das Gesicht. Diese Schlussfolgerung behagte ihm gar nicht. Er verschränkte die Arme. Lupin fragte ihn, was er über das bisher Gesagte dachte und er erwiderte nur: „Mir gefällt nicht, was das über mich sagt.“ „Das sagt, dass sie leicht zu kränken sind. Und dass sie nicht ausreichend gelernt haben, wie man positiv mit anderen Menschen umgehen kann“ Lupin ließ eine Pause, in der er ihn betrachtete. „Diese Wahrheiten müssen leider so akzeptiert werden, bevor wir ihnen hier helfen können. Unser Unterricht am Mittwoch ist im Endeffekt soziale Nacherziehung. Wir lehren den positiven, konstruktiven Umgang mit Alltags- und Stresssituationen und eine bessere Einschätzung, was verletzend gemeint ist und was nicht.“ „Und was, wenn ich das nicht für mich akzeptiere?“, fragte Severus mit einer ruhigen Stimmlage mit einem leicht aggressiven Unterton nach. „Dann wird der Unterricht wahrscheinlich nicht helfen. Dann sollten wir besser vorher weiter miteinander reden. Ich weiß ja jetzt nicht so wirklich viel über sie. Ich urteile nach Mustern, was am wahrscheinlichsten ist. Vielleicht schätze ich sie ja auch falsch ein und ich muss mein Urteil überdenken, wenn ich sie besser kennen lerne.“ Er wollte nicht besser kennen gelernt werden. Und er wollte keine aggressiven Ausbrüche mehr. Die Wahrheit mochte bitter sein, aber seine eigene innere Abwehr sagte ihm, dass dieser Lupin wahrscheinlich ins Schwarze getroffen hatte. Er hatte diese Techniken zu oft gegen andere verwendet, als dass er die Auswirkungen nicht bei sich selbst erkennen würde. Er hatte die Welt stets als einen unfairen, verletzenden, gemeinen Ort empfunden und es demnach für gut und recht gehalten, andere zu behandeln wie sie ihn behandelten. Oder wie er glaubte, behandelt zu werden. Ihm war klar, dass andere über die Dinge lachten, die ihn wütend machten. Es hatte ihm stets das Gefühl gegeben, als Mensch unvollständig zu sein. Für andere sah das Leben so einfach aus. Sie trafen sich, unterhielten sich, wurden Freunde und lachten darüber, wenn andere ihre Fehler aufzählten. Er bezeichnete sie als unfähig und inkompetent, nicht strebsam und pflichtbewusst genug, nicht ernsthaft und erfolgsorientiert genug. Er hatte noch nie über einen Fehler gelacht. Er konnte sich nicht einmal erinnern, wann er das letzte mal gelacht hatte. „Chef?“ Lydia blinzelte, sichtlich verwirrt über den Blumenstrauß, den er ihr vor die Nase hielt. „Soll ich eine Vase suchen?“ „Wenn Sie nicht wollen, dass Ihre Blumen verwelken, würde das Sinn machen“ Er drückte ihr das Grünzeug vor die Brust und flüchtete in sein Büro. Nicht, dass sie jetzt noch eine Erklärung wollte, warum er ihr Blumen schenkte. Oder eine falsche Schlussfolgerung zog. Sie sollte sie einfach nur annehmen und sich nichts weiter denken. Er dachte sich auch nichts weiter dabei außer ihr zu gratulieren, wie lange sie es mit ihm ausgehalten hatte. Vielleicht hätte er das auf eine Karte schreiben sollen. Was, wenn sie ihn missverstand? Wenn sie glaubte, er habe Interesse an ihr? Oder wenn sie glaubte, ihren Arbeitsstandard senken zu dürfen, weil er ihr einen Hauch von Sympathie entgegen brachte? Was, wenn er sich sein eigenes Grab schaufelte? Sein Blick bohrte tiefe Löcher in die Tür. Sollte er ihr sagen, wie er das mit den Blumen gemeint hatte? Konnte er verständlich ausdrücken, was er gemeint hatte? Oder würde sie es einfach verstehen, wenn er genau so weitermachte wie bisher? Ja, das schien das erfolgversprechendste Vorgehen. Besser als sich in seinen eigenen Worten zu verhaspeln. Ja, er würde jetzt einfach arbeiten. Er musste noch ein paar Verträge überprüfen. „Severus!“ Harry rief fröhlich nach ihm aus dem Wohnzimmer und kam nur Momente später aus jenem Raum geschlittert, nur um knapp vor ihm stehen zu bleiben. „Ich habe es getan!“ „Was getan?“ Der Ältere lächelte leicht und hing seinen Mantel auf. „Ich habe Cho geküsst!“ Severus zwang sich, seine Gesichtsmuskulatur nicht ein Iota zu bewegen. Er hatte ein leichtes Lächeln getragen. Keins, was sein Gegenüber bemerken würde, aber eines, was er selbst wahrnahm. Er ließ es nur ganz, ganz langsam sinken. Harry würde den Unterschied sicher nicht bemerken. Er plapperte sowieso bereits weiter. „... und dann stand sie da allein vor diesem Brett und ich bin hin gegangen und habe ihren Namen gesagt und sie hat sich zu mir gedreht und hat mich mit ganz großen Augen angesehen. Und da habe ich mich einfach vor gelehnt und habe sie geküsst.“ „Und“ Severus Kehle schien wie zugeschnürt. Er räusperte sich. „Was hat sie getan?“ „Nun … nichts. Ich weiß es nicht. Ich bin weggerannt“ Er grinste schalkhaft und gleichzeitig beschämt. „Ich habe sie geküsst und dann … dann hatte ich Angst, was sie sagen würde.“ „Also bist du weggerannt?“ Severus hob eine Augenbraue. Er erinnerte sich, das auch mal bei einem Mädchen aus der Nachbarschaft getan zu haben. Allerdings war er da neun und nicht fast sechzehn gewesen. Seine Lehrerin hatte ihn gesehen und ihm am nächsten Tag gesagt, er dürfe keine Mädchen belästigen. „Na ja … was hätte ich sonst tun sollen? Was, wenn sie sagt, dass sie mich nicht mag? So gleich danach … vielleicht denkt sie ja jetzt darüber nach. Vielleicht findet sie ja doch noch etwas Gutes an mir. Möglicherweise.“ „Sie mag dich bestimmt“ Severus fuhr dem anderen mit einer Hand durch das rabenschwarze Haar. „Du siehst gut aus und du bist nett. Welches Mädchen würde dich nicht mögen?“ Harry sah mit einem breiten Grinsen auf. Severus verbat sich selbst sogar das Schlucken. Er nickte einfach nur und lenkte ab: „Was gibt es zu essen?“ Er konnte mit Stolz behaupten, keine Träne vergossen zu haben. Weder im Moment des Schmerzes noch später, als im Bett in ihm das Gefühl von Einsamkeit wie hohe Wellen gegen ein Kliff schlug. Es zerriss ihn und in seiner Hand riss fast der Stoff seines Bettbezugs, doch er vergoss nicht eine einzige Träne. Warum sollte er auch? Es war doch genau, was er erwartet hatte. Was er erhofft hatte. Warum fühlte es sich dann so an, als hätte jemand ein großes Stück seines Fleisches aus ihm heraus gerissen? Er nahm eine heiße Dusche, trank fast eine ganze Kanne Kaffee und doch blieb das Gefühl. Er rauschte an Lydia vorbei und störte sich nicht an ihrem Zucken. Er gab keinen Kommentar dazu ab, dass sie seinen Kaffee mit einer Hand durch den Türspalt auf den Endtisch neben der Tür stellte. Er wollte ihre Visage auch nicht sehen. Er war mitten in einer Berechnung, als sie herein kam, den Kaffeebecher entfernte und ihm seine Arbeitsmappe hin legte. Sie zögerte, doch ging wieder, ohne ein Wort dazu zu sagen. Warum sollte sie auch, ihre Ordnung war nicht allzu schwer zu durchblicken. Er benötigte sicherlich keine Kommunikation, um zu wissen, was er mit den Unterlagen zu tun hatte. Er brauchte keine anderen Menschen. Er hielt vor dem Zentrum für Aggressionsbewältigung, doch stellte den Motor nicht ab. Er starrte schlichtweg die Fassade an. Was wollte er schon hier? Seine Wut war wie ein undurchdringlicher Schild, der sich über Jahre aufgebaut hatte. Sie war Waffe und Schutz zugleich. Wozu sollte er sie aufgeben? Für Harry? Für einen Knirps, der lieber mit Mädchen rum knutschte? Was wollte er schon hier? Er hatte von Anfang an gewusst, dass er keine Chance hatte. Wieso also ging er überhaupt hier hin? Er wollte keine Menschen an sich heran lassen. Harry würde ihn nur enttäuschen. Und zu recht. Wer war er zu glauben, er könnte genug für einen Menschen sein, wenn er sich nur anstrengen würde? Er wäre nie genug. Er war hässlich wie eine Fledermaus. Er hatte keine Hobbys, kein besonders interessantes Wissen und konnte auch keine lustigen Geschichten erzählen. Er existierte. Es war das einzig Gute, was über ihn zu sagen war. Damit hörte es auf. Er häufte Geld an, das an niemanden gehen würde, wenn er eines Tages verstarb. Er gab es Prostituierten, damit sie sich weiter mit Drogen vollstopfen konnten. Sein Job bestand daraus, mehr und mehr Geld aus Leuten zu quetschen, die sich nicht wehren konnten. Wie hatte er auch nur für einen Moment glauben können, das würde sich ändern? Warum sollte es? Er hatte nichts anderes verdient. Er hatte keinerlei gute Qualitäten, um mehr wert zu sein. Er war intelligent genug, um sich Stricher leisten zu können, dabei endete es. Er hatte nicht das Zeug, um irgendjemanden an sich binden zu können. Erst recht nicht mit sozialen Fähigkeiten. Vielleicht konnte er jemanden mit Gewalt halten, aber das wollte er nicht. Er hatte genug Selbstintegrität, um nicht aus Selbstsucht jemand anderen leiden zu lassen. Er musste sich selbst nicht noch weitere Gründe geben, um sich zu hassen. Er hatte genug. Und trotzdem. Wollte er den Rest seines Lebens so verbringen? Er könnte nichts tun und ewig so weiter machen. Er könnte auch den Schritt wagen, sich zu verändern. Er wusste nicht, wohin, er wusste nicht, ob er sich selbst danach noch ansatzweise ausstehen könnte, er wusste nicht, ob er damit nicht endgültig alles verlor. Aggression entstand aus Angst. Er kniff die Lider zu. Er hasste Lupin. Er hasste dieses Zentrum. Warum hatte er sich auf diesen Mist eingelassen? Er hatte diesen verdammten Satz nicht hören wollen. Er hatte nicht nachdenken wollen. Er hatte all diese Jahre gelebt und nicht über sich selbst nachgedacht. Warum hatte er sich selbst zugestanden, das nun zu tun? Was konnte schon Gutes daraus kommen? Er hatte einen festen Platz in der Welt. Warum daran rütteln? Der Motor lief immer noch. Im Zentrum brannte Licht. Er hatte noch zwei Minuten und einundzwanzig Sekunden, um sich zu entscheiden. Konnte er den Schmerz ertragen, den es bedeutete, sich zu ändern? Ein hohles Lachen verließ seine Lippen. Welch eine dumme, sinnlose Frage. Es gab keine Frage. Er zog den Schlüssel, stieg aus und schloss den Wagen ab. Er hatte es begonnen. Er beendete, was er begann. „Guten Abend!“ Das erste, was er an seinem Gegenüber bemerkte, waren weiße, gepflegte Zähne. Um diese schlossen sich dünne Lippen, die in einem breiten Grinsen verzogen waren. Das Gesicht dazu war jung, ganz klar jünger als er. In den leuchtend blauen Augen blitzte der Schalk und die gute Laune, die ihn sofort misstrauisch machten. Sie leuchteten vor allem im Kontrast mit einer roten Mähne, die halb gestylt, halb verwildert aussah. Seinen Blick zog eher der Goldohrring im linken Ohr, das nur wenig verbergende T-Shirt und die dekorative Lederjacke. An Tagen, wo er sich richtig dekadent fühlte, bestellte er sich Kerle wie diesen ins Haus. Er verdrängte die Erinnerung an den letzten Rotschopf, dessen Kehle sich höchst vorzüglich angefühlt hatte und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt. Der Mann hatte eine Hand ausgestreckt und stellte sich gerade vor: „Ich bin Charlie.“ Was auch sonst? Charlie, Denny, Kyle, typische Namen für Stricher. Erneut musste er sich erinnern, dass der Mann vor ihm wahrscheinlich Psychologe und nicht Stricher war, aber er kam nicht umhin, weitere Parallelen zu suchen. Er schüttelte dem anderen die Hand und erwiderte nur: „Snape.“ „Setzen Sie sich doch“ Der Mann wies auf den Stuhlkreis hinter sich. Der Kreis zählte acht Stühle. Aktuell waren drei besetzt. Zwei der Anwesenden befanden sich ungefähr in seinem Alter, doch damit endeten die Gemeinsamkeiten. Einer trug Jeans und Sportpullover und saß mit breiten Beinen da. Ein Macho von der Körpersprache her, ansonsten eher ungefährlich. Der Kerl direkt neben ihm erweckte hingegen schon beim Anblick Abscheu. Ein gutaussehender Kerl – so viel musste Severus ihm lassen – mit wirrem schwarzen Haar in einem schwarzen Ledermantel und schwarzer Hose. Die Brust war nackt und von Tattoowierungen übersät. Er ordnete den Kerl kategorisch als Zuhälter ab. Schien, als wäre in diesem Raum das komplette Spektrum des Rotlichtmilieus vorhanden. Die zwei musterten ihn kurz, worauf der Zuhältertyp ein Schnauben von sich gab. Der andere hob eine Augenbraue und sah diesen an, doch nickte im Endeffekt. Die beiden schienen sich zu kennen. Der dritte Anwesende war ein junger Mann, vielleicht gerade erst volljährig. Er hatte bisher noch nicht aufgesehen sondern starrte mit Schmolllippen den Boden an. Severus musste sich eingestehen, dass er auch diesen nicht von der Bettkante stoßen würde. Zumindest, wenn das hellblonde Haar ihn nicht an seinen Ex erinnert hätte – die einzige Beziehung, die er je mit einem Mann gehabt hatte. Wenn man es Beziehung nennen konnte. Sie hatten sich anderthalb Jahre lang für Sex getroffen, mehr war da nicht. Sein Ex war verheiratet gewesen. Er hatte das Ganze nie wirklich als Beziehung aufgefasst. Mit einem leisen Seufzen nahm er auf einem der Plastikstühle Platz. Da er den Blondschopf nicht allzu offensichtlich anstarren wollte, lenkte er seinen Blick auf ihren Gruppenleiter. Dieser Charlie war jetzt nicht unbedingt Modell, dafür hatte er dann doch ein paar Kilos zu viel, aber attraktiv war er schon. Wenn er es ganz objektiv betrachtete, außer dem blonden Schönling war keiner hier wirklich hübsch. Aber alle hatten eine Menge Ausstrahlung, was jedem einen gewissen Charme gab. Severus gab es eher ein mulmiges Gefühl. Jeder Anwesende hier war ein Alphatier, das es gewohnt war, dass andere gehorchten. Nicht die besten Voraussetzungen für eine funktionierende Gruppe. Ein weiterer Mann trat in den Raum, der Severus im ersten Moment an sein eigenes Spiegelbild denken ließ. Jedoch war dessen dunkles Haar weder sauber geschnitten noch frisiert. Seine Kleidung war zwar auch schwarz, bestand jedoch nicht aus gutem Anzugstoff sondern aus halb ausgewaschener Baumwolle besetzt mit Nieten und Ringen. Auch hatte der Kerl mehrere Piercings, obwohl er mindestens dreißig war. Er stellte sich Charlie als Igor vor und nahm einen Sitz etwas von Severus entfernt. Charlie schloss die Tür und nahm den Sitz neben dem Flipchart mit den Worten: „So, es ist sieben Uhr. Tür ist zu. Jeder, der zu spät kommt, darf nicht mehr rein. Schön, dass ihr alle pünktlich seid.“ Klare Ansage. Ein Lächeln spielte mit Severus Lippen. Er mochte klare Ansagen. „Mein Name ist Charlie. Ich leite diesen Kurs. Ich werde alle hier duzen. Ihr werdet mich duzen. Wer sich blöd benimmt, den sende ich in die Ecke“ Er zeigte auf einen Stuhl in einer Ecke des Raumes. „In der Ecke wird nicht geredet. Wer in der Ecke sitzt, darf wieder kommen, sobald er sich beruhigt hat. Wer in der Ecke nicht leise ist oder nicht auf meine Anweisung hört, in die Ecke zu gehen, fliegt aus dem Raum für den Abend. Wer dreimal raus geflogen ist, darf nicht wieder kommen. Verstanden?“ Severus sah im Augenwinkel, wie Igor und der Zuhälterkerl verstohlen in die Runde sahen. Der Blonde starrte weiter den Boden an. „Wer mich verstanden hat, antwortet mit Ja. Verstanden?“ Schien, der Mann war vorher nicht Prostituierter sondern eher Knastaufseher gewesen. Der Kerl neben dem Zuhältertypen und Severus antworteten mit Ja, der Zuhälter und Igor folgten mit einem Ja. „Draco, hast du mich verstanden?“ Der blonde Schönling hieß wohl Draco. Er sah mit einem widerwilligen Blick auf. „Ich will ein Ja hören. Kein Knurren, kein Grunzen, ein Ja. Hast du mich verstanden?“ Charlie bohrte seinen Blick in Draco und schwieg. Er schwieg volle zweiundzwanzig Sekunden – Severus zählte mit – bevor Draco leise Ja sagte. „Gut. In dieser Gruppe redet immer nur einer. Das ist der, der diesen Handtrainer hält“ Er nahm ein Gerät, was eine Gartenschere hätte sein können, wenn es nicht statt Scherenblättern Metallspiralen gehabt hätte. „Jeder stellt sich jetzt mit dem Namen vor, mit dem er angesprochen werden will. Mein Name ist Charlie“ Er gab das Gerät an Igor. Dieser nahm es mit Widerwillen im Blick. Er starrte es einen kurzen Moment lang an, bevor er zudrückte. Das Gerät gab kein Geräusch von sich. Er konnte es jedoch nur wenige Millimeter eindrücken, bevor sein Arm erzitterte und er es wohl aufgab. Er schnaubte und meinte: „Igor.“ Das Gerät wurde an Severus weiter gereicht. Auch aus seinem Blick sprach wohl Ekel, aber eher weil er darüber nachdachte, wie viele Menschen dieses Gerät wohl schon angefasst hatten. Er hatte keinerlei Bedürfnis, bei diesem Schwanzvergleich in punkto Kraft mitzumachen, daher antwortete er nur schnell „Snape“ und gab es weiter an den Kerl neben dem Zuhältertypen. Der hatte wohl schon darauf gewartet und testete gleich, wie weit er es zusammen drücken konnte. Fraglos weiter als Igor, aber nicht einmal halb. Mit einem Schmollen meinte er „James“ und gab es an den Zuhälterkerl neben sich weiter. Der versuchte es auch mit einer Hand, bevor er mit zwei drückte, aber ganz zusammen bekam er es nicht. Er schien ähnlich stark wie sein Sitznachbar. Mit einem Schnauben reichte er das Gerät weiter, bevor er sich erinnerte „Sirius“ zu sagen. Draco machte keinerlei Anstalten, das Gerät zu nehmen. Charlie sah ihn einfach nur an. Sirius schien das Warten nach ein paar Sekunden zu viel, sodass er dem Jüngsten den Handtrainer gegen die Brust warf. Draco sprang sofort auf und schrie: „Was soll das, du Arsch?“ „Selbst Arsch!“ Sirius sprang ebenfalls auf. „Ruhe!“, donnerte Charlie mit einem unerwarteten Stimmvolumen dazwischen, „und setzen.“ Draco schien nicht ansatzweise dran zu denken. Er packte Sirius am Kragen und hob eine Faust, was diesen nur hinterhältig in dessen Bauch schlagen ließ. „Ihr drei geht an die Wand und mischt euch nicht ein“, wies Charlie sie an und ging zur Tür, „Hagrid!“ Severus hatte gar keine Probleme, dem Befehl zu folgen. Auch Igor flüchtete sich sofort zur Wand. James sah kurz so aus als wolle er seinem Freund helfen, aber im Endeffekt kam er hinterher. Als er die Wand erreichte, betrat auch schon der riesige Rezeptionist den Raum und ging schnurstracks auf die zwei sich Prügelnden zu und zog sie auseinander. Es schien ihn nicht einen Hauch der Anstrengung zu kosten. Draco versuchte Sirius noch einen Tritt zu versetzen, doch Hagrid hatte sie bereits weit genug auseinander gedrückt. Er stellte sich in aller Seelenruhe zwischen sie. Charlie kam zu ihnen hinüber und meinte: „Das war jetzt ein wunderbares Beispiel von absolut kindischem Benehmen. Draco, die Ecke dort“ Er zeigte auf eine Seite. „Sirius, die Ecke dort.“ „Aber der hat angefangen!“ Sirius zeigte auf den Blonden, der wieder eine Schmolllippe trug. „Ihr habt euch geprügelt. Mir ist völlig egal, wer angefangen hat. Ihr habt euch beide geprügelt und keiner von euch hat versucht, es selbst zu beenden. Ihr kriegt beide Ecke.“ Severus konnte nicht verneinen, dass das Lächeln auf seinen Lippen aus Schadenfreude kam. Er sah die zwei mit ein Fluchen und in Sirius Fall einem Fußtritt gegen einen Stuhl in ihre entsprechenden Ecken abziehen. „Danke, Hagrid“ Charlie nickte den Mann zu, der fröhlich lächelte, und wandte sich zu ihnen. „Bitte setzt euch wieder.“ Severus gehorchte ohne jedes Gegenwort. Er mochte es nicht, herum kommandiert zu werden, aber er sah die Notwendigkeit. Wenn alle anderen hier so wenig beherrscht waren wie die zwei gerade, war er ganz froh, dass irgendwer mit eiserner Faust durchgriff. Er erinnerte sich gut, auf dem Schulhof von Kerlen wie denen hier zusammen geschlagen zu werden. Er hatte keinerlei Lust, diese Erfahrung zu wiederholen. Die anderen zwei folgten ihm auch. „Ich wiederhole die Regeln: Wer Stress macht, kommt in die Ecke. Wenn man sich beruhigt hat, darf man zurück in den Kreis kommen. Und es spricht immer nur, wer den Handtrainer hat“ Charlie hob diesen auf. „Alle anderen Gruppenregeln stehen auf dem Poster neben der Tür“ Er zeigte auf entsprechendes Poster. „Lest sie euch durch und haltet euch daran.“ Da hatte zum Beispiel gestanden, dass man nicht essen, trinken oder was anderes machen durfte wie mit Handys zu spielen. Dass man nicht betrunken oder high kommen durfte. Dass Probleme der Gruppe in der Gruppe zu klären seien. Dass außerhalb der Gruppe nicht über andere Leute in der Gruppe geredet werden dürfe. Severus hatte sie bereits beim ersten mal verinnerlicht. „Unser heutiges Thema ist Kontrolle“ Direkt an der Rippe vorbei ins Herz. Severus lehnte sich zurück. Beim Anblick der anderen hier schien das für ihn nicht das wichtigste Thema zu sein. Auch wenn er es bisher für wichtig gehalten hatte – im Vergleich mit den anderen hier schien er außerordentlich kontrolliert. „Wenn man provoziert wird, kann man auf verschiedene Arten reagieren. Sagen wir, jemand schüttet euch in der Kneipe sein Bier ins Gesicht. Was macht ihr?“ Charlie hielt Igor den Handtrainer hin. Der sah ihn erneut widerwillig an, bevor er ihn nahm und meinte: „Ich ramm' ihm ein Messer in die Hand. Selbst schuld, würde ich sagen.“ Er gab den Handtrainer an Severus, welcher ihn direkt an James weiter reichte. Lupin hatte gesagt, er müsse hier nichts sagen, wenn er nicht wollte. Und ihm fehlte die Lust, sich auf das Level dieser Barbaren herab zu lassen. James sah ihn einen Moment verwundert an, bevor er das Gerät nahm und sagte: „Ich schlag' den Kerl zusammen.“ Er sah sich kurz zu Sirius um und hob eine fragende Augenbraue in Charlies Richtung, doch dieser nahm nur den Handtrainer zurück und erklärte: „Die dürfen erst wieder mitreden, wenn sie wieder im Kreis sitzen. Und sie dürfen erst in den Kreis zurück, sobald sie sich beruhigt haben.“ Mitarbeit als ein Privileg. Severus durchschaute die perfide Technik, die ihr Kursleiter anwandte. Indem er spezifisch Leuten das Reden verbat, sorgte er dafür, dass jeder gern etwas zum Thema sagen wollte. Eine erstaunlich verdrehte Art, um sozialen Abschaum zu sinnvoller Mitarbeit zu bringen. Selbst er spürte in sich das Bedürfnis, nun doch etwas zu diesem Thema zu sagen. Nur weil er die Techniken durchschaute, hieß es nicht, dass er resistent war. Er verschränkte die Arme in Unzufriedenheit mit sich selbst. „Der erste Gedanke eines jeden Menschen ist erstmal, dem anderen Gewalt anzutun“ Severus hob eine Augenbraue ob dieser Aussage. „Man ist extrem wütend und der Gedanke, den anderen zu verletzen, ist automatisch. Bei jedem. Er muss nicht bewusst sein, aber so etwas zu denken ist eine ganz normale Reaktion“ Charlie schrieb oben auf das Flipchartblatt die Worte „Automatischer Gedanke“. „Die Frage ist, was man daraus macht. Das hängt vollkommen davon ab, welche inneren Überzeugungen man hat.“ Natürlich. Das war das Grundgerüst von Kontrolle. An dem Punkt, wo man sich Gewalt erlaubte, wandte man sie auch an. An dem Punkt, wo man Drohungen und Einschüchterungen als sinnvoll ansah, nutzte man sie. Eigene Überzeugungen entschieden, wie man handelte. Daraus zog Severus seine fast perfekte Selbstdisziplin. Eben das erklärte auch Charlie gerade mit mehreren Beispielen. „Am Ende dieses Kurses sollte jeder von euch folgende Überzeugung haben: Ich habe es nicht nötig, körperliche, sexuelle, verbale oder emotionale Gewalt anzuwenden. Darum wende ich sie nicht an“ Charlie ließ den Blick durch die Gruppe schweifen. Während seiner Erklärung vorher war Sirius in den Kreis zurückgekehrt und Draco hatte es sich natürlich nicht nehmen lassen, sofort auch wieder da zu sitzen und diesem böse Blicke zuzuwerfen. „Nächste Woche beschäftigen wir uns mit Wut. In welchen Situationen Wut angemessen ist, in welchen nicht und warum dort nicht.“ Severus hatte das Gefühl, dass er sich die ersten Stunden wahrscheinlich sparen könnte. Er war schon weit weiter als all dies. Ihn interessierte mehr der Teil, wo es daran ging, wie man Situationen ohne Gewalt lösen könnte. Und ein wenig, wie man solch eine Autorität wie dieser Charlie entwickelte. Er war schon äußerst charakterstark, aber dieser Mann toppte ihn da noch. Er wollte ihn weiter studieren. „Ich gebe jetzt den Handtrainer noch einmal rum. Jeder sagt etwas dazu, was ihn der Stoff heute denken ließ und wie er auf das eigene Leben passt. Und was man sonst noch zu dieser Stunde loswerden will.“ Igor nahm den Handtrainer diesmal ohne Murren und meinte: „Manchmal muss man Leuten wehtun, damit sie lernen.“ Severus fühlte sich direkt wieder, als würde er zuhause liegen und seinen Vater sagen hören, dass man nur durch Schmerz ein echter Mann wurde. Er zuckte zusammen, als Igor ihm den Handtrainer gegen den Arm tippte, um seine Aufmerksamkeit zu kriegen. Er nahm das Gerät, überlegte kurz und sagte: „Ich möchte lernen, wie man ohne Gewalt leben kann.“ Ohne groß aufzusehen gab er den Handtrainer an James weiter. Dieser schwieg. Severus konnte dessen Blick auf sich spüren. Nach einigen Sekunden des Schweigens meinte dieser leise: „Ich … kann mir nicht vorstellen, wie man ohne Gewalt auskommen soll.“ „Ich will gar nicht ohne Gewalt auskommen“ Sirius schien nicht ganz auf dem Standpunktes seines Freundes zu stehen. „Sich zu prügeln ist lustig. Warum sollte ich das aufgeben?“ Er sah mit einem provozierenden Blick zu Charlie auf, den nicht die geringsten Anstalten machte, auf die Provokation zu reagieren. Nach einem Moment des Wartens deutete er Sirius an, den Handtrainer weiter zu geben. Sirius schnaubte nur, aber tat es. „Ich habe keine Lust, diese Scheiße zu lernen“ Draco legte das Gerät demonstrativ auf den Sitz neben sich statt es Charlie zu geben. Dieser nickte nur und meinte: „Dann eine schöne Woche, bis nächsten Mittwoch.“ Severus war stark versucht, zu ihm hinzugehen und ihn auszufragen. Er starrte den Mann einen Moment lang einfach nur an und wunderte sich über sich selbst. Wann war er das letzte mal an einem Menschen interessiert gewesen? Harry ausgenommen? Im Endeffekt erhob er sich jedoch auch nur und verließ den Raum. An der Tür erhielt er von Hagrid eine Kopie der Gruppenregeln und eine einseitige Zusammenfassung des heutigen Unterrichtsstoffes. Er legte die Blätter in seine Arbeitsmappe, die auf dem Beifahrersitz lag, bevor er nach Hause fuhr. Kapitel 6: Betrug ----------------- Severus stand vor seiner eigenen Haustür und atmete tief durch. Er wusste, was ihn erwarten würde. Eine weitere Episode von „Ich habe Cho geküsst“ musste wirklich nicht sein. Aber was sollte er schon tun? Er hatte den Jungen dazu gebracht. Alles andere hätte er sich vorher überlegen müssen. Es war das Beste für sie beide, auch wenn es weh tat. Bevor er weiter über sein Schicksal sinnieren konnte, öffnete Harry die Tür von innen. Severus musste wahrlich kein soziales Genie sein, um zu merken, dass etwas nicht stimmte. Harry war aschfahl als hätte er eine Menge Blut verloren. Unter seinen Augen befanden sich dunkle Zonen als sei er seit Tagen nicht im Bett gewesen. Und als er aufsah, konnte Severus erkennen, dass sich dünne rote Linien verästelt durch das Weiß seiner Augen zogen. Er kannte diesen Anblick nur zu gut. So hatte seine Mutter ausgesehen, wenn ihr Mann sie angeschrien und geohrfeigt hatte und sie sich währenddessen die Augen ausgeweint hatte. In völligen Reflex trat Severus mit zwei Schritten ins Haus und zog den Jüngeren in seine Arme. Er konnte sich kaum erinnern, wie unzählige male er seine Mutter so gehalten hatte. Seine erste Erinnerung war, mit zwei aufzuwachen und seine weinende Mutter in seinem Kinderbett neben sich gefunden zu haben. Er säuselte denselben Mist, den er auch schon als Kind gesagt hatte. Dass alles gut werden würde, dass morgen ein neuer Tag sei und die Traurigkeit dann vergessen, dass es schon bald nicht mehr weh tun würde und ähnlichen Blödsinn. Sie hatten beide gewusst, dass es am Morgen nur genauso weiter gehen würde wie am Tag zuvor. Und doch hatte es seine Mutter beruhigt, denn sie hatte stets daran festgehalten, dass ihr Mann einen guten Kern hatte und sich eines Tages beruhigen würde. Hatte er wohl auch – wenige Tage vor seinem Tod durch Leberversagen. Harry weinte ebenso bitterlich wie seine Mutter. Wie sie krallte er sich in Severus Jackett – auch wenn es damals meist nur ein Shirt gewesen war – und drückte seinen Kopf gegen Severus Schulter. Wie bei ihr damals gab es Severus das Gefühl absoluter Hilflosigkeit und Stärke zugleich. Er hob eine Hand und fuhr damit durch das rabenschwarze Haar, dass weich wie Katzenfell durch seine Hände glitt. Er beugte sich vor und versank seine Nase und Lippen in der kitzelnden Wärme dieser Haare. Harry hörte nach einiger Zeit auf zu weinen. Severus hätte nicht sagen können, wie lang es war, so sehr hatte er sich selbst in dieser Umarmung verloren. Er wusste nur, dass das das Zeichen war, um loszulassen. Nur wollte sein Körper nicht so wie sein Herz. Nicht, dass das etwas Neues war, aber … mit einem leisen Seufzen hob er zumindest den Kopf und lockerte seinen Griff, um Harry etwas Freiraum zu geben. Nur schien dieser auch vollkommen ungewillt, ihn wieder los zu lassen. Er hielt genau so fest wie zuvor. Ein Lächeln schlich sich auf Severus Lippen. „Willst du erzählen, was passiert ist?“, fragte er nach einigen Momenten. Harry bewegte den Kopf nur minimal, um zu ihm zu sehen, die Umarmung noch genau so fest wie zuvor. Auf diese Art klebten Beine, Oberkörper, Hals und Harrys Wange an ihm, sodass Harry von seiner Schulter hoch in seine Augen sah. Trotzdem sprach er nicht. Und was jetzt? Seine Mutter hatte irgendwann aufgehört zu weinen und war meist vor Erschöpfung eingeschlafen. Wenn nicht, hatte sie sich wortlos zurück an die Arbeit geschleppt und gekocht, gewaschen oder etwas derartiges. Nie hatten sie danach geredet. Severus war völlig aus seinem Element. „Hast du irgendetwas angestellt?“, fragte Severus vorsichtig. Hatte der Junge vielleicht Angst davor, was er tun würde? Er würde nicht zuschlagen, so viel war sicher. Er würde dem Jungen nie wieder auch nur eine Ohrfeige geben. „Cho ...“, murmelte der Junge leise. Severus ging in seinem Kopf kurz alle thailändischen Wörtern mit diesem Klanglaut oder diesem Beginn durch, bevor er schloss, dass wahrscheinlich das Mädchen aus Harrys Kurs gemeint war. „Hat Cho dir eine Abfuhr gegeben?“ Severus fuhr noch immer mit einer Hand durch Harrys Haar. Es war schrecklich weich. Verführerisch weich. Ein weiteres Schniefen verriet ihm, dass er wahrscheinlich ins Schwarze getroffen hatte. Er wartete einige Zeit, bis Harry sich wieder beruhigt hatte. „Hat sie dir auch einen Grund gesagt?“ „Nein“ Harry sah mit traurigen, verweinten Augen auf. „Sie hat gar nichts gesagt.“ „Und woher weißt du dann, dass sie dir eine Abfuhr gegeben hat?“ Severus hob eine Augenbraue. „Sie … sie hat einen anderen … geküsst“ Erneut wallten Tränen in Harrys Augen auf. „Was mache ich jetzt?“ „Uhm … nun“ Severus schluckte. Es gab so gewisse Personen auf dem Planeten Erde, die sollte man nicht um Ratschläge in punkto Beziehungen bitten. Er gehörte dazu. „Sah es so aus, als sei er ihr fester Freund?“ Harry lehnte sich mit einem Seufzen wieder gegen seine Schulter und murmelte: „Vielleicht.“ Hm. Sehr aussagekräftig. Vielleicht war er ihr Ziehvater, ihr Zuhälter oder ihr Bruder. Am wahrscheinlichsten war allerdings die These, dass es ihr Freund war. Und kam ihm das nicht eigentlich ausgesprochen recht? „Vielleicht solltest du es aufgeben. Sie scheint kein Interesse an dir zu haben. Such doch nach jemand anderem.“ Das löste aus irgendeinem Grund erneut Tränen aus. Severus blieb einfach nur stoisch stehen und genoss die Wärme des anderen Körpers. Und das weiche Haar. Ob seine Schamhaare wohl auch- sofortiger Stopp dieses Gedankens. Harry stand zu nah an ihm, um es nicht zu bemerken, sollte er eine Erektion kriegen. Und das hier war absolut die falsche Situation für so etwas. „Du findest schon jemanden. Es gibt viele Millionen Mädchen auf dieser Welt“ War das beruhigend? „Sobald du Englisch sprichst, hast du eine riesige Auswahl in diesem Land“ Nicht, dass die unbedingt gut aussehend waren. Aber es gab ja auch viele Einwanderer. „Bald wirst du über die Erinnerung an heute lachen“ Nicht, dass er selbst je über seine vergangenen Fehler gelacht hätte. Er lernte lieber aus ihnen. Aber er wusste, dass er mit der Meinung eher allein war. Severus seufzte. „Könntest du bitte aufhören zu weinen?“ Harry sah erschrocken auf und Severus schalt sich einen Idioten. Er hatte doch wirklich das Mitgefühl einer Erdnuss. Er fuhr mit beiden Händen zu Harrys Oberarmen und strich über diese mit den Worten: „Entschuldige, ich bin nicht gut im Trösten.“ „Natürlich“ Harry strich sich mit einer Hand die Tränen aus dem Gesicht und trat einen Schritt zurück. „Was möchtest du gern essen?“ Er hatte sich bereits umgedreht und schritt Richtung Küche. Severus streckte noch die Hand nach ihm aus, doch er trat keinen Schritt voraus. Wie als wäre er festgewachsen. In seinem Kopf legte er bereits die Arme um den Jungen und entschuldigte sich ordentlich. In der Realität ließ er ihn gehen. Er verzog das Gesicht in Schmerz, doch machte sich daran, erstmal seine Sachen abzulegen. Severus beobachtete Harry, wie er las. Nicht, dass das sonderlich spannend wäre. Er konnte nur dennoch den Blick nicht abwenden. Der Junge lag auf der Couch und hielt sein Buch so, dass es sich fast einen halben Meter über seinem Kopf befand. Hin und wieder wurden ihm wohl die Arme müde, da er sich zeitweise in eine andere Position drehte, aber im Endeffekt kehrte er in diese zurück. Für Severus wäre sie sicher nicht bequem, aber wer war er, die Jugend zu kritisieren? Mit solchen Gedanken lenkte er sich aber nur von seinen wirklichen Gedanken ab. Er wusste, er sollte etwas zu dieser Cho-Sache sagen. Nur was? Was wäre denn angemessen in solchen Situationen? Sein herzliches Beileid? Das brachte Harry auch nicht viel. Irgendwelche Expertise oder guten Ratschläge konnte er auch nicht gerade geben. Er hatte als Jugendlicher zwei- oder dreimal versucht, mit jemanden zu „flirten“. Zweimal war er danach von der Clique der Mädchen ausgelacht worden und der eine Junge … nun, er konnte froh sein, dass seine Nase vorher schon schrecklich ausgesehen hatte. Ein weiterer Bruch machte dann auch keinen Unterschied mehr. Er hätte kein Problem damit, Harry noch etwas länger zu halten, wenn dieser wollte. Er wusste selbst, dass er eigentlich nicht sollte, aber wenn er es vor seinem Gewissen damit verantworten konnte, dass Harry das brauchte … wie genau funktionierte das, dass das ging, obwohl er wusste, dass er sich selbst betrog? Im Endeffekt lenkte er sich schon wieder von seinem Grundgedanken ab. Feigling. Er sollte etwas zu Cho sagen. Selbst, wenn es nichts allzu Professionelles war, er sollte Harry irgendwie mitteilen, dass er an ihn dachte. Er wusste selbst, dass das Schlimmste im Missbrauch nicht der Schmerz sondern das Desinteresse war. Er atmete tief durch und sagte: „Es tut mir Leid wegen der Sache mit Cho.“ Sehr gut. Das war doch richtig sozial kompetent gewesen. Jetzt am besten nichts weiteres sagen, um es nicht wieder kaputt zu machen. Sich wieder dem Buch zuwenden und es dabei belassen. Nur beobachtete er stattdessen Harry, wie dieser sein Buch senkte und mit einem Blick hinüber sah, den selbst ein Soziallegastheniker als Sehnsucht deuten könnte. Sehnsucht … wonach? Nähe? Wieder umarmt zu werden? Severus wusste es absolut nicht, aber er wusste, was er jetzt wollte. Er legte sein Buch zur Seite und trat zu Harry hinüber. Dieser hatte dasselbe getan und sich aufgesetzt. Einen Moment lang stand Severus unsicher vor der Couch. In den Augen des Sitzenden lag noch immer Sehnsucht. In sie hatte sich Hoffnung gemischt. Harrys Gesichtsausdruck war so offen und verständlich wie eine mathematische Abhandlung. Mit einem leichten Seufzen nahm Severus neben ihm Platz. Es dauerte kaum eine Sekunde, da saß Harry auf seinem Schoß und drückte sich an seine Brust. Harry hatte nicht übertrieben. Er wollte berührt werden. Dringend. Severus legte vorsichtig die Arme um ihn und sein Kinn auf das weiche Haar. Er fragte sich nur, ob er je auch so gewesen war. Er konnte sich an keine Berührungen erinnern außer wenn seine Mutter in seinen Armen weinte. Manchmal – an richtig guten Tagen – hatte sie ihn ins Bett gebracht. In einer pubertären Laune hatte er ihr an den Kopf geworfen, dass sie ihn nicht wie ein Kleinkind behandeln sollte und damit war selbst das weggefallen. Ansonsten hatte er nur Erinnerung an Schmerzen und Gewalt, wenn er an Berührungen dachte. Sex war angenehm. Aber Umarmungen … er konnte das nur schwerlich mit einem guten Gefühl verbinden. Harry zu umarmen war angenehm. Er war warm und weich und er passte in Severus Arme. Mit ihm im Arm hatte Severus das Gefühl, dass er lernen konnte, dass auch nicht sexuelle Berührungen angenehm sein konnten. Andererseits wusste er nicht, ob es richtig wäre, das zu lernen. Was, wenn er wie Harry nach etwas lechzen würde, das er nicht haben konnte? Harry würde irgendwann jemanden finden, den er liebte. Severus würde allein bleiben. Das waren Realitäten, die er akzeptieren musste. „Severus?“, flüsterte Harry. Er brummte nur zustimmend. „Kannst du mir beibringen, wie man jemanden richtig küsst?“ Um Gottes Willen, hatte niemand diesem Kind soziale Grenzen beigebracht? Festklammern, kuscheln und küssen – er könnte auch gleich wildfremde Leute fragen, ob sie ihn bitte vergewaltigen würden. Natürlich hatte der Junge ein etwas gestörtes Verhältnis zu Intimität, er hatte Monate in einem Bordell verbracht, aber hatte niemand diesem Kind einen Funken Selbsterhaltungstrieb vermacht? Was wäre denn, wenn er an irgendjemand anderen als Severus gekommen wäre? Allein die Gruppe vorhin hatte bestens gezeigt, wie es um die Selbstbeherrschung mancher Leute bestellt war. Severus atmete tief durch, sowohl um die aufkommende Wut und Verzweiflung als auch seine erneuerte Erregung wieder nieder zu drücken. Er sagte: „Harry, ich muss mich bisweilen echt zusammen reißen, um nicht über dich herzufallen. Lass solche Fragen, wenn du meine Beherrschung nicht überstrapazieren willst.“ „Hm“ Der Junge legte vertrauensvoll seinen Kopf auf Severus Schulter als wäre diese ganze Episode mit der Ohrfeige nie passiert. „Was passiert dann?“ Severus schloss nur die Lider und atmete tief durch. War das eine Frage oder eine Provokation? Wusste er es wirklich nicht oder wollte er Severus doch ins Bett ziehen? Harry währenddessen schien sich die Frage doch ansatzweise selbst zu beantworten, da er sein Bein von Severus Erektion zurück zog. Im nächsten Moment zog jener jedoch scharf die Luft ein, da Harry stattdessen eine Hand darauf legte. „Tut es sehr weh?“ Severus packte statt einer Antwort Harrys Hand und zog diese wieder weg, was jenen allerdings wenig zu stören schien. „Die Mädchen sagten, es tut beim ersten mal weh, aber es wird bald besser. Der Körper muss sich daran gewöhnen.“ „Harry, wir hatten dieses Thema jetzt mehrmals. Warum willst du mit mir schlafen?“ Severus drückte den Jungen von seinem Schoß und brachte so wieder Abstand zwischen sie. „Nein, warte, ich will gar keine Antwort darauf“ Er atmete tief durch und sah Harry in die Augen. „Du musst nicht mit mir schlafen, um hier bleiben zu dürfen. Dein Körper gehört dir und du solltest ihn nur mit der Person teilen, mit der du dein ganzes Leben zusammen sein willst. Also hör auf, das Thema andauernd wieder zwischen uns aufzubringen.“ „Aber wenn du dein Leben mit mir verbringen willst“ Verstörenderweise zeigte Harry dabei auf Severus Erektion, die durch den dünnen Anzugstoff leicht sichtbar war. „Warum darf ich dann nicht entscheiden, dass ich auch bei dir bleiben will?“ „Weil du keine Ahnung hast, wovon du da redest!“ Severus fuhr auf und brachte in noch ansatzweise vorhandener Voraussicht den Couchtisch zwischen sie beide. „Du bist ein Kind, Harry. Du kannst nicht mit fünfzehn Jahren Entscheidungen über den Rest deines Lebens treffen. Du bist in dem Alter, wo man Händchen hält und verstohlene Küsse tauscht und nicht mit Vierzigjährigen über Sex redet. Lerne erstmal Menschen kennen, bevor du eine Entscheidung triffst!“ Harry senkte eingeschüchtert den Kopf und Severus schalt sich innerlich erneut einen Idioten. Er hatte nicht schon wieder aus der Haut fahren wollen. Diesmal hatte Harry nicht einmal Severus Kindheit aufgebracht – ein sicherer Weg, ihn ausrasten zu lassen – und er hatte sich trotzdem nicht beherrschen können. Er hob eine Hand und begann seine Nasenwurzel zu massieren. Er war zwar kein Brillenträger, aber er hatte bemerkt, dass dies äußerst beruhigend wirkte. „Wie viele Leute muss ich kennen lernen?“, flüsterte Harry leise. „Was?“ Severus hob erschöpft den Blick. „Wie viele muss ich kennen lernen, bevor ich mich für dich entscheiden darf?“ Ihn traf ein Blick aus klaren, braunen Augen, in denen bereits eine feste Entscheidung stand. Sturkopf. Dummer, kleiner, niedlicher Sturkopf. Severus schüttelte einfach nur den Kopf und meinte: „Du musst mindestens achtzehn sein.“ „Guten Morgen“ Lydia strahlte über das ganze Gesicht, als sie ihm den zweiten Kaffee hin stellte. „War Ihre Fortbildung gestern Abend angenehm?“ Fortbildung. Es hob Severus Mundwinkel kaum merklich. So konnte man es wohl auch betrachten. Bestimmt hatte sie es sogar so in den allgemeinen Kalender eingetragen, um zu erklären, warum man Mittwoch abends keine Arbeit auf ihn drücken durfte. Er nahm erst den Kaffee, dann seine Mappe und erwiderte: „Angenehm wäre das falsche Wort. Lehrreich war sie.“ „Wunderbar. Dann markiere ich das als festen Termin. Falls ich irgendwie helfen kann, sagen Sie Bescheid“ Sie lächelte fröhlich und wandte sich um. „Lydia?“ Sie warf einen Blick über die Schulter. „Wissen Sie … hatten Sie ...“ Severus schüttelte den Kopf. Wollte er das wirklich fragen? „Nein, vergessen Sie das bitte.“ „Fragen Sie doch“ Sie trat wieder an seinen Schreibtisch. „Nein, ich habe mich nur gefragt … hatten Sie schonmal einen Verehrer, dem Sie klar machen mussten, dass sie ihn nur nehmen würden, wenn er erst noch erwachsener wird? Weil er noch nicht reif genug ist für eine ernsthafte Beziehung?“ „Den hatte ich“ Sie senkte den Blick und ihre Mundwinkel erschlafften. Es schien als hätte er einen wunden Punkt getroffen. „Ich habe meine Mutter gefragt, was ich machen soll. Und sie fragte nur, wovor ich denn Angst hätte und warum ich solch einen dummen Grund wie die Unerfahrenheit des anderen vorschieben müsste, um meine eigenen Ängste zu überspielen.“ Severus schluckte. Seine Züge verhärteten sich. Er versuchte weiter einzuatmen, aber seine komplette Kehle schien vollkommen zugezogen. „Ich habe sie angeschrien, dass sie mich nicht verstehen würde und bin gegangen. Aber zuhause fiel mir auf, wie recht sie hatte. Ich hatte schreckliche Angst, dass man Erwartungen an mich stellen würde, die ich nicht erfüllen könnte. Ich hatte Angst für irgend einen anderen Schwarm versetzt zu werden. Ich wollte nicht die sein, die diesem Menschen seine utopische Vorstellung einer liebevollen, romantischen Beziehung nimmt. Also hatte ich mir gesagt, dass es keinen Sinn macht, mit jemandem zusammen zu kommen, der noch nicht weiß, was er erwarten kann, darf und muss.“ Severus musste einige Sekunden warten, bis Atem und Stimme wieder unter seiner Kontrolle waren, bevor er fragen konnte: „Sind Sie mit ihm zusammen gekommen?“ „Nein“ Sie schüttelte den Kopf. „Es war gut, ehrlich zu mir sein zu können, aber die Angst war trotzdem zu groß, um mich zu trauen.“ Severus nickte nur. Er hatte das Gefühl, diese Einstellung nur zu gut zu kennen. Harry trug einen ganz erstaunlichen Braten auf, der schon im Ofen gewesen war, als Severus nach Hause kam: Schwein in eigenem Jus mit Zwiebelringen. Severus gab mehrere Komplimente, bevor er fragte: „Wo hast du denn ein solches Rezept her?“ „Misses Wethter hat es mir gegeben. Sie ist eine Hausfrau, die bei uns im Sprachkurs sitzt“ Harry beobachtete ihn ganz genau. „Schmeckt es?“ „Es ist vorzüglich“ Was nicht übertrieben war, auf all seinen Geschäftsreisen hatte Severus selten so gut gespiesen. „Gibt es einen besonderen Anlass?“ „Hm … ich habe eine Frage“ Ah, es ging darum, ihn mit Essen milde zu stimmen. „Misses Granger-Weasley, also, ich meine, unsere Lehrerin, die hat gefragt … es gibt immer zu jedem Kurs ein Begleitprogramm für die, die möchten. Um das mit dem Englisch besser zu lernen, treffen sich die Kursmitglieder einmal im Monat abends und sprechen da nur Englisch.“ „Wann ist das nächste Treffen?“ Das klang ja mal nach einer nicht allzu komplizierten Anfrage. „Nächste Woche Montag“ Harry sah vorsichtig auf. „Das ist in einem Restaurant. Und Misses Granger-Weasley sagte, dass ich minderjährig bin und deshalb nur kommen darf, wenn du auch kommst.“ „Warum nicht? Es ist sicherlich gut, wenn ich mal die Chance habe, ein paar Worte mit ihr zu wechseln“ Vielleicht hatte sie ja noch Ideen, wie er Harry helfen konnte. Er hatte mittlerweile einen anderen Roman begonnen und arbeitete stets weiter in seinem Übungsheft, aber es gab sicher noch mehr, was er tun könnte. Er sollte auch fragen, ab wann es sinnvoll wäre, Englisch mit Harry zu sprechen. „Wo und um wie viel Uhr?“ „Äh … weiß ich nicht?“ Harry zog den Kopf ein. „Ich frage nach, ja?“ „Mach das“ Severus nickte nur und wandte sich wieder seinem Essen zu. „Und wie war dein Tag?“ „Hm … Cho ignoriert mich weiter. Aber ich versuche auch, ihr auszuweichen. Und ihr Freund hat sie heute wieder abgeholt. Sie hat ihn geküsst und er hat mich böse angesehen … ich denke, er ist ihr Freund.“ „Bevor du das nächste mal jemanden küsst, solltest du heraus finden, ob dieser Jemand vergeben ist“ So viel Rat konnte selbst Severus geben. „Du bist nicht vergeben, oder?“ Harry wartete nicht einmal eine Antwort ab. „Warum nicht?“ „Wer würde schon so einen hässlichen, alten Kerl wie mich nehmen?“ Severus schnaubte. „Ich“ Harry musterte ihn. „Bist du hässlich für einen Engländer? Ich finde nicht, dass du hässlich bist. Du hast eine glatte Haut und durchgehend Haare und du bist auch nicht dick. Du würdest mich nicht erdrücken, wenn du über mir liegst.“ Severus wandte den Blick ab und hielt die Luft an, bevor mit dem Essen in seinem Mund irgendein Unglück passierte. Nach einem Moment der Beruhigung schluckte er, bevor er wieder begann zu atmen. Er betete sich dabei vor, dass Harry es nicht besser wusste. Und dass der letzte Satz bestimmt nicht so gemeint war wie er sich angehört hatte. „Du bist größer als die anderen Männer, die ich kannte. Tut es mehr weh, wenn du so groß bist?“ Oh Herr Gott, er hatte es doch so gemeint. Severus stockte erneut, bevor er sich mit tiefen Ein- und Ausatmen wieder unter Kontrolle brachte. Der Junge hatte auch nie gelernt, was ein sozial angemessenes Gespräch war, oder? „Harry, in einer Beziehung geht es um mehr als Sex. Da wäre ich wohl mit den meisten halbwegs kompatibel. Es geht darum, dass man sich mag und miteinander auskommt und mit den Macken des anderen leben kann“ Es ging bestimmt noch um mehr, aber ehrlich gesagt konnte Severus es nicht viel besser beschreiben. All seine Beziehungsversuche waren daran gescheitert, dass er mit dem jeweils anderen nicht auskam. „Ich mag dich. Und wir kommen doch miteinander aus, oder? Oder mache ich etwas falsch? Soll ich etwas ändern?“ Harry sah ihn mit großen, flehenden Augen an. Die Augen eines Kindes, das eine Heimat suchte. Der Anblick tötete jede Erregung, die Severus zuvor verspürt hatte. „Nein, Harry, du kannst so bleiben“ Severus seufzte tief. Wie sollte er denn erklären, was er sagen wollte? „Ich müsste mich ändern, damit eine Beziehung funktionieren kann.“ Harry blinzelte nur verwirrt und setzte zu einem Satz, halb Frage, halb Aussage an: „Aber ich mag dich doch ...“ „Gerade setzt du auch keine hohen Ansprüche. Ich gebe dir Essen und ich schlage dich nicht. Ich zwinge dich nicht zu einer Arbeit, die du nicht machen willst. Gerade ist das für dich etwas Besonderes, aber du wirst bald merken, dass das der Standard ist, den du von jedem Menschen erwarten kannst“ Er musste schlucken. Ihm war als würde das Essen wieder hoch kommen. Er legte sein Besteck zur Seite. „Und es gibt viele Menschen, die mehr zu bieten haben als ich.“ „Was denn?“ Harry legte neugierig den Kopf zur Seite. „Nun, sie … sie sehen besser aus. Und sie sind nett. Sie vertreiben nicht andere mit ihrem bloßen Anblick. Sie haben Freunde und eine Familie. Sie sind … fröhlich. Und unbeschwert. Ich bin nur ein verbitterter alter Mann, den keiner bei klarem Bewusstsein mögen kann. Du hast etwas Besseres als mich verdient“ Er hatte schon das gesamte Gespräch das Gesicht abgewandt. Er wollte Harry bei seinen Worten ansehen, aber er schaffte es nicht sich selbst zu überwinden. Ihn anzusehen schien unendlich schwer. Harrys Blick lag auf seinem Essen. Auch er stocherte eher lustlos darin herum statt etwas zu sich zu nehmen. Nach einigen Sekunden begann er jedoch wieder zu essen. Allerdings hob sich sein Blick nicht mehr. Severus machte es ihm nach und aß still. Severus war es gewohnt, kein Mittagessen zu sich zu nehmen und stattdessen durchzuarbeiten. An diesem regnerischen, kalten Freitag jedoch war ihm danach, sein Büro zu verlassen. Lydia fragte noch, ob sie ihm irgendetwas bringen solle, aber er ging einfach wortlos an ihr vorbei. Draußen atmete er die stadtfrische Luft ein und sah sich um. Was sollte er nun mit seiner gewonnenen Freizeit? Essen? Spazieren? Nun, ein weiterer Kaffee könnte helfen. Irgendwo in der Nähe gab es einen Starbucks, wenn er sich recht entsann. In Ermangelung jeglichen Wissens über die Umgebung der Kanzlei wandte er sich spontan nach rechts und ging die Straße hinab. Selbst wenn der nächste Starbucks sich woanders befand, in jeder Richtung würde früher oder später ein Laden dieser Kette angesiedelt sein. Konnte Harry das wirklich ernst gemeint haben? Gab es die Möglichkeit, dass Harry ihn mochte? Nicht nur, weil er ihn aus diesem Loch in Thailand geholt hatte sondern als Mensch? Es schien kaum denkbar. Nein, es war einfach undenkbar. Er war einfach nur der einzige, den Harry gerade hatte. Was sollte der Junge denn schon anderes denken? Er war misshandelt und verkauft worden, es war eine natürliche Reaktion, sich an das erste Wesen zu hängen, was eine Alternative dazu bot. Was sollte Harrys Kopf aus diesem Gefühl absoluter Abhängigkeit schon anderes machen als Zuneigung? Und doch … wenn er sich ändern könnte, vielleicht könnte er der Mensch für Harry sein, den er verdiente. Vielleicht könnte er zumindest gut genug werden. Severus schnaubte. Welch ein dummer, kindischer Traum. Hatte er nicht genau dieselben Gedanken schon einmal gehabt? War er ewig verdammt dazu, sie zu wiederholen? Er wäre nie genug. Er könnte noch so viele Kurse absolvieren, er würde niemals den Stand eines normalen Menschen erreichen. Er würde niemals sorglos lachen, niemals wieder mit einem Blick voller Unschuld der Welt entgegen blicken. Er würde niemals das innere Leuchten haben, nach dem ein Mensch wie Harry suchen sollte. Er würde niemals die Arme um den Jungen schließen und mit der Kraft seiner Selbst irgendetwas in ihm heilen. Er war auf ewig verflucht, alles zu zerstören, was er anfasste. Er war genau so gewalttätig wie sein Vater, genau so egoistisch wie seine Mutter. Er ließ seinen Schmerz an anderen aus und verlangte, dass sie ihm trotzdem vergaben und sich seinem Willen beugten. Er regierte andere mit nichts als Terror und die Vorstellung, er könnte etwas anderes lernen, war lachhaft. Wer wäre er denn schon, wenn er seine Wut aufgab? Was machte Severus Snape denn anderes aus als seine Wut auf die ganze Welt? Was außer Wut, Hass und Rache war denn in ihm? Er war eine Maschine, die Geld anhäufte, nicht mehr und nicht weniger. Welchen Sinn hatte er denn sonst schon? Er blieb den Menschen im Gedächtnis, indem er ihnen weh tat. Wie sollten sie sich schon sonst an ihn erinnern? In dem Punkt hatte er Lupin belogen. Ihm war die Meinung anderer nicht egal. Er konnte es nicht ausstehen, wenn er ihnen egal war. Er brauchte seinen Wert, auch wenn dieser Wert im Hass lag. Wenn andere ihn nicht hassten, wer war er dann schon? Was war er dann schon? Er hatte auch schon vor dieser Stunde gewusst, dass seine Aggressivität rein von seiner Einstellung abhing. Er verletzte andere, weil er andere verletzen musste. Weil er sein Gefühl seines Selbst verlor, wenn er andere nicht verletzte. Aber er wollte Harry nicht verletzen. Und gleichzeitig war Harrys Meinung die wichtigste Meinung, die er wünschte. Nur wollte er Harrys gute Meinung, nicht seinen Hass. Er blieb stehen und hob seinen Blick zu dem völlig bewölkten Himmel. Wie sollte er Harrys gute Meinung gewinnen? Wie sollte er irgendjemandes gute Meinung gewinnen? All diese dummen, dreckigen, erfolglosen Menschen um ihn herum, wie konnten sie glücklicher sein als er? Wie konnten sie so intuitiv das, was er nie gelernt hatte? Sie lächelten und sie lachten und kümmerten sich nicht an der Jämmerlichkeit und Lächerlichkeit ihrer Existenz. Wie konnten sie lieben und geliebt werden, wo Severus nicht einmal wusste, wie Liebe aussah? Mit einer unwirschen Handbewegung versuchte er diese zuckrig süße Melancholie aus seinem Kopf zu wischen. Wie tief war er gesunken? Musste er neuerdings über die Unfairness der Welt lamentieren? Er hatte Besseres mit seiner Zeit anzufangen. Wie einen guten Kaffee bei dem Starbucks an der nächsten Ecke zu holen. Nicht dass Lydia einen schlechten Kaffee brühte, höchstwahrscheinlich war er besser als das Gesöff, was sie in diesem 08/15-Laden verkauften, doch einen Kaffee zu kaufen schien eine sinnvolle und produktive Tätigkeit. Sicherlich produktiver als dieselben selbstmitleidigen Gedanken ein sonst wievieltes mal in Endlosschleife abzuspulen. Er betrachtete die Auswahl des stets homogenen Sortiments dieses weltweiten Verkaufsviruses und entschied sich nach eingehender Betrachtung für schwarzen Kaffee. Nicht sehr außergewöhnlich, aber sicherlich ebenso langweilig wie seine Persönlichkeit. Und ähnlich gefärbt noch dazu. Sein Blick blieb dabei an der weißen Schokolade hängen und er überlegte, ob Harry so etwas wohl mögen würde. Und vielleicht einen dieser Muffins. Harry schien ein Muffin-Typ zu sein. Vielleicht möchte er auch Kekse. Bisher wusste Severus nur, dass er auf Donuts und Mini-Muffins stand. Im Endeffekt auf alles, was süß und leicht klebrig war – und nein, ganz schlechte gedankliche Verbindung – also würde er wahrscheinlich auch dieses Gebäck mögen. Vielleicht sollte er Harry am Samstag wieder mit in die Stadt nehmen. Er könnte ihn in einen Starbucks ausführen. Oder in ein Kino. Severus verbannte den Gedanken sofort und bestellte bei der nur noch aufgesetzt lächelnden Verkäuferin. Was für ein dummer Gedanke. Das klang fast nach einem Date. Wann war er das letzte mal im Kino gewesen? Mit seiner Ex-Freundin auf einem Doppeldate, wenn er sich recht entsann. Sie waren hin, sie hatten den Film gesehen, sie waren wieder gegangen. Sie taten, was man als Paar halt tat. Er war noch nie in ein Kino gegangen, weil er dorthin wollte. Erst recht nicht für den Menschen, mit dem er dorthin wollte. Seine Gedanken heute waren schier absurd. Was für einen Blödsinn spann sein Kopf heute bloß zusammen? Nur aufgrund von ein paar unbedarft gesagten Worten. Wie sollte er Harry jemals auf Dauer aushalten, wenn ihn ein paar Worte schon so mitnahmen? Er konnte so nicht einmal mehr arbeiten. Was, wenn seine Gefühle ihn vollkommen nutzlos machen würden? Er nahm seinen Kaffeebecher und verschwand so schnell wie möglich aus dem Laden. Er hasste Menschenmassen. Hoffentlich wussten sie wenigstens, was guter Kaffee war. Im klaren Bewusstsein, dass er sich wahrscheinlich die Zunge verbrennen würde, nahm er einen Schluck. Kaum einen Moment später spuckte er das Zeug auf den Gehweg und nahm fassungslos den Geschmack auf seiner Zunge wahr. In seinem Becher befand sich weiße Schokolade. Natürlich hatte er Harry nicht mitgenommen. Erst recht nicht in ein Kino. Welcher Teufel ihn auch immer am Freitag geritten hatte, er war ganz klar nicht bei Verstand gewesen. Der Junge gehörte zuhause vor seine Bücher und nichts anderes. Er hatte Severus das ganze Wochenende verstohlene Blicke zugeworfen, aber dieser hatte sie gekonnt ignoriert. Am Montag Abend konnte er den Jungen natürlich nicht weiter ignorieren. Er fragte ihn aus, auf was für Leute er treffen würde und Harry erzählte ihm fröhlich – und ausführlich – über die Menschen, die er kennen gelernt hatte. Eine Menge der Kursmitglieder schienen Hausfrauen zu sein, die nach England eingeheiratet hatten. Er sah den entsprechenden Männern mit einem gewissen Schrecken entgegen. Er war zwar kaum besser – er hatte nicht mal eine weibliche, volljährige Prostituierte mitgenommen – aber das hieß, dass die Männer wahrscheinlich das durchschnittliche Klientel thailändischer Nachtdamen waren. Die anderen Kursbesucher waren wohl entsprechende Kinder, meist halb thailändisch, halb englisch oder sie waren Asylanten wie Harry und Cho. Insgesamt achtundzwanzig Kursmitglieder, von denen heute Abend elf kommen würden, einige davon in Begleitung. Er hasste Menschenmassen. Doch zumindest konnte er sich einreden, dass er hin fuhr, um mit Professor Granger-Weasley zu sprechen. Und um Harry eine Freude zu machen. So viel konnte er sich eingestehen. Er hasste es, mit anderen Menschen zu reden, aber er sah die Notwendigkeit, Harry die Möglichkeit zur Erhaltung von Sozialkontakten zu geben. Außerdem war es nur recht, Harry auch einmal einen Abend zu entlasten. Der Junge gab sich sehr viel Mühe mit dem Abendessen. Es war nur recht, wenn Severus auch mal etwas für ihn tat. Nicht zu vergessen, wie oft der Junge ihn massierte und wie wenig er ihm dafür zurück gab. Als wäre er in einer ständigen Schuld, von der er nichts zurückgeben konnte. Wenn der Junge dafür zum Essen ausgeführt werden wollte, um seine Bekannten zu treffen, war das ein Preis, den Severus gern zahlte. Denn was hatte er schon außer Geld? Es gab nicht viel, was er sonst geben konnte. Er parkte den Wagen und folgte Harry in Richtung des Restaurants, an dem sie kurz zuvor vorbei gefahren waren. Er musste einfach nur still sein und nicht zu viele Leute beleidigen. So viel sollte er doch wohl hinkriegen. Es war das mindeste, was er für Harry tun konnte. Kapitel 7: Eine Feier --------------------- Harry und er betraten das Restaurant und fanden sich in einer uhrigen Kneipenatmosphäre wieder, allerdings schienen die Leute gesitteter als der durchschnittliche Besuch eines Etablissements der gleichen Einrichtung. Weder wurden laute Trinksprüche ausgestoßen noch waren die Plätze gefüllt mit Bierhumpen. Von Zigarettenrauch war keine Spur erkennbar und gegessen wurde auch mit einem Mindestmaß von Anstand. Nicht unbedingt mit den Standards, die er verlangte, aber dafür befanden sie sich in einem Restaurant der falschen Preisklasse. Er unterdrückte das Rümpfen seiner Nase und half stattdessen Harry aus seinem Mantel. Dieser revanchierte sich natürlich sofort und hängte Severus Mantel neben seinen. Severus währenddessen sah sich um. Die Gruppe musste ja einen großen Teil des Restaurants einnehmen, also sollten sie doch eigentlich gut sichtbar sein. Allerdings sah er keine große Zusammenstellung von Tischen. Hatten Sie sich vielleicht in Ort oder Zeit geirrt? Er stoppte eine vorbei laufende Kellnerin und fragte sie, ob heute Abend ein Treffen eines Volkshochschulkurses hier stattfände. Sie verwies sie auf eine Tür, die er vorher nicht gesehen hatte und die anscheinend zu einem Hinterraum führte. Harry folgte ihm einfach in völligem Vertrauen, dass er wusste, was er tat. In besagtem Hinterraum befanden sich zwei lange Tische für insgesamt sicherlich vierzig Leute. Severus konnte das Seufzen nicht zurückhalten. Hatte er schon gesagt, wie er Menschenmassen hasste? Aktuell war erst ein Tisch zur Hälfte besetzt, andererseits waren sie auch zwanzig Minuten zu früh. Er wandte sich an Harry und flüsterte auf Thai: „Würdest du mich vorstellen?“ „Ich versuche es“, erwiderte dieser und trat auf die ihnen am nächsten befindliche Dame zu, die er auf Englisch vorstellte, „Dies ist Misses Wethter.“ „Guten Abend. Ich verdanke ich den wunderbaren Braten, habe ich gehört?“ Er reichte der thailändischen Dame die Hand, welche diese schüttelte und lächelte. „Meine Frau ist eine wunderbare Köchin.“ Der Mann, der sich erhob, um ihm die Hand zu schütteln entsprach exakt dem, was er sich unter dem typischen Ehemann einer importierten Frau vorstellte: alt, dick und zutiefst selbstüberzeugt. „Snape“, stellte er sich vor und wies auf Harry, „mein Sohn Harry.“ „Hallo, Harry“ Der Mann schüttelte auch Harrys Hand, was Severus das Bedürfnis gab, den Jungen auf die nächste Toilette zu ziehen und ihm die Hände zu waschen. Auch Harry lächelte nur – Severus erkannte sofort, dass es wirklich nur die integrierte Höflichkeit war, die ihn lächeln ließ – und ging weiter, um ein thailändisches Ehepaar und ihre kleine Tochter vorzustellen, die alle Kursteilnehmer waren. Ihnen gegenüber saßen Frau Professor Granger-Weasley und ihr Ehemann Weasley sowie die jugendliche Schwester dieses Ehemanns mit Namen Ginny. Daneben saß ein englisches Ehepaar, das anscheinend einen achtjährigen thailändischen Jungen adoptiert hatte. Nach den Vorstellungen stellte Severus Harry zum ersten mal eine Frage auf Englisch: „Wo würdest du gern sitzen?“ Harry sah ihn einen kurzen Moment bewildert an, bevor er lächelte und um den Tisch ging, um sich neben Misses Wethter zu setzen. Severus folgte ihm einfach und nahm daneben Platz. Die Mutter des adoptierten Jungen, die ihm gegenüber saß, schien ihn sofort in ein Gespräch verwickeln zu wollen: „Und wie lange lebt ihr Harry schon bei Ihnen?“ Severus schüttelte es innerlich. Elterngespräche. Er erinnerte sich, auf manchen Veranstaltungen, wo Eltern ihre Kinder in der Schule besuchten, solche überhört zu haben. Liebende, stolze Eltern, die sich über die Erfolge ihres Nachwuchses austauschten. Kein Wunder, dass bei ihm nie jemand da gewesen war. Er hätte auch niemanden seiner Eltern gern dort gewollt. Er hatte sich schon für sich selbst genug schämen müssen. Dennoch war wohl eine Antwort erfordert: „Seit fünf Wochen.“ „Unser Hang ist seit zwei Monaten bei uns. Wir haben ihn adoptiert, weil wir keine eigenen Kinder bekommen können. Wie ist Ihr Harry denn zu Ihnen gekommen?“ Ich habe ihn aus einem Bordell mitgenommen. Severus seufzte unhörbar. Das war nicht die Antwort, die er geben wollte. Hoffentlich hielt sich auch Harry an die erfundene Geschichte. Er sollte ihn nochmal darauf ansprechen. Aber erst sollte er wohl antworten: „Er ist bisher in Thailand bei seinen Verwandten aufgewachsen und wollte jetzt zu mir nach England. Hier kann ihm eine bessere Ausbildung gegeben werden und ihm selbst ist der starke familiäre Bezug nun nicht mehr so wichtig.“ „Darf ich fragen … ist Ihre Frau in Thailand geblieben? Sind Sie geschieden?“ In ihrer Stimme lag Mitgefühl. Es gab Severus das Bedürfnis sich zu schütteln. „Sie ist verstorben.“ „Das tut mir sehr Leid für Sie. Und für Harry erst! Wie geht es ihm denn damit?“ Die Dame warf Harry einen mitleidsvollen Blick zu. Dieser hörte zum Glück dem Gespräch zwischen der Professorin und Frau Wethter zu, die sehr langsam kurze Sätze auf Englisch tauschten. „Das ist … vierzehn Jahre her“ Severus musste kurz im Kopf Harrys Angaben zu seiner Familiengeschichte aufrufen. „Er ist bei Tante und Onkel aufgewachsen.“ „In Thailand?“ Die Dame nickte, als hätte er die Frage bejaht. „Und Sie haben ihn erstmal in einen Sprachkurs gegeben, bevor er in die Schule kommt? Das macht den Übergang sicherlich leichter.“ „Er kann auch kein Englisch“ So langsam wärmte Severus auf. Nicht, dass er die Konversation irgendwie angenehm fand, aber zumindest schien sich die Dame nicht zu stören, dass er keine Gegenfragen stellte und nur kurz antwortete. „Ich spreche Thai.“ „Ach wirklich?“ Sie schien begeistert. „Kommen Sie selbst aus Thailand? Oder haben Sie dort lange gelebt?“ „Ich bin geschäftlich oft in Thailand“ Sollte sie doch ihre eigene Geschichte aus seinen Worten bilden. Er hatte nirgendwo gelogen. Er korrigierte nur nicht ihre Fehlannahmen. „Oh, welcher Beschäftigung gehen Sie denn nach, wenn ich fragen darf?“ Wenigstens schien sie aus der sozialen Schicht zu stammen, in der er sich gerade bewegte. Ihre Wortwahl gefiel ihm. Solange sie ihn nicht dazu zwang, klischeehafte Worte über ihre Brut auszustoßen oder anzuhören, konnte er wohl mit ihr reden. Er erwiderte: „Ich bin Anwalt für Wirtschaftsrecht bei Johnson & Söhne.“ „Ach wirklich?“, mischte sich nun auch der Mann ein, der wohl die ganze Zeit bereits mit einem halben Ohr zugehört hatte. „Auf der Upper Street, richtig? Ich habe schonmal von Ihrer Kanzlei gehört.“ „Wir sind die zur Zeit weltweit führende Kanzlei für wirtschaftliches Vertragsrecht und Aktienrecht. Auch Arbeitsrecht, Kartellrichtlinien und Patentrecht liegen in unserem Spektrum, sind jedoch in einer anderen Abteilung als der meinen lokalisiert“ Severus merkte, wie er automatisch in den Kanzleimodus verfiel. Ein wenig tat es ihm Leid, dass zumindest Hang wahrscheinlich nicht ein einziges Wort verstand. Auch wenn zu befürchten war, dass auch die Mutter an dieser Stelle bereits nicht mehr zuhörte. „Wir bieten Rechtsbeistand für Großfirmen. Ich persönlich bin zum Beispiel für Firmenaufkäufe, Fusionen und Future-Joints zuständig. Auch Outsourcing, Firmenhierarchien und Aktionärsrecht fallen in meinen Bereich. Ich bin alleinig zuständig für die Anfragen der Rechtsabteilung von BlackRock in Großbritannien.“ „Das bringt auch eine hohe Verantwortung mit sich“, sprach die Mutter, bevor ihr Mann genauer nachfragen konnte, „arbeiten Sie viel?“ „Samstags oft nur halbtags und sonntags nicht. Meine Geschäftsreisen habe ich auf ein bis zwei pro Monat reduziert“ Und derzeit völlig gesperrt. Nicht nur schien sein Chef immer noch sauer, dass er zwei Tage zu spät gekommen war, auch wollte er selbst gerade nicht weg. „Ist Harry da viel allein? Wir nehmen ihn gern, wenn Sie wieder verreisen. Hang und er verstehen sich gut und Harry ist ein sehr höflicher Junge“ Die Mutter lächelte, doch in ihren Augen geiferte die Gier. Sie wollte unbedingt Kinder, so viel verstand Severus, auch wenn er nicht wusste, warum. Wahrscheinlich passte Harry mehr in ihr Konzept als Hang, der noch nicht ein Wort gesagt hatte. „Kannst du schon verstehen, was wir sagen?“, sprach Severus den Jungen auf Thai an. Dieser schwieg einfach nur und betrachtete ihn mit großen, erschrockenen Augen. „Hang spricht nicht“, klärte Harry ihn auf, der bei den thailändischen Worten aufgemerkt hatte, „Weder Thai noch Englisch. Manchmal nickt er oder schüttelt den Kopf. Er hat viel Angst, glaube ich.“ „Harry, magst du das nicht nochmal auf Englisch versuchen?“, ermunterte die Professorin ihn. „Ich versuche“ Harry nickte. „Hang hat Angst. Er sprechen nicht. Viel Angst.“ Es war grammatikalisch grässlich und die Aussprache war ein Gräuel, aber Severus musste sich zusammen reißen, nicht Harry zu nehmen und zu küssen. Er beließ es dabei ihm eine Hand auf die Schulter zu legen und zu lächeln. Vielleicht nicht viel, aber Harry schien es zu erkennen. „Und was fürchtet er?“, fragte Severus mit langsamer Wortreihenfolge nach. „Alles“ Harry schien kurz zu überlegen. „Andere Menschen. Anderes Wetter. Anderes Geräusch. Englisch. Viel anders.“ „Und macht dir das auch Angst?“ Severus wusste, dass England ein ziemlicher Kulturschock war. Trotzdem hatte Harry das alles bisher sehr gut mitgenommen. Er kochte alle paar Tage etwas thailändisches und las die Bücher und sprach mit Severus. Er schien eine Menge mit sich gebracht zu haben und doch erwartete Severus, dass da noch etwas kam. Niemand ließ eine komplette Kindheit einfach zurück und begann ein neues Leben. Vom Scheitern solcher Vorgehen könnte Severus Lieder singen. „Ich habe dich“ Harry lächelte. „Und ich habe Jacke.“ Dieses mal konnte Severus nicht anders, er strich Harry durch das Haar. Dieser grinste und freute sich über seinen Witz. Ehrlich gesagt freute es Severus auch, auch wenn nicht mehr als ein kleines Lächeln seine Mundwinkel hob. Harry ging erst wenige Wochen in diesen Sprachkurs und trotzdem war er schon in der Lage, sich einen Witz auszudenken und auszudrücken. Kein sehr elaborierter, aber wer verlangte das schon? „Es ist schön zu sehen, wie gut Harry mit der Situation klar kommt“ Die Mutter von Hang lächelte traurig. „Hang hatte bisher einen schweren Start. Wir haben gehofft, der Sprachkurs könnte ihm helfen.“ „England ist nunmal ein ganz anderes Land“ Setzte er wirklich gerade dazu an, einer Mutter zu erklären, wie sie mit ihrem Sohn umgehen konnte? Was war neuerdings in ihn gefahren? „In Thailand wird zum Beispiel sehr viel mehr gelächelt als bei uns. Ihr Kind morgens nicht anzulächeln heißt für ihn, dass er schlecht und nicht erwünscht ist.“ Die Mutter hob eine Hand vor ihren Mund und zog scharf die Luft ein. Auch der Vater hatte sich mittlerweile ganz dem Gespräch zugewandt. Sein Gesicht war eine einzige Maske, die sich nicht um ein Iota verzog. Bei seinem Anblick war Severus froh, wie viel Mimik er für Thailand hatte lernen müssen. So gruselig wollte er dann wirklich nicht aussehen. „Und was muss ich noch tun?“ Die Mutter sah ihn mit großen Augen an. „Lesen Sie doch ein paar Bücher über thailändische Kultur. Kochen Sie thailändisch. Lernen Sie ein paar thailändische Kinderreime. Kaufen Sie ein paar Räucherstäbchen und bunte Tücher. Suchen Sie ein paar Spielkameraden für Hang, die Thai sprechen“ Gab es gerade wirklich konstruktive Vorschläge zur Kindererziehung? Was, wenn er dem Kind schadete? „Machen Sie einen Tanzkurs für thailändische Tänze zusammen. Es gibt viele Wege, den Übergang zu erleichtern.“ „Würde das helfen?“ In ihren Augen schien Hoffnung. Woher sollte er das wissen? War er nun Spezialist für Auslandsadoptionen? Das war ihm jetzt vielleicht spontan eingefallen, aber er wusste nicht einmal, wie man ein normales Kind glücklich machte. Wie sollte er da Genaueres über international adoptierte Kinder wissen? „Was du sagen?“, fragte Harry nach, der ihm wohl auch zugehört hatte. Er wiederholte seine Worte kurz in Thai, was Harry lächeln ließ. Als er all seine Vorschläge genannt hatte, umarmte Harry ihn sogar über die Stuhllehne hinweg und schenkte ihm ein breites Lächeln. „Kann ich Räucherstäbchen haben?“ Das Wort für Räucherstäbchen sprach er in Thai. „Nur für dein Zimmer“, erwiderte Severus und schob Harry mit einem Finger gegen dessen Stirn wieder von sich weg. Das Lächeln konnte er dabei nicht unterdrücken. Das Ehepaar sprach währenddessen leise miteinander über Hangs Kopf hinweg. Der Junge hatte bisher abwechselnd Harry und Severus angesehen, aber keinen Ton geäußert. Bei seinem Anblick musste Severus realisieren, wie einfach er es eigentlich mit Harry hatte. Der Junge hatte entschieden, bei ihm sein und nach England kommen zu wollen und nicht einmal den geringsten Zweifel an dieser Entscheidung geäußert. Harry schien kein Mensch, der von Zweifeln oder Reue geplagt wurde. Im Endeffekt hatte er die eins in einer Millionen Chance erwischt, jemanden zu treffen und mitzunehmen, mit dem er sich so gut verstand. Er realisierte erst bei Hangs Anblick, wie schief dies hätte laufen können. Da schien ein Jucken in seiner linken Hand, das ihn zog, damit Harrys Hand zu greifen. Er unterdrückte den Wunsch. Das war einfach nicht angemessen. Vieles, was er wünschte, war nicht angemessen. Er wünschte, er hätte Harry nicht von sich geschoben sondern gewartet, bis diesem das Umarmen langweilig wurde. Wessen Wunsch war ihr vieler Körperkontakt wohl wirklich, Harrys oder seiner? Seine Überlegungen wurden unterbrochen durch eine Gruppe von Damen, die den Raum betraten und sich allen vorstellten. Die drei Damen schienen Freundinnen zu sein und kamen alle ohne männliche Begleitung. Eine von ihnen trug ein Baby in einem Wickeltuch vor dem Bauch. Sie setzten sich zu Severus rechter Seite, sodass er mit einem tiefen Seufzen schloss, dass der Abend für ihn grässlich werden würde. Schnatternde Weiber zur rechten, eine besorgte Mutter gegenüber und ein uninteressierter Harry zur linken. Im Endeffekt wurde der Abend nicht ganz so schlimm wie erwartet. Die drei Damen gaben ihre elementaren Flirtversuche bald auf und unterhielten sich stattdessen mit der Mutter und dem später dazu gekommenen Paar. Hangs Vater schaffte es doch noch an seiner Frau vorbei eine fachliche Diskussion mit Severus zu beginnen, was in und an sich weder besonders langweilig noch besonders spannend war. Der Mann des später gekommenen Paares mischte sich alsbald in die Diskussion ein, sodass er und die Mutter mit Hang bald die Plätze tauschten. Harry unterhielt sich mit den Leuten zur linken Seite, denen Severus wenig Aufmerksamkeit schenkte. Dieser Weasley schien vollkommen auf seine Frau fixiert und bei den Themen Rezepte, Hausarbeit und Berufe für unausgebildete Arbeitskräfte hatte Severus wenig mitzureden. Das Essen war gut, so viel Positives konnte Severus aus der Sache ziehen. Harry hatte Spaß und das war ihm eher wichtig. Er überstand den Abend ohne jemandem vor den Kopf zu stoßen oder wütend zu machen, was wohl als persönlicher Erfolg zu zählen war. Und schlussendlich konnte er Professor Granger-Weasley seine Fragen stellen. Für ein soziales Event schien das eine ganz gute Bilanz. „Schön, dass wir alle vollzählig sind“ Charlie lächelte in die Runde. „Wie ihr sicher bemerkt habt, haben wir ein weiteres Mitglied. Er kam letzte Woche zu spät, aber dieses mal hat er es geschafft. Er kennt die Regeln hier“ Charlie hielt ihm den Handtrainer hin. „Barty, würdest du dich bitte kurz vorstellen?“ Der junge Mann, der sich neben Draco gesetzt, aber den Stuhl von diesem weggerückt hatte, schnaubte. Er war dürr, hatte gegelte Haare und sah aus wie ein fanatischer Sektenanhänger. Außerdem schien er ungefähr genauso begeistert von dieser Runde wie sein Sitznachbar. Charlie allerdings hatte fraglos die Ruhe weg. Er starrte Barty wartend an und machte selbst nach dreißig Sekunden noch nicht weiter. „Sag einfach deinen Namen, Junge, ich hab' nicht den ganzen Abend“, raunte stattdessen Sirius ihn an. „Barty“, murmelte dieser nur. Den Handtrainer hatte er dafür nicht genommen. „Eigentlich müsste ich euch beide jetzt ermahnen, aber belassen wir es mal dabei“ Charlie nahm eine entspannte Pose ein. „Wir beginnen jede Stunde mit einer Zusammenfassung, was letzte Woche besprochen wurde. James, könntest du bitte erzählen, an was du dich noch erinnerst?“ Der Handtrainer wechselte den Besitzer. „Letzte Woche … ging es um die Einstellung zur Gewalt. Je mehr Gewalt man sich erlaubt, desto mehr benutzt man.“ „Sehr gut“ Charlie nahm den Handtrainer zurück und schlug die Seite auf dem Flipchart auf, die er letzte Woche beschrieben hatte. „Zuerst kommt der automatische Gedanke, auf eine Provokation mit Gewalt zu reagieren. Die eigene Einstellung entscheidet, ob man dem Impuls nachgibt oder nicht und wie gewaltsam man ihm nachgibt“ Er ließ eine kurze Pause, in der er den Blick durch die Gruppe schweifen ließ. „Heute beschäftigen wir uns damit, was überhaupt eine Provokation ist. Und wenn wir heute so weit kommen auch damit, was eine sozial angemessene Reaktion ist“ Er hielt den Handtrainer in Igors Richtung, der wieder rechts von ihm saß. „Ich bitte jeden eine Situation zu beschreiben, die ihn heute geärgert oder wütend gemacht hat.“ „Hm“ Igor sah den Handtrainer an und drückte ihn versuchsweise. „Meine Freundin hat mit dem Postfritzen geflirtet“ Er reichte das Gerät an Severus. „Meine Arbeitskollegen haben sich im Gang laut unterhalten“, steuerte dieser bei und gab weiter. „Sirius hat das Chick ausgelacht, das ich angemacht habe“ James warf diesem einen bösen Blick zu. „Die war fett! Du hast ein Walross angeflirtet“ Er nahm den Handtrainer entgegen. „Und dann meintest du auch noch, ich habe einen schlechten Geschmack“ Er gab diesen an Draco weiter. „Mich hat heute nichts wütend gemacht“, meinte dieser nur. Dafür sah er allerdings verdammt angespannt aus – eher, als würde ihn absolut alles wütend machen. Barty nahm den Handtrainer und hob kurz den Blick in die Runde. Allgemein vermieden sie alle, sich anzusehen. Nur Severus sah stets auf und so war er es auch, der diesen Blick erwiderte. Barty verzog das Gesicht in einem Ausdruck wie Ekel und sah wieder zu Boden, während er sagte: „Mein Alter hat mir eine runter gehauen.“ Charlie nahm den Handtrainer wieder entgegen und fuhr fort: „Jeder hier scheint einen guten Grund zu haben, heute auf etwas wütend zu sein.“ Severus wusste ehrlich gesagt nicht, ob Stimmen auf dem Flur wirklich so etwas Ärgerliches waren. Außer ihm schien sich niemand groß darüber aufzuregen. Sie waren auch nicht laut gewesen. Es ärgerte ihn mehr, dass diese Menschen sich überhaupt unterhielten. Sie waren in der Kanzlei zum Arbeiten, nicht zum Reden. „Genau genommen passiert meist mehrfach am Tag etwas, das einen wütend macht. Bei vielen sogar mehrmals die Stunde. Trotzdem fahren die meisten Menschen nicht jeden Tag mehrfach aus der Haut. Weiß einer, warum?“ Natürlich meldete sich keiner, aber Charlie schien auch nichts anderes erwartet zu haben. „Sie beurteilen solche Situationen anders. Wir gucken uns jetzt mal eine Beispielsituation an, an der ich diesen Unterschied erklären will.“ Er schlug eine freie Seite auf dem Flipchart auf. Severus verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. Das schien etwas Längeres zu werden als letztes mal. Im Endeffekt vermutete er, dass die erste Stunde mehr dafür da war, die Regeln zu lehren als irgendwelchen Unterrichtsstoff. Das hier klang eher nach einer Lehrstunde. „Nehmen wir an, jeder von euch hätte eine Freundin. Diese Freundin würde eine SMS bekommen und ihr fragt, was war. Sie zuckt mit den Schultern und sagt 'Nichts Wichtiges'. Was ist der erste Gedanke, der euch kommt?“ Er gab den Handtrainer an Igor. „Sie verheimlicht was“, antwortete dieser wie aus der Pistole geschossen. „Ich bin ihr nicht wichtig“, fuhr Severus fort und gab den Handtrainer weiter. „Sie hat einen anderen“, meinte James. „Ihr seid echt paranoid“ Sirius sah sie alle an. „Ich vermute, es ist nichts Wichtiges.“ „Sie lügt“, fügte aber auch Draco hinzu. „Jo … das Genannte halt“ Barty gab den Handtrainer zu Charlie. „Jeder außer Sirius hat also eine negative Grundannahme“ Er schrieb die letzten zwei Worte auf das Blatt. „Ein optimistischer Mensch hätte gesagt, dass sie vielleicht eine Überraschungsparty plant. Ein realistischer Mensch vermutet, dass sie die Wahrheit sagt. Und ein pessimistischer Mensch hat so Gedanken wie ihr.“ „Dafür wundert man sich auch nicht, wenn sie mit 'nem anderen abhaut“, warf James ein. Charlie tippte nur den Handtrainer an, um James zu erinnern, dass es Regeln gab. Er fuhr fort: „Ihr alle habt diese negativen Grundannahmen erlernt. Wahrscheinlich hat jeder von euch eine gute Reihe Enttäuschungen erlebt, um heute so zu denken, wie er denkt. Heißt nicht, dass die immer realistisch sind. Also was ist eure Reaktion mit diesen negativen Grundannahmen?“ Er hielt den Handtrainer nur unbestimmt in die Runde. „Ich frage sie nochmal, wer das war und was er wollte“, erwiderte Igor, nachdem er sich das Gerät gegriffen hatte. „Ihr drückt euer Misstrauen irgendwie aus“ Charlie nahm den Handtrainer zurück. „Sei das durch eine Frage oder eine hoch gezogene Augenbraue oder indem ihr nachts ihr Handy nehmt und euch die Nachrichten durchlest. Und was ist ihre Reaktion auf euer Misstrauen?“ „Sie ist schlecht gelaunt und fühlt sich kontrolliert“, antwortete Severus, ohne den ausgestreckten Handtrainer zu nehmen. „Und wenn es ein paar mal vorkommt, streitet ihr deswegen und sie trennt sich irgendwann, weil sie sich nicht ernst genommen oder zu kontrolliert fühlt. Wer wurde schonmal deswegen verlassen?“, fragte Charlie in die Runde. Er legte den Handtrainer zur Seite und deutete einfach in die Runde. Igor, James, Sirius und Draco meldeten sich. Igor und James sofort, Sirius und Draco nach einem kurzen Moment. Severus überlegte seine Hand zu heben, aber im Endeffekt war er in seinen zwei Beziehungen verlassen worden, weil er langweilig wurde, nicht weil er die andere Person zu sehr kontrollierte. Was daran liegen könnte, dass ihm diese zwei Personen auch nicht wirklich wichtig gewesen waren. Er hatte sie nie an sein Herz gelassen. Sein Ex war verheiratet gewesen und an seiner Ex-Frau hatte er nie Interesse gehabt. „Angst davor, verlassen und verletzt zu werden, ist normal. Und diese Angst wird durch die kleinsten Dinge angeregt – wie zum Beispiel eine SMS. Die Reaktion darauf ist bei euch Misstrauen, Kontrolle, Wut und Gewalt. Das sorgt allerdings nur dafür, dass sie euch schneller verlässt oder nur aus Angst bei euch bleibt. Ihr setzt mit eurem Verhalten einen Teufelskreislauf in Gang.“ Genau der Grund, warum er Harry nicht noch weiter an ihn heran lassen wollte. Noch konnte er sich unter Kontrolle halten, wenn Harry von so jemandem wie Cho erzählte. Er konnte ihn zum Sprachkurs schicken und ausgehen lassen. Würde er Harry allerdings an sich lassen … kaum auszudenken, was er ihm alles antun könnte. Was, wenn er Harry am Ende nur mit Schlägen halten würde, so wie sein Vater seine Mutter gehalten hatte? Würde er den Gefühlen für Harry nachgeben, würde er auch all der Angst, der Eifersucht und der Verletzlichkeit nachgeben. Das konnte er Harry nicht aufbürden. „Das gilt nicht nur für Beziehungen. Bei einigen von euch gilt das auch für Freunde, bei manchen sogar für völlig Unbekannte. Aus Angst, man könnte euch weh tun, reagiert ihr schon auf das kleinste Anzeichen einer schlechten Meinung mit Gewalt. Einige von euch tragen sogar eine aggressive Aura wie eine Rüstung um sich.“ Er ließ eine Pause. Eine lange Pause. Er sah jedem von ihnen ins Gesicht. Erneut war Severus der einzige, der zurück blickte. Als Charlies Blick auf Draco fiel, stand dieser auf, trat seinen Stuhl weg, sodass dieser polternd zu Boden krachte und verließ den Raum mit den Worten: „Ich habe keinen Bock auf diese Scheiße.“ Charlie wandte sich einfach weiter zu Barty und setzte nach einem Moment dieser Betrachtung wieder an: „Sich das einzugestehen verlangt eine Menge Mut. Den hat nicht jeder und ich bin stolz, dass ihr den habt. Denn es heißt auch, sich selbst zu gestehen, dass Gewalt eine Schwäche ist. Sie ist eine Waffe, aber sie zeigt anderen, dass wir diese Waffe brauchen, weil wir sonst zu viel Angst haben.“ Severus wagte selbst einen Blick durch die Runde. Igor, James und Sirius hielten den Blick zu Boden gesenkt, Barty sah desinteressiert die Wand an. Es schien nicht, als würde er sich gerade viel eingestehen, aber zumindest war er hier und hörte zu. „Von euren Reaktionen her habe ich das Gefühl, das war genug für heute. Ab nächster Woche schauen wir uns an, was man statt Gewalt machen könnte, um zum Ziel zu kommen. Wir enden die Runde wieder damit, dass jeder einen Satz zur heutigen Stunde sagt“ Charlie nahm den Handtrainer, der hinter ihm lag und reichte ihn Igor. Dieser drückte ihn und schaffte es fast bis zum Anschlag. Seine Nase verließ ein zittriges Ausatmen, bevor er den Kopf schüttelte und das Gerät an Severus weiter gab. „Das war eine gute Zusammenfassung und ich bin gespannt auf die nächste Stunde“, sagte er nur. Er schien der einzige, der sich diese Wahrheit bisher schonungslos eingestanden hatte. „In mir sträubt sich gerade alles“, kam von James. „Gewalt ist nicht nur Angst“ Sirius sah auf. „Meine Freunde bewundern mich für meinen Mut. Vielleicht ist das Angst, wenn man seine Freundin schlägt, aber nicht jede Gewalt ist Angst. 'Ne andere Gang verprügel' ich nich', weil ich Angst vor denen hab'.“ Barty nahm den Handtrainer, betrachtete ihn von allen Seiten und warf Charlie einen provozierenden Blick mit einem frechen Grinsen zu. Dieser reagierte darauf überhaupt nicht. Er schien auch diese Overtüre einfach aussitzen zu wollen. Diesmal war es Igor, dem zuerst die Hutschnur platzte: „Sag was oder gib das Ding weiter!“ Draco hätte an Bartys Stelle geschmollt, aber er war ja nicht hier. Bartys Zunge schnellte hervor, als würde er seinen Mundwinkel ablecken, bevor er schnaubte und den Handtrainer in Charlies Richtung hielt. „Danke. Dann wünsche ich allen einen schönen Abend.“ Barty war praktisch schon aus der Tür, bevor er ausgesprochen hatte. Igor folgte ihm etwas gemächlicher. James und Sirius warfen sich einen Blick zu, in dem sie irgendeine stille Kommunikation pflegten, bevor sie sich erhoben und wortlos gingen. Severus, der zurück geblieben war, erhob sich und trat zu ihrem Kursleiter. „Kann ich noch etwas für Sie tun, Snape?“ Der Mann lächelte ihn freundlich an. Einen blasen wäre gut. Der Spruch passierte nicht einmal die ersten Schranken seines Hirns, geschweige denn, dass seine Kehle auch nur eine Regung zeigte. Stattdessen sagte Severus: „Könnten Sie mir wohl ein Buch empfehlen? Der Unterrichtsstoff ist fraglos spannend, aber ich habe das Gefühl, ich könnte dergleichen schneller aus entsprechender Lektüre lernen.“ „Verhalten lernt man leider selten aus Büchern“ Charlie lächelte. „Aber ich kann Ihnen eins über die Grundlagen empfehlen. Folgen Sie mir eben“ Er führte ihn aus dem Raum zu einem der Büros auf der rechten Seite. Dies schloss er auf und trat an einen büchergefüllten Schrank darin. „Hier müsste es irgendwo … hier ist es. Das hier empfehle ich als Lektüre.“ Severus notierte sich den Titel und Autor im Kopf und gab das Werk mit einem Nicken zurück. „Sie scheinen mir etwas intelligenter als der Durchschnitt unserer Teilnehmer“, merkte Charlie leise an. „Und wie Sie selbst wissen bedeutet das nur, dass ich umso aggressiver und unkontrollierter bin, um trotzdem hier zu sitzen“ Severus warf den Mann einen tadelnden Blick zu, was diesem den Kopf einziehen ließ. „Ich weiß, dass Intelligenz Aggressivität kaschiert. Es ist nur nicht genug für meine Aggressivität.“ Für meine Angst. Severus wusste, dass Charlie diese Worte übersetzen konnte. Dieser seufzte auch nur und nickte, bevor er sagte: „Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Abend.“ Severus verließ das Zentrum und schalt sich einen Idioten. Das gerade war eine Eröffnung eines Gesprächs gewesen, was hieß, dass dieser Charlie nicht nur professionell an ihm interessiert war. Er hätte auch darauf eingehen können statt ihn abblitzen zu lassen. Wie oft wurde er schon von anderen Männern angeflirtet? Nie dürfte das Wort unter dem Strich sein. Und was tat er? Den anderen dafür anfahren. Er war doch echt ein hoffnungsloser Fall. Severus seufzte tief und lehnte seine Stirn gegen das Lenkrad. Er wusste, das war ein Moment von Schwäche. Zehn Sekunden würde er sich gönnen. Zehn Sekunden, bevor er sich wieder zusammen riss und weiter machte. Drei, zwei, eins – er richtete sich auf und startete den Motor. Kapitel 8: Ginny ---------------- Angst. Welch ein gruseliges, abscheuliches und angsteinflößendes Wort. Angst zu zeigen hieß Schwäche zu zeigen. Das hatte man ihn sein Leben lang gelehrt. Wer Angst zeigte, der war unterlegen. Wer Angst zeigte, der hatte bereits verloren. Nur was, wenn Angst der einzige Weg war? Wenn man seine Angst entweder zeigte, indem man sich in sich selbst zurück zog und sich verletzten ließ oder indem man seine Angst als Waffe nach außen richtete und andere verletzte? Er hatte sein Leben lang noch nichts anderes gesehen. Er wusste nicht, wie man trotz Angst ruhig weiter machen konnte. Er wusste nicht, wie er sich davor schützen konnte, von Angst überwältigt zu werden außer indem er seine Angst als Gewalt gegen andere richtete. Wie machte Harry das? Er war in einem fremden Land, wo er die Zeichen nicht lesen konnte, die Sprache der meisten nicht sprach, keinen Menschen wirklich kannte und nicht wusste, was aus seiner Zukunft werden sollte. Er war allein zwischen Fremden in einem Land, wo alles unbekannt war. Und trotzdem machte er lächelnd seinen Alltag. Woher nahm er den Mut, all das so durchzustehen? Was war der Unterschied zwischen ihnen? Harry hatte sein Leben lang Gewalt erfahren. Er war in die Prostitution verkauft worden. Warum konnte er scheinen, während Severus noch immer durch die Schatten watete? Was machte ihn so anders? Was machte Harry so perfekt im Vergleich zu ihm? Severus wünschte, er könnte ihm diese Frage stellen, aber er würde sich nur lächerlich machen. Harry würde ihn wahrscheinlich nicht auslachen, aber … vielleicht würde er verwundert blinzeln. Oder lächeln. Vielleicht ihn sogar belächeln. Nein, es war besser, wenn er nicht fragte. Wie sollte Harry auch schon auf so etwas antworten? Er warf dem Jungen einen weiteren langen Blick zu. An was mochte er wohl denken, während er über seinen Übungen saß? Nur an Buchstaben, Laute und Klänge? Oder zermarterte er sich die Gedanken genau wie Severus über irgendetwas? Vielleicht dachte er an die Dinge, die er vermisste? Vielleicht dachte er, es wäre besser gewesen, wäre er in Thai- er sah auf. Severus ließ sofort den Blick zurück auf sein Buch fallen. Nicht schnell genug, ihre Augen waren kurz aufeinander gerichtet gewesen. Er spürte Hitze auf seinen Wangen, doch war sich sicher, dass sie nicht errötet waren. Er war noch nie rot geworden. Er war sich sicher, er war nie … aber wer wusste schon, was sein Körper nun tat? Er wandte den Kopf von Harry ab, auch wenn dort nur der Bezugsstoff des Sessels war. Er zählte innerlich bis zehn, bevor er es wagte, wieder zu Harry zu sehen. Dieser hatte sich entgegen Severus Erwartung nicht wieder seinen Büchern zugewandt. Ihre Blicke trafen sich erneut und hielten einander diesmal. Auf Harrys Lippen breitete sich ein Lächeln aus. Severus senkte schnell den Kopf und sah auf sein Buch. Er war sicher, dass seine Wangen brannten. Und er war nicht mehr sicher, ob sie es nicht zeigten. „Guten Morgen, Chef“ Seine Sekretärin lächelte ihn an. „Guten Morgen“ Er nahm ihr den Kaffeebecher ab und zog ihn gierig an sich. „Was sind die schlechten Nachrichten des Tages?“ Sie kicherte kurz und legte den Ordner mit seiner heutigen Arbeit vor ihn, bevor sie sagte: „Es gäbe da wirklich etwas. Mister Johnson möchte Sie sehen.“ „Welcher der vielen?“ Er hob eine Augenbraue. „Der Chef-Chef Johnson“ Sie nickte in Richtung des Büros des ältesten Johnson-Sohns, der mittlerweile die Kanzlei führte. „Ich glaube, es geht nochmal um die zwei Tage, die Sie noch in Thailand waren.“ „Hat er sich noch nicht ausreichend ausgeschrien?“ Severus seufzte in den Kaffee, den er vor seine Lippen hielt. Es machte ihm nicht viel, wenn der Chef sein doch erstaunliches Temperament an ihm ausließ, er stand darüber. Trotzdem war das verlorene Zeit und er hasste es, nicht produktiv zu sein. „Sie haben den zehn Uhr Termin bei ihm.“ „Welch Ehre“ Severus schnaubte. „Seine wichtigste Tageszeit, nur um mich nochmal zusammen zu stauchen?“ „Vielleicht will er ja auch etwas anderes besprechen“ Lydia zuckte mit den Schultern. „Denken Sie an Ihre Telefonkonferenz um neun Uhr.“ „Ja, Chef“ Severus lächelte sie über den Rand seiner Tasse an. Sie zwinkerte nur und verließ das Büro lächelnd. „Snape“ Johnson nickte und erhob sich. Die Hand schüttelte er ihm trotzdem nur über den breiten Tisch hinweg. „Nehmen Sie Platz.“ Oh, ein Sitz war ihm beim letzten mal nicht angeboten worden. Anscheinend hatte der Chef sich beruhigt. Vielleicht. Man wusste nie bei diesem Mann. Ein Anti-Aggressions-Training würde ihn sicherlich auch nicht schaden. „Ich setze dem Gespräch gleich voraus, dass ich noch immer wütend bin über Ihre unerlaubte Abwesenheit“ Welch Überraschung. „Ihre Sekretärin hat mir die Situation jedoch erklärt und ich bin geneigt, noch mal ein Auge zuzudrücken“ Severus Augenbraue hob sich. Was hatte Lydia wohl erzählt? „Ich brauche Sie zurück im Feld. Die wenigsten hier haben Ihre Expertise und nachdem die letzten zwei Auslandskonferenzen in den Sand gesetzt worden, bin ich nicht bereit zu weiteren Experimenten. Ich gebe Ihnen die Fälle von Fudge, Kalebirth und noch einen von Bell.“ Johnson schob ihm einen Stapel von Akten herüber – die einzigen auf seinem Schreibtisch – mit einem mahnenden Blick. Severus unterdrückte das Lächeln. Johnson mochte gut darin sein, verärgert auszusehen, aber man erkannte die Verzweiflung hinter seinen Worten. Seine jüngeren Kollegen hatten anscheinend mehrere wichtige Kunden verärgert und Johnson konnte nicht anders als einen seiner besten zu schicken, um das wieder auszubügeln. Wie angenehm einer der besten zu sein. Mit aller Ruhe der Welt blätterte Severus durch die Akten und las dabei eigentlich nur, wen diese Idioten verärgert hatten. Industrial Illusions … da hatten sie wirklich einen großen Fisch in einen Hai verwandelt. „Ich soll nach Amerika?“, fragte Severus nach einigen weiteren Momenten nach, die er nur für den Effekt genommen hatte. „In zwei Wochen. Ich wollte sie für eine Woche schicken, aber ihre Sekretärin sagte mir, ich könne sie nur von Donnerstag bis Dienstag schicken“ Johnson sah aus, als wolle er am liebsten deshalb explodieren, aber sie beide wussten, dass er im Endeffekt bettelte. „Enttäuschen Sie mich nicht, Snape.“ „Ich werde versuchen, die verbrannte Erde wieder in fruchtbares Land zu verwandeln“ Er nickte. „Bitte teilen Sie meiner Sekretärin die genauen Daten mit, damit sie sich um die Details kümmern kann.“ Johnson nickte und bewegte eine Hand, als wollte er eine Fliege vertreiben. Severus nahm es als Zeichen zu gehen und erhob sich. Sein Chef fügte jedoch noch hinzu: „Sollten Sie Ihren Sohn mitnehmen wollen, fliegt er auf Ihre Kosten, Snape. Das sind keine Geschäftsausgaben.“ Severus warf dem Mann einen vernichtenden Blick zu, der diesen nach einem Moment schlucken ließ. Erst danach drehte er sich um und verließ das Büro. Harry füllte ihm einen Auflauf auf, der vor Käse nur so triefte. Severus fragte sich wirklich, wo er das Rezept her haben könnte. Hatte es irgendjemanden mit italienischen Wurzeln in diesem Kurs gegeben? Er schnupperte daran und wusste nicht ganz, ob er sich vor dem Fettanteil des Gerichtes gruseln sollte oder nicht. Egal wie, das Gericht versprach wahrlich eine Menge. Er nahm den ersten Bissen und hatte das Gefühl, der Geschmack würde auf seiner Zunge schmelzen. Göttlich – das war das einzig passende Wort dafür. „Das ist exzellent“, lobte Severus, nachdem er im Kopf aus allen möglichen Komplimenten das für ihn als am meisten passendste ausgewählt hatte. „Danke“ Harrys Gesicht leuchtete fast, so sehr schien die Freude aus ihm. „Ich habe die Frau Lehrerin nach einem guten Rezept gefragt.“ „Steht denn wieder etwas an? Hast du einen Wunsch?“, sprach Severus seine Ahnung aus. „Was? Nein … also … na ja“ Ein Rotschimmer legte sich auf Harrys Wangen. „Deswegen habe ich nicht nach Rezepten gefragt. Ich wollte dir eine Freude machen. Aber nachdem ich gefragt hatte, hat sie mich zum Essen eingeladen.“ Severus ging im Kopf durch, ob es von der Zeit her sein könnte, dass sie schon zum Essen gegangen waren, aber wahrscheinlich meinte Harry eine noch in der Zukunft liegende Einladung. Ob er wohl wieder mit sollte? „Sie meinte, sie könnte mich nach dem Kurs mal mitnehmen und du könntest mich abends abholen. Wenn das für dich in Ordnung ist.“ „Natürlich“, bestätigte Severus gleich. Nur weil er ein Misanthrop war, musste Harry ja nicht auch einer werden. Und diese Professorin schien eine bodenständige, engagierte Frau. Severus sah kein Problem darin, wenn Harry mal einen Abend in einer echten Familie verbrachte. Das Schlimmste, was kommen könnte, war schließlich, dass man ihm Harry wegnahm. Und er ahnte, dass das für Harry nicht das Schlimmste wäre sondern nur für ihn. Obwohl er selbst da nicht vollständig sicher war. Er mochte Harry, aber … er wusste nicht, ob das hier gut war. Ohne Harry hätte er kein Problem mit seinen Aggressionen. Ohne Harry müsste er sich nicht mit … Dingen … auseinander setzen. „Sag mir einfach vorher, welchen Tag ihr gewählt habt und wie ihre Adresse ist. Sie hat ja meine Nummer, um mich anzurufen … nein, zur Sicherheit schreibe ich sie dir besser nochmal auf“ Und er sollte Harry ein Handy besorgen. „Diesmal habe ich auch eine Anfrage.“ Harry sah interessiert auf und lächelte, als erwarte er etwas Schönes. „Ich soll in drei Wochen für ein paar Tage nach Amerika für die Arbeit. Schaffst du es allein hier im Haus oder soll ich dich mitnehmen?“ Vielleicht konnte Harry auch bei Professor Granger-Weasley unterkommen. Wenn sie ihn nehmen würde. Wahrscheinlich war das zu früh. Zu Hangs Mutter wollte er Harry ehrlich gesagt nicht geben, so lange Harry nicht besser Englisch konnte. Das am Montag war sicherlich aus sozialen Gründen wichtig gewesen, aber man konnte nicht davon sprechen, dass die Kursteilnehmer auch nur im Ansatz Englisch beherrschten. Harry sah nachdenklich in Richtung des Kühlschranks. Von dort aus senkte sich sein Blick, schlich über den Boden, das Tischbein hinauf zu seinem Teller, bevor er vorsichtig aufsah und unsicher fragte: „Dürfte ich … mitkommen?“ „Wenn du möchtest. Ich werde aber keine Zeit für dich haben. Arbeit beginnt dort morgens und geht bis tief in die Nacht. Und jeder Tag wird mit Arbeit gefüllt sein. Du musst dich dort selbst beschäftigen“ Nicht, dass er hier viel Beschäftigung bot. Außer dem gemeinsamen Abendessen und der Massage, die mittlerweile allabendlich war, verbrachten sie zwar Zeit im selben Raum, aber hatten weiter nichts miteinander zu tun. „Wenn du das kannst, kann ich dich mitnehmen.“ „Danke“ Harry lächelte breit. „Werden wir in einem Hotel wohnen? Darf ich das Hotelzimmer verlassen und mich umsehen?“ „Wenn du auch wieder zurück findest. Ich kann dich nicht suchen, wenn du verloren gehst“ Hatte der Junge Erfahrungen damit, eingesperrt zu werden? Nun, im Bordell war er wahrscheinlich eingesperrt gewesen. Es war wahrscheinlich schlecht für Harry, aber Severus war ganz froh, dass er für jede Kleinigkeit nachfragte. Ein Junge, der extreme Angst vor Bestrafungen hatte und daher vorsichtig war, war einfacher als durchschnittliche Menschen. Und Harry war ein ganz dankbarer Junge. Er war einfach zufrieden zu stellen. Er nahm jedes bisschen Zeit, Aufmerksamkeit und Zuneigung als Geschenk statt Ansprüche zu stellen. Severus merkte, dass er sich Harry gegenüber langsam etwas entspannen konnte. „Guten Morgen“ Lydia lächelte mit echter Freude im Gesicht, als wäre er ein für sie erfreulicher Anblick. „Was hat ihr Sohn bezüglich der Geschäftsreise gesagt?“ „Er kommt mit“ Severus nahm den Kaffee entgegen, sog den Geruch auf und stellte ihn zum Kühlen zur Seite. „Buchen Sie bitte für ihn mit.“ „Donnerstag Morgen bis Dienstag Abend ist für sie eine akzeptable Reisezeit?“ Er nickte nur. „Welches Hotelarrangement soll ich treffen?“ Eine gute Frage. Zwei Hotelzimmer? Ein Doppelzimmer? Eine Suite? Er entschied: „Versuchen Sie zwei getrennte Schlafzimmer in einem Raumkomplex zu erhalten, bitte. Alternativ zwei getrennte Betten in einem Doppelzimmer. Ich möchte Harry nicht in einem eigenen Hotelzimmer sehen.“ „Soll ich den Sprachkurs über die Abwesenheit informieren oder rufen Sie selbst an?“, fragte Lydia und notierte bereits seine Wünsche. Hatte er schonmal erwähnt, dass er ihre Effizienz zu schätzen wusste? „Ich rufe selbst an. Ich wollte mit Misses Professor Granger-Weasley noch ein paar Worte wechseln.“ Bezüglich der Einladung an Harry, fügte er im Stillen dazu. „Außerdem hat ein Charlie Weasley angerufen“ Sie sah vorsichtig auf. Severus Gesichtszüge verhärteten sich. „Er sagte nicht, wer er genau ist und was er möchte, aber ich solle Ihnen seine Nummer mit einer Bitte um Rückruf geben.“ Wenigstens hatte er den Ansatz von Intelligenz gezeigt, vor seiner Sekretärin nicht auszuplaudern, wer er war. Nur was könnte er wollen? Wollte er Severus sagen, dass er nicht mehr am Kurs teilnehmen konnte aufgrund von persönlicher Befangenheit des Therapeuten? In dem Fall könnte er auch gleich eine sinnvollere Zeitplanung für die Geschäftsreise angeben. „Warten Sie mit den Buchungen, bis ich ihn erreicht habe“, teilte er Lydia mit und nahm seine Arbeitsmappe und den Zettel mit der Nummer entgegen. Lydia betrachtete ihn sehr genau auf der Suche nach dem Hinweis, um was es hier gehen könnte. Er überlegte kurz, ihr einen Hinweis zu geben, aber entschied sich dagegen. Sie blieb seine Sekretärin und damit seine Angestellte, egal, wie sympathisch sie ihm bisweilen war. Würde er sie einst kündigen müssen, könnte das umschlagen. Es war besser, wenn sie nicht zu viel von ihm wusste. Es reichte, dass sie vom Zentrum und seiner Therapie wusste. Im Endeffekt verließ sie den Raum, sodass er den Hörer aufnehmen konnte. Die Nummer war eine Festnetznummer, von der Severus zutiefst hoffte, dass sie ein Arbeitsanschluss und keine Privatnummer war. Er tippte und wartete ab. Es dauerte vier Klingeltöne, bevor abgenommen wurde. Charlie schien weder neben dem Hörer ausgeharrt zu haben noch war er weit weg gewesen. Dieser meldete sich ganz professionell: „Charlie Weasley von Zentrum für Aggressionsbewältigung am Apparat, was kann ich für Sie tun?“ „Snape hier“, kürzte Severus seine Vorstellung ab, „ich sollte zurückrufen.“ „Oh“ Charlies Stimme schlug in etwas weicheres, persönlicheres um. „Danke für den Rückruf. Ich war nicht sicher … ich wusste nicht, wie ich Sie erreichen kann, da keine Nummer hinterlegt war.“ „Mister Lupin hat meine Handynummer“ Severus ließ eine Pause. „Sie scheinen ihn nicht danach gefragt zu haben.“ „Uhm … habe ich nicht“ Charlie schluckte. „Ich hoffe, ich habe Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereitet.“ „Außer, dass meine Sekretärin nun vermutet, dass ich einen geheimen Liebhaber habe, haben sie nichts verbrochen“ Severus Stimme war eisig. Er wollte dergleichen nicht wirklich, aber es war eine automatische Reaktion. Schließlich wusste er immer noch nicht, was Charlie wollte. „Was ist denn so dringlich?“ „Nun … ich … ich wollte mich entschuldigen“ Die Worte schienen dem anderen wahrlich nur zäh über die Lippen zu kommen. „Für Mittwoch Abend. Ich dachte, ich würde nur eine unschuldige Nachfrage stellen. Mir war selbst nicht klar, was dahinter steckte, dass ich … Sie haben ganz richtig erkannt, dass das ein Flirtversuch war. Das habe ich selbst erst verstanden, nachdem Sie mich zurecht gewiesen haben. Damit hatten Sie natürlich völlig recht.“ Severus hob eine Augenbraue, obwohl er natürlich wusste, dass Charlie das am Telefon nicht sehen konnte. Die Überraschung darüber, dass jemand sein barsches Verhalten als richtig und angebracht ansah, war allerdings groß genug dafür. „Ich habe gar nicht viel darüber nachgedacht, außer dass ich Ihre Persönlichkeit faszinierend finde. Aber das ist kein Grund, mich unprofessionell zu verhalten. Ich wollte Sie bitten, mir zu verzeihen und trotz meines Fehltritts weiter zur Gruppe zu kommen. Ich werde mein Bestes geben, so etwas nicht nochmal vorkommen zu lassen.“ „Sie verschwenden erstaunlich viele Gedanken an mich“ Es war das einzige, was Severus spontan auf diese Worte einfiel. „Ich habe bereits Schwierigkeiten, mich zu erinnern, wann ich das letzte mal eine Entschuldigung erhalten habe, geschweige denn über so eine nichtige Sache.“ „Ich war nicht sicher, ob sie mir mein Verhalten vielleicht übel nehmen. Wie Sie wissen, reagieren die meisten bei uns nicht unbedingt … typisch. Ich wollte nur sicher gehen … ich wollte nicht, dass Sie wegen mir die Gruppe abbrechen.“ „Oder sicher gehen, dass ich keine schlechte Meinung von Ihnen habe“ Severus erkannte sich selbst in dem erbärmlichen Gestammel am Ende der Leitung wieder. Ängstlich hoffend, dass man noch gemocht wurde, dass die eigenen Gefühle erwidert werden könnten – die Hoffnung darauf hatte er zu spät aufgegeben, an dem Punkt war er oft genug verletzt worden. Charlie seufzte tief und murmelte: „Das war wieder unprofessionell, oder?“ „Zutiefst“ Dennoch regte sich in Severus ein Funken von Mitleid. Nicht genug, um danach zu handeln jedoch. „Bis nächsten Mittwoch. Ich erwarte, dass Sie sich bis dahin fangen.“ „Es tut mir Leid“ Charlie klang, als wäre das ein Schlag in die Magengrube gewesen. „Vielen Dank, dass Sie mir eine zw- dritte Chance geben.“ Severus überlegte, Charlie einen Satz zur Beruhigung zu geben, allerdings fiel ihm nichts dergleichen an. Er wusste nicht, wie man Leuten freundlich einen Korb gab. Er hatte seine stets sehr schmerzhaft erhalten. Demnach legte er einfach auf, bevor er es noch schlimmer machte und erhob sich, um bei Lydia die Reisetermine zu bestätigen. Severus war nicht nervös. Er mochte zwar dieselbe Seite zum nunmehr siebzehnten mal lesen, aber er weigerte sich anzuerkennen, dass das eine Bedeutung hatte. Es war gerade mal acht Uhr abends. Harry würde schon jeden Moment anrufen. Es half wenig, dass er sich das bereits seit sechs Uhr sagte. Es half auch nicht, dass das Telefon mittlerweile neben ihm lag und alle paar Sekunden von tödlichen Blicken durchbohrt wurde. Warum hatte Harry noch nicht angerufen? Wie lang konnte es denn dauern, eine Mahlzeit zu sich zu nehmen? Natürlich ging es hierbei um die Kommunikation und diese ging über das Essen hinaus, aber … vielleicht ging Harry seiner Lehrerin ja auf die Nerven. Vielleicht merkte er das nur nicht. Sie konnte ihn ja nicht freiwillig so lange behalten. Vielleicht hatte sie seine Nummer verlegt. Vielleicht hatte sie sie in eine Kartei geschrieben, die an ihrem Arbeitsplatz lag. Und Harry hatte bestimmt den Zettel mit der Nummer verschlampt. Vielleicht hatte er sich auch verschrieben. Und bei der Anmeldung eine Zahl undeutlich geschrieben. Seine Nummer stand schließlich nicht im Telefonbuch und war bei keiner Auskunft einsehbar. Vielleicht versuchten sie ihn schon die ganze Zeit zu erreichen, aber kamen nicht durch. Vielleicht war auch das Telefonnetz zusammen gebrochen. Ein kaputtes Kabel, eine kaputte Leitstelle … Severus überprüfte, ob sein Funktelefon genug Strom und eine Verbindung zum Verteiler hatte. Von seiner Seite war alles in Ordnung. Vielleicht ging es Harry auch nicht gut. Vielleicht hatten sie ihn ins Krankenhaus gebracht. Vielleicht hatten die Ärzte vergessen ihn zu informieren. Oder sie hatten die Granger-Weasleys für Harrys Eltern gehalten. Vielleicht hatte die Professorin Harry auch zum Jugendamt geschleppt. Oder zum rechtsmedizinischen Institut für einen Vaterschaftstest. Das wäre zwar illegal, aber mit den richtigen Verbindungen kam man an alles, was man haben wollte. Vielleicht war sie auch bei der Polizei und zeigte ihn an. Vielleicht war sie auch gar kein netter Mensch und hatte Harry entführt. Severus wusste schließlich nicht einmal, wo sie wohnte. Was, wenn sie plante, Harry einfach zu behalten und von ihm fern zu halten? Wenn er doch nur endlich anrufen würde. Acht Uhr und vier Minuten. Wie lange wollte er denn noch dort bleiben? Irgendwann war doch der Bogen der Höflichkeit überspannt. Und was, wenn sie anrufen würden, um zu sagen, dass Harry dort übernachtete? Was, wenn er entschied nicht zurück zu kommen? Was waren das eigentlich alles für Gedanken? Er hatte mit Ausnahme der Ehe-Episode sein ganzes Leben lang allein gewohnt. Seit er von seinem Elternhaus weg war, hatte es für ihn nur die Einsamkeit seiner vier Wände gegeben. Wie hatte Harry sich da so schnell rein fressen können, dass er das Gefühl hatte, ohne Harry nicht auskommen zu können? Er wusste schon, dass er es konnte, aber … es war halt Harry. Genauer konnte er sich das nicht mal in der Stille seiner eigenen Gedanken erklären. Harry war Harry. Mit einem Seufzen schloss Severus die Lider. In was hatte er sich hier nur verrannt? Wie hatte er einem Wildfremden – einem Kind – sein Herz öffnen können? Wie hatte er sich so in Gefahr bringen können? War er denn endgültig von allen guten Geistern verlassen? Im selben Moment dieses Gedankens schreckte er zusammen, da ein lauter Ton erklang. Erst nach einem Moment der Besinnung konnte er ihn dem neben sich liegenden Telefon zuordnen. Er nahm es auf, drückte die Anrufannahme und hob das Gerät mit einem tiefen Durchatmen zu seinem Ohr. „Hallo?“, fragte Harry vorsichtig. „Guten Abend“ Severus sackte beinahe in sich zusammen. „Am Telefon meldet man sich mit Namen, Harry.“ „Oh … hier ist Harry“ Die Stimme des anderen nahm Sicherheit auf. „Kannst du mich hören?“ „Klar und deutlich“ Severus runzelte kurz die Stirn. „Ist das das erste mal, dass du telefonierst?“ „Ja?“ Aus der Stimme des anderen war ein Lächeln heraus zu hören. „Wie funktioniert das, dass ich dich hören kann?“ „Das erkläre ich dir wann anders“ Severus seufzte. „Soll ich dich abholen kommen?“ „Ja, bitte“ Allgemein schien er fröhlich. Wahrscheinlich war es ein schöner Abend gewesen. Severus gab es das Gefühl, schlecht und unwert zu sein. „Danke für das Abholen.“ „Wie ist denn die genaue Adresse des Hauses, in dem du bist?“, fragte Severus nach. „Ich weiß nicht“ Unsicherheit schlich sich wieder ein. „Soll ich dir die Lehrerin geben?“ „Ja, bitte“ Severus schloss die Lider, legte das Buch weg und lehnte sich zurück. „Guten Abend, Granger-Weasley am Apparat“ Sie sprach natürlich Englisch. „Guten Abend, Misses Professor Granger-Weasley. Ich wollte Sie nach der Adresse Ihres Hauses fragen, damit ich Harry abholen kann. Ich hoffe, er hat Sie nicht belästigt?“ „Keineswegs, Harry ist ein wunderbarer Junge“ Ja, dergleichen dachte er auch. „Es war uns eine Freude, ihn bei uns zu haben. Ich habe ihn auch direkt für das Ende der Woche nochmal eingeladen, wenn das für Sie in Ordnung ist.“ War es nicht. Absolut nicht. Sie sollte die Finger von seinem Harry lassen. Severus atmete tief durch und erwiderte: „Wenn er das möchte, geht das für mich in Ordnung.“ Sie danke ihm überschwänglich, gab ihm noch ihre Adresse und verabschiedete sich nach allen Regeln der Höflichkeit. Severus stellte sich vor, ihr den Hals umdrehen zu können. Der Mittwoch Abend war diesmal inhaltlich spannender als die male zuvor. Es waren alle – sogar Draco und Barty – da und arbeiteten mit. Und erneut wurde deutlich, wie wenig des Wissens, das Severus als selbstverständlich sah, in dieser Gruppe bekannt war. Es ging ausschließlich um die Grundregeln des sozialen Miteinanders. Wie man einen Menschen grüßte, wofür man die Worte Danke und Bitte benutzte, welche Fragen man Fremden/Freunden/dem Partner stellen konnte und welche vor allem nicht. Was man den einzelnen Gruppen erzählen konnte und was als sozial unangemessene Themen galt. Wann man Menschen anrufen oder besuchen konnte und welche Uhrzeiten unpassend waren. In welchem Situationen man sich trotzdem melden konnte und wie man vorher klären konnte, was der andere für okay und nicht okay hielt. Wie viel Abstand man den sozialen Regeln nach zu einem Menschen zu halten hatte und was mehr und weniger Abstand bewirkte. Severus hatte all diese Dinge als Kind und Jugendlicher gelernt, manche allerdings auch erst als Student. Andere hatten soziale Regeln stets intuitiv verinnerlicht, während er sie erst hatte sehen und verstehen müssen, bevor er sich das Verhalten antrainieren konnte. Somit war er stets etwas langsamer als andere gewesen, was ihn bei seinen Mitmenschen nie hatte beliebt werden lassen. Spannend allerdings waren vor allem die anderen um ihn herum. Interessanterweise waren dieser James und Sirius diejenigen, die solche Regeln noch am meisten beherrschten. Die anderen drei – besonders Barty – hatten wahrlich kaum einen Schimmer, was als okay und als nicht okay galt. So langsam begann Severus verstehen, was ihm seine Aggressionen und auch seine Migräne einbrachte. Er musste sich diese sozialen Reaktionen abverlangen, sie kamen nicht natürlich. Er musste sich stets intellektuell daran erinnern, diese oder jene Reaktion zu geben. Und ganz wie auch Charlie erkannt hatte, fehlte den anderen der Gruppe der Intellekt für solche Reaktionen, sodass sie in einem durch bei anderen Menschen aneckten. Das Anecken und die daraus entstehende Ablehnung stressten und aus Stress heraus wurde man aggressiv, um die Ablehnung durch Einschüchterung zu beenden. Dass einen das im Endeffekt noch mehr isolierte und vereinsamen ließ, machte die Sache nur schlimmer. Aggressionen waren ein Teufelskreis und die meisten hier waren sehr viel tiefer in diesem Kreislauf als Severus. Seine Intelligenz hatte ihn vor den schlimmsten Auswirkungen bewahrt. Und aus irgendeinem Grund schien das Charlie genug zu faszinieren, dass dieser über sein grässliches Äußeres hinweg sah und an dem Menschen darunter interessiert war. Zum Glück war es in dieser Runde angemessen, den Gruppenleiter stets im Blick zu haben, sodass er Charlie in aller Muße mustern konnte. Severus hatte sein Leben lang von so einem Menschen geträumt. Jemand, der nicht all seine sozialen Schwächen sah sondern die Dinge bewunderte, die er schon erlernt hatte und konnte. Jemand, der gleichzeitig allerdings gleich viel oder mehr konnte und nicht auf Severus Fähigkeiten angewiesen war. Jemand, der in sich selbst stabil war und Severus trotzdem brauchte. Einfach als Mensch, als Wesen, das da war. Ohne dass Severus dabei mehr tun musste als er konnte. Sein Traum stand vor ihm und Severus merkte, dass ihm der Gedanke, sich auf die fleischgewordene Gestalt seiner Träume seit er das Konzept einer Beziehung verstanden hatte einzulassen, zu viel Angst machte. Denn was für einen Grund hätte ein Mensch wie Charlie langfristig an ihm interessiert zu sein? Was sollte ein junger, attraktiver Mann mit einer festen Arbeit, sozialer Kompetenz und sicherlich einer intakten Familie und einem Freundeskreis von einem Misanthropen wie ihm wollen? Da war vielleicht Faszination und kurzes Interesse, aber für mehr als einen One-Night-Stand würde das niemals reichen. Und doch – was wäre, wenn? Das mit Harry war ein flüchtiger Traum. Mit den Granger-Weasleys hatte er einen Vergleich, was sein könnte. Eine echte Familie, Liebe, Freunde … all das konnte Severus nicht bieten: Seine Familie war tot, seine Zuneigung machte ihm jetzt schon Angst, obwohl er sie nicht einmal als Liebe bezeichnen konnte, Freunde hatte er nicht. Auch von Harrys Seite war es nur eine Mischung von Faszination, Dankbarkeit und Abhängigkeit. Das hatte keine Zukunft. Charlie könnte eine Zukunft sein, aber ehrlich gesagt bezweifelte Severus auch das. Das könnte vielleicht ein paar Wochen halten, aber nicht viel mehr. Es war besser, Charlie gleich nein zu sagen. Es ersparte ihm den Schmerz, es später durchleben zu müssen, wenn er noch tiefer in der ganzen Sache drin war. Aber was wäre, wenn es doch halten könnte? Severus spürte den sehnsüchtigen Blick in seinem Rücken, als er den Raum verließ. Charlie hatte sich wirklich die komplette Stunde nichts anmerken lassen. Und Severus hatte als erster nach Schluss den Raum verlassen, um ihnen auch keine Chance zu lassen. Aber was wäre, wenn er geblieben wäre? Was hätte alles geschehen können? Severus legte ihm seine Stirn auf das Lenkrad und gab sich einen Moment des Selbsthasses für seine Feigheit. Severus atmete tief durch, bevor er die Klingel betätigte, unter der in geschwungener Hand die Gravur „Granger-Weasley“ stand. Er hatte das Klingelschild schon beim letzten mal bewundert. Und auch die Klingel. Es war kein einfacher Knopf, es war eine Klingel in Form eines alten Türklopfers, der beim Aufprall mit einem elektrischen Signal das Klingelgeräusch auslöste. An sein schlichtes Haus würde es nicht passen, aber diese Familie wohnte in einem Gebäude aus dunklem Stein, das mit seinem einen Turm mit Turmerker mittelalterlich anmutete. Er spürte eine gewisse Eifersucht, auch wenn er wusste, dass die Familie sich das Haus nur leisten konnte, da viele Verwandte des Mannes mit im Haus lebten und Miete zahlten. So viel hatte die Frau Professorin ihm erzählt, als er beim letzten Besuch ihr Heim komplimentierte. Diesmal hatten sie eine feste Abholzeit ausgemacht. So viel hatte er seinen eigenen Ängsten zugestehen müssen. So etwas wie am Montag würde er auf Dauer nicht durchstehen. Ein fester Zeitpunkt war fraglos besser für seine Nerven. Auch wenn dieses frohe, glückliche, mit Lachen gefüllte Haus zu betreten ein einziger Schlag ins Gesicht war und seinen Nerven auch nicht gerade Beruhigung gab. Wie auch beim letzten mal öffnete die Frau Professorin und begrüßte ihn mit einem breiten Lächeln. Er wusste nicht, ob sie erstaunlich gut schauspielern konnte oder wirklich irgendetwas Erfreuliches an seiner Ankunft fand, aber es wirkte stets echt. Sie führte ihn in ein riesiges Wohnzimmer mit mehreren Couchen, wo immer jemand zu sein schien. Beim letzten mal war ihm ein älterer Bruder des Mannes namens Percy vorgestellt worden, der dort ein Buch gelesen hatte. Dieses mal saß Harry einem jungen Mädchen gegenüber, deren Namen Severus sogar in seinem Gedächtnis fand. Ginny hieß sie. Sie war auch letzte Woche Montag bei dem Kurstreffen gewesen. Eine kleine Schwester des Mannes, wenn er sich recht entsann. Der Mann schien erstaunlich viele Geschwister zu haben. Severus wusste, dass er sich mit Gedanken über Ronald Granger-Weasleys Familienverhältnisse nur von der Tatsache ablenkte, dass Harry noch nicht einmal aufgesehen hatte. Ob er so tief in das Brettspiel vertieft war, das sie spielten oder in das Mädchen, was ihm gegenüber saß, wusste Severus nicht recht, aber unter dem Strich war es auch nicht wichtig. Wichtig war, dass da kein Interesse daran war, ob er da war. Vielleicht würde Harry sogar traurig sein, ihn zu sehen. Vielleicht würde er sagen, er hätte nicht kommen sollen. Ginny bemerkte ihn als erste. Sie lächelte, erhob sich und begrüßte ihn nach allen Regeln der Höflichkeit mit einem Handschlag. Severus tat sein Bestes, zumindest den Hauch eines Lächelns auf seine Lippen zu zwingen. Neben ihr war er … gar nichts. Sie war jung, schön und bemerkenswert wohl erzogen. Er drehte sich Harry zu, der sich auch erhoben hatte. Dieser murmelte mit einem schüchternen Lächeln „Guten Abend“ und schielte vorsichtig zu Ginny herüber. Severus versuchte gegen das Gefühl der Übelkeit zu schlucken, doch sein Adamsapfel blieb oben im Hals stecken statt wieder hinab zu wandern. Mit einem Nicken wandte er sich ab und trat zurück zur Professorin, die gerade zurück aus der Küche kam. „Ich hoffe, er hat sich gut verhalten?“, fragte er mit leiser Stimme. Er konnte nur leise sein, denn die andere Wahl wäre ein Schrei gewesen. „Harry verhält sich stets vorbildlich“ Sie winkte ihn etwas zur Seite. „Sagen Sie, was haben Sie für seinen Geburtstag nächste Woche geplant?“ Beinahe wäre ihm die verwirrte Nachfrage heraus gerutscht, was für ein Geburtstag gemeint war, doch zum Glück hatte er vor langer Zeit gelernt, erst zu denken und dann zu sprechen. Geburtstag … ja, sie hatten Halloween als Harrys Geburtstag eingetragen. Das war nächste Woche Samstag. Severus seufzte tief. „Ich habe das Gefühl, Sie möchten mir einen Vorschlag unterbreiten?“ Er hob müde den Blick. Was sollte es schon? Er würde Harry an diese Ginny verlieren, da brauchte er nur die Augen für öffnen. Was machte es noch, ob es früher oder später war? „Wenn Sie noch keine Feier für ihn geplant haben, können wir gern hier feiern. Wir haben ein großes Haus und alle würden sich freuen, ihn hier zu haben. Meine Schwiegermutter backt gern und meine beiden Schwager sind Barkeeper und mischen sehr gern Cocktails. Wir feiern wirklich gern und für Harry zu feiern wäre uns allen eine Freude. Außerdem wären dann viele Leute auf seiner Geburtstagsfeier. Und man feiert am besten groß, finden Sie nicht?“ Überhaupt nicht. Er hasste Feiern. Nur leider wusste sein kulturell gut gebildetes Hirn, dass auch in Thailand gerne groß und ausladend gefeiert wurde. Er nickte und versuchte sein Seufzen leise zu halten. „Wunderbar“ Zum Glück sprang sie nicht gleich über den Mond sondern lächelte nur. „Dann würde ich für nächste Woche eine Überraschungsparty für ihn vorbereiten. Welche Uhrzeit passt ihnen?“ In solchen Moment wäre es gut, seinen Terminkalender stets dabei zu haben. Wie viele Termine hatte er wohl nächste Woche Samstag? Er erwiderte: „Ich werde Ihnen eine Zeit mitteilen, nachdem ich meine Sekretärin konsultiert habe. Reicht es Ihnen, morgen eine Antwort zu erhalten?“ „Aber natürlich“ Erneut dieses freundliche Lächeln. Wenn sie es sich auch für ihren Thailändischkurs angewöhnt hatte, war sie beim Lernen erfolgreicher gewesen als er. „Oh, das ist Harry ja schon.“ Severus wandte sich um und sah den Jungen fertig angezogen in Mantel, Mütze und Handschuhen vor sich stehen. Er nickte nur, verabschiedete sich von der Frau Professorin und brach schweigend auf. Keine zehn Pferde hätten ihn dazu bringen können nachzufragen, ob Harry einen guten Nachmittag gehabt hatte. Kapitel 9: Verwicklungen ------------------------ „Kann ich noch etwas für Sie tun, Mister Snape?“, fragte Lydia nach seiner Arbeitsübergabe. „Hm … wenn Sie so fragen“ Hieß, wenn sie seine Verzweiflung erkannt hatte, die nur nicht groß genug war, dass er von sich aus fragte. „Harry hat am Samstag Geburtstag … was kann man denn einem Sechzehnjährigen schenken?“ „Ein IPhone“, erwiderte sie wie aus der Pistole geschossen. „Ich wollte ihm sowieso ein Handy geben, das ist doch eher eine Notwendigkeit als ein Geschenk“ Severus sah zu einer seiner Topfpflanzen, die Lydia für ihn am Leben hielt. „An manchen Tagen vergesse ich, dass ich nur die Sekretärin bin und Sie wahrscheinlich das Drei- oder Vierfache verdienen“ Lydia seufzte. „Sechzehn … High-Tech-Sneaker, Markenjeans, Spielekonsolen, Gaming-fähige Rechner, Verbesserung der Internetleitung, ein Moped, Führerschein … was hat er denn für Hobbys?“ Hobbys … was tat Harry denn außer zu lernen? Er murmelte: „Kochen.“ „Kochen?“ Sie klang überrascht. „Nun … Rezeptbücher, Kochzubehör … haben Sie eine gute Küche? Fehlen noch irgendwelche Küchengeräte, die er brauchen könnte?“ Severus hob nur eine Augenbraue. „Natürlich haben Sie alles“ Sie sah überlegend Richtung Decke und legte eine Hand an ihr Kinn. Einen Moment lang fühlte er sich schlecht, dass er sie nun dumm fühlen ließ, obwohl er es war, der keinerlei Ahnung hatte, was überhaupt in eine Küche gehörte. Mehr als Kaffee-, Brotschneidemaschine und Toaster hatte er noch nie benutzt. Sein Ofen und die Kochplatten waren vor Harrys Erscheinen das letzte mal von irgendeinem One-Night-Stand benutzt worden, als er die noch hatte und mit nach Hause nahm. „Ansonsten sind gemeinsame Unternehmungen immer etwas Schönes. Konzertkarten zum Beispiel. Aber die meisten Sechzehnjährigen gehen lieber mit ihren Freunden weg … Bücher und CDs sind auch eine schöne Sache. Die haben einen bildenden Wert.“ „Was für Kinderbücher haben Sie gelesen?“ Er sah auf zu ihr. Vielleicht sollte er sie beim nächsten längeren Gespräch einladen, sich zu setzen. „Kinderbücher?“ Sie blinzelte überrascht. „Mit sechzehn habe ich keine mehr gelesen. Da waren Krimis und Thriller mein Hauptlesestoff.“ „Nun, er lernt ja gerade Englisch … ich dachte, mit einfachen englischen Geschichten kann man ihm das Lernen vielleicht erleichtern. Und er lernt gleichzeitig etwas über unsere Kultur“ Severus sah wieder zur Topfpflanze. „Oder ist das eine dumme Idee?“ „Nein, gar nicht … eigentlich ist das genial“ Sie lächelte. „Und sehr viel besser als den Konsumwahn der Kinder zu unterstützen. Das sind vielleicht keine coolen Geschenke, die man all seinen Freunden zeigt, aber es sind bedeutungsvolle Geschenke.“ „Also sollte ich die ihm nicht vor seinen Freunden überreichen?“ Severus speicherte diese Information sofort ab. Würde er Harry auf der Feier halt sein IPhone schenken und die Bücher morgens vor der Feier. „Und was haben Sie als Kind gelesen?“ „Die Mutter-Gans-Reime. Und Tolkien, Mark Twain, Charles Dickens … und die Bücher mit Mary Poppins. Ich wette, etwas von Mark Twain würde Harry gefallen. Aber vielleicht sind die auch noch zu schwer? Wie schnell lernt er denn Englisch? Vielleicht sollte man mit einem Grundschulbuch anfangen?“ Mark Twain. Der hatte doch Oliver Twist geschrieben, richtig? Lektüre für das Alter acht bis zwölf, wenn er sich nicht irrte. Das würde Harry schon hinkriegen, auch wenn er das Buch vielleicht erst in ein paar Monaten lesen konnte. Ihm gefiel die Idee äußerst gut. Für Kinder waren Kindergeschichten wichtig, auch wenn es schon etwas ältere Kinder waren. In einem Land zu leben, in dem jeder gewisse Geschichten kannte und selbst keinen Schimmer zu haben, klang wenig angenehm. Er selbst hatte das schmerzlich erfahren dürfen, bis seine Mutter ihm zum elften Geburtstag einen Ausweis für die Bibliothek geschenkt hatte. Um den hatte er lang betteln müssen, aber es hatte sich mehr als gelohnt. „Waren das passende Ideen?“, fragte Lydia nach, um ihn in die Realität zurück zu befördern. „Ja, vielen Dank“ Er nickte. „Sie können sich wieder Ihrer Arbeit zuwenden.“ „Immer gern doch, Chef.“ Dienstag fragte Harry, ob er am nächsten Tag etwas mit Ginny unternehmen dürfte. Severus tat sein Bestes, die Zähne zusammen zu beißen, in aller Ruhe zu nicken und den Jungen nur daran zu erinnern, zum Abendessen wieder zuhause zu sein. Was sollte er schon sonst tun? Jetzt konnte er diese Lawine eh nicht mehr aufhalten. Nicht, dass er es gewollt hätte. Zumindest logisch nicht. Am Mittwoch selbst dachte er allerdings erstaunlich wenig darüber nach, was die zwei wohl gerade machten. Nicht nur war sein Tag sehr arbeitsintensiv, auch war die Gruppe mehr als anstrengend. Hatten sie letzte Woche nur theoretisch besprochen, wie man sich in Situationen zu benehmen hatte, sollten sie es diesmal üben. Ein Bewerbungsgespräch, eine falsche Rechnung, ein betrunkener Passant … das alles ohne Aggressionen zu lösen war verdammt schwer. Während das Bewerbungsgespräch kein Problem darstellte, tat er sich extrem schwer daran, seinen von Draco gespielten Kellner nicht zu Lachsschinken zu verarbeiten. War der Junge bisher noch meist ein recht unbeherrschter Großkotz gewesen, schlich er nach der Szene nur noch auf Zehenspitzen mit großem Bogen um Severus herum. Mit dem betrunkenen Passanten Sirius ging er ähnlich unfreundlich um, aber dieser war recht immun gegen Einschüchterung. Insgesamt durfte er den Abend als höchst anstrengend und wenig erfolgreich verbuchen … zumindest hatte er einiges an Tipps und Handlungsanweisungen mitgenommen. Die Ankündigung, dass sie das nächste Woche mit anderen Szenen nochmal machen würden, war wenig angenehm. Zuhause legte sich Severus mit Migräne auf die Couch und ließ sich von Harry ein paar Brote servieren. Zum Glück nahm der Junge es ihm nicht übel, wenn er so völlig ausgelaugt war. Er arbeitete einfach still an seinen Aufgaben und las danach ein weiteres Buch, das er aus Severus Bücherschrank hatte. Ihm mehr Bücher zu schenken erschien ihm als eine immer besser wirkende Idee. Severus nutzte seinen Freitag Nachmittag zum Einkaufen. Ein hübsches Handy war schnell gefunden, eine Hülle mit Orchideen darauf ebenso, nur die Bücher waren nicht ganz einfach. Es war zwar einfach, gut geschriebene Kinderbücher zu finden, aber nicht ganz so einfach, sich zu entscheiden. Im Endeffekt kaufte Severus sieben statt der geplanten zwei. Zum Glück konnte man mittlerweile alles einpacken lassen, sodass er sich keine Gedanken darum machen musste. Als Harry sie am nächsten Morgen – voller Überraschung, dass er Geburtstag hatte und dann auch noch Geschenke für ihn auf dem Tisch lagen – auspackte, breitete sich ein Strahlen auf seinem Gesicht aus. Dass Harry ihn sogar umarmte und einen Kuss auf seine Wange setzte, schien mehr Segen als er je verdient hatte. Vielleicht, ganz vielleicht hielt er ihn einen Moment länger als sozial erwünscht. Aber wer sollte das schon bemängeln in ihrem Haus? „Und was ist es für eine Überraschung?“, fragte Harry bestimmt zum achten oder neunten mal. „Ich sage es dir immer noch nicht“ Severus seufzte nur. „Wir sind in fünf Minuten da.“ Dass Harry hocherfreut war, wäre eine Untertreibung. Jemand hatte an ihn gedacht, hatte ihm sogar Geschenke gemacht und unternahm nun etwas mit ihm. Man sah an seiner kaum zu bändigenden Freude, wie sehr er das genoss. Und Severus freute sich, einmal im Leben etwas richtig gemacht zu haben. „Ich kenne die Straße!“, rief Harry kurz vor dem Ziel. „Du kennst den Ort auch, zu dem wir fahren“, verriet Severus. In wenigen Sekunden würde der Junge es sowieso erkennen. „Wir fahren zu Frau Granger-Weasley?“ Sehr gut. Es hieß noch nicht, ob sie zu Ginny fahren würden. Vielleicht bestand Hoffnung. Im selben Moment schüttelte Severus innerlich über sich selbst den Kopf. Hoffnung auf was? Er hatte entschieden, keine Hoffnung zu haben. Harry war nicht seines und würde es nie sein. Er suchte einen Parkplatz und brach mit Harry zur Feier auf, von der Harry noch nichts wusste. Natürlich hatte er die Professorin kurz vor Abfahrt informiert, sodass alles funktionieren sollte. Er hoffte zutiefst für Harry, dass alles funktionierte. Er wollte ihm nicht seinen ersten Geburtstag in der Freiheit vermasseln. Harry ging voraus, doch wartete unschlüssig vor der Tür, bis Severus ihm zeigte, wo der Knopf zum Klingeln war und demonstrierte, dass ein Geräusch in Haus erschallte, wenn man sie drückte. Es dauerte einen längeren Moment, bis ihnen geöffnet wurde – wahrscheinlich die letzten Handgriffe der Feier. Es war die Frau Professorin höchstpersönlich, die Harry zur Begrüßung in eine Umarmung zog und ihn anwies, die Augen zu schließen, um ihn ins Wohnzimmer zu führen. Ganz wie in einem gut einstudierten Film wurde er dort von einem Chor mit „Überraschung!“ begrüßt, bevor alle ein Geburtstagslied anstimmten. Severus zog währenddessen lieber den Mantel aus und hängte ihn an die Gaderobe. Sein letztes Geschenk, das er darunter getragen hatte, nahm er mit zum Wohnzimmer. Die Masse der Leute dort erstaunte ihn kurz, bis er sich erinnerte, welch eine große Familie die Weasleys waren. Auch waren viele ältere Leute anwesend, die lang ergraut waren. Eine richtige, große Familie. Severus schluckte und blieb halb vom Türrahmen des Flures versteckt stehen. Er erkannte alle, die er bisher kennen gelernt hatte – inklusive Ginny – und jede Menge Menschen, die er vorher noch nicht gesehen hatte. Nachdem er die alten Leute sowie die kleinen Kinder gezählt hatte – es hüpften vier im Alter von unter fünf Jahren herum – fiel sein Blick in der Masse junger bis mittelalter Ehepaare auf ein paar vereinzelte Männer, die ohne Frau da standen. Einer im speziellen stach für Severus hervor. Charlie. Innerlich verfluchte er das Zentrum für ihre Namenspolitik, durch die er Charlies Nachnamen nie erfahren oder nie bewusst wahrgenommen hatte, aber bei so einer großen Familie war es wohl kein Wunder, an verschiedenen Stellen auf sie zu treffen. Bei diesem Percy hatte er bereits das Gefühl gehabt, ihn schonmal gesehen zu haben. Das blendend rotorange Haar hätte ihm einen Hinweis geben sollen, dass es eine Verwandschaft geben könnte. Wie hatte er nicht vorher darüber nachdenken können? Es war zutiefst nachlässig von ihm. Da Harry der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit war, war er zum Glück im Gegenzug nicht bemerkt worden. Er zog sich ganz auf den Flur zurück, wo die Professorin ihn nach einigen Momenten auch suchen ging. „Mister Snape, kommen Sie doch herein.“ „Guten Mittag, Misses Professor Granger-Weasley“ Er nickte ihr zu. „Ich danke Ihnen für die Einladung und dass sie dies für Harry tun. Ich fürchte nur, dass ich kein guter Mensch für Feiern bin. Könnten Sie ihm dies später von mir überreichen und mich anrufen, wenn ich ihn wieder abholen soll?“ „Wie bitte?“ Ihre Gesichtszüge fielen in Entsetzen. „Mister Snape, Sie können doch jetzt nicht gehen. Auch wenn er sich hier wohl fühlt, der Junge kennt uns doch kaum. Er ist ein sensibles Kind, ihm wird ein vertrautes Gesicht an seiner Seite gut tun. Wollen Sie das nicht überdenken?“ Severus schluckte. Hätte er es sich erlaubt, er hätte in Gedanken geflucht. Aber er tat es nicht. Schlechte Manieren begannen stets im Kopf. Daher atmete er nur tief durch und entschied, den Bogen bei ihr besser nicht zu überspannen. Trotz allem wollte er Harry nicht vollständig verlieren. Jetzt noch nicht. „Dürfte ich mich in ihre Küche zurück ziehen, wenn es mir ein wenig zu viel der Menschen werden?“, fragte er in aller Höflichkeit. „Natürlich. Sie müssen sich ja nicht zwingen“ Die Dame lächelte mit Erleichterung. Severus lag es auf der Zunge, ihr zu sagen, dass sie ihn hier gerade förmlich zwang, aber er unterließ es. Er wollte auf gutem Fuß mit dieser Frau bleiben. Nur setzte sie noch eine Krönung darauf: „Dann treten Sie doch erstmal ein und feiern ein wenig mit uns.“ Natürlich gab es so keine Chance, nicht früher oder später entdeckt zu werden. Severus entfuhr nur ein tiefes Seufzen, als Charlie am Kuchenbüffet neben ihn trat, während die meisten gerade an mehreren riesigen Tischen saßen. Er hatte ja gehofft, der junge Mann hätte den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden, als Severus ihn die komplette Zeit ignorierte. Selbst bei der Vorstellung hatte er nur genickt und seinen Blick nicht lange auf ihm liegen lassen. „Entschuldige“, murmelte Charlie sofort, der das Seufzen anscheinend gehört hatte, „das ist eine eigenartige Situation.“ „Sie könnten mich siezen, Mister Weasley“, zischte Severus mit scharfer Stimme, „Und so tun als würden wir einander nicht kennen.“ „Ich … es … ist Harry Ihr Sohn?“, stammelte Charlie hervor. Man musste kein soziales Genie sein, um den eifersüchtigen Ton heraus zu hören. Eifersüchtig auf einen gerade Sechzehnjährigen … wusste Charlie wohl, welche Komplikationen und unterstellte Intentionen er damit in den Raum warf? „Ihr Ton sagt mir, dass sie glauben, ich hätte eine Affäre mit einem gerade sechzehn Jahre alt gewordenen Jungen. Und dass die Affäre ernst genug ist, dass ich ihn adoptiert habe, um dem ganzen irgendeine Art von legalem Rahmen zu geben und eine Geschichte zur Ablenkung zu haben, falls irgendwer meinem schmutzigen Geheimnis zu nahe kommt“ Severus abfälliger Blick fiel auf Charlie. „Ist es das, was Sie von mir glauben?“ „Es tut mir Leid“ Charlie war erbleicht während der Worte, was sich mit seinem Haar stark kontrastierte. „Das glaube ich natürlich nicht. Das ist … das sind eher grässliche Vermutungen, die mein verletztes Herz aufstellt.“ Severus hob eine Augenbraue und fragte: „Wie habe ich Ihnen das Herz gebrochen, wenn wir uns praktisch nicht kennen? Wir haben uns bisher viermal getroffen und das würde ich nicht gerade als Dates bezeichnen.“ „Sagen Sie das meinem Herzen. Meine Hormone spielen verrückt, wenn ich verliebt bin“ Der Andere errötete prompt. „Können Sie bitte so tun als hätte ich das nie gesagt?“ Severus gab aus Unsicherheit einfach mal gar keine Reaktion. Es schmeichelte ihn ja schon ein gutes Stück, dass ein junger, gutaussehender Mann wie Charlie an ihm interessiert war, aber er traute ihm keinen Millimeter weit. Charlie wusste praktisch nichts über ihn, aber sprach von Liebe. Severus hätte es eher als hormonale Reaktion abgetan. So etwas hatte auch bisher noch nie jemand für ihn empfunden, aber er kannte die Krankheit aus seiner eigenen Jugend zu gut. Natürlich waren seine Angebeteten immer die charismatischen Sportler gewesen, auf die praktisch jeder abfuhr. Zum Glück war er erwachsen geworden. Er nahm sich ein Stück Kuchen und kehrte damit zurück zu dem Tisch, an dem die mittelalten Herren der Familie saßen. In der Altersklasse um die fünfzig fühlte er sich am heimischsten. Schließlich waren das auch solche Leute, mit denen er täglich zu tun hatte. Sie sprachen über ihre Jobs, Autos, die Börsenkurse, die Weltpolitik und andere Themen, über die man sich so austauschte. Schwerer wurde der Teil nach dem Auspacken der Geschenke – von den Weasleys bekam Harry ein Kochbuch und ein paar seltene Gewürze – wo von ihm erwartet wurde, frei durch den Raum zu flattern und sich Gesprächspartner zu suchen. Die Kinder spielten größtenteils miteinander, die jüngeren setzten sich halb auf Kissen, halb auf dem Boden zusammen, die mittelalten teilten die Couch und die ältere Generation blieb an den Tischen sitzen. Severus suchte sich eine strategisch gut platzierte Wand, wo er wenig auffiel, aber Harry im Auge behalten konnte. Der Junge war von all den Menschen natürlich völlig überwältigt und hatte seit Betreten des Hauses nicht einmal in seine Richtung geblickt. So viel dazu, dass der Junge einen Anker der Sicherheit brauchte. Und natürlich ließ Charlie nicht lange auf sich warten. Zumindest hatte er die Intelligenz, sich nicht vor Severus zu stellen sondern sich neben ihm an die Wand zu lehnen. Er hatte in jeder Hand einen Drink und reichte Severus ein Glas mit den Worten: „Minzlimonade. Meine Schwägerin macht sie selbst.“ Reine Kuriosität ließ Severus daran nippen, allerdings musste er zugeben, dass das Getränk wirklich gut war. Nicht zu süß und sehr erfrischend. Allerdings bedankte er sich weder noch gab er Charlie irgendein Wort zur Anerkennung seiner Präsenz. „Unsere Familie ist für Fremde schnell überfordernd, aber die meisten von uns vergessen das oft“ Charlie sah zu den Kleinsten, die auf dem Boden irgendetwas mit kleinen Plastikfiguren und -wagen spielten. „Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen gern das Haus zur Ablenkung.“ Das klang nicht nur inhaltlich nach einem sehr guten Vorschlag. Es erinnerte Severus scharf daran, was für ein Idiot er war, nicht vor Charlie auf die Knie zu fallen und sich auf alle Ewigkeit an ihn zu binden. Der Mann kannte seine Schwächen, konnte mit ihnen umgehen und mochte ihn trotzden. Severus erwiderte mit nichts als einem Nicken und folgte dem anderen auf die andere Seite des Wohnzimmers, wo es durch eine Doppeltür in einen Wohntrakt ging, an deren Ende eine Treppe in die Höhe führte. „Hier wohnen meine Eltern. Sie sind mittlerweile über siebzig, ich bin ihr jüngster Sohn. Meine Tanten und Onkel, die da auch mit sitzen, leben für sich selbst, auch wenn mehrere meiner Cousins und Cousinen auch hier oder in der Nachbarschaft wohnen“ Sie gingen die Treppe hinauf, während Charlie sprach. „Die jüngste im Haus ist meine Nichte Ginny. Sie ist auch sechzehn. Die ganzen Kleineren sind Kinder meiner Brüder oder Cousins und Cousinen. Mein ältester Bruder Bill zum Beispiel hat zwei Kinder und die Älteste heiratet bald selbst. Durch den Kinderreichtum bei uns ist das mit den Generationen ziemlich fließend“ Sie hatten den nächsten Stock erreicht. „Hier wohnen die Älteren mit ihren Kindern, also meine Brüder Fred, George und Ron mit ihren Familien. Ansonsten ist auf dieser Etage ein großes Kinderspielzimmer. Die Kinder hier haben meist eher kleine Zimmer und teilen sich ihre Bücher und Spielzeuge mit allen anderen.“ Severus überkam eine Sehnsucht, wie er sie lang nicht gespürt hatte. Es klang alles so friedlich. Liebende Eltern, überall nette Tanten und Onkel, ein eigenes Zimmer zum Spielen, ganz viele andere Kinder in einem großen Haus. Würde hier jemand ein Kind schlagen oder auch nur anschreien, es wären massenhaft andere da, um die zwei sofort zu trennen. Und die Kinder unten hatten so glücklich ausgesehen … sie hatten mitten zwischen all den anderen gespielt und niemand hatte sie angeschrien oder weggeschickt. Charlie schien von all diesen Gedanken in Severus nichts mitzubekommen. Er sah manchmal über die Schulter, ob Severus ihm noch folgte, aber ansonsten war er glücklich damit, erzählen zu können. „Meine Brüder Bill und Percy sind mit ihren Kindern ausgezogen. Bills Frau wollte ans Wasser und Percy ist nicht so der Mensch für riesige Familien. Der mag seine Privatsphäre“ Sie nahmen die Treppe ins zweite Obergeschoss. „In dieser Etage ist etwas Mischung. Meine Cousine Rose lebt hier mit ihrem Freund, der ist vor kurzem her gezogen. Ansonsten leben hier Tante Margy, meine Cousine Ginny, Onkel Bard und seine Frau Rachel. Meine Cousins Edward und Morten leben zum Studium hier und ich wohne am Ende dieses Korridors“ Den Charlie ihn auch entlang führte. „Dachboden und Keller sind Lagerräume. Waschraum und Vorratskammer sind auch da unten. Und mein Onkel Paul lebt im Keller, der ist ein bisschen komisch.“ Charlie öffnete ihm die Tür, die in sein Zimmer führte. Bei der Masse an Räumen hatte Severus trotz des Wissens um die Außenmaße des Hauses nicht erwartet, dass es so groß sein würde. Aber zwanzig Quadratmeter fasste der Raum sicherlich. Darin standen ein richtig großes, sehr einladend aussehendes Bett, ein Kleiderschrank, ein Bücherschrank und zwei Schreibtische, einer davon mit einem beeindruckend neu aussehenden Computer. „Mittlerweile schäme ich mich nicht mehr zu sagen, dass ich bei Mama und Papa wohne“ Charlie war in den Raum getreten und kratzte sich am Hinterkopf. „Ich bin ein paar mal ausgezogen, aber … na ja, sagen wir, es lief nicht gut. Im Endeffekt bin ich immer wieder hierher zurück gekehrt. Zum Glück nimmt meine Familie es mir nicht krumm, wenn ich von der nächsten gescheiterten Beziehung heimkehre.“ „Gab es davon viele?“, kam Severus nicht umhin, zu fragen. Er war per se nicht neugierig, aber … na gut, vielleicht war er doch etwas neugierig. „Gescheiterte Beziehungen? Ziemlich viele“ Charlie seufzte. „Die längste war anderthalb Jahre lang. Und das auch nur, weil ich mich nicht getraut habe, abzuhauen … er war kein netter Mann.“ „Ich bin auch kein netter Mann“, stellte Severus nüchtern fest. „Ja, aber du würdest mich nicht zusammen schlagen und zum Sex nötigen“ Charlie wandte den Blick ab. „Ich war jung und dumm. Selbst die beste Familie schützt nicht vor solchen Kerlen.“ Hm … erstaunlich. Bis heute hatte Severus wirklich gedacht, dass es nur Leuten wie ihm passierte, an solche Kerle zu geraten. Sein Ex war ein Paradebeispiel dieses Typus. Er hatte nie zu geschlagen, aber er hatte Severus viele Dinge tun lassen, die bei ihm Ekel und Abscheu auf sich selbst ausgelöst hatten. „Das bist du immer noch“ Severus legte nicht einen Hauch von Mitgefühl in seine Stimme. „Sich an einen Kerl aus einem Anti-Aggressions-Programm ranzuschmeißen zeugt von einer gewissen Selbstmissachtung. Warum suchst du dir nicht einen netten Freund?“ „Weil ich keine Lust habe, dass mein Kerl sich während der Beziehung durch die halbe Stadt schläft“ Ein bitterer Unterton legte sich in Charlies Stimme. „Ich mag es, mit Eifersucht besessen zu werden. Dann weiß ich, dass ich der einzige bin. Wenn's dann halt manchmal Geschrei gibt, weil ich mit Freunden weg war … ist dann halt so.“ Severus schluckte. Könnte der Kerl bitte etwas weniger perfekt für ihn sein? Er führte keine Beziehungen, er beanspruchte Menschen für sich selbst. Er hatte nunmal kein Vertrauen. Er kontrollierte andere eher oder ließ sich kontrollieren. Es war die einzige Art und Weise, wie er genug Sicherheit hatte, um einen anderen an sich heran zu lassen. „Und warum hat ein Mann mit einem solchen Hintergrund wie du Probleme zu vertrauen?“, fragte er, da er seine eigene Unsicherheit in Charlie wiedererkannte. Charlie sah mit weiten Lidern auf als hätte Severus eine völlig schockierende Frage gestellt. Mit zwei vorsichtigen Schritten kam er heran und flüsterte: „Bisher bin ich an die falschen geraten.“ „Du ziehst die falschen an wie das Licht die Motten“, erwiderte Severus nur. „Vielleicht ...“ Charlie lehnte sich näher, legte den Kopf zur Seite, die Intention klar in seinen Augen. Severus überlegte kurz, ob er ihn aufhalten sollte. Mehr konnte er ihr Arbeitsverhältnis nun auch nicht mehr zerstören. Er könnte sich einen anderen Kurs suchen oder aus dem Buch lernen. Und der Junge schien eine weitere Lektion darin zu brauchen, sich nicht auf beißende Hunde einzulassen. Charlie verlangte nicht nach seiner Nummer, einer Verabredung oder einem einzigen Wort, dass Severus das hier irgendetwas bedeutet hatte. Es schien ihm vollkommen zu reichen, dass Severus nach dem Sex einen Arm um ihn legte und ihn zu sich zog, während sich ihrer beider Atem beruhigte. In Severus Augen war das erstaunlich einfach. Kein Geld, keine Versprechen, nicht die kleinste Gegenleistung … es war entschieden zu einfach. Zu einfach. Er erhob sich und zog sich an. Charlie blieb liegen, die Augen auf das Fenster gerichtet. Ein wenig tat es Severus Leid, ihn dort einfach liegen zu lassen, aber er wusste auch nicht, was er sonst tun sollte. Er hatte nicht vor, irgendein Versprechen zu geben. Er hatte keine lieben Worte für Charlie, außer dass er ein ziemlich guter Fick war und er vermutete, das auszusprechen wäre keine gute Idee. Manchmal war es besser zu schweigen als unbedacht die falschen Worte zu sagen. Und in seinen Augen schuldete er Charlie nichts für diese Sache. „Severus?“, fragte dieser leise, was den Angesprochenen innerlich seufzen ließ – ging es doch noch los mit den Versprechungen und Forderungen, „Wirst du trotzdem weiter zum Kurs kommen?“ „Tust du dir damit nicht nur selbst weh?“, fragte er mit einem Hauch von Freundlichkeit in der Stimme. Nach Sex konnte nicht einmal er vollkommen schlecht gelaunt sein. „Es täte mehr weh, dich nie wieder zu sehen“, murmelte der Andere. „Hmpf“ Severus schnaubte. „Stell keine Erwartungen. Ich werde kommen, aber wir werden das hier nicht wiederholen.“ Sagte er so einfach. Warum nicht? Nur weil er Angst hatte, er könnte beginnen, Charlie zu mögen? Es war nicht so als … Severus verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich nicht gerade leise. Harry. Es war nicht so als wäre er gebunden und müsste sich schuldig fühlen, aber mit einem mal tat er es. Das mit Harry würde nie etwas werden, aber er konnte seinem Herz die Hoffnung nicht ausreden. Genau so wie Charlie jedes mal hoffen würde, wenn er ihn sah und ihn dadurch mit seinen Erwartungen still bedrängen würde. So würde Severus sich nun jedes mal schuldig fühlen, wenn er Harry sah, auch wenn er nicht den geringsten Grund dazu hatte. Er stieß ein tiefes Seufzen aus, während er zurück zur Feier ging. Keiner schien seine Abwesenheit bemerkt zu haben und keiner schien sich zu wundern, dass er aus dem Familientrakt kam. Er ging nach vorne zum Gästebad durch und versuchte dort, die schlimmsten Spuren und Gerüche zu beseitigen. Zum Glück war Harry nicht geübt darin, nach Zeichen von Betrug zu suchen. Und Grund dafür hatte er auch nicht. Es ließ Severus trotzdem mit jedem Moment schmutziger fühlen. Kapitel 10: Amerika ------------------- Er hatte Harry betrogen. Er hatte es nicht einmal, aber es fühlte sich trotzdem so an. Jedes mal, wenn er Harry ansah, hatte er das Gefühl, sich auf die Knie werfen und um Vergebung flehen zu müssen. Dabei hatte er das noch nie getan. Und auch noch nie so empfunden. Er war zuvor nicht einmal je in so einer Situation gewesen, wo so etwas ansatzweise nötig gewesen wäre nach sozialen Regeln. Und jetzt hatte er auch noch Gewissensbisse wegen einer Sache, die er im Endeffekt gar nicht begangen hatte. Schließlich waren Harry und er nicht zusammen. Nicht einmal auf dem Weg dahin. Er hatte kein Versprechen gegeben, weder ausgesprochen noch insgeheim. Severus seufzte, ließ die Tastatur Tastatur sein und legte seine Hände auf sein Gesicht. Jetzt verfolgte ihn das Ganze sogar schon zur Arbeit. Wenn er vorher gewusst hätte, was diese Sache mit seiner Gefühlswelt anstellen würde, hätte er es gleich gelassen. So viel Sorge und Selbstvorwürfe war auch ein wirklich guter One-Night-Stand nicht wert. Und Charlie war ein wirklich guter One-Night-Stand. Gutaussehend, fit, gesund und vor allem: An ihm interessiert. Der typische Stricher sah ihn einfach nicht an oder schloss die Lider. Charlie hatte ihn angesehen, hatte ihn ganz freiwillig geküsst, hatte seinen Namen gehaucht. Wollte er das von einem Stricher, kostete das fünfzig mehr und war weit weniger überzeugend. Aber von dem guten Gefühl war nichts übrig. Nur Angst, Harry könnte es heraus finden, Schuld, es getan zu haben, Scham, dass er während der ganzen Sache nicht einmal an Harry gedacht hatte. Und doch machte das alles nicht den geringsten Sinn. Harry war nicht sein Freund. Nicht einmal sein potenzieller Freund. Er war nichts außer einem Jungen, der zeitweise bei ihm wohnte. Harry würde mit dieser Ginny zusammen kommen. Sie würden glücklich werden. Und er sollte sich verdammt nochmal zusammen reißen und seinen Blick auf Charlie wenden. Charlie war perfekt für ihn. Er war alles, was Severus je gewünscht hatte. Nur warum schrie sein Herz dann nach Harry? Für Montag Nachmittag hatte Harry sich bereits abgemeldet, um mit Ginny etwas zu unternehmen. Dienstag würde er sie dafür sogar von der Schule abholen. Er hatte Severus schüchtern nach Geld gefragt, um sie ins Kino einladen zu können. Nie hatten zwanzig Pfund sich so bitter angefühlt. Am Dienstag Nachmittag sagte er Lydia, er würde sich nicht gut fühlen und bat sie, die zwei nur mit einem Hauch von Konzentration erarbeiteten Verträge gegen zu lesen. Er versuchte es noch mit dem letzten für den Tag, aber im Endeffekt gab er ihr auch den – in diesem Fall, um einen anderen Verantwortlichen zu finden – und verließ die Kanzlei. Einen Moment lang stand er vor seinem Wagen, bevor er abdrehte und wahllos eine Straße hinunter ging. Sein Haus war der letzte Ort, an dem er jetzt sein wollte. Und das, obwohl Harry sicher nicht zuhause wäre. Er blieb mit einem Seufzen an der nächsten Straßenecke stehen. Das hier schien allerdings ähnlich idiotisch. Durch die Stadt laufen und hoffen, das Chaos in seinem Kopf würde dadurch angenehmer werden? Sehr witzig. Er brauchte Ablenkung. Vielleicht ein Film. Nein, der Gedanke an ein Kino machte die Sache schlimmer. Eine Ausstellung? Er wusste nicht, was es gerade gab. Theater und Opern spielten erst abends. Vielleicht sollte er doch nach Hause fahren. Er hatte noch ein paar DVDs, die er bisher nicht gesehen hatte. Mit einem resoluten Nicken kehrte er wieder um. Er fühlte sich mit einem festen Plan für den Abend auf jeden Fall besser. Er würde sich zuhause ein Brot machen, er würde eine DVD rein legen und er würde mit Harry nicht mehr als Grüße wechseln. Einen Moment schoss ihm in den Kopf, dass er auch ein Glas Wein oder einen Whisky dazu nehmen könnte, aber er hatte lang gelernt, dass man nur trinken sollte, wenn es einem gut ging. Bei negativen Gefühlen etwas zu trinken führte in eine Teufelsspirale, die er bei seinem Vater in allen Facetten gesehen hatte und nie selbst erleben wollte. Dass im Wohnzimmer Licht brannte, ließ ihn kurz fluchen, dass Harry heute morgen das Licht angelassen hatte. So etwas kostete Geld. Er tat es trotzdem mit einem Schnauben ab und schloss auf. Sollte das blöde Licht doch brennen bleiben, er wollte eh sofort ins Wohnzimmer. Er legte den Mantel ab, zog die Schuhe aus und trat in den hell beleuchteten Raum. Und stockte. Was machte Harry hier? War er nicht mit Ginny weg? Hatte der Junge ihn belogen und machte hinter seinem Rücken ganz andere Sachen als er sagte? Und warum lag er schlafend auf Severus Sessel? Severus spürte seine Wut schon wieder abebben, als er herein trat. Harry war zu einer Kugel zusammen gerollt, die Arme um sich selbst geschlungen. Er sah nicht glücklich eingekuschelt sondern eher ziemlich verlassen und einsam aus. Vielleicht war etwas geschehen? Vielleicht war Ginny aus dem Rennen? Severus zuckte ob seines eigenen Gedankens zusammen. Wie konnte er nur? Wie konnte er nur Freude bei dem Gedanken empfinden? Ginny war Harry wichtig, genau genommen war sie sogar für ihn selbst wichtig. Er konnte Harry nicht rund um die Uhr beschäftigt halten, es wäre gut, wenn … es … Wen belog er hier eigentlich? Er wollte den Jungen für sich selbst und seine ganze Gefühlswelt war darauf bereits eingestellt. Er war eifersüchtig auf alles und jeden, der Harry zu nahe kam, er fühlte sich schuldig wegen der Sache mit Charlie und er freute sich über jede potenzielle Freundin, die vom Tisch war. Es mochte kitschig klingen, aber sein Herz gehörte Harry. Warum wehrte er sich mit aller Kraft dagegen? Er hatte gedacht, er könnte Harry aufgeben, aber es klappte einfach nicht. Und doch war da außer seiner Moral noch diese andere Sache … dieses Gefühl namens Angst. Lydia hatte es bestens beschrieben. Es war praktisch sicher, dass Harry die Meinung ändern und ihn wieder verlassen würde. Wie sollte er dann damit leben? Wie sollte er das überleben? Wie, wenn er sich auch nur für einen Moment trauen würde zu denken, Harry könnte sein sein und bleiben? Er kniete vor dem Sessel, eine Hand über Harrys Wange schwebend. Er könnte sie sinken lassen, könnte Harry sanft wecken und ihn fragen, was geschehen war. Er könnte ihn auch küssen. Er könnte auch aufstehen und den Jungen anschreien, was er hier machte, wo er sich doch auf einen ruhigen Abend gefreut hatte. Er könnte Harry sogar vom Sessel reißen und ihm sagen, er solle nicht auf seinem Platz rum liegen. Er könnte ihn auch sanft in seine Arme ziehen und ins Bett tragen. Obwohl er vermutete, das sein Rücken die letzte Möglichkeit nicht mitmachen würde. Er schloss die Lider. Es ließ automatisch auch seine Hand sinken. Unter seinen Fingerkuppen spürte er weiche Haut, ein Zucken der Muskel darunter, schließlich ein panisches Aufschrecken, was seine Hand frei in der Luft schwebend neben Harry beließ, da die Wange darunter verschwunden war. Harry atmete schnell. In seinen Augen glänzte erst Angst, dann Erkennen, dann Erleichterung. Noch bevor Severus mehr Gedanken darüber anstellen konnte, wurde aus der Erleichterung Schmerz und Tränen füllten Harry Augen. Eine Hand griff fahrig nach Severus frei schwebender und zog sie auf Harrys Oberschenkel, wo dieser sie mit beiden Händen griff. Harry schluchzte nicht. Er weinte nicht mal. Er senkte den Kopf und versuchte, seinen Schmerz nicht sehen zu lassen. Doch er hielt Severus Hand in einem festen Griff, der kein Wegziehen erlaubte. Severus wusste, das wäre der Moment zu fragen. Das wäre der richtige Zeitpunkt, um zu hören, was Harry dazu brachte, weinend und allein hier zu sitzen. Und doch brachte er die Worte nicht hervor. Er dachte an Ginnys Lächeln, Charlies zufriedenes Hauchen seines Namens, die Mutter des Bordells und seinen Ex, der ihn lachend festgehalten hatte, während Severus fast an seinem Schwanz erstickt war. Er dachte an so viel Pro und Contra, so viel Sehnsucht und Angst, dass er im Endeffekt nur schweigend sitzen blieb und wartete, dass Harry sich von selbst beruhigen würde. „Ich glaube, ich bleibe besser allein“, murmelte Harry leise. Severus schnaubte nur abfällig. Es ließ Harry zusammen zucken. Ihm schnürte es dafür die Kehle zu. Konnte er denn gar nichts richtig machen? Er versuchte, seine unwillkürliche Reaktion zu erklären: „Es ist ganz normal, dass diese Versuche immer wieder schief gehen. Dadurch lernt man. Daran wächst man.“ „Aber es tut weh“ Harry hob den Blick zu ihm, die Augen schimmernd vor Tränen, die noch nicht gefallen waren. „Etwas zu lernen heißt immer, sich wehzutun“ Er hatte das schmerzlich genug gelernt. Jeder Versuch, andere Menschen anzusprechen, Freunde zu finden, überhaupt Leute zu finden, die ihn auch nur grüßen würden … es war eine einzige Qual gewesen. Es war, als wäre die Hässlichkeit seines Äußeren bis in sein Inneres gesunken und hätte ihn verunstaltet, sodass jedes Wort und jede Annäherung auf Ekel und Abscheu stieß. „Warum muss ich es dann überhaupt lernen?“ Harry ließ Severus Hand los und verschränkte die Arme wie ein schmollendes Kind. „Weil der Ist-Zustand auch wehtut. Vielleicht nicht so scharf, aber genug, um nicht aushaltbar zu sein“ Meistens. Und manchmal war die Angst vor Veränderung größer als der Schmerz, nicht genug zu sein. So wie bei ihm. Auch die Erkenntnis tat weh, aber er war nie ein Freund davon gewesen, sich selbst zu belügen. Harry sah ihn an. Die Stirn leicht in Falten, Schluchten zwischen den Augenbrauen, die Mundwinkel nach unten verzogen. Ein Ausdruck schwankend zwischen Zorn, Trauer und der verzweifelten Hoffnung, die Worte mögen nicht wahr sein. Mit demselben Ausdruck sank Harry vom Stuhl und kniete sich dicht an Severus. Mit einem kurzen Vorbeugen lag seine Stirn auf Severus Schulter und seine Arme hoben sich langsam unter Severus her, bevor die Hände vorsichtig auf seine Schulterblätter gelegt wurden. „Ich will doch nur berührt werden“, flüsterte er, der Ton durchzogen von einem Flehen, „Von dir berührt werden.“ „Du willst menschliche Nähe. Es ist nicht wichtig, dass ich das bin“ Wen versuchte er hier zu überzeugen? Harry oder sich selbst? Wenn er glauben könnte, was er da sagte, wer wäre er denn, sich von Harry benutzen zu lassen? War er selbst schon so verzweifelt, dass er Harry aus solchen Gründen in seine Arme lassen würde? Mit einem Seufzen legte er die Hände auf Harrys Oberarme und versuchte diesen von sich zu drücken. Die Reaktion darauf war blitzschnell, instinktiv und in ihrem Ausmaß schon fast gewalttätig. Severus musste husten, als er mit der vollen Muskelkraft eines Sechzehnjährigen an diesen gedrückt wurde. „Es ist wichtig!“, widersprach dieser und lockerte seine Arme nur so weit, dass Severus wieder atmen konnte. Severus, der noch immer auf dem Teppich vor seinem Sessel kniete und dessen Arme schlaff über der fast brutalen Umarmung an seinen Seiten lagen, seufzte. Was sollte er schon sonst tun? Harry brauchte Zuwendung und Aufmerksamkeit. Anscheinend sehr viel mehr als Severus geben konnte. Und auch sehr viel mehr als andere bereit waren zu geben. Nur würde das auf Dauer dazu führen, dass Harry mehr und mehr einfordern und damit die Menschen um sich herum vertreiben würde. Er würde mit dem Bedürfnis nach Nähe in einen Teufelskreis fallen. „Ich kann dir keine Familie geben, Harry. Ich kann dir weder Vater noch Mutter noch Geschwister ersetzen. Ich kann nicht dein … Geliebter sein. Denn eine Liebesbeziehung beruht auf Geben und Nehmen und da bist du mir zu jung. Ich kann nicht einmal dein Freund sein. Dafür bist du zu abhängig von mir. Ich kann für dich sorgen, damit du nicht hungerst oder frierst und damit du eine Ausbildung erhältst. Aber viel mehr kann ich dir nicht bieten.“ Einige Momente herrschte Stille zwischen ihnen. Harrys leichtes Zittern hatte sich beruhigt und der Griff war lockerer geworden. Severus hätte sich lösen können, wenn er wollte. Falls er wollen würde. „Bitte schick mich nicht weg“, murmelte Harry gegen seine Schulter. Hätte Severus nicht ungefähr diese Worte erwartet, er hätte nie verstanden, was der Junge unter Tränen in den Stoff seines Jacketts murmelte. Ein Jackett, was hier nach in die Reinigung müsste wie sein analytischer Kopf bemerkte. „Ich schicke dich nicht weg. Ich verlasse dich auch nicht. Ich setze dich nicht aus und ich werde nicht verschwinden“ So wie seine Eltern es mit ihm gemacht hatten. Der Alkohol hatte seinen Vater getötet und seine Mutter hatte ihn fortgeschickt. In ihren Augen hatte ein Kind mit Beenden der Schule das Haus zu verlassen. Egal, ob er oder sie dann auf der Straße saß. Harry verließ ein langes, langes Ausatmen, mit dem auch die Spannung langsam aus ihm wich. Sein Griff lockerte sich weiter, bis er nur noch aus einem leichten Berühren von Severus Schulterblättern bestand. Severus nahm es als das Zeichen, aufstehen zu können. Das Knien wurde auf Dauer schmerzhaft. Er griff jedoch nach Harrys Unterarm, half diesem auf und zog ihn schließlich mit sich auf die Couch. Neben sich natürlich. Harry lehnte sich sofort gegen ihn. „Erzählst du mir, was heute passiert ist?“, fragte Severus vorsichtig. Mittlerweile hatte ihn jede Freude über die Situation verlassen und es blieb nur der schmerzliche Anblick eines Jungen, der mit den Tränen in seinen Augen kämpfte. „Nichts Wichtiges“, murmelte dieser automatisch, bevor er tief durchatmete, „Ich habe Ginny gesagt, dass ich sie mag und sie gefragt, ob sie meine Freundin sein würde. Ich habe das extra vorher im Englischkurs geübt.“ „Und sie hat nein gesagt?“ Hoffte er. Nicht für sich selbst sondern für Harry. Eine weitere Aktion wie die dieser Cho hatte der Junge nicht verdient. „Sie war ganz überrascht. Und dann hat sie gesagt, dass ich für sie wie ein kleiner Bruder bin. Und dass sie nie daran gedacht hat, mit mir … dass das unpassend wäre.“ Das war wirklich erstaunlich freundlich. Er wünschte, auch nur ein Nein bei ihm wäre so freundlich formuliert gewesen. Aber für einen Jungen mit Hoffnungen und Träumen war jedes Nein, egal wie freundlich, ein tiefer Schlag. Severus konnte sich nur noch vage an die phantasievollen Hoffnungen seiner Jugend erinnern, aber er wusste, dass seine Vorstellung weit ab jeder Realität gewesen waren. „Meinst du, ihr bleibt Freunde?“ Harry schien einen Moment zu überlegen, bevor er langsam nickte. Er hatte wahrscheinlich keinerlei Erfahrungen mit Freundschaften und Liebesbeziehungen in Kombination. Kein Wunder, dass die Welt gerade kompliziert auf ihn wirkte. „Ich hoffe es auch für dich“ Severus stellte überrascht fest, dass er nicht einmal log. „Die Weasleys sind eine nette Familie und es wird dir sicher gut tun, etwas über das Familienleben von ihnen zu lernen.“ Und sei es nur, um ein bisschen dessen zu ersetzen, was Harry gerade vermisste und verzweifelt bei Severus suchte. Auch wenn Ginny nicht die Freundin werden würde, sie schien jetzt schon eine wichtige Freundin zu sein. „Warum ist das so schwer?“, flüsterte Harry, „Das … Leben. Das mit den Menschen.“ „Es ist für alle schwer. Jeder von uns muss Sozialverhalten erst lernen. Du hattest keine Eltern, die dir das erklären konnten“ Ebenso wie seine völlig unfähig gewesen waren. Weder sein ewig alkoholisierter Vater noch seine verängstigte, isoliert lebende Mutter hatten wohl viel von Sozialkompetenz verstanden. Er atmete tief durch, bevor er einen Sprung ins kalte Wasser wagte. „Ich muss das auch noch lernen. Ich bin auch nicht gut da drin.“ „Echt?“ Harry sah lächelnd zu ihm auf. „Das lerne ich bei diesen Kursen mittwochs“, gestand er vorsichtig, „Dass ich … nicht aus Unsicherheit gewalttätig werde.“ „Das ist Unsicherheit?“ Harrys Augen wirkten groß vor Erstaunen. „Mein Onkel wirkte nie … unsicher.“ „Er wusste nicht, wie er dich anders behandeln sollte“, vermutete Severus. Auch wenn er nicht wirklich wusste, ob das auf Missbrauch von Kindern auch zutraf. „Aber seinen Sohn hat er gut behandelt.“ Autsch. Das tat doppelt weh. Zuzusehen, was man haben könnte und nicht bekam. Das war hart. „Manchmal ist das Leben unfair“ Er musste sich davon abhalten, mit der Nasenspitze durch Harrys Haar zu fahren. Dass der Junge sechzehn war, war auch unfair. „Jetzt hast du erstmal ein bisschen Glück. Übermorgen fliegen wir nach Amerika.“ „Übermorgen schon?“ Harry sah mit einem Grinsen auf. „Ich muss packen! Wie warm ist Amerika?“ „Da, wo wir hin fliegen, ist es so wie hier“ Severus musste ob des Enthusiasmus lächeln. „Ich müsste im Keller noch eine Reisetasche haben. Komm, wir gehen die mal holen.“ Harry folgte ihm fröhlich. Charlies Blick blieb bei der Begrüßung einen Moment an ihm hängen, doch zum Beginn des Kurses fing er sich wieder. Sie übten einen weiteren Satz Situationen und wenn Severus seinen Pessimismus für einen Moment beiseite schob, so hatte er das Gefühl nach der Kritik der letzten Woche schon einiges besser zu machen. Selbst Draco war neben ihm nicht auf Hochspannung, als würde er langsam spüren, dass von Severus zumindest nicht die Gefahr körperlicher Verletzung ausging. Entgegen seiner Erwartung hatte Sirius seine Kritik erstaunlich gut angenommen und setzte diese ebenfalls mit Bravour um. Auch wenn es bisher immer gewirkt hatte als hätte James seinen unwilligen Freund mit zum Kurs geschleppt, schien es jetzt Sirius, der den anderen mitzog. Draco und Barty wirkten beide als hätten sie in der vorherigen Woche nichts gelernt, aber zumindest arbeiteten beide mit. Severus rechnete es beiden hoch an – er wäre mit knapp achtzehn wahrscheinlich nicht bereit gewesen, so an sich zu arbeiten. Wahrscheinlich hätte ihn keine einzige Androhung von Strafe her bringen können. Mit achtzehn war er … im Endeffekt war er diesem Draco nicht unähnlich gewesen. Der Junge war in einem durch angespannt als würde er jeden Moment erwarten, geschlagen oder beschimpft zu werden. Severus konnte sich gut vorstellen, dass er ähnlich gewesen war. Allerdings wäre er nicht mutig genug gewesen, etwas gegen seine damals höchst evidente Gewalttätigkeit zu tun. Er war oft genug fast von der Schule und danach fast von der Uni geschmissen worden. Es waren stets gute Noten gewesen, die ihn gerettet hatten. Denn wie konnte ein guter Schüler wirklich böse sein? Dass man lernen und trotzdem ein aggressiver Klotz sein konnte, das schien in den Köpfen seiner Lehrer nie zusammen passen zu können. Wer unsozial war, der schrieb schließlich auch nur schlechte Noten, nicht wahr? Wer gute Noten schrieb, musste demnach auch nett sein. Er hatte den Zusammenhang nie verstanden, aber anscheinend gab es ihn. „Wie versprochen, das war die letzte Szene“ Ein kollektives erleichtertes Seufzen ging durch die Reihe. Anscheinend waren sie sich alle einig darin, dass Höflichkeit verdammt schwer war. Dicht gefolgt von diesem unscheinbaren, jedoch zutiefst gruseligen Thema namens Small-Talk. „Ihr habt euch gut geschlagen. Nächste Woche gibt es ein Thema, was normalerweise sehr beliebt ist: Wir reden über Frauen.“ Sirius pfiff anerkennend und James grinste. Selbst Dracos Mundwinkel zuckten kurz. Charlie ließ ihnen den Moment, bevor er fortfuhr: „Respektvollen Umgang mit Frauen.“ Severus hörte nicht nur einen resigniert seufzen – es ließ ihn lächeln. „Flughäfen sind gigantisch“ Harry drehte sich beim Gehen um seine eigene Achse. Wie er das tat und gleichzeitig in ein und dieselbe Richtung ging, erschien Severus ein einziges Wunder. Nur dass er andauernd aufpassen musste, dass Harry nicht versehentlich in andere Menschen hinein lief, störte ihn ein wenig. „Bangkok und London haben sehr große Flughäfen. Es gibt auch kleinere“, informierte Severus den Jungen. „Verläuft man sich da nicht?“ „Meist ist alles sehr gut ausgeschildert“ Severus sah sich nach ihrem Gate um. „Wir müssen da hinten lang.“ „Kann ich mich nicht erst umschauen?“ In Harrys Stimme lag etwas jammerndes. Natürlich befanden sie sich auch mitten zwischen vier großen, offenen Shops mit glitzernd leuchtender Auslegeware. „Nein, wir müssen uns beeilen.“ „Aber wir sind doch so früh hier gewesen!“, maulte Harry, auch wenn er ihm dabei hinterher joggte. „Wir haben nur noch eine halbe Stunde, um zum Gate zu kommen“ Und Severus wusste aus Erfahrung, dass das nicht viel Zeit war. Die transatlantischen Flüge gingen nicht gerade von einem eingangsnahem Gate. „Nur noch?“ Harry blinzelte verwirrt. „Wir wurden erst befragt, dann haben wir eingecheckt, dann wurden wir durchsucht, dann wurden wir wieder befragt und ich kann dir garantieren, dass wir am Gate nochmal befragt werden.“ „Warum?“ Das hatte Harry auch schon die letzten zwei male gefragt. Severus wusste auch keine gute Antwort darauf. Also beschleunigte er, damit Harry zu sehr außer Atem war, um weitere Fragen zu stellen. Da der andere ein gutes Stück kleiner war, funktionierte die Technik zum Glück gut. Wie nicht anders zu erwarten stand vor dem Gate erneut ein Kontrolleur, um ihnen dieselben Fragen zu stellen, die sie bereits mehrfach beantwortet hatten. Hatten sie zwischendurch angehalten? Hatten sie ihr Gepäck irgendwo stehen lassen? Hatten sie seit der letzten Kontrolle mit jemandem geredet? Waren sie in einer Menschenansammlung wie einer Schlange gewesen? Severus kannte diese Prozeduren nur zu gut, aber es half ihm nicht gerade, dem Mann vor seiner Nase nicht den Hals umdrehen zu wollen. Harrys erwartungsfreudige Augen an seiner Seite halfen mehr. Er war eine gute Erinnerung, dass Aggression nicht der richtige Weg war. An manchen Dingen im Leben konnte man nichts ändern, man musste sie einfach akzeptieren. Wie zum Beispiel amerikanische Paranoia. Severus war heilfroh, als sie endlich das Flugzeug besteigen konnten. Auch wenn er wusste, dass es sowohl im Flugzeug als auch mehrfach in Amerika noch Befragungen geben würde. Und diesmal müsste er sie auch noch für zwei beantworten. Ein Seufzen fiel von seinen Lippen. Während des Fluges war Harry erstaunlich zahm gewesen. Severus hatte ihm Kinderfilme angestellt und während des zweiten war er in seine Decke gekuschelt eingeschlafen. Er hatte ihm die Kopfhörer ausgezogen und einfach still gehalten, als Harry irgendwann gegen ihn gesackt war und es sich auf seiner Schulter gemütlich gemacht hatte. Er selbst hatte natürlich kein Auge zugetan. Er traute den Menschen um sich herum nicht genug als dass er es wagen würde, in einem Flugzeug zu schlafen. Zum Glück hatte er ja ein Buch mitgenommen. Als sie landeten, schlief Harry immer noch. Severus hatte kurz versucht, ihn zu wecken, aber das wurde nur von einem unleidigen Grummeln kommentiert. Also hatte er Harry aufgesetzt, ihm den Gurt umgelegt und ihn mit einem Arm gestützt, als sie landeten. Der Junge wurde erst langsam wach, als alle um sie herum bereits anfingen, in den Gepäckfächern zu wühlen. „Wasch is?“, murmelte er verwaschen. „Wir sind da. Du musst langsam aufwachen.“ „Schon?“ Harry sah auf und sah sich um, bevor er aus dem Fenster blickte. „Wie spät ist es?“ „Es ist hier nun neun Uhr morgens“ Er öffnete die Sichtluke neben Harry. „Schau, es ist sonnig. Elf Grad haben sie gerade durchgesagt.“ „Ist das kalt?“ Nun, zumindest hatte er ja schon gelernt, dass Grad etwas mit der Temperatur zu tun hatte. „Das ist Wetter für eine dicke Jacke, ja“ Severus sah sich um. Ein Großteil der Menschen war ausgestiegen. „Komm, wir machen uns fertig.“ Sie nahmen ihre Sachen und folgten der Beschilderung bis zur Gepäckausgabe. Da sie relativ spät ausgestiegen waren, rollten die ersten Koffer auch bereits auf dem Band. Severus nahm sich die Freiheit, Harry vorzuschicken, um ihre Koffer vom Band zu holen. Er hatte wenig Lust, sich zwischen die Menschenmassen zu stellen. In der nächsten Halle war es so voll, dass Harry andauernd wieder zurück blieb und Severus auf ihn warten musste. Die Grenzkontrolle war einfach heillos überfüllt. Er sah sich noch nach der kürzesten Schlange um, als Harry seine Hand griff. Sein Blick fiel sofort hinab. Da hatte sich eine kleinere Hand in seine gelegt und umklammerte die seinige fest. Er hob den Blick zu Harrys Gesicht. Dieser lächelte schüchtern und meinte: „So gehe ich nicht verloren, oder?“ Severus nickte nur, die Kehle zu trocken für irgendeine Art von Antwort. Mit einem tiefen Atemzug nickte er und wandte sich wieder zur Grenzkontrolle. Die kürzeste Schlange befand sich am Ende des Raumes, sodass er diese ansteuerte. Das könnte ja heiter werden. Er hasste diesen Teil. Aber er spürte Harrys warme Hand in seiner. Kapitel 11: Arbeit und Urlaub ----------------------------- Die Grenzkontrolle war ein einziger Horror gewesen. Wie schon im Konsulat, wo er Harrys Visa beantragen musste, da er mit dem thailändischen Pass nicht einfach so einreisen konnte. Ist der Junge wirklich ihr Sohn? Wo ist seine Mutter? Seit wann lebt er bei ihnen? Warum lebt er jetzt erst bei ihnen? Warum kann er kein Englisch? Warum haben sie den Jungen mitgenommen? Severus hatte zum Glück seine feste Geschichte, die er immer und immer wieder erzählte. Und Harry hatte gelernt, artig daneben zu stehen und zu lächeln. Er antwortete sogar auf ein paar Fragen selbst. Die erste davon: „Wie ist dein Name?“ Als Severus den Jungen mit Harry Snape antworten hörte, überkamen ihn Panik, Stolz und ein unerklärlicher Beschützerinstinkt zugleich. Sein Harry. Er hatte dem Jungen seinen Namen gegeben. Seinen Vornamen für ein neues Leben, seinen Nachnamen zum Schutz. Es war sein Harry. Wie hatte er je darüber nachdenken können, ihn wegzugeben? Zum ersten mal erwiderte er den Druck der Hand, die in seiner lag. Und Harry strahlte ihn an mit seinem schönsten Lächeln. Es brauchte jeden Funken Selbstbeherrschung, um sich nicht vorzubeugen und ihn mitten vor den Augen des Grenzkontrolleurs zu küssen. Natürlich wäre das desaströs gewesen, aber Severus merkte, dass ihm die möglichen Konsequenzen sehr viel gleichgültiger waren als sie es sein sollten. Was ihn zurück hielt, war etwas anderes. Der Junge war sechzehn und von ihm abhängig. Es wäre nicht fair, das auszunutzen. Er wollte keinen Liebhaber, der bei ihm war, weil er keine andere Wahl hatte. Er wollte Harry und er wollte ihn ganz. Aus dessen völlig freien Willen. Also antwortete er weiter auf die drögen Fragen des Grenzkontrolleurs, die auch nur die unendliche Wiederholung eines Fragenkanons war, den er andauernd zu beantworten hatte. Eine Viertelstunde eingehender Befragung später durften sie nach Scan mehrerer Fingerkuppen und verschiedener Fotos endlich den Flughafen verlassen. Severus behielt Harrys Hand bis zum Besteigen des Taxis in seiner. „Wow, das ist riesig!“ Harry rannte von einem Raum zum anderen – nicht, dass ihr Hotelzimmer viele davon hätte – und sah sich alles an. Severus hing in aller Ruhe seinen Mantel auf, legte ihre Koffer auf die Kofferablage und öffnete diese zum Auspacken. Als er seine Jacketts aufhing, wunderte es ihn nur minimal, dass Harry im Schrank stand und er ihn erst heraus ziehen musste. Harry fand das anscheinend komisch. Sein Lachen ließ Severus lächeln. „Und die Aussicht ist toll“ Harry hatte sich anscheinend ans Fenster gestellt. „Was sind das für Gebäude?“ Severus stellte sich neben ihn und begann zu erzählen, was er wusste. Viele der Gebäude waren wirklich berühmt, sodass er viel zu erzählen hatte. Mehr als die Gebäude schien Harry jedoch der Central Park zu interessieren. Der Gedanke, mitten in eine Stadt voller riesiger Gebäude einen Park zu bauen, erschien ihm absurd. Severus Erklärung, dass Menschen so etwas zur Entspannung ihrer Nerven brauchten, verstand er ebenso wenig. „Du kannst ja schauen, wie du dich fühlst, wenn du den ganzen Tag durch Manhattan gerannt bist“ Severus schüttelte amüsiert den Kopf. „Meinst du, du findest dich gut genug zurecht, um dieses Gebäude wieder zu finden?“ „Musst du heute schon arbeiten?“ Harry warf ihm einen betrübten Blick zu. Severus nickte nur. Vielleicht hätte er darauf bestehen sollen, dass das erste Meeting erst auf Morgen gelegt werden würde. Wahrscheinlich wäre es gut gewesen, hätte er Harry etwas über Sightseeing erklärt. „Kannst du mir die Adresse aufschreiben? Dann kann ich Menschen fragen, um zurück zu finden. Wir haben schon gelernt, wie man nach dem Weg fragt.“ „Das ist eine gute Idee“ Severus schnappte sich eine Visitenkarte des Hotels. „Wenn du gar nicht weißt, wie du her finden sollst, dann winke dir ein gelbes Auto heran. Das sind Taxis. Wenn du ihnen diese Karte zeigst, dann fahren sie dich her“ Er zog sein Portemonnaie hervor. „Taxi fahren kostet Geld. Und wenn du dir irgendetwas anschauen willst, kostet das normalerweise auch Geld. Wenn du etwas essen magst, dann kannst du etwas von einem Stand kaufen. Ich bin heute Abend gegen achtzehn Uhr zurück, dann können wir zusammen essen gehen.“ „Wie viel Uhr ist jetzt?“ Severus griff in Harrys Jackentasche und zog dessen Handy hervor, um zu fragen: „Kannst du die Uhr auf diese Weise schon lesen?“ Harry nickte lächelnd. „Und wenn du ganz verzweifelt bist, kannst du mich damit anrufen. Erinnerst du dich, wie das geht?“ Harry nickte erneut. „Bitte ruf auch an, wenn du es nicht schaffst, um achtzehn Uhr wieder hier zu sein.“ „Okay“ Harry nahm das Handy wieder und steckte es ein. „Und geh dran, sollte ich dich anrufen.“ Noch ein Nicken. Severus seufzte und fragte leise: „Du bist sicher, dass du zurecht kommst?“ Harrys Grinsen war wenig rückversichernd. „Griths“ Der andere Anwalt schüttelte ihm die Hand. Ein stoischer, wenig charmanter Mann von fast sechzig Jahren. Severus mochte ihn auf den ersten Blick. „Mister Gainsborough entschuldigt sich für seine Verspätung, er wird in wenigen Minuten hier sein.“ „Der Firmenchef plant persönlich zu erscheinen?“ Severus hob überrascht die Augenbrauen. „Nach den bisherigen Enttäuschungen hat er sich der Sache persönlich angenommen“ Der andere Mann sandte ihm einen warnenden und gleichzeitig prüfenden Blick. „Ich hörte, einer meiner Kollegen habe sie verärgert. Ich soll Ihnen im Namen der Kanzlei eine Entschuldigung ausrichten.“ „Wäre er die einzige Enttäuschung gewesen, müssten wir den Chef nicht bemühen“ Griths musterte ihn offen. „Versuchen Sie nicht, ihn zu täuschen. Es würde Ihre Kanzlei diesmal teuer zu stehen kommen.“ „Ich habe bis zum heutigen Tag noch keinen Kunden enttäuscht. Verärgert beizeiten mit Ehrlichkeit, aber nie enttäuscht“ Severus hielt dem Blick problemlos stand. Er war schon lang nicht mehr verärgert, wenn man ihm Inkompetenz unterstellte. Da stand er drüber. Wie schon viele Leute festgestellt hatten – ihm war die Meinung der meisten Menschen egal. „Mister Griths?“, fragte eine Assistentin, die soeben den Raum betreten hatte, „Mister Gainsborough ist eingetroffen. Er wird in wenigen Minuten zu Ihnen stoßen.“ „Danke, Alicia“ Der Herr nickte. „Wollen Sie schon einmal Platz nehmen? Wünschen Sie etwas zu trinken?“ „Vielen Dank“ Er nahm den angebotenen Sessel. „Einen Kaffee, bitte. Schwarz.“ Der andere Anwalt beschränkte sich darauf, ihn zu mustern, während sie auf ihre Getränke warteten. Ausgerüstet mit Kaffee stellte er ein paar der sozial benötigten Fragen über seinen Flug, seine Unterkunft und das Wetter in London, bis der Chef auch eintraf. Der Mann schien trotz seines Alters – er hatte sicherlich fünf bis zehn Jahre mehr als Severus – sehr sportlich und entsprach nicht ganz dem erwarteten Bild eines übergewichtigen Mittfünfzigers. Eher wirkte er wie ein Rennradfahrer oder Jogger, der jeden Tag die Treppe zu seinem Büro im fünfundvierzigsten Stock nahm. „Guten Nachmittag, Mister Snape“ Der Mann reichte ihm die Hand. „Es freut mich sehr, dass Sie so schnell Platz in Ihrem Terminkalender gefunden haben.“ „Die Ehre ist ganz meinerseits“ Die Worte gingen ihm wie Teer von der Zunge, aber er hatte zum Glück lange Jahre geübt. „Ich danke, dass Sie sich dieser Sache persönlich annehmen. Ich soll Ihnen eine Entschuldigung unserer Kanzlei ausrichten und werde Ihren Anliegen vollste Priorität gewähren.“ „Das ist doch gut zu hören“ Gainsborough warf seinem Anwalt einen Blick zu. Er war nicht fragend wie Severus erwartet hätte sondern eher tadelnd. „Ich sehe, Alicia hat Sie schon mit Getränken versorgt. Dann können wir ja gleich zur Tat schreiten.“ „Sehr gern“ Das war sogar ehrlich gemeint. Er hatte lange das Interesse daran verloren, durch Firmen geführt zu werden oder sich Vorträge über die hohen Ideale des Konzerns anzuhören. Sich rein auf die anstehende Arbeit zu beschränken war ihm mehr als recht. Vielleicht würde es ihm sogar die Migräne des Abends ersparen, die sich schon seit der Flughafenkontrolle anbahnte. Mister Gainsborough erwies sich als erstaunlich engagierter Firmenchef. Zwar wusste er wenig über die Feinheiten und typischen Probleme dessen, was er sich vorgestellt hatte, aber sie hatten eine sehr produktive Sitzung. Viele Entscheidungen über Aspekte des Vorhabens konnten sofort geklärt werden, sodass Severus seine Arbeit für die nächsten Tage drastisch schwinden sah. Hoffentlich würde das Meeting mit Industrial Illusions ebenso erfolgreich verlaufen. Er bemerkte die Uhrzeit erst wieder, als Mister Gainsborough fragte: „Wollen wir die restlichen Einzelheiten beim Abendessen besprechen?“ Severus setzte bereits zur Zustimmung an, als ihm einfiel, dass er dieses mal nicht ungebunden war. Harry wartete auf ihn. Welch ein … neues Gefühl. Er konnte noch nicht sagen, ob es positiv oder negativ war. Er überlegte einen Moment, bis ihm eine möglichst diplomatische Formulierung eingefallen war: „Ich danke Ihnen für das Angebot, jedoch wartet mein Sohn im Hotel. Er ist zum Sightseeing mitgekommen und hat noch nichts gegessen.“ „Er kann doch mitkommen“ Herr Gainsborough lächelte. „Ich lerne gern junge Menschen kennen. Sie haben so eine erfrischende Sicht auf die Welt.“ Oh … damit hatte er nicht gerechnet. Wie sollte er erklären, dass sein Sohn kein Englisch sprach und auch keinerlei Benehmen hatte? Harry würde ihn fraglos blamieren, auch wenn er nichts dafür konnte. „Ehrlich gesagt … betrachte ich ihn noch nicht als gesellschaftsfähig. Ich setze die Verträge gern auf und bringe Sie zu unserem Treffen am Samstag mit. Alle weiteren Details kann man dort vor Ort klären.“ „Sie machen mich neugierig auf den Jungen“ Herr Gainsborough betrachtete ihn einen längeren Moment lang. „Aber wie Sie wünschen. Dann sehen wir uns am Samstag um zehn Uhr?“ „Sehr gern. Ich danke Ihnen für Ihre Zeit“ Einer der wenigen male, wo die Aussage nicht nur eine Floskel war. Er war dankbar, dass der Mann nicht auf einem Abendessen bestanden hatte. Harry konnte zwar schon mit westlichem Besteck umgehen und ordentlich auf einem Stuhl sitzen, aber seine Manieren reichten nicht für die Klasse Restaurant, in das man als Firmenchef ging. Außerdem hatte der Junge keinen Anzug. Das gehörte als nächstes auf die Einkaufsliste. Sie erhoben sich, schüttelten einander die Hände und tauschten einige weitere Floskeln. Als Severus sich schließlich endgültig verabschiedet hatte und das Gebäude verließ, war es bereits halb neun. Harry saß brav im Hotelzimmer und las eines der Bücher, das Severus ihm zum Geburtstag geschenkt hatte. Neben ihm lag ein Wörterbuch, um die vielen Vokabeln nachzusehen, die er nicht kannte. Severus fühlte sich fast verführt, den Jungen zu loben, dass er seine Zeit sinnvoll nutzte. Allerdings schaffte das Kompliment es nicht über seine Lippen. Er könnte selbst nicht sagen, warum. Da schien eine Barriere in ihm, die ihn hinderte, etwas Positives zu sagen. Er beschränkte sich auf einen einfachen Gruß und genoss das Lächeln, das ihm entgegen geworfen wurde. Nach einem Moment fügte er sogar eine Erklärung für seine Verspätung an, auch wenn das Wort Entschuldigung es auch nicht über seine Lippen schaffte. Ganz objektiv konnte er sich selbst sagen, dass beides zu sagen wahrscheinlich sozial kompetent gewesen wäre. Zumindest erkannte er ein paar seiner Fehler bereits. „Wollen wir etwas essen gehen?“ Harry nickte nur, hopste von seinem Bett und schnappte sich seine Schuhe. Severus rechnete im Kopf nach, dass dieser das letzte mal vor zweiundzwanzig Stunden etwas gegessen hatte, da er das Essen im Flug verschlafen hatte. Ein wenig erstaunte es ihn, dass Harry nicht einmal einen Hauch von Unmut zeigte, dass Severus ihn drei Stunden ohne Nachricht hatte warten lassen. Vielleicht hatte der Junge bei seinen Verwandten oft gehungert. Zum ersten mal erschuf der Gedanke an diese Verwandten nicht nur eine generelle Wut sondern auch ein unangenehmes Ziehen an seinem Herzen. Severus wandte sich ab, um seinen Mantel vom Haken zu nehmen und damit Harry seinen verwirrten Gesichtsausdruck nicht sah. Was war das für ein Gefühl gewesen? Was bedeutete dieses Ziehen? „Wo gehen wir denn hin?“, fragte Harry gut gelaunt. „Mal schauen“, erwiderte Severus nur und ging voraus. Harry folgte ihm ohne weitere Nachfrage. Er plapperte nicht einmal über seinen Tag. Das ständige Gerede war nervtötend, aber dessen Fehlen hatte auch etwas verstörendes. Sollte er einfach fragen, wie Harrys Tag gewesen war? Es wäre wohl angemessen … andererseits genoss er den Moment der Stille. Er könnte den Jungen später fragen. Er erkundigte sich an der Rezeption nach einfachen Restaurants, in denen man mit einem Jungen in Jeans gehen konnte. Upper Manhattan hatte davon nicht überragend viele, aber mit etwas Fußweg erreichten Sie einen relativ durchschnittlichen Laden, in dem Fleisch und Pommes die Verkaufsschlager darstellten. Nicht gerade Severus erste Wahl, aber ein guter Ort, um Harry etwas mehr über Tischmanieren beizubringen. Nach einigen Erklärungen über Besteckreihenfolge und wie man höflich bestellte war Severus sogar bereit, sich mit Harrys Erkundungen beschallen zu lassen. Nichts davon hatte einen informativen Wert für ihn, doch Harrys Enthusiasmus zuzuhören ließ ihn mit einem guten Gefühl zurück. Er beschloss, das nicht weiter zu analysieren. Weiterhin beschloss er, dass es keinen Grund gab, das Lächeln von seinen Lippen fernzuhalten, dass hervor brechen wollte. Er tippte nicht ein einziges Wort an den Verträgen und doch erschien ihm der Abend seltsam erfolgreich. Harry im Schlafanzug war ein gewohnter Anblick. Harry stolperte oft darin zum Bad oder in die Küche, wenn er bereits fertig angezogen für den Tag war. Es war dicker, blauer Baumwollzweiteiler mit Pandas darauf. Severus hatte sich fast geweigert, ihn zu kaufen, aber Harry hatte ihn sich gewünscht. Und wer war er schon, dem Jungen einen Wunsch abzuschlagen? Etwas ganz anderes war es, den Jungen in diesem Schlafanzug im Bett liegen zu sehen. Severus benutzte selten das Wort „niedlich“ in seinen Gedanken, doch der fast quer im Bett liegende Jugendliche, dessen Arm auf der rechten Seite und Fuß auf der linken Seite aus dem Bett hingen, verdiente die Bezeichnung wohl. Die Decke bedeckte nur ein Bein und das Knie des anderen, während das Kissen unter seinem Arm lag. Durch die viele Bewegung war sein Hosenbein bis unter das Knie hoch gerutscht und das Oberteil bedeckte nur noch eine halbe Brust. Severus Blick huschte über die unbedeckte Brustwarze, bevor er ihn abwenden konnte. Das Zucken an seinem Unterleib schien auch seinen Blick zu lenken, da dieser automatisch auf dieselbe Region an Harry Körper fiel. Der Anblick ließ ihn erschrocken zurück weichen. Natürlich war es völliger Blödsinn, erschrocken zu sein. Er wandte sich ab und trat ins Bad. Morgens war das eine ganz normale Reaktion, besonders bei Jugendlichen. Er war selbst morgens oft so aufgewacht. Harry war nicht einmal wach, bestimmt träumte er etwas Angenehmes. Es war sicherlich nichts, über das er sich den Kopf zerbrechen musste. Nur führte der Anblick ihm schmerzlich vor Augen, dass Harry kein Kind war. Harry hatte eine Sexualität, das konnte er kaum verneinen. Harry hatte sexuelle Bedürfnisse, die über das Bedürfnis eines Kindes nach menschlicher Nähe hinaus gingen. Natürlich hatte er die. Er war sechzehn. „Sechzehn ist zu jung“, flüsterte Severus sich selbst zu und trat unter die Dusche. Er sollte sie kalt stellen, das wäre die Reaktion, die eine solche Situation verlangte. Einen Moment lang musste er an Charlie denken, wie dieser erklärte, dass man das, was man sich selbst erlaubte, auch zwangsläufig tat. Er hatte mehr als einmal mit Harry in Gedanken masturbiert. Dass der Jungen schlafend im Nebenzimmer lag, schien seinem Gewissen nicht genug, um ihn abzuhalten. Der Anblick versprach zu viel. Harry war ein ganz normaler Junge mit sexuellen Bedürfnissen. Sechzehn war alt genug, um Entscheidungen über die eigene Sexualität treffen zu dürfen, oder? Wer war er, dass er glaubte, er könnte diese Entscheidungen für Harry treffen? Und wenn er ihn nicht anfasste, wer wusste schon, zu wem der Junge rennen würde? Severus schob seinen Gedanken einen Riegel vor. Nein, er würde sich das nicht erlauben. Harry war sechzehn und mittlerweile nicht mehr nur ein Asylant in seiner Pflege, er war allen offiziellen Dokumenten nach sein Sohn. Er trug seinen Namen. Es wäre illegal, Hand an ihn zu legen. Es hielt ihn nicht davon ab, mit Harrys Namen auf den Lippen zu kommen. „Und was machst du heute?“, fragte Harry zwischen Nutellabrötchen und Muffin. „Ich habe ein weiteres Meeting um elf“ Das bestimmt wieder in ein Mittagessen übergehen würde. „Danach muss ich am Laptop arbeiten.“ „Lange?“ Der Junge legte den Kopf zur Seite. „Das weiß ich noch nicht. Es kommt darauf an, wie das Meeting verläuft“ Wäre es so gut wie das gestrige, könnte er beide Verträge sicherlich noch vor heute Abend fertig stellen. Ein freier Freitag Abend in New York war nicht zu verachten. Nicht, dass er wirklich glaubte, dass ihm so viel Glück vergönnt war. Zwar rechnete die Kanzlei nach Stunden ab, nur brachte es viele Firmen trotzdem nicht dazu, früher darüber nachzudenken, was sie gern hätten. Die Köpfe der oberen Etagen schienen stets eher mit Geld als mit Hirn gestopft zu sein. „Was ist das?“, fragte Harry und zeigte dabei auf seine Konfitürenpackung. „Ginger Jam“ Er strich sich diese gerade auf seinen Toast. „Möchtest du probieren?“ Der andere nickte und legte seinen halben Muffin zur Seite. Einen Moment lang überlegte Severus, ihm eine Ecke des Toastes abzuschneiden, doch im Endeffekt hielt er ihm diesen nur zum Abbeißen hin. Er wollte lieber sehen, wie Harry sich vor lehnte, die Lider senkte und seine Lippen um den Toast schloss. Es hatte etwas verstörend Erotisches. „Süß“ Harry leckte sich mit der Zunge über die Lippen. „Und gleichzeitig sauer.“ Severus konnte seine Blick nicht von der umher huschenden Zungenspitze nehmen, bis sie verschwand. Er war versucht, Harry zu sagen, er hätte noch etwas im Mundwinkel, aber im Endeffekt beherrschte er sich. Auch wenn Beherrschung gerade eher nach einem abstrakten Fremdwort statt nach seinem Lebenskonzept klang. „Severus?“ Harrys Stimme hatte etwas Unsicheres. Er schüttelte sich und brachte seine Gedanken wieder in das Hier und Jetzt mit der Frage: „Wie bitte?“ „Darf ich heute wieder raus gehen?“ Sein Kopf war leicht gesenkt, die Mimik blank. Sein Ton hatte etwas Vorsichtiges. Er schien wirklich zu erwarten, dass Severus ablehnen könnte. „Natürlich“ Hatte er dem Jungen das Gefühl gegeben, dass das keine Selbstverständlichkeit war? Oder war das ein Überbleibsel von früher? „Erinnere mich oben daran, dir noch etwas Geld zu geben.“ Harry hatte ihm gestern erzählt, dass er sich das Naturkundemuseum am Central Park ansehen wollte. In Severus Augen eine wunderbare Idee. Nicht nur war es bildend, es enthielt auch viele und lange englische Texte, die den Jungen bestimmt den ganzen Tag beschäftigen würden. Es würde ihm genug Zeit geben, zumindest den Vertrag für morgen ohne Ablenkung anfertigen zu können. Harry währenddessen plapperte über Muffins, Donuts und Brownies und schien den Grad der Süße der Speisen gegeneinander abzuwägen. Severus lehnte sich entspannt zurück und ließ das Geplapper über sich hinweg rollen. Das Meeting war eine Katastrophe. Kein Wunder, dass Fudge – eigentlich ein guter Mitarbeiter – überfordert gewesen war. Mehrere mögliche Fusionsprojekte, alle in verschiedenen Stadien des Gedeihens, keine davon mit auch nur mit der Idee eines Plans durchgeführt. Er hatte sich in der ungünstigen Situation wiedergefunden, seinen Klienten eine Deadline bis Montag für die grundlegenden Entscheidungen setzen zu müssen. Er würde keinesfalls länger bleiben, nur weil ein Haufen von Strohpuppen im Betriebsrat die Entscheidungsfähigkeit einer Blondine in der Schuhabteilung aufwiesen. Der Vertrag für Gainsborough – so einfach er auch war nach dem guten Vorgespräch – dauerte mit seiner rasenden Migräne doppelt so lang wie er sonst hätte brauchen dürfen. Harry schickte er direkt nach Ankunft wieder aus dem Zimmer, er solle sich irgendwo was zu essen suchen und ihn heute nicht mehr ansprechen. Der Junge blieb zwei Stunden weg, bevor er herein schlich, sich bettfertig machte und mit seinen Büchern unter der Decke verschwand. Samstag morgen verbrachte Harry im kompletten Schweigen, bis er Severus die zweite Tasse Kaffee trinken sah. Erst dann wagte er zu fragen, ob es diesem besser ging. Severus bejahte mit einem schwachen Lächeln, dass er auf seine Lippen zwang. Harrys Angebot, ihm einen Toast mit Ginger Jam fertig zu machen, nahm er mit etwas mehr Enthusiasmus an. Der Junge konnte nichts dafür, dass Freitag ein miserabler Tag gewesen war. Er schaffte es sogar, dem Jungen zu sagen, dass er heute ein wahrscheinlich angenehmes Meeting haben würde und vielleicht schon gegen Nachmittag mit der Arbeit fertig sein könnte. Das erfreute Lächeln war wie Balsam auf seinem noch immer angespannten Kopf. Vielleicht könnte er Harry heute Nachmittag um eine Massage bitten. Es schien eine gute Belohnung für erfolgreiche Arbeit. Seit der Sache mit Ginny hatte Harry ihn nicht mehr massiert und seine Schultern vermissten die Aufmerksamkeit. Mit dem Gedanken an Harrys Händen auf seiner Haut ging Severus in sein Meeting. „Diese zwei Muskel sind verspannt“ Harry drückte links und rechts auf den obersten Muskel seiner Schultern und seufzte. „Die sind heute hartnäckig.“ „Macht nichts“, murmelte Severus, der sich tiefenentspannt fühlte. „Nein, die möchte ich auch ordentlich kriegen“ Aus Harrys Stimme sprach jugendlicher Stursinn. „Kannst du dich bitte aufsetzen? Vielleicht habe ich von oben oder vorne einen besseren Zugriff.“ Severus würde gerade praktisch alles machen. Erst recht, wenn es nicht mehr war als sich gegen ein Kissen an der Wand zu lehnen und weiter massiert zu werden. Harry kniete sich über seine Beine, um von vorne oben auf den Muskel zu drücken. Was dessen Brust direkt vor Severus Kopf brachte. Severus schloss einfach nur die Lider und atmete tief durch. Diese Brust hatte er gestern morgen fast nackt gesehen. Dieser frei liegende … natürlich war Harry damals im Bordell durchgehend oberkörperfrei gewesen, aber dieser kurze Blick auf seine nur halb bedeckte Brust war weit erotischer gewesen. Es hatte den Beigeschmack des Verbotenen, weil Harry geschlafen hatte. Nicht, dass der Junge nicht im Gesamten etwas Verbotenes war. Severus seufzte und sah auf, als dies Harry schlagartig innehalten ließ. Nicht komplett schlagartig, es schien, als wäre kurz ein Zittern durch ihn gegangen. Als hätte sein ganzer Körper eine kurze Erschütterung erlebt. Severus fragte leise: „Was ist?“ Harry sah ihn aus weiten Pupillen an. Schwarze Pupillen, darum nur noch ein kleiner Randsaum des schönen Grün. Solch ungewöhnliche Augen für einen Asiaten. Severus war so in ihnen versunken, dass er kaum bemerkt hatte, dass sie näher gekommen waren. Erst die Lippen auf seinen eigenen rüttelten ihn aus seinen Gedanken. Er fühlte sich zu gut, um ausreichend Indignation aufzubringen, um Harry von sich zu stoßen. Hatte er nicht oft genug gesagt, dass das tabu war? Er war kein Schallplattenspieler. Wenn nein zu sagen nicht funktionierte, vielleicht half ignorieren. Allerdings erforderten Harrys Küsse gar keine Partizipation. Es waren butterweiche kleine Schmetterlingsküsse auf seinen Lippen. Nur ein kleines Drücken, das folgende Ziehen kaum merklich. Vielleicht waren sie nur eine Ablenkung dafür, dass Harry seine Hände griff und unter dessen Shirt zog. Oh, diese Haut … diese samtig weiche Haut. Er hatte sie nur einziges mal berührt und das war nun Monate her. Diese zarte Haut, die sich über feste Muskeln und Rippen spannte, die- Harrys leises Stöhnen riss ihn aus seinen Gedanken. Mit einem mal durchzuckte die Realität ihn wieder und riss den Schleier warmer, wohliger Zufriedenheit aus seinem Kopf. Was zur Hölle tat er hier? Der Junge war sechzehn, er durfte ihn nicht anfassen. Er zog seine Hände von Harrys Brust, als wäre diese verbrennend heiß. Natürlich hinderte ihn das Shirt, das Harry noch immer trug und zog diesen an Severus, sodass er doch noch mal nach Harrys Taille griff, um ihn wieder aufzurichten. Harrys Gesichtsausdruck war eine einzige Sünde. Ein roter Schimmer auf den Wangen, die Lider halb verhangen, tiefer Atem durch dessen Mund. Severus erwischte sich dabei, sich vorzulehnen, um diesen Lippen einen echten Kuss zu zeigen. Nein, absolutes nein. Severus kniff sich selbst in die Seite. Er konnte und würde nicht schwach werden. Er war Severus Snape, er zeigte keine Schwäche. Er würde seinen animalischen Instinkten nicht nachgeben, auch wenn er schwerst dazu verführt wurde. Eine warme Hand legte sich über seine und griff diese, um ihn davon abzuhalten, sich selbst weh zu tun. Sein Blick schnellte zu Harry, doch zum Glück schien dieser sich gefangen zu haben. Seine Pupillen waren wieder in normaler Größe, das Rot war von seinen Wangen gewichen. Er sah mit einem undeutbaren Gesichtsausdruck auf Severus Hand und hauchte mit einem fast traurigen Tonfall: „Entschuldige.“ „Eh … natürlich“ Severus blinzelte. „Halt, was?“ Harry wandte bereits den Blick ab und kletterte von seinem Schoß und dem Bett. Severus hätte zufrieden nicken sollen, aber Harrys Anblick ließ ihn stocken. Harte Gesichtszüge, die Stirn in Falten, die Augen gefüllt mit einer Traurigkeit, die weit älter schien als die Jahre, die der Junge zählte. Er griff nach Harrys Handgelenk. Er ließ den Jungen nur wie müde den Kopf drehen, der zunehmend stumpf wirkende Blick auf ihren Händen liegend. Erschrocken ließ Severus los und schalt sich noch in derselben Sekunde einen Idioten. Was ihn erschrak, war Harrys Traurigkeit. Dieser Schmerz in seinem Gesicht, die Augen gefährlich glänzend. Er hätte ihn nicht loslassen dürfen. Jetzt sah er hilflos zu, wie Harry zu seinem Bett hinüber ging, sich hinlegte und die Decke über seinen Kopf zog. Wie ein kleines Kind, das die Welt um sich herum nicht mehr sehen wollte. Wie Severus selbst, immer wenn er die Schreie seiner Mutter aus dem Schlafzimmer gehört hatte. Er erkannte auch das Zucken der Bettdecke. Harry weinte genauso lautlos wie er es selbst einst getan hatte. Sein Herz schien einen Sprung zu machen und ins Endlose zu fallen. Er griff an seine Brust, ungläubig und erschrocken zugleich, wie sehr das wehtat. Harry weinte und er war das schuld. Er wusste nicht wie und warum, aber er war sehr sicher, dass er das hier schuld war. Severus schluckte. Er hatte nicht die geringste Idee, was er tun könnte. Er konnte Harry nicht geben, was er wünschte … er könnte, aber es wäre illegal. Vor allem wäre es falsch. Harry würde darüber hinweg kommen. Er würde jemanden suchen, der zu ihm passte. Jemand, der ihn verdiente. Es änderte nichts an dem Anblick der still zuckenden Decke, die einen Körper verbarg, dessen lautloses Schluchzen seinen ganzen Körper erbeben ließ. Und Severus stand daneben und schwieg. Kapitel 12: Schweigen --------------------- Im stillen Einverständnis sprachen sie nicht über den vorherigen Abend. Obwohl Severus nicht sicher war, ob dieses Einverständnis nicht einfach nur seine Auslegung der Dinge war. Harry sprach einfach gar nicht mehr. Severus hätte nicht gedacht, dass er das gedankenlose Plappern so vermissen könnte. Beim Frühstuck saß ihm wandelnde Stille gegenüber. Harry machte sich fertig und aß, aber nichts davon schien ihn wirklich zu bewegen. Sie hatten neues süßes Gebäck und Harry aß es, aber seinem Gesichtsausdruck nach hätte es auch Vollkornbrot sein können, so viel Begeisterung löste es aus. Er musste sich korrigieren – es hätte Pappe sein können. Das Leben schien aus dem Jungen gesaugt worden zu sein und stattdessen füllten ihn Traurigkeit und Leere. Severus Gedanken klangen für ihn selbst höchst melodramatisch, nur wusste er es nicht besser auszudrücken. Harry anzusehen war ein erschreckender Anblick. Als hätte er mit einer unbedachten Geste alle Fröhlichkeit in ihm getötet. Es fühlte sich fast so an als hätte er ihn getötet, auch wenn der Junge lebendig vor ihm saß. Er war sich sogar relativ sicher, dass Harry sich erholen würde, aber in seinem Kopf nagte der Zweifel. Was, wenn er etwas in ihm unwiderruflich zerstört hatte? Viele Wunden heilten, aber Unschuld war etwas, dass nichts und niemand zurückbringen konnte. Er wusste nicht, wie, er wusste nicht, warum, aber er wusste, er war schuld. Er wischte alle Gedanken an Verhandlungen und Verträge aus seinem Kopf und sagte: „Lass uns zur Freiheitsstatue fahren.“ Harry nickte nur. Er sah nicht einmal auf. Sein Blick war auf eine Tischkante gerichtet, vielleicht auch auf den Boden. Harry hatte heute noch nicht einmal in seine Richtung gesehen. Vielleicht sollte er doch arbeiten und Harry Zeit für sich selbst geben. Vielleicht … Severus seufzte nur. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Seine Mutter hatte er verarzten können. Sie hatten immer Wundsalbe und Schmerzmittel im Haus. Wenn sie weinte, wollte sie umarmt werden. Wenn sie sich zu ihm setzte, wollte sie nur nicht allein sein. Seine Mutter war einfach gewesen. Er hatte nie etwas sagen müssen. Es reichte, da zu sein. Aber das hatte ihn kaum darauf vorbereitet, mit Harry in diesem Zustand konfrontiert zu sein. Vielleicht würde es reichen, da zu sein. Vielleicht reichte es, ihn nicht allein zu lassen. Absolut nichts schien Harry zu bewegen. Sie waren U-Bahn gefahren, ein Straßenkünstler hatte Saxophon gespielt, er hatte Harry sogar gebrannte Mandeln gekauft. Harry sah auf und er hörte zu und er aß, aber es schien mehr als hätte er einen Roboter an seiner Seite. Auf dem Boot lehnte Harry an der Reeling und sah auf das Wasser hinab. Severus fragte ihn, ob er seekrank sei, aber er erhielt nur ein Kopfschütteln. Wenigstens war es eine Antwort. Er war sich nicht sicher gewesen, ob er überhaupt eine kriegen würde. Er versuchte sich auf den Vortrag ihres Reiseführers über die Einwanderung zu konzentrieren, um sich abzulenken. Sie erreichten die Insel und begannen ihren Aufstieg. Warum man diese grässliche Treppe nicht mit einem Aufzug ersetzte, war Severus absolut nicht klar, aber diesen Effekt hatte er schließlich geplant. Vielleicht würde etwas sportliche Aktivität Harry aus seinen Gedanken holen. Nur erreichte dieser die Krone, ohne auch nur im geringsten angestrengt zu sein, während Severus sich schwer zusammen reißen musste, um nicht durch den Mund zu atmen. Wenigstens trat Harry von selbst an eines der Fenster. Vielleicht hatte doch endlich etwas sein Interesse geweckt. Severus blieb noch einen Moment im Hintergrund stehen, bis sich sein Atem beruhigt hatte, bevor er zu Harry trat. Ehrlich gesagt hatte er mehr Interesse an dem Jungen an seiner Seite als an der Aussicht. Er verspürte nicht das geringste Bedürfnis aus dem Fenster vor ihm zu sehen. Harrys Blick währenddessen schien stur nach draußen gerichtet, auch wenn Severus nicht sagen könnte, was er genau sah. „Warum sind all diese Menschen hier her gekommen?“, fragte Harry plötzlich. Severus zuckte zusammen, so unerwartet war es, dessen Stimme zu hören. Und obwohl Harry eine längere Pause ließ, schaffte er es nicht, irgendeine Antwort zu formulieren. „Was nützt einem ein Land der Freiheit, wenn das, was man sich am meisten wünscht, trotzdem verboten ist?“ Er richtete sich auf – ein Wunder bei der tiefen Decke, wo Severus gebückt stehen musste, um nicht oben anzuschlagen – und sah Severus direkt in die Augen. „Ich hätte nicht mit dir kommen sollen. Es war ein Fehler, dir zu folgen.“ Nein. Severus versuchte zu schlucken, aber seine Kehle bewegte sich keinen Millimeter. Er versuchte zu atmen, aber die Luft blieb ihm im Hals stecken. Er versuchte zu sprechen, aber kein Ton kam über seine Lippen. Harry wandte sich wieder dem Fenster zu und fuhr fort: „Es hat weniger weh getan, ohne Hoffnung zu leb-“ Severus wusste zu Beginn des Satzes, dass er nicht wollte, dass Harry ihn beendete. Es wusste, was unter dem Strich kommen würde. Er wusste, dass er es nicht hören wollte. Es gab nicht so viele Wege, jemanden zum Schweigen zu bringen und er war instinktiv froh über die Entscheidung, die sein Unterbewusstsein getroffen hatte. Harry drückte gegen ihn, einen Arm um seine Brust, eine Hand in dem schwarzen Haar, seine Lippen verschlossen mit Severus eigenen. Ein Stahlbalken drückte in seine Seite, sein Kopf schmerzte und sein Rücken protestierte, aber das war egal. Harry lag in seinem Arm und er sprach nicht weiter. Severus legte den Kopf zur Seite, machte einen echten Kuss statt einem verzweifelten Aufeinanderpressen von Lippen aus der Sache und zog erst dann seinen Kopf vorsichtig zurück. Nur ein paar Zentimeter … falls Harry den Satz doch beenden würde. Stattdessen flüsterte dieser verwirrt: „Severus?“ Es klang nicht nach der Fortsetzung des Satzes, aber Severus lehnte sich trotzdem vor und verschloss Harrys Lippen wieder. Diesmal sanfter, leichter. Harry versuchte sich seinen Bewegungen anzupassen, erst zögerlich, schließlich sicherer. Als Harrys Lippen sich unter seinen öffneten, zog er sich zurück. Er wünschte, er könnte ein Foto dieses Anblicks machen. Kleine Falten hatten sich zwischen Harrys Augenbrauen gebildet, seine Pupillen zuckten auf der Suche nach Antworten, aber seine Lippen und Wangen zierte ein Hauch von Rot. Severus wünschte, er könnte hier aufrecht stehen, um den anderen ganz an sich zu ziehen. Er hörte nur ein weiteres, noch verwirrteres: „Severus?“ „Das hier war kein Fehler“ Wer war er, das zu entscheiden? Wer war er, so etwas zu sagen? Seine Nähe schmerzte Harry, welches Recht hatte er, das für unwichtig zu erklären? „Ich weiß, ich kann nicht … ich darf nicht. Aber das heißt nicht, dass du nicht wichtig bist. Verstehst du?“ Wie bitte? Er wusste selbst nicht, was er gerade sagte. Es machte überhaupt keinen Sinn, aber er wusste auch nicht, welche Worte mehr machen würden. In seinem Kopf war ein einziges Chaos, dessen einziger gemeinsamer Nenner war, dass er Harry nicht verlieren wollte. Dieser blinzelte nur fragend. Die Falten zwischen seinen Augenbrauen waren verschwunden, aber diese zuckten, als könnten sie jeden Moment wieder sein Gesicht zieren. Nach Sekunden, die wie Ewigkeiten schienen, lehnte Harry sich einfach vor und küsste ihn wieder. Severus drehte sich mit dem Rücken gegen den Stahlpfeiler, der in seine Seite gedrückt hatte. Es gab ihm die Möglichkeit, in diesen beengten räumlichen Verhältnissen halbwegs unverkrampft zu stehen. Er würde die Position zwar auch nicht lange halten können, aber es brachte ihn wenigstens auf Harrys Höhe. Harry, der zwischen seine Beine getreten war und sich an ihn drückte. Das war noch besser als der Kaffee, den Lydia geholt hatte als im Büro die Kaffeemaschine ausgefallen war. Es war besser als der Blow-Job dieses absolut heißen Kerls, der auf einer Studentenparty in ihn gerannt war. Es war sogar besser als der Vorschlag seiner Ex, sich scheiden zu lassen. Harry löste sich ein paar Zentimeter von ihm und flüsterte: „Achtzehn?“ „Achtzehn“, murmelte Severus nur. Er wusste eh nicht mehr, was er hier eigentlich redete, aber es schien die erforderte Antwort. „Du wirst mich nicht wieder wegstoßen“ Eine Hand griff Severus Kiefer, ein Daumen links, ein Zeigefinger rechts. Severus Lider flogen praktisch in die Höhe. „Du wirst das hier nicht verneinen“ Harrys Lider hatten sich verengt, nicht in Verwunderung sondern in Wut. „Du wirst mich küssen und mich umarmen statt vor mir zu fliehen.“ Severus schluckte. Diesmal schien seine Kehle ihn zu lassen. Sie ließ ihn sogar tief durchatmen. Dieser Harry vor ihm schien nicht der, den er bisher gekannt hatte. Dieser Harry hatte etwas Hartes, etwas Herrisches. Er benutzte den festen Griff an Severus Kiefergelenken, um diesen nicken zu lassen. Severus folgte der vorgegebenen Bewegung einfach. „Gut“ Ein Lächeln legte sich auf Harrys Lippen und er beugte sich zu einem kurzen Kuss vor. Eine Hand legte sich in Severus und zog ihn Richtung Ausgang. „Komm, der Reiseführer ruft schon.“ Severus blinzelte nur und sah auf. Die meisten ihrer Gruppe waren bereits wieder auf der Treppe. Ein Kind von vielleicht sechs oder sieben Jahren starrte sie mit offen stehendem Mund an. Ein Mann schüttelte den Kopf und zog seine Frau davon, die ihnen Blicke über die Schulter zuwarf. Severus Kehle schnürte sich wieder zu. Was zur Hölle hatte er gerade getan? „Severus“, sagte Harry nur und fing damit seine volle Konzentration. Ihre Hände verbanden sie, die Finger ineinander verschränkt. Harry zog etwas daran, um ihm zum Gehen zu bewegen. Er folgte dem wortlosen Befehl. Er nutzte den Abstieg, um seine Gedanken zu ordnen. Was hatte er da gerade zugestimmt? Er beobachtete Harry, der ihm etwas voraus ging. Der Junge ließ seine Hand nicht los. Und was machte dieser insistierende Gedanke in seinem Kopf, dass es egal war, was er zugestimmt hatte, solange Harry wieder lächelte? Es war absolut nicht egal! Und seit wann war Harry so … so … anders? So … er hatte keine Ahnung, wie er das nennen sollte. Es war nicht gewalttätig, aber es war … überzeugend? Nein, auch nicht. Es war … es war als würde Harry keine Widerrede dulden. Und Severus hatte ohne jeden Kampf nachgegeben. Was zur Hölle war mit ihm los? War er so notgeil, dass er sich von einem Sechzehnjährigen herum kommandieren ließ? Harry warf einen Blick über seine Schulter und lächelte ihn an. Severus zog den Kopf ein, als wäre er geohrfeigt worden. In der Stille seines Kopfes konnte er sich eingestehen, dass er alles tun würde, um dieses Lächeln zu erhalten. Um Harry bei sich zu behalten. Wahrscheinlich war die Antwort demnach ja. Sie waren Hand in Hand durch Manhattan gewandert. Sie hatten Hot Dogs und Pfirsiche gekauft und hatten irgendetwas, was vage nach irgendeinem Fleisch in Teig schmeckte, in Chinatown gegessen. Irgendwo gegen Abend hatte Harry sich Eis gewünscht und Severus hatte selten etwas so sehr bereut, wie Harry dabei zuzusehen, wie er ein Softeis aß. Achtzehn. Hatte er zugestimmt, mit jeglicher Intimität zu warten, bis Harry achtzehn war und trotzdem mit ihm zusammen zu sein? War er denn völlig von allen guten Geistern verlassen worden? Dass sein Hirn in Harrys Nähe aussetzte, das war ja schon ein paar mal passiert, aber so sehr? Hatte er vor, die nächsten zwei Jahre kalt zu duschen? Harry hatte Eis im Mundwinkel und er konnte nicht anders als sich vorzulehnen und mit seiner Zunge über dessen Mundwinkel zu fahren. Harry lachte nur. Wahrscheinlich hatte er es sogar extra gemacht. Kleines Biest. Severus spürte das Bedürfnis, aus Verzweiflung zu weinen, aber er wusste, er hatte das alles hier selbst zu verschulden. Er hätte sich niemals auf das hier einlassen sollen. Er hätte Harry nicht mitnehmen dürfen. Stattdessen legte er die Arme um ihn und wärmte ihn so, während sie von der Fähre aus die Skyline von Manhattan betrachteten. New York war wunderschön bei Nacht. Harry legte den Kopf zur Seite und sah auf. Ganz automatisch beugte Severus sich das kurze Stück hinab und küsste seine Lippen. Er war verloren, ganz und gar verloren. Er wusste es und alles, was er tat, war Harry enger zu halten. Sein Harry. Severus versenkte seine Nase in dem schwarzen Haar. Der Rückflug war die Hölle. Nein, das Meeting war die Hölle gewesen und der Rückflug die Verlängerung seiner Zeit in der Hölle. Seine Migräne und demnach seine Laune waren schlimm genug, dass Harry es übernahm, überall ihre Pässe, Bordkarten oder was auch immer vorzuzeigen. Er beantwortete mit seinem rudimentären Englisch sogar alle Fragen, bis der Fragende Severus genug auf die Nerven ging, um ihn anzuschnauzen. Auf dem letzten Metern des New Yorker Flughafens brachte ihnen das sogar eine Polizeieskorte ein. Dass die Harry verängstigten, war wohl das einzige, was ihn davor bewahrte, durch seine aggressiven Ausbrüche in einer Übernachtungszelle zu landen. Sie landeten in den frühen Morgenstunden des Dienstags, Harry ausgeschlafen, Severus nahe der Apokalypse vor Schmerzen. Ohne ein Wort an ihn zu richten, brachte der Junge sie durch alle Kontrollen und in ein Taxi. An irgendeinem Punkt hatte Severus ihm einfach die Pässe und sein Portmonee in die Hand gedrückt. Zuhause schloss er auch nur auf, ließ den Schlüssel stecken, damit Harry das Gepäck reinbringen konnte und fiel ins Bett. Er war noch genug beisammen, einen Wecker zu stellen, um keinen Jetlag davon zu tragen, aber damit endete seine Selbstverantwortlichkeit. Als das vermaledeite Ding piepte, war er immer noch schlecht gelaunt, aber zumindest ohne Schmerzen. Und mit einer heißen Dusche, frischen Klamotten und der Aussicht auf Kaffee besserte sich auch seine Laune langsam. Er sah Harry im Wohnzimmer sitzen, aber ging erstmal wortlos vorbei, um die Kaffeemaschine anzuwerfen. Dass ihm dort frischer Kaffee entgegen sah, ließ ihn stutzen und einen Blick Richtung Wohnzimmer werfen, obwohl man Harry natürlich nicht durch Wände sehen konnte. Er probierte mit einer gewissen Vorsicht, aber Harry hatte den Kaffee genau so gekocht, wie er es mochte. Er trank einen Becher und nahm sich einen zweiten ins Wohnzimmer mit. „Danke“, murmelte er nur, als er das Zimmer betrat. Harry sah auf, lächelte und fragte: „Geht es dir besser?“ „Ja … danke“ Sein Blick fiel kurz auf seinen Sessel, aber im Endeffekt setzte er sich neben Harry auf die Couch. „Auch für deine Hilfe am Flughafen.“ „Kein Problem“ Harry legte seine Bücher zur Seite und lehnte sich gegen Severus. „Das Meeting lief nicht so gut?“ „Grottenschlecht trifft es eher“ Severus stellte den Becher auf den Couchtisch und legte einen Arm um Harry. „Ich hatte den Leuten verschiedene Entscheidungen erklärt, die sie bis zum Meeting treffen sollten. Sie haben sich nicht einmal besprochen. Also musste ich ein paar Stunden lang zusehen, wie hirnlose Idioten über Entscheidungen diskutierten, die sie längst hätten treffen sollen.“ „Haben sie sich wenigstens entschieden?“ „Natürlich nicht“ Severus seufzte tief. „Ich werde Ihnen nach und nach alle Entscheidungen vorlegen, die sie noch treffen müssen und ihnen die Verträge dann mailen. Ich weigere mich, meine Zeit mit diesen … Leuten zu verbringen“ Ihm fiel auf, dass er das thailändische Wort für Amöben nicht kannte – eine Bildungslücke. „Ich habe Besseres zu tun als das.“ „Musst du heute noch arbeiten?“ „Zum Glück nicht“ Severus genoss einen Moment Stille. „Ich habe immer noch etwas Kopfschmerzen. Aber keine Migräne mehr.“ „Was ist der Unterschied?“ Harry sah interessiert auf. „Kopfschmerzen sind nervig, sie tun weh. Migräne ist, als würde der Kopf gleichzeitig implodieren und explodieren und die Schmerzen sind nur sehr schwer aushaltbar“ Severus hob eine Hand an seine Schläfe. „Diese Kopfschmerzen habe ich, weil es im Flugzeug nicht genug zu trinken gab und ich eine komplette Nacht Schlaf verpasst habe. Das ist mit etwas Wasser und Ruhe leicht zu revidieren.“ „Soll ich dich weiter in Ruhe lassen?“ In Harrys Stimme schwank etwas Enttäuschung mit. „Was hättest du denn sonst gern gemacht?“ Severus wandte ihm seinen Blick zu. „Weiß nicht … etwas“ Harry senkte den Kopf etwas und drückte seine Nase in Severus Schulter. „Irgendetwas zusammen.“ „Ich finde Menschen anstrengend“ Severus wusste nicht, wie er das besser formulieren sollte. Absolut nichts, was Harry vorschlagen könnte, würde ihn als wirklich entspannend ansprechen. Es wäre nur die Wahl zwischen etwas anstrengendem und etwas kaum aushaltbaren. „Hm“ Harry senkte traurig den Blick. „Darf ich neben dir sitzen bleiben?“ Eigentlich hatte er in seinen Sessel umziehen wollen. Severus seufzte – nur innerlich, er wollte Harry nicht weiter verneinen – und nickte, bevor er sagte: „Ich hole eben mein Buch.“ Auf dem Weg zur Arbeit ging ihm Harrys verlorener Blick nicht aus den Gedanken. Das war er schon gestern kaum. Dieses Zögern, dieses Stocken gar, kurz bevor Severus in sein Schlafzimmer ging. Als wolle Harry etwas sagen oder fragen oder bitten – nur im inne zu halten und zu schweigen. Severus hatte es nicht gewagt, nachzufragen. Er wusste, was eine potentielle Anfrage sein könnte und er wusste, dass er sie ablehnen musste. Das hätte Harry nur weiter verletzt. Trotzdem war dieser verlorene Blick auch nicht einfach gewesen. Hatte er die richtige Entscheidung getroffen? Severus schnaubte. Die Antwort war einfach zu treffen. Sie hieß nein. Ein nein so klar wie eine schallende Ohrfeige. Seine Entscheidung – wenn man es denn eine Entscheidung nennen konnte – war so unüberlegt wie sie gefährlich war. Eine einzelne Anzeige reichte, um Harry von ihm zu trennen und ihm alle Rechte zu entziehen, den Jungen je wieder zu sehen. Warum hatte er es nicht dabei belassen können, ihn bei sich zu haben? Waren Küsse und Umarmungen etwas so Wichtiges? Für ihn vielleicht nicht, aber anscheinend für Harry. Und es war wohl Harrys Meinung, die zählte. Severus mochte vielleicht der Ältere sein, aber genau darum war es wohl wichtig, dass Harry solche Entscheidungen traf. Dass Harry sagte, was sie taten und nicht taten … aber lastete er dem Jungen damit nicht eine zu große Entscheidungslast auf? Hätte er sich nicht besser klar gegen jede dieser Intimitäten aussprechen sollen? Aber wenn er den Jungen damit zurück nach Thailand jagte … das konnte auch nicht die Lösung sein. Er war verantwortlich für Harry. Aber das hieß nicht, dass es sein Platz war, all diese Bedürfnisse zu erfüllen. Er war nicht für die Rolle des Freundes geeignet. Er war zu alt, zu verbissen, zu verbittert. Selbst Charlie wäre besser geeignet als- Der Kugelschreiber in Severus Hand knackte. Er schluckte und atmete tief durch. Er ließ die Reste des gebrochenen Kugelschreibers direkt in seinen Papierkorb fallen. Ruhig … er war Meister seiner Gefühle. Er hatte gelernt, sich besser zu kontrollieren. Ein hohles Lachen brach von seinen Lippen. Kontrolle – welch ein Witz. Er hatte weder seine Einsamkeit noch seine Sehnsucht noch seine Angst auch nur ansatzweise unter Kontrolle, sonst befände er sich nicht in dieser Situation. Er musste sich wohl oder übel eingestehen, dass er keinerlei Gegenargument hätte, wenn andere Menschen ihn pädophil und gewalttätig nennen würden. Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Es war wohl Zeit zu akzeptieren, dass er guten Grund hatte, sich selbst zu verachten. Würde er das Interesse an Harry verlieren, wenn dieser älter werden würde? Würde er Harry mit Gewalt dazu bringen, bei ihm zu bleiben, wenn dieser ihn verlassen wird? Würde er Harry in eine so bittere, so bösartige Kreatur wie sich selbst verwandeln? „Chef? Soll ich Ihnen Schmerztabletten aus der Apotheke holen?“, fragte Lydia flüsternd. Sie war wohl irgendwann herein gekommen. Er schrieb einen Namen auf einen Zettel und hielt ihr diesen hin. Er hatte zwar noch keine Migräne, aber er vermutete, er würde nicht lang warten müssen. Und die Arbeit ließ sich mit Schmerzen sehr viel schlechter verrichten. Mit einem Seufzen lenkte er seinen Blick wieder auf den Bildschirm. Severus hatte dem Abend mit einer Mischung aus Spannung und Anspannung entgegen gesehen, nachdem die Tabletten es tatsächlich geschafft hatten, eine Migräneattacke zu verhindern. Das Thema Frauen und Beziehungen wirkte mit einem mal weniger amüsierend, wenn man in Theorie zumindest in dem Ansatz einer beziehungsartigen … nun, wenn man das Thema auf sich beziehen konnte. Vielleicht. Nicht, dass er wirklich bereit war, sich das einzugestehen. Auch wenn er fürchtete, es sich bereits eingestanden zu haben, wenn er solche Gedanken hatte. Genug! Er versuchte sich lieber darauf zu konzentrieren, wie kalt es im Zentrum war. Hatten die kein Geld für Heizungen? Mit einem Schnauben setzte er sich im Mantel auf seinen Stuhl statt diesen vorher abzulegen. „Spießer“, murmelte Sirius im Vorbeigehen. „Ich glaube, die Definition davon ist, zu versuchen so zu wirken als sei man reich. Ich bin einfach reich“ Sirius war stehen geblieben und sah ihn mit einem guten Schuss Feindseligkeit im Gesicht an. „Der Anzug hätte mich schon vorher verraten können.“ Sirius verdrehte die Augen und murmelte: „Dann halt Snob.“ Draco grinste einfach nur. Solange, bis Sirius sich stattdessen zu diesem wandte und meinte: „Du hast auch so scheiß teure Sachen an. Hat Papi dir die gekauft?“ - Draco fuhr bereits auf und schnellte vor - „Oder erschläfst du die dir mit deinem Engelsgesichtchen?“ Severus hatte das Gefühl, problemlos in die Zukunft sehen zu können. Er sah mit absolutem Gleichsinn zu, wie Draco Sirius eine runter schlug, nur um sich dafür auch eine einzufangen, bevor beide sich an den Klamotten packten, um den anderen niederzuringen. Draco schlug noch einmal zu. Sirius erwidernde Kopfnuss ging nur leider mit einem gefährlichen Knacken und einer Menge Blut einher. Hagrid stürzte herein und hielt Sirius davon ab, sich nochmal auf Draco zu stürzen, der mit einer Mischung aus Wimmern und Schluchzen auf die Knie gegangen war. Seine Hände lagen vor seinem Gesicht, ohne dieses zu berühren. „Das war's wohl mit dem Engelsgesicht!“, rief Sirius noch in aller Häme, bevor er von Hagrid aus der Tür gezogen wurde. Severus erhob sich und schloss diese hinter ihm. Aus seiner Manteltasche zog er ein Taschentuch, doch entschied nach einem Moment, das dieses wahrscheinlich nicht ausreichen würde. Mit dem Engelsgesicht hatte Sirius recht gehabt, der Junge hatte bestimmt noch nie eine gebrochene Nase aus einer Schlägerei mitgenommen. „Lass die Hände sinken, damit ich das ansehen kann“, sprach Severus den Jungen ruhig an und kniete sich vor ihn – aufmerksam, seine Kleidung nicht mit dem vielen verspritzten Blut zu besudeln. „Du kannst mich mal“, kam es sehr verwaschen von seinem Gegenüber. „Du verlierst ziemlich viel Blut. Wenn wir das nicht stillen, verlierst du relativ bald das Bewusstsein. Lass dir helfen“ Von allen Anwesenden hatte er wahrscheinlich sowohl das meiste medizinische Wissen als auch die meiste Erfahrung mit Nasenbrüchen. Es hatte schließlich Gründe, dass er von seinen Klassenkameraden stets liebevoll Quasimodo genannt worden war. Nach einem Moment ließ Draco die Hände etwas sinken und sah vorsichtig auf. Auf seinen Augen zogen sich mehrere Tränenspuren seine Wangen hinab, das Blut lief in ähnlich vielen über Ober- und Unterlippe. Vom Kinn aus tropfte es auf Shirt und Hose, was keinen sehr ästhetischen Anblick bot. „Die muss ich richten. Das tut jetzt einmal höllisch weh“, warnte Severus. Er musste Draco zugute halten, er zog erst nach dem Richten das Gesicht weg und bedachte ihn mit allen erdenklichen Schimpfworten. Zumindest, bis er Luft holen musste, da ihm dafür gerade nur der Mund blieb. „Wenn du hier nicht verbluten und wie ein Schlachtfeld aussehen willst, sollten wir jetzt die Blutung stillen“ Draco hielt glatt still, während er das Taschentuch rechts und links des wenigstens geraden Bruches platzierte. „Drück von rechts und links so stark wie du es von den Schmerzen her aushältst. Je mehr du drückst, desto weniger blutest du und desto eher verheilt es hübsch. Zumindest, wenn du von beiden Seiten gleich viel drückst. Wenn du auf einer mehr drückst, wird es schief.“ „Du bist der Letzte, bei dem ich erwartet hätte, dass er das kann“, meldete sich Igor das erste mal zu Wort, „Du siehst zu … snobbig aus für so was.“ „Man lernt seine Lektionen mit der Zeit“ Severus Blick blieb dabei auf Draco. „Auch, mit wem man sich was erlauben kann und wann man sich selbst gefährdet.“ Draco gab ihm dafür einen ziemlich entnervten Blick zurück, sodass er sich erhob und zu seinem Platz zurück kehrte. Während er noch ging, öffnete sich die Tür und Charlie steckte den Kopf hinein mit der Frage: „Alles in Ordnung hier?“ „Draco sollte ins Krankenhaus.“ „Nein“, erwiderte dieser nur und setzte sich auf seinen Platz. „Oh shit“ Charlie trat herein. „Ist die gebrochen?“ „Zu seinem Glück nur einfach und gerade. Das wird wieder hübsch heilen, wenn er so was nicht wieder macht“, antwortete Severus für Draco. „Das ist ziemlich viel Blut“ Charlie sah sich etwas verloren um. „Mit einer gebrochenen Nase sollte man wirklich-“ „Nein“ Dracos Lider hatten sich in kalter Wut verengt. Sein Blick sagte ganz klar, dass ihn absolut nichts und niemand überreden würde. „Ich muss trotzdem deine Eltern anrufen. Du bist noch minderjährig-“ Charlie stoppte, als Draco in völliger Nonchalance aufstand und an ihm vorbei ging. „So wird dazu noch eine polizeiliche Suche kommen. Mach es nicht schlimmer“, sagte Severus ruhig, was den Blonden dann doch inne halten ließ. Draco sah ihn mit einem völligen Nichtausdruck an, die Hände noch immer auf das Taschentuch gedrückt, das Gesicht blutig. Severus fühlte sich unangenehm an Harrys ausdruckslose Augen erinnert, mit denen er nach dem Gespräch mit der Bordellmutter zurück ins Zimmer gekommen war. Er seufzte und meinte: „Ich fahre dich ins Krankenhaus. Die Ärzte können deine Eltern an der Tür aufhalten“ - er erhob sich und nickte Charlie zu - „Bis nächste Woche.“ Draco folgte ihm einfach. Severus hatte es nicht anders erwartet. Er überlegte nur einen kurzen Moment, warum er das hier tat. Leider hatte er das Gefühl, dass er die Antwort nicht nur kannte sondern dass sie auch gleich noch eine andere Frage beantwortete. Es war derselbe Grund, warum er Harry aus Thailand mitgenommen hatte. Und es hatte nichts mit Attraktivität zu tun. Er musste sich eingestehen, dass diese geprügelten Kinder ihn zu sehr an sich selbst erinnerten. „Malfoy“ Severus nahm die Versichertenkarte, betrachtete den Namen kurz und steckte sie zurück in Dracos Tasche. Der Junge sah mit fragendem Blick hoch. „Ich verstehe, warum du nicht willst, dass dein Vater informiert wird.“ Draco zuckte von ihm weg. Severus seufzte nur tief. Draco Malfoy. Wenn er genau hinsah, konnte er sogar eine Ähnlichkeit erkennen. Die Welt war ein Dorf, wenn er in einem Zentrum zur Aggressionsbewältigung unbedingt auf den Sohn seines Ex traf. Andererseits wunderte es ihn überhaupt nicht, gerade im Zentrum für Aggressionsbewältigung auf den Sohn seines Ex zu treffen. Lucius Malfoy war ein Sadist. Und es gab nur eine äußerst geringe Wahrscheinlichkeit, dass er seinen Sohn geschont hatte. Er führte den Jungen zu einer der Wartebänke und setzte sich neben ihn. Draco hatte sich an ganzen Körper angespannt. Er kam trotzdem mit und setzte sich. Severus musste ihm zumindest Courage anerkennen. Er wäre im selben Alter wahrscheinlich sofort geflüchtet, wenn er auch nur vermutet hätte, dass jemand wusste, was bei ihm zuhause geschah. Nicht, dass er genau wusste, was Lucius tat. Aber er konnte sich langsam ein Bild der vollen Geschichte machen. Einer der Sprüche, die im Zentrum für Aggressionsbewältigung hingen, war schließlich „Es ist immer der gesündeste Mensch einer Gruppe, der Hilfe sucht“. Draco war sicherlich das gesündeste Mitglied seiner Familie. Severus warf einen Blick auf seine Uhr. Er sollte Harry Bescheid sagen, dass er später kommen würde … und dass er fraglos mit einer höchst intensiven Migräne kommen würde. Er war nicht scharf darauf, seinen Ex wieder zu sehen. Und das war noch die freundlichste Bezeichnung, die er finden konnte. Nachdem er sich erfolgreich selbst gerettet hatte, war er nicht ganz sicher, was es bedeuten würde, auf den Mann zu treffen, den er für den größten Teil ihrer Beziehung auch hätte verklagen können. „Woher kennst du ihn?“, fragte Draco leise. Severus schloss die Lider. Was sollte er dem Jungen schon sagen? Dass er seinen Vater in einem Swinger-Club getroffen und sich danach drei Jahre hatte missbrauchen lassen? Mit einem mal zog sich Severus Brust zusammen. Lucius würde nicht … Draco? „Was hat er mit dir gemacht?“, fragte Severus mit einem Hauch des Entsetzens. Eigentlich traute er es Lucius nicht zu, aber was wenn … Dracos Lider weiteten sich, eine Mischung aus Panik und Ekel. Severus packte seine Schulter und verhinderte so das Aufspringen. Es überraschte ihn kurz, dass seine Kraft reichte, bis er merkte, wie knochenhart sein Griff wohl sein musste. Draco verkrampfte sich, aber ansonsten hielt er still. „Schon gut“ Severus löste seinen Griff und versuchte, seine Stimme ruhig zu halten. „Entschuldige.“ Draco zitterte, als er seine Hand zurück zog. „Falls du das mit ihm beenden willst, kann ich dich hier und jetzt unter Polizeischutz stellen lassen. Ich bin Anwalt“ War er neuerdings Samariter geworden? Die Heilsarmee? Am besten, er bot ihm gleich an, auch bei sich zu wohnen. Und vögelte ihn zur Volljährigkeit. Einen anderen Arbeitsmodus schien er ja gerade nicht zu besitzen. Wer glaubte er eigentlich zu sein? Er konnte nichts und niemandem helfen. Er hatte sich selbst schon nie helfen können. „Aber du musst selbst gegen ihn aussagen.“ Auch wenn er Draco nicht mehr berührte, er wusste, dass sich jeder Muskel wie Knochen anfühlen würde. Die verzogenen Schultern, die Einziehungen der Haut an den Muskelübergängen … Draco hielt noch immer seine Nase, aber alle Bewegung war erstarrt. Er gab keine Antwort. Severus erwartete keine. Er erwartete einen Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Und eine sehr unangenehme Wiederbegegnung. Severus schaltete den Wagen ab, doch sank mit einem Seufzen in den Sitz statt auszusteigen. Er hatte Draco bis zu dessen Zimmer im Krankenhaus gebracht. Innerhalb der vier Stunden, die das gedauert hatte, war Lucius nicht aufgetaucht, was Severus eher begrüßt als bedauert hatte. Er war dann doch selbstsüchtig genug, um diese Begegnung dem Dienstarzt zu überlassen. Er hatte einfach brav unterschrieben, was man ihm vorgesetzt hatte – wobei keiner gefragt hatte, ob er dazu eigentlich berechtigt war –, bis Draco sicher für die Nacht untergebracht worden war. Mehr konnte keiner von ihm verlangen. Es war mehr als die meisten anderen Menschen tun würden. Mit einem weiteren Seufzen stieg er aus und schwankte Richtung Tür. Für die Autofahrt hatte die Konzentration gereicht, doch mit jedem Schritt hämmerte die Migräne stärker. An der Tür war er schwer, die Lider zu öffnen, sodass er das Türschloss mit der Hand ertastete und die Tür so öffnete. „Severus?“, fragte Harry mit verschlafener Stimme aus dem Wohnzimmer. Vielleicht hatte er gewartet. Severus zog die Lider leicht auseinander, um zumindest etwas Schemenhaftes zu erkennen. Da kam etwas auf ihn zu und blieb kurz vor ihm stehen. Mit einer hohen Wahrscheinlichkeit dürfte es Harry sein. Severus zog den kleineren Körper in seine Arme und senkte seinen Kopf an dessen Halsansatz. Harry roch noch ganz leicht nach dem Duschgel, was er immer kaufte. Ein erfrischender, belebender Geruch. „Severus?“, flüsterte Harry ganz leise. „Still“, murmelte dieser nur. Er atmete noch einmal tief den Geruch des anderen ein, bevor er los ließ und wortlos schlafen ging. Kapitel 13: Realisation ----------------------- „Sie sehen schrecklich aus, Chef“, begrüßte ihn Lydia zum zweiten Kaffee, „sollten Sie wirklich bei der Arbeit sein?“ „Sehe ich so aus als würden Ihre Bedenken mich interessieren?“ Severus warf ihr einen sauren Blick zu. „Machen Sie Ihre Übergabe und verschwinden Sie.“ Sie fasste seine Arbeitslast für heute in drei Sätzen zusammen und flüchtete aus dem Büro. Anscheinend hatte er zumindest nicht verlernt, wie man andere mit einfachen Worten zusammen faltete. Auch wenn das nichts war, auf dass man stolz sein sollte, fühlte er eine vage Zufriedenheit mit sich selbst. Er konnte böse, verletzend und eine wahre Pest sein. Dass er gerade versuchte, noch etwas anderes zu lernen, änderte nichts an seiner Identität. Er hatte einen festen Platz im Leben. Diesen Platz um ein paar neue Eigenschaften zu erweitern, würde ihn nicht verändern. Ein oder zwei Kindern zu helfen, machte ihn nicht zu einem guten Menschen. Er würde exakt das bleiben, was er war. Eins hatte er gerettet, um es jetzt selber zu missbrauchen und das andere … nun, er konnte nicht verneinen, dass in seinem Hinterkopf ein vager Gedanke nach Rache laut geworden war, als ihm klar wurde, wer das Kind war. Malfoy. Das bot ungeahnte Möglichkeiten. Zugegebenermaßen Möglichkeiten, von denen auch er noch keine konkrete Ahnung hatte, aber die würden sich ergeben. Seinen Ex hinter Gittern zu sehen für das, was er anderen antat – seinem Sohn, um Gottes Willen! –, war ein befriedigender Gedanke. Er hatte diesem solch eine Dummheit nicht zugetraut. Andererseits würde Draco vermutlich niemals etwas sagen. Lucius würde seinen Sohn nie freiwillig in so einen Kurs lassen, vermutlich war Draco dort als Bewährungsauflage im Rahmen einer Straftat. Besonders bei Minderjährigen wurde oft Rehabilitation der Strafe vorgezogen. Er musste also eine Straftat begangen haben, die schlimm genug war, dass Sozialstunden nicht ausreichten. Wiederholte schwere Körperverletzung? Körperverletzung mit Todesfolge? In ungefähr der Kategorie müsste er sich befinden. Wenn Draco so weit ging statt zu konfrontieren, was Auslöser dieser Aggressionen war, gab es nicht viel Hoffnung für ihn. Er würde sich nicht gegen Lucius wehren. Dafür hatte der Junge zu viel Angst. Harry war dagegen ein Musterbeispiel an Tugend. Wahrscheinlich hatte er keinen schweren sexuellen Missbrauch erlebt, doch im Bezug auf Angst und Vernachlässigung dürfte er Draco in nicht viel nachstehen. Dennoch war er im Vergleich zutiefst ausgeglichen. Er forderte Aufmerksamkeit ein statt sie mit Gewalt zu erzwingen. Er schien weitaus selbstreflektierter über das, was er wollte und wünschte. Und auch wenn Severus nicht sicher war, ob das, was der Junge sagte zu wollen, wirklich auch das Richtige für ihn war, so verfolgte er zumindest einen klaren Kurs im Leben. Draco schien eher verzweifelt um sich zu schlagen. Nicht viel anders als Severus selbst damals. Seine Idee mit Studium war das einzige, was ihn ohne größere Schwierigkeiten mit dem Gesetz durch seine Jugend gebracht hatte. Ohne diesen Plan hätte er seine Selbstkontrolle wahrscheinlich so weit fahren lassen, dass er mindestens einen Rausschmiss erlebt hätte. Er bezweifelte nicht, dass Harrys Kindheit grässlich gewesen war, auch wenn er die genauen Umstände nicht kannte. Aber Harry nahm das alles nicht so schlimm. Außer dem einen mal, wo er gefragt hatte, warum sein Onkel ihm schlimme Dinge angetan hatte, hatte er stets nach vorne statt zurück geblickt. Vielleicht würde ihn das alles eines Tages einholen, aber zur Zeit schien die Balance gut gehalten. So lange er Harrys Wünschen nach Nähe nachkam, hatte er keine Bedenken, dass der Junge sich gut entwickeln würde. So lange er den Wünschen nachkommen konnte. Severus seufzte. Da lag wohl der harte Kern. Wie lange konnte er Harry küssen, ohne bitter zu werden, nicht mehr tun zu können? Wie lange konnte er ihn im Arm halten, bevor er vor Angst erstarrte, wen Harry in seinem Leben noch halten würde? Er wollte Harry nicht so nah an sich heran lassen. Wie konnte er denn Severus Snape bleiben mit so einem Bündel Optimismus an seiner Seite? Harry würde ihn verändern. Er wusste nicht wie, aber er spürte bereits, wie er anders wurde. Er hätte Draco früher nie im Leben geholfen. Er hätte keinen Gedanken an Charlies Gefühle verschwendet. Er hätte sich vor allem keine Gedanken gemacht, was andere von ihm halten würden. Aber mit Harry an seiner Seite musste er das. Ein Wort, eine Handbewegung, ein Blick, schier alles könnte sie verraten. Und würde sie etwas verraten, würde er Harry verlieren. Er würde aufpassen müssen, wenn sie nach draußen gingen. Er würde Abstand halten müssen. Niemand durfte erfahren … niemand durfte wissen, was er für Harry empfand. „Abend!“, erwiderte Harry seine Begrüßung und kam aus dem Wohnzimmer. Bei Severus Anblick verbreiterte sich das Lächeln auf seinen Lippen und ohne jede Scheu trat er vor und küsste diesen auf die Lippen. „Du weißt sehr genau, was du willst, oder?“ Severus hob halb resigniert, halb amüsiert die Augenbrauen. „Was ich will, kriege ich nicht“ Harry grinste. „Aber ich kann mich hiermit begnügen.“ Severus schnaubte und zog seine Hand hinter dem Rücken vor. „Was ist das?“, fragte Harry und betrachtete die einzelne Blume, die Severus ihm reichte. „Eine Rose. So etwas schenkt man jemandem … so etwas schenkt man der einen Person im Leben“ Severus wandte den Blick ab. „Die eine Person?“ Ein Lächeln und ein ganz komisch sanfter Blick dominierten Harrys Züge. „Die Person, die man liebt?“ „Hast du schon gekocht?“, versuchte Severus das Thema zu wechseln. „Mallorkinische Paella“ Harry roch mit geschlossenen Lidern an der Rose. „Das Rezept war in dem Buch, was du mir geschenkt hast.“ „Es freut mich, dass du die Bücher magst“ Er meinte wahrscheinlich die Kochbücher, die er ihm zusammen mit den englischen Klassikern geschenkt hatte. „Und du kannst sie anscheinend bereits lesen.“ „Es ist nicht so leicht“ Harry drehte sich um und ging in die Küche vor, um zu servieren. Er legte die Rose in die Mitte zwischen die zwei bereits gedeckten Teller. Severus überlegte kurz, ob er eine Vase besaß, bevor er eine Weinkaraffe aus dem Schrank zog und die Rose hinein stellte. „Ich kenne die Worte nicht. Aber ich male sie ab und suche im Supermarkt nach Packungen, auf denen die Worte stehen. Das funktioniert gut. Und Maßeinheiten haben wir schon durchgenommen.“ „Kannst du alles finden, was du suchst?“ „Nicht immer. Aber es gibt eine nette Frau im Supermarkt, die mir beim Suchen hilft. Sie heißt Emma und hat ein nettes Lächeln.“ „Du solltest ihr zum Dank etwas schenken, wenn sie dir öfter hilft“, riet Severus. Trotz seiner miserablen Kindheit ohne jegliche Vorbilder hatte ihm seine Mutter zumindest die Theorie von Höflichkeit eingebläut. „Blumen?“ Harry zeigte auf die Rose. „Vielleicht eher Pralinen“ Minderjährige verschenkten noch keine Blumen. Das würde eher verwirren. „Wir könnten am Wochenende in London welche kaufen“ Und er könnte Harry zu einer heißen Schokolade einladen. Vielleicht in diesem Café, wo er früher seinen Kaffee gekauft hatte, als er noch eine Maschine besaß, die Bohnen malte. Als die kaputt gegangen war, hatte er eine normale Maschine gekauft und normalen Supermarktkaffee getrunken. Ein wenig vermisste er den Geschmack eines guten Röstkaffees. „Gerne“ Harry reichte ihm einen Teller mit gelbem Reis gemischt mit Gemüse und Meeresfrüchten. Es erinnerte mehr an ein asiatisches Gericht als irgendetwas, was er schonmal in Spanien gegessen hatte. Aber er bezweifelte nicht, dass Harry sich streng an das Rezept gehalten hatte. Obwohl viele Zutaten und Zubereitungsarten für ihn neu sein mussten, kochte er außerordentlich gut. Nicht alles war beim ersten mal perfekt, aber es war stets höchst essbar. Er komplimentierte auch dieses Gericht nach wenigen Bissen. Er wusste zwar nicht, wie es schmecken sollte, aber schmecken tat es allemal. Er ließ sich den nächsten Bissen auf der Zunge zergehen und versuchte zu erschmecken, was Harry wohl alles hinein gemischt hatte. Da war Curry und Safran und Pfeffer, so viel schmeckte er leicht. Salz war bestimmt auch dabei und eine Spur Knoblauchpulver ebenso. Der Rest kam wahrscheinlich von den Garnelen und der Paprika, die er im Gemisch erkannte. Es war lange her, dass er Essen genossen hatte. Vor Harry hatte er abends Restaurants aufgesucht oder Fertigessen erwärmt. Meist hatte er nur Brot mit Belag zu sich genommen. Abends warmes, gutes Essen zu haben … das war schon eine Menge wert. Er begann sogar langsam es wertzuschätzen, jemandem abends von seinem Tag zu erzählen. Ganz zu schweigen von den Massagen. Harry bei sich zu haben, war schon in Ordnung so. Er mochte sich verändern, aber er schien grundlegend er selbst zu bleiben. Und was seine Angst betraf, verlassen zu werden, so schien sein Herz ja schon lang gegen seinen Kopf zu arbeiten. Anscheinend war er verrückt genug, das hier zu wagen. Eine Beziehung. Er atmete zittrig aus und betrachtete Harry, der ohne etwas zu bemerken weiter über seinen Tag plapperte. Er war mit diesem Jungen … diesem jungen Mann in einer Beziehung. Severus schluckte. Er war wirklich in einer Beziehung. Einer wahrscheinlich ernsten Beziehung, die nicht darauf beruhte, dass er sich ausnutzen ließ. Er spürte, wie ein Lächeln an seinen Mundwinkeln zog. Er unterdrückte den Impuls. Er war schließlich immer noch Severus Snape. Da Harry erneut von seiner Lehrerin eingeladen worden war – wirklich, was fand sie an ihm? –, hatten sie sich darauf geeinigt, dass Severus Harry am Samstag nach seinen Sozialverpflichtungen abholen würde. Sollte er keine Migräne haben, würden sie ins Café fahren, sonst würden sie das sonntags tun. Und entgegen Severus Erwartung hatte er nicht einmal den Hauch einer Migräne. Der Gedanke, mit Harry einen freien Nachmittag zu verbringen, ließ ihn seinen Ärger über die Inkompetenz anderer Menschen völlig vergessen. Umso heftiger ließ ihn der Anblick erstarren, der sich ihm bei den Granger-Weasleys bot. Harry saß mit Ginny auf dem Boden, wo sie ein Spiel spielten – so weit in Ordnung. Neben Ginny saß ein junger Mann, den er vorher noch nicht gesehen hatte, der aber fraglos zur Familie gehörte. Was ihn mitten im Türrahmen stehen bleiben ließ, war der Anblick dessen, der neben Harry saß und ihm vertraulich über die Schulter in die Karten sah. Charlie war auch der erste, der ihn bemerkte. Er zuckte, als er aufsah und in Severus Augen blickte. Sein Blick wechselte kurz zwischen Severus und Harry, bevor er sich etwas hektisch erhob. Das zog die Aufmerksamkeit der anderen auf sie. „Severus, ich habe nicht …“ Charlie machte eine vage Handbewegung, die alles mögliche meinen könnte. „Ich …“ „Severus?“ Harry sah fragend zwischen ihnen hin und her. „Ich möchte, dass du von diesem einen Abstand hältst“, erwiderte dieser leise auf Thai, wohl wissend, dass niemand außer Harry ihn verstehen würde. Er kam herein, wandte seinen Blick dabei von Charlie ab und bot Harry eine Hand an. „Ich erkläre es später.“ Harry nickte langsam, klar erkennbar nicht verstehend, bevor er den anderen beiden tschüss sagte. Charlie winkte er, obwohl dieser gerade mal einen Meter entfernt stand, während Severus den zwei Sitzenden höflich einen guten Tag wünschte. Charlie würdigte er nicht einmal eines Blickes. Er verließ das Zimmer, ohne dessen Existenz irgendeine Bestätigung zu geben. Harry schwieg auf dem Weg nach Hause. Im Wohnzimmer zog er seinen Block hervor und schrieb dort »Warum soll ich mich von ihm fernhalten?«. Severus sah einen Moment lang auf den Block, bevor er sich mit einem Seufzen neben Harry setzte. Wenn er es wenigstens erklären könnte … aber da war nur irgendein völlig diffuses Gefühl in ihm. Aber er konnte auch kaum nichts sagen, nicht wahr? Er schloss die Lider und spürte die ersten Schläge einer Migräne gegen die Innenseite eines Schädels. Er bekam Migräne, wann immer er schwieg statt zu sagen, was er sagen wollte. Immer, wenn er diesen Klienten sagen wollte, dass sie dumm wie Stockbrot waren. Dass ihre Essmanieren unter aller Sau waren und er sie nicht ermahnen durfte. Immer, wenn er mit einem Lächeln lügen musste. „Weißt du, was der Unterschied zwischen einem Kind und einem Erwachsenen ist?“ Harry blinzelte verwirrt, wahrscheinlich ob der Tatsache, dass er in normaler Lautstärke sprach. „Erwachsene wissen, was sie wollen. Nicht immer in jedem Detail, aber sie haben eine relativ gute Vorstellung davon, was sie möchten und was nicht, was für sie okay ist und was nicht. Und nicht nur wissen sie das, sie können auch danach handeln. Wenn jemand etwas tut, was sie nicht wollen, bringen sie das zum Ausdruck. Nicht immer wortstark, denn nicht in jeder Situation ist dasselbe angemessen. Aber Erwachsene sind in der Lage, das, was sie möchten, zu spüren und adäquat auszudrücken.“ Er sah Harry einen Moment lang an, ob dieser verstand, was Severus ihm gerade sagen wollte. Das langsame Nicken war nur halbwegs rückversichernd, aber besser als nichts. „Ab der Pubertät beginnen Kinder für sich selbst zu entdecken, was sie wollen. Statt die Ideale ihrer Eltern einfach zu übernehmen, beginnen sie eigene Meinungen zu fassen. Am Anfang bringt das sehr, sehr viel Verletzung mit sich. Man mag die Freunde nicht mehr, die Eltern ausgesucht haben, man will nicht Arzt oder Anwalt mehr werden, man will hinaus ins Leben und entdecken, was man selbst haben will. Und dann stürzen Kinder sich in Gefahren und tun sich weh und lernen dabei. Und mit der Zeit bildet sich eine klare Vorstellung, was man will und was nicht. Und man lernt, dass man für die Dinge, die man haben will, kämpfen muss.“ „Ich will dich haben und ich bin auch bereit, dafür zu kämpfen“, erwiderte Harry mit erstaunlicher Überzeugung in der Stimme. „Und dass du das so klar gesagt hast, ist wahrscheinlich der einzige Grund, warum ich nachgegeben habe“, erwiderte Severus, noch bevor ihm überhaupt klar wurde, was er da sagte. Ein Schock durchfuhr seinen Körper und für einen Moment war es, als würde sein Herz stehen bleiben. Doch im nächsten Moment schluckte er und schüttelte innerlich über sich selbst den Kopf. Er war kein Kind. Er hatte vor vielen, vielen Jahren gelernt, dass paralysiert inne zu halten nichts verbesserte. Harry hob die Mundwinkel, aber seine Stirn lag in Falten. Severus sah, dass er beide Hände zu Fäusten geballt hatte. Vermutlich, weil sie sonst gezittert hätten. Diese Reaktion kannte er gut. Die Angst seines Gegenübers vor dem, was er sagen würde, sagen könnte. „Ein Kind oder ein Erwachsener zu sein, das ist kein Entweder-Oder“, fuhr er fort, „es ist ein Prozess. Bei vielen ist der Prozess jahrelang und bei einem Teil wird er auch niemals abgeschlossen. Genau genommen schließt niemand ihn je ab, man lernt stets weiter. Und oft verändert man sich auf dem Weg auch“ Severus spürte ein Brennen in seiner Brust. Er griff eine von Harrys Händen, strich darüber, damit sie sich entspannte und nahm sie zwischen seine eigenen. „Das ist in Ordnung so. Nur machen die, die noch am Anfang stehen, immer wieder dumme oder gefährliche Sachen. Wenn man daraus lernt, okay – aber manchmal wird einem auch so sehr weh getan, dass man sich nicht erholt. Darum hat man eigentlich Eltern, die einen zumindest die ersten Jahre noch schützen, damit man nicht zu heftige Fehler begeht.“ „Habe ich etwas falsch gemacht?“, fragte Harry vorsichtig. Seine Stimme zitterte. „Nein“ Severus hob die Hand, die er hielt und küsste Harrys Handrücken. „Wir haben nur die Situation, dass du so jung bist, dass du eigentlich jemanden brauchst, der auf dich aufpasst. Nur ist es schwer, auf dich aufzupassen und dich gleichzeitig als gleichberechtigten Partner zu sehen“ Severus atmete tief durch. Er wusste kaum, was er sagte, aber in seinem Kopf machte es plötzlich vollkommen Sinn. Als hätte er, während er sprach, die Erkenntnis erhalten, was er sagen wollte. „Ich wollte nicht mit dir zusammen sein, weil ich einen gleichberechtigten Partner will. Jemand, auf den ich nicht nur aufpasse sondern jemand, der auf mich aufpassen kann. Der mich stützen kann“ Seine Kehle zog sich zusammen. Wieder wollte sein Körper erstarren und wieder kämpfte er dagegen an. „Und gleichzeitig macht mir der Gedanke Angst. Denn warum sollte jemand, der nicht von mir abhängig ist, bei mir bleiben wollen?“ Harry sah ihn mit großen, erschrockenen Augen an. Severus erwiderte den Blick für mehrere Sekunden, bevor er sich mit einem Seufzen zurück lehnte. Das war es dann wohl. Er hatte es endlich geschafft, zu sagen, was er wollte. Harry würde niemals das sein, was er brauchte. Er war einfach, denn er war vollkommen von ihm abhängig. Aber er war nicht genug. Und er würde auch niemals genug sein in der Machtverteilung, die zwischen ihnen bestand. Eine Hand packte ihn am Kiefer und zog ihn in einen Kuss. Severus Lider weiteten sich überrascht, doch er folgte der Bewegung. Mehr aus Überraschung als alles anderem. Er ergab sich den Kuss, doch beendete ihn mit einem Seufzen. Nein … kein verzweifeltes Flehen würde ihn dazu bringen, sich nochmal umzuentscheiden. „Du brauchst jemanden, der dir sagt, dass du ein Feigling bist und viel zu sehr nachdenkst.“ Severus zuckte zusammen und sah auf. Harry hielt noch immer seinen Kiefer, das Gesicht nur wenige Zentimeter entfernt. Er zog es zurück, damit sie einander zumindest ansehen konnten – Severus Kiefer ließ er nicht los. „Wenn ein Erwachsener zu sein bedeutet, dass man für das einsteht und für das kämpft, was man will, dann mache ich das“ Harry schnaubte. „Du hast mir beigebracht, dass mutig zu sein sich auszahlt. Du hast mir beigebracht, dass ich haben kann, was ich will, wenn ich dafür kämpfe. Vor drei Monaten war ich ein verängstigtes Kind, das stimmt. Aber seitdem habe ich dich beobachtet und von dir gelernt. Und ich werde nicht akzeptieren, dass du mich als Kind abschreibst, weil du Angst hast.“ Severus schluckte. Zwischen Harrys Augenbrauen lagen Falten, die Lider waren verengt, die Lippen fast eine einzige Linie. Er hätte daraus Wut gedeutet, aber er war sich nicht sicher, dass seine Deutung stimmte. Denn sein Eindruck von Harry hätte niemals erlaubt, dass dieser so eine Antwort gab. Schon die Sache oben in der Freiheitsstatue in New York … das entsprach nicht dem verängstigten, leicht zu begeisternden Jungen, den er aufgenommen hatte. Er bemerkte allerdings, dass Harrys Hand zitterte. Sein Blick folgte dem Zittern zurück in Harrys Gesicht. Die vielleicht überzeugend wirkende Miene wurde langsam dadurch zersetzt, dass sich Harrys Augen mit Tränen füllten. Bisher glänzten sie nur, aber Severus kannte das verräterische Schimmern. Harry war bei weitem nicht so selbstüberzeugt wie er sich zu geben versuchte. Severus spürte das kaum noch bändigbare Bedürfnis, einfach aufzustehen und zu gehen. Harry war ein Kind. Schlimmer noch, ein Kind, das Erwachsener spielte. Ein Kind, dessen Angst es in die Rolle eines Erwachsenen drückte, obwohl es tief in sich noch nicht so weit war. Noch weniger als ein Kind wollte er jemanden, der sich für ihn verdrehte, für den jedes Gespräch wie eine Prüfung war, in der er sich beweisen musste. Harry war mutig, sehr mutig sogar, aber er war gerade mal sechzehn. Er versuchte sein Bestes, für Severus selbstüberzeugt zu wirken, aber das war trotzdem nicht, was er brauchte. Er brauchte jemanden, der in sich selbst verankert war. Jemand, der Selbstüberzeugung nicht spielen musste. Und der dabei nicht dazu neigte, seinen Willen anderen aufzuzwingen wie Lucius Malfoy. Severus sah wieder auf und beobachtete, wie Tränen über Harrys Wangen rannen. Die Hand, die seinen Kiefer gehalten hatte, fuhr über seine Haut zu seiner Schulter, bevor Harry mit einem mal praktisch einen Satz nach vorne machte und die Arme um ihn schlang. Kaum eine Sekunde später brach das erste Schluchzen aus ihm. Severus drückte den Jungen an sich und spürte ein Lächeln an seinen Lippen ziehen. Er hatte gesagt, was er wollte. Er hatte endlich geschafft auszudrücken, was er empfand und was er brauchte. Das Lächeln wurde zu einem Grinsen. Er dachte nur kurz daran, wie untypisch diese Bewegung war, bevor er es einfach zuließ. Harry hatte ihn genug gefordert, dass er es geschafft hatte, sich selbst zu dem Thema Beziehungen zu konfrontieren. Er stockte. Harry hatte … er lehnte sich etwas zurück von dem Jungen, der nicht mehr schluchzte. Harry hatte eine Faust auf seine Lippen gepresst. Sein Blick war zu Boden gewandt, die Tränen trocknende Spuren auf seiner Haut. Severus zog die Hand mit sanftem Druck zur Seite und küsste ihn sanft. So sanft wie er noch nie einen Kuss gesetzt hatte. Sanft wie eine Frau, die ihr Neugeborenes das erste mal mit ihren Lippen berührte. So sanft, dass er es im gleichen Moment angemessen und widerwärtig fand. Harrys Blick hob sich mit einem Blinzeln. Sein Mund öffnete und schloss sich, die Stirn dabei in leichte Falten gezogen, bevor er den Kopf zur Seite legte. Severus beugte sich erneut vor und küsste ihn. Sein etwas weniger sanfter Kuss wurde erwidert. Er spürte Harry schlucken, hörte ihn scharf Luft holen während des Kusses, bemerkte die Hand, die ihn vorsichtig vorne am Jackett hielt, das er noch immer trug. „Was?“, murmelte Harry halb benommen, als Severus den Kuss unterbrach. „Du bringst mich dazu, mich Dinge zu trauen, vor denen ich vorher zu viel Angst hatte“ Severus lächelte. Es war befreiend, einfach mal die Wahrheit zu sagen. Und er war sich sicher, dass Harry nicht lachen würde. Er glaubte nicht nur, er war sich sicher. Er glaubte an Harry. Das war ein komisches Gefühl. Und Harry lächelte. Harry lächelte breit und zog ihn wieder in eine Umarmung. Diesen einen Moment lang war die Welt in Ordnung. Diesen einen Moment lang wollte Severus daran glauben, dass das hier funktionieren könnte. Severus blinzelte die Augen auf und erhielt als erste Wahrnehmung, dass etwas erstaunlich schweres auf ihm lag. Er hob den Kopf, wobei ihn ein Schmerz durchzuckte – war er auf dem Sofa eingeschlafen? –, bevor er Harry auf sich liegend entdeckte. Ob der Bewegung blinzelte dieser die Augen auf und sah etwas verschlafen nach oben. Er hatte wohl gedöst. Severus strich ihm ein paar Strähnen aus dem Gesicht, was Harry lächeln ließ. Nach einem Moment hob er die Arme, verschränkte sie auf Severus Brust und legte das Kinn darauf. Wache, grüne Augen sahen auf ihn hinab. „Ich bin wohl eingeschlafen“ Severus hob seinen linken Arm hinter Harry hinauf, um auf seine Uhr zu sehen. „Es ist schon fast Abend.“ „Soll ich etwas kochen?“ Harrys Stimme klang vollkommen entspannt. „Nudeln wären toll. Die mit Käse-Sahne-Sauce, die du vor zwei Wochen gemacht hast.“ „Okay“ Harry drückte sich nach oben, setzte einen kurzen Kuss auf Severus Lippen und erhob sich. „Kommst du mit in die Küche?“ Severus brauchte etwas länger zum Aufstehen, da sein Rücken einem Minenfeld glich. Auf der Couch einzuschlafen war eine selten dumme Idee gewesen. Er streckte sich, bevor er sein Buch nahm und damit in die Küche ging. Harry setzte gerade einen Topf Wasser auf. Als er Severus bemerkte, sagte er: „Du hast immer noch nicht gesagt, warum ich mich von Charlie fernhalten soll.“ Severus seufzte im Stillen, aber fand die Worte in sich erstaunlich einfach: „Ich habe mal mit ihm geschlafen und dann gesagt, dass das aus uns nichts wird. Ich weiß nicht, ob er mir vielleicht böse ist und das an dir auslassen wird. Und ich weiß nicht, ob er nun vielleicht an dir interessiert ist.“ Die Wahrheit zu sagen erwies sich als erstaunlich einfach. Und Harry nickte nur und wandte sich wieder dem Topf zu mit den Worten: „Ich werde darauf achten.“ Severus blinzelte kurz. Das war alles? Keine Eifersucht? Keine Tiraden, dass Harry auf sich selbst aufpassen könnte? Dass Charlie ein guter Mensch war und Severus Gespenster sah? Er dachte ja selber, dass er wahrscheinlich zu paranoid war, aber die Möglichkeit, dass Harry verletzt werden könnte … und vor allem die Möglichkeit, dass Harry Charlie attraktiver als ihn finden könnte … Severus Hände ballten sich zu Fäusten. Vielleicht nahm Harry seine Worte auch nicht ernst? Severus atmete tief durch und schloss die Lider. Sie zuckten in die Höhe, als er eine Hand an seiner spürte. Harry stand vor ihm, sah mit fluchtbereiter Körperhaltung zu ihm auf und fragte: „Habe ich etwas Falsches gesagt?“ Nein. Severus wollte ihn packen und schütteln. Nein, Harry hatte nichts falsch gemacht. Er hatte nur Angst, ihn zu verlieren. Harry konnte nichts für seine Ängste. Severus hob die Arme, sicher, etwas Gewalttätiges zu tun, doch zwang sich, sie um Harry zu legen. „Severus?“, fragte dieser leise, aber weniger ängstlich. Severus senkte seinen Kopf, drückte seine Wange gegen das schwarze Haar. Harry war in seinen Armen. Harry war hier. Es gab keine Gefahr. Es gab keinen Grund, aus Angst heraus gewalttätig zu werden. „Entschuldige“, murmelte Severus einige Momente später und löste die Umarmung, „ich lerne.“ Ein zaghaftes Lächeln legte sich auf Harrys Lippen, bevor er nickte und zu den Nudeln zurückkehrte. Kapitel 14: Opposition ---------------------- Am Dienstag gegen zwei Uhr dreiundzwanzig klingelte Severus Telefon. Eine eher ungewöhnliche Begebenheit, da Lydia extrem gut darin war, Anrufe abzufangen. Selbst wenn irgendetwas Dringliches war, erfand sie normalerweise eine Ausrede, ließ sich eine Nummer geben und gab ihm diese persönlich, damit er zurückrufen konnte. Dass sie einen Anruf durchstellen wollte, das war das letzte mal in ihrer ersten Arbeitswoche vorgekommen – und sie hatte schnell gelernt, dies zu unterlassen. Entsprechend misstrauisch hob er den Hörer und fragte mit einem bösartigen Zischen: „Was?“ „Chef, ich habe das Jugendamt in der Leitung. Sie sagen, dass sie sofort mit Ihnen sprechen müssen, aber wollen mir keine Informationen geben. Darf ich sie durchstellen?“ Das Jugendamt? Woher hatten die seine Nummer? Das Warum konnte mannigfaltig sein, aber warum riefen sie unter dieser Nummer an? Wer auch immer dafür gesorgt hatte, dass das Jugendamt ihn anrief, musste seine Nummer kennen. Charlie? Kalebirth? Einen kurzen Moment nach seiner Bestätigung hatte er ein Freizeichen und kam dem Anrufer zuvor, indem er seine gesamte Höflichkeit hervor kramte: „Snape, guten Morgen. Was kann ich für Sie tun?“ „Ah … Miller, guten Morgen. Ich bin Mitarbeiter beim Jugendamt“ Er gab einen dieser wortlosen Töne von sich, die Aufmerksamkeit ausdrückten. „Wissen Sie, warum ich anrufe?“ „Ehrlich gesagt nein. Ist Harry irgendetwas zugestoßen?“ Wenn er eins gelernt hatte, dann war es zu lügen. Jede gute Lüge begann damit, dass sie nicht einmal erzählt werden musste. „Harry geht es gut. Er befindet sich aktuell unter unserer Aufsicht“, erwiderte Miller. „Hat er irgendetwas angestellt? Wenn ja, ist es bestimmt ein Missverständnis. Er spricht noch nicht sehr gut Englisch und lernt unsere Kultur gerade erst. Was ist denn passiert?“ Ein Lächeln legte sich auf Severus Lippen. Er wusste, um was es hier ging. Irgendwer musste ihn angeschwärzt haben. Wenn dieser jemand glaubte, er würde zitternd zusammen klappen und Harry abgeben, hatte dieser jemand sich stark verkalkuliert. „Äh … es ist nichts passiert. Wir haben einen anonymen Hinweis auf einen möglichen Missbrauch erhalten und Harry daher vorerst in Gewahrsam genommen.“ „Missbrauch?“ Severus legte Wut in seine Stimme. Seine negativen Gefühle exakt zu seinem Vorteil auszudrücken war etwas, was er lange gelernt hatte. Der beschützende Ton kam ganz von allein. „Wer soll ihm etwas getan haben?“ „Nun … Sie“, der Mann klang höchst unsicher. „Wie bitte?“ Severus nahm die Wut zurück, ersetzte sie mit Unglauben. „Ich? Soll das ein Scherz sein?“ „Nein, wir … wir haben einen Hinweis erhalten und müssen natürlich jedem Hinweis nachgehen-“ „Also lassen Sie einen Sechzehnjährigen verhaften, um ihn zu befragen, ob an diesem obskuren Hinweis irgendetwas dran sein könnte?“ Severus mischte wieder Wut ein. „Haben Sie eigentlich mal darüber nachgedacht, was das bei Harry auslösen könnte? Der Junge hat eine panische Angst vor Polizisten. Das eine mal, wo unser Hausalarm los ging und Polizisten nach dem Rechten sahen, habe ich Harry in der Küche zusammen gekauert und vor Angst schreiend vorgefunden.“ „Und warum hat er so eine panische Angst?“, fragte der Mitarbeiter, hörbar eingeschüchtert durch das Gespräch. „Harry hat fünfzehn Jahre in der thailändischen Provinz gelebt, da sind Polizisten keine netten Helfer von nebenan“ Severus schnaubte, was er nicht einmal spielen musste. „Sagen Sie mir ehrlich, wie es ihm geht. Wenn er nicht lächelt und entspannt etwas liest, dann gnade Ihnen Gott. Wenn Sie den Jungen noch weiter verstört haben, dann kann sich Ihr Amt auf eine Klage gefasst machen.“ Mehr drohen brauchte er nicht. Lydia hatte ihn schließlich als gute Anwaltssekretärin mit allen Titeln vorgestellt, so wie sie es bei jedem Anrufer tat. Jetzt musste der Mann nur noch exakt wie geplant erwidern … „Weiter verstören? Was meinen Sie? Warum ist er so ängstlich?“ Es war doch zu einfach. Dass er diese Situation vor zwei Monaten im Kopf schier unendliche male durchgegangen war, machte das hier fast zu einem Kinderspiel. Er lächelte, doch ließ es nicht in seine Stimme fließen. Unterdrückte Wut und ein Hauch von Abschätzigkeit, das war die richtige Taktik. „Der Junge ist bei seinen Verwandten in Thailand aufgewachsen. Nach dem Tod seiner Mutter hielt ich es für besser, wenn er in vertrauter Umgebung groß wird. Was ich nicht wusste und was er mir auch bei meinen Besuchen nie sagte, war, dass sie ihn missbrauchten. Als ich vor etwas mehr als zwei Monaten in Thailand war, war der Junge verschwunden. Ich habe aus seinem Onkel heraus bekommen, dass sie ihn an ein Bordell verkauft hatten und habe den Jungen da raus geholt. Per Asylantrag habe ich ihn nach England gebracht und hier die offizielle Adoption in Gang gebracht. Ich habe vor drei Wochen bei Ihnen die Papiere dafür unterschrieben. Harrys Akte sollte Ihnen vorliegen.“ „Oh, das … dieser Hinweis kam unabhängig, ich habe nicht ...“, stotterte der Mann. „Sie haben nicht nachgesehen, ob Sie vielleicht schon Unterlagen zu ihm haben? Das ist sehr, sehr weit von einem verzeihbaren Fehler entfernt“ Severus genoss jedes Wort. Hierfür war er gemacht. Das hier hatte er sein Leben lang gelernt. „Sagen Sie mir sofort, wo mein Sohn ist.“ „Ähm … ja, wir können das wohl vor Ort klären. Haben Sie etwas zu schreiben?“ Welch eine zutiefst dumme Frage. Selbst wenn nicht, könnte er sich eine einfache Adresse merken. Diese Amtsniederlassung war kaum fünfzehn Minuten Fahrzeit entfernt. Er meldete sich bei Lydia ab, sagte ihr, es ginge um die Adoptionspapiere und er müsste nochmal zum Amt – die zweite Kunst einer Lüge, sie sollte so nah wie möglich an der Wahrheit liegen – und schwang sich in sein Auto. Wer hatte ihn angeschwärzt? „Harry“ Der Junge rannte sofort auf ihn zu und umarmte ihn. Er schien nicht verstört, aber fraglos sehr verwirrt und den Tränen nahe. Severus schloss ihn in eine Umarmung, bevor er den Rest des Raumes wahrnahm. „Misses Professor Granger-Weasley?“ Die Dame in ihrem infernalen Tweet-Rock hatte die Dreistigkeit, ihm zuzunicken, während sie ihm mit einem Blick purer Abscheu bedachte. Sein Feind war also sie … das kam doch eher unerwartet. Hatte sie seinen Austausch vor Charlie gehört? Oder hatte Charlie sie auf ihn angesetzt? „Harry hat mir einige verstörende Dinge erzählt“, kündigte sie an. „Ja, das können wir gleich auseinander nehmen“ Er wechselte auf Thai. „Wie geht es dir?“ „Was ist hier los?“, fragte Harry mit verloren klingender Stimme. „Deine Lehrerin sagt, du hast ihr etwas erzählt, dass sie beunruhigt hat. Deshalb hat sie dich hierher gebracht und mich angezeigt“ Er nutze das polizeiliche Wort, um Harry zu verstehen zu geben, um was es ging. Wenn der Junge gedankenlos geplappert hatte, könnte das hier sehr unangenehm werden. „Ist das hier die Polizei?“ Panik mischte sich in Harrys Stimme. „Ruhig, Harry, ganz ruhig“ Er fuhr mit seiner Hand Harrys Rücken auf und ab. Er hatte diese Bewegung bei Müttern gesehen, aber Väter konnten nicht so anders sein. „Das hier ist nicht die Polizei. Aber es ist etwas ähnliches.“ „Wollen die dich einsperren?“ Harry schien nicht mehr zu hyperventilieren, aber er klang nur minimal beruhigt. „Warum?“ „Das will ich auch wissen“ Er sah zu der Professorin. „Bitte erklären Sie doch in Englisch und in Thai den Sachverhalt, damit wir alle auf demselben Stand sind.“ Zumindest konnte er auf ihre Ehrlichkeit und Selbstintegrität bauen. Sie war ein geradliniger Mensch, der aus Überzeugung handelte. Wenn er Zweifel an ihrer Überzeugung wecken könnte, hatte er gewonnen. Vielleicht würde eine falsche Fährte reichen. Der Jugendamtsmitarbeiter, der die Akte anscheinend gefunden hatte, da er eine braune Mappe in der Hand hielt, bot Ihnen Sitzplätze an, die sie des Friedens Willen auch einnahmen. Harry blieb dabei an Severus gedrückt, die Arme um seinen Oberkörper geschlungen, während Severus einen um seine Schultern gelegt ließ. Die Professorin gab zuerst eine Zusammenfassung, woher sie Harry kannte, beschrieb folgend jedes bisherige Treffen mit Severus – wo sie ihn als insgesamt höflichen, aber absolut unzugänglichen, kalten Menschen beschrieb – und erzählte schließlich von ihrem heutigen Gespräch mit Harry. Angeregt durch die Vermutung ihres Schwagers, Severus könnte eine sexuelle Beziehung mit Harry führen – es war also doch Charlie, dieser Mistkerl –, hatte sie Harry über sein Zusammenleben mit Severus befragt. Und der hatte auf Nachfrage erzählt, dass er gern von Severus geküsst wurde und dass er es schade fand, nicht in Severus Bett schlafen zu dürfen. Nun … das war wenig inkriminierend. Das war höchstens lästig. Er gab ein Seufzen von sich, hörte demselben Text nochmal auf Thai zu und merkte, wie Harry neben ihm aufbegehrte als sie zum heutigen Gespräch kam. „Lass Sie aussprechen“, wies er den Jungen sanft zurecht. Was er eigentlich sagen wollte, war, dass Harry die Klappe halten sollte. Was am Ende doch über dessen Lippen kam, war: „Das ist völlig raus gegriffen, das habe ich nicht so gesagt.“ „Ja, das hier ist ein Missverständnis“ Severus nickte Harry zu, der sich aufgesetzt hatte. „Lass mich das erklären“ Er wechselte auf Englisch. „Wir haben es hier mit einem Missverständnis zu tun. Ich weiß nicht, woher die Vermutung Ihres Schwagers kommt, Misses Professor Granger-Weasley“ Er nickte ihr in aller Höflichkeit zu, was ihre rigide Sitzhaltung zwar nicht entspannte, aber zumindest die Feindseligkeit auf ihren Zügen in vorsichtiges Misstrauen wandelte. „Ich habe eine Theorie, aber das ist eine persönliche Sache und hat nichts mit Harry zu tun. Was Harry sagte, mag außerhalb des Kontextes und mit der Vermutung im Hintergrund sicherlich verdächtig wirken, aber ist es das wirklich? Der Junge wird gern geküsst und umarmt auf eine rein väterliche Weise. Er ist hier in einem fremden Land, wo er die Sprache nicht kann und niemanden kennt. Ich finde es nicht ungewöhnlich, dass er wieder zu Verhaltensweisen seiner Kindheit zurückkehrt“ Und er war heilfroh, dass er das vor Harry anders formulieren konnte. Er wusste, was er für die beiden anderen implizierte. Harry, der in Wirklichkeit ja keine Vergangenheit mit ihm hatte, würde das wahrscheinlich nicht schnell genug kombinieren. „Auch hat er Alpträume durch manche der Dinge, die ihm in Thailand widerfahren sind“ Was den Jugendamtsmitarbeiter hoffentlich vollends ins Boot holte. „Die ersten Nächste ist er mehrfach in mein Bett gekommen“ Was nicht einmal eine Lüge war. „Ich habe es ihm verboten, weil ich das in seinem Alter doch zu anstößig finde, aber das Bedürfnis ist anscheinend noch da.“ Dank sei der Selbstbeherrschung, die er über Jahre erlernt hatte. Er konnte lügen, ohne die Miene zu verziehen. Er konnte Überzeugung in seine Stimme legen, wo immer er sie brauchte. Er konnte Menschen über den Tisch ziehen, wenn er es musste. Mit wenigen Andeutungen konnte er Menschen dazu bringen, ihre Meinung vollkommen zu ändern. Weniger war oft mehr. Er wusste, er musste nur Stichworte geben, andere würden die Lücken füllen. Die Professorin wandte sich an Harry: „Macht dir dieses Land Angst? Macht es dich unsicher, hier zu sein?“ Harry sah zu Severus, doch dieser sagte nur: „Sie will überprüfen, ob ich die Wahrheit gesagt habe. Antworte einfach ehrlich.“ Legte er gerade sein Schicksal in die Hände eines Sechzehnjährigen? Wenn Harry noch etwas Dubioses sagen würde, wäre es geliefert. Und mit dieser kryptischen Aussage wollte er Harry dazu bringen so zu antworten, wie er wollte? „Manchmal“, murmelte Harry leise. „Vermisst du elterliche Zuwendung?“ Sie schien etwas Sanftes in ihre Stimme legen zu wollen, aber für Severus klang es nach herablassendem Mitleid. Harrys Hände, die Severus Oberarm hielten, drückten plötzlich und Nägel bohrten sich in dessen Haut. Er sah sich gezwungen auf Harrys Blick aus Abwehr und Abscheu zu der Dame gegenüber zu sagen: „Bitte denken Sie daran, dass er sechzehn ist. Das ist ein schwieriges Alter für solche Fragen.“ „Nun … magst du es, wenn er dich umarmt?“ Ihre Stimme enthielt Zweifel. „Ja“ Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. „Er sollte es öfter tun.“ „Und dich zu küssen?“ Ihre Stirn lag in Falten. Es schien so eine Mischung aus Unglauben, Verwirrung und Misstrauen. „Das sollte er auch öfter tun“ Harry sah zu ihm, halb mahnend, halb fragend. Severus legte eine Hand auf dessen Kopf und wuschelte ihm durchs Haar. Eine väterliche Geste, wenn er je eine gesehen hatte. „Träumst du oft schlecht?“ Harry erstarrte wieder, zog sich etwas in sich zusammen und nickte. Severus unterdrückte dabei das überraschte Blinzeln. Harry hatte also wirklich Alpträume? Er hatte so etwas vermutet, aber nie einen Anhalt gehabt. „Und was machst du dann?“ „Ich … versuche weiter zu schlafen“ Harry sah wieder zu ihm, aber Severus blieb vorsorglich wie eine Statue. „Machst du noch etwas?“, fragte die Professorin nach. Sie glich wirklich einem Spürhund auf Witterung. „Manchmal gehe ich ins Bad“ Harry drückte sich wieder an seine Seite. „Früher haben die Mädchen mich unter ihre Decke gelassen.“ „Und dein Vater verbietet das?“ Sie sah den Jungen mit scharfem Blick an. Harry nickte nur. Severus war beruhigt zu sehen, dass dieser nicht mehr so angespannt war. „Hat er dich jemals in einer Weise angefasst, die du nicht wolltest?“ Harry sah wieder zu Severus, diesmal angespannt. Dieser beherrschte sich, nicht zu reagieren. Es lag an Harry. Was immer er getan hatte und noch tun würde, er würde dafür gerade stehen. Er würde lügen, betrügen, einschüchtern, aber er wusste, er war prinzipiell verantwortlich für das, was er tat. Das Wissen um die Konsequenzen hatte ihn schon von manch einer Dummheit abgehalten. „Er hat mich aus dem Bett geworfen, als ich mich rein geschlichen habe. Und er hat mir einmal eine Ohrfeige gegeben, als ich etwas richtig Böses gesagt habe“ Harry sah noch immer ihn an, als er das alles sagte. „Und er hat mich mal weggedrückt, als ich zu aufdringlich wurde. Aber … das war alles okay. Ich weiß selber, dass ich manchmal doofe Sachen mache. Er ist nie lange wütend und er tut mir nicht weh.“ „Sie sollten kein Kind ohrfeigen“, ermahnte die Professorin ihn auf Englisch, aber es war keine Kraft mehr dahinter. Sie schien beruhigt. Zum Glück hatte sie keine zu prekären Fragen gestellt. „Ich habe mich dafür entschuldigt. Es war einmal und ich habe nicht vor, es wieder vorkommen zu lassen.“ „Könnten Sie mir das Gespräch kurz übersetzen?“, fragte der Jugendamtsmitarbeiter nach. Severus überließ es der Frau Professorin, das Gespräch zu wiederholen. Entsprechend ihres Amtes gab sie eine exakt wortgetreue Übersetzung ohne viel Eigeninterpretation. Harry hätte manche Einzelheiten weglassen können, aber insgesamt klang es absolut nicht verdächtig in seinen Ohren. Zum Glück käme ja auch nie jemand auf die Idee zu fragen, ob sie eine Beziehung führen oder Harry eine wollen würde. Die Idee, dass es bei jeglicher Sexualität zwischen ihnen nicht um einen Missbrauch gehen könnte, war wohl für die allgemeine Bevölkerung undenkbar. Andererseits war Severus nicht einmal sicher, ob es nicht trotz Harrys Willigkeit dennoch Missbrauch war. Konnte Harry Abhängigkeit und Liebe auseinander halten? War er erwachsen genug, um zu wissen, was und wen er wollte? Im Endeffekt waren die Fragen müßig, aber er kam nicht umher, sie sich immer wieder zu stellen. „Wenn das bei einem Sechzehnjährigen die einzigen Beschwerden sind, wäre ich ja zutiefst beruhigt“ Der Mitarbeiter lächelte. „Wenn Sie weitere Hilfe von uns benötigen, können Sie uns natürlich jederzeit anrufen.“ Welche weitere Hilfe? Außer ihm zu sagen, dass man ihm nicht helfen konnte und ihn an das Zentrum für Aggressionsbewältigung zu verweisen, hatten sie bisher nicht viel getan. Und da hatte er völlig anonym angerufen. „Sie könnten mich gleich einmal kurz beraten“, meinte er dennoch, als ihm einfiel, dass mehr als ein Sorgenkind seine Gedanken einnahm, „es geht um einen Jungen, der wirklich missbraucht wird und ich wüsste gern, wie ich helfen kann.“ Die Professorin zog scharf die Luft ein und flüsterte: „Das hat aber nichts mit meinem Schwager zu tun, ja?“ „Er kennt den Jungen, aber das war es auch“ Severus sah sie einen kurzen Moment an. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, kurz zu warten? Ich würde ihnen gern ein, zwei Fragen zu diesem Vorfall stellen. Besonders zu ihrem Schwager.“ „Mich interessiert es brennend, wie es hierzu kam“ Ihre Augen verengten sich in Wut. „Und was mein Schwager sich gedacht hat, Harry und mich auf so eine Weise in einen persönlichen Streit einzubeziehen.“ Hm … welch eine schöne Möglichkeit, sich an Charlie zu rächen. Er würde sie nutzen. Harry zog an seinem Ärmel, ein einziges Fragezeichen in seinen Augen. Severus erklärte ihm kurz, dass er eben mit dem Beamten und dann mit seiner Lehrerin reden würde, bevor sie fahren konnten. Aber das alles wieder gut sei und Harry sich keine Sorgen machen brauchte. Harry nickte, doch klammerte sich weiter an seinen Arm. Ganz wie er erwartet hatte, konnte er für Draco absolut nichts tun, solange dieser nicht aussagte. Er war zu alt als dass die Staatsanwaltschaft sich ganz allein einschalten würde. Was Severus dann doch scharf fragen ließ, warum er hierher beordert worden war, wenn Harry nicht ein einziges Wort gegen ihn gerichtet hatte. Der Mitarbeiter hatte nur geschluckt und sich entschuldigt. Hoffentlich würde das das Thema ein für alle mal beenden. Als er sich zum Gehen erhob, lösten sich Harrys Hände von seinem Oberarm und eine sank in seine eigene. Er überlegte, ob es zu auffällig war, Harrys Hand zu halten, aber ließ es im Endeffekt zu. Die Professorin war bereits auf ihrer Seite und würde ihre Meinung hoffentlich nicht mehr so schnell ändern. Ansonsten hatte er immer noch die Sache mit Ginny als Ass im Ärmel. „Mister Snape“ Sie nickte und erhob sich von einem Stuhl auf dem Flur, als Harry und er aus dem Raum traten. „Gehen wir ein Stück?“ „Gern“ Nun, so gern wie er sich mit Leuten unterhielt, die ihm bei Ämtern anschwärzten. Aber vorerst war sie eine Verbündete. Sie war sein Weg, Rache zu bekommen. „Was wissen Sie über Charlie und mich?“ „Charlie sagte, Sie und er … hätten einmal eine Liaison gehabt“ Das Verziehen ihres Mundwinkels sagte ihm auf jeden Fall, was sie von den Liaisons ihres Schwagers hielt. Und wahrscheinlich entsprechend von ihm. „Mehr nicht.“ „Er sagte nicht, woher er mich kennt?“ Sie verneinte. Schade aber auch, dafür hätte er Charlie verklagen können. „Diese Liaison endete sehr schnell. Ich fürchte, er nimmt mir das immer noch übel, obwohl ich ihm von Anfang an gesagt habe, dass ich gegen irgendeine Form von Beziehung bin.“ „Warum, wenn ich fragen darf?“ Sie warf ihm einen kalkulierenden Blick zu. Vielleicht auch einen misstrauischen. Es war so ein Blick voller Vermutungen, von unten aus dem Augenwinkel. „Weil ich mich auf Harry konzentrieren möchte statt mich mit einem weiteren, wahrscheinlich scheiternden Versuch einer Beziehung herum zu schlagen“ Was in und an sich vollkommen wahr war. „Seit meiner Scheidung habe ich keine Motivation mehr gehabt, mich ernsthaft mit dem Thema auseinander zu setzen“ Während das eine klare Lüge war, weil Harry ihn zwang, sich sehr intensiv damit zu beschäftigen. Nur musste er ihr das ja nicht sagen. Für die letzten fünfzehn Jahre stimmte die Aussage fraglos. „Das tut mir Leid“ Diesmal klang ihr Ton erstaunlich ehrlich und verdächtig mitleidig. „Und Sie meinen, Charlie wollte sich rächen?“ „Ich habe ihm angedeutet, es gäbe jemand anderem. Ich wollte ihn … ich dachte, das würde er besser aufnehmen als ein klares Nein“ Was absolut wahr war, er hatte Charlie nicht verletzen wollen. Er hatte nur gewusst, dass er es unumgehbar tun würde. „Dass er daraus eine Beziehung mit meinem Sohn deutet … ich habe vielleicht etwas überreagiert, als ich Harry am Samstag praktisch in seinen Armen fand, aber ich hatte Angst, er würde seine Wut auf mich an Harry auslassen wollen. Das hat Harry nicht verdient.“ „Charlie hat Harry im Arm gehalten?“ Sie hob die Augenbrauen. „Sie haben ein Kartenspiel gespielt und dabei hielt er Harry im Arm und deutete auf irgendwelche Karten. In meinen Augen war das ein wenig zu … intim“ Dass sie nickte, gab ihm einen erstaunlichen Schub Rückversicherung. Er wusste selbst, dass er höchstwahrscheinlich überreagiert hatte. Aber wenn sie darauf achten würde, dass Charlie nichts Komisches mit Harry machte … das wäre schon äußerst beruhigend. Nicht, dass er Harry nicht vertraute, aber er war halt jung und naiv. Er würde vieles erst viel zu spät bemerken. „Ich werde darauf achten“ Sie atmete tief durch. „Ich entschuldige mich sehr für die Situation, in die ich Sie gebracht habe.“ „Hm“ Er legte wenig Betonung in das Geräusch. Was sollte er schon dazu sagen? Er könnte wütend sein, aber in aller Ehrlichkeit war er das nicht. Sie hatte schließlich vollkommen recht. Er war sich bewusst, dass das, was er tat, falsch war. Sein Abkommen mit Harry … aber was sollte er denn sonst tun? Es war ja auch nicht so als könnte er jemanden um Rat fragen. „Sie sorgen sich um Harry. Das rechne ich Ihnen hoch an.“ „Sie sind gar nicht so unausstehlich, wie ich zuerst dachte“ Ein Lächeln zierte ihre Lippen. Das … war eine Beleidigung, oder? Oder ein Kompliment und eine Beleidigung? „Das … höre ich selten“ Nun, zumindest war es wahr. Auch wenn es bestimmt nicht die sozial erwünschte Antwort war. „Harry macht übrigens große Fortschritte. Sie können gern anfangen, einfache Gespräche mit ihm auf Englisch zu führen“ Er nickte nur. „Er ist einer meiner besten Schüler. Man merkt, dass er sich sehr anstrengt.“ „Ich lasse ihn zuhause viel üben“ Nun, es war trotzdem nicht sein Verdienst. „Er nimmt meine Vorschläge auch gut an.“ „Die Thailändischgruppe trifft sich am Montag wieder. Werden Harry und Sie dabei sein?“ „Möchtest du?“, fragte er Harry auf Englisch, der dem Gespräch schweigend gelauscht hatte. „Zu Restaurant gehen?“, fragte er zurück, worauf Severus nickte, „ja, bitte.“ „Dann bis Montag“, richtete er sich wieder an die Professorin. Sie nickte lächelnd und verabschiedete sich freundlich. Severus entspannte sich erst, als sie sicher im Auto saßen. „Keiner darf auch nur ahnen, dass wir etwas anderes sein könnten als Vater und Sohn, richtig?“, fragte Harry nach einigen Minuten in die Stille der Autofahrt. „Ja“, erwiderte Severus nur. „Ich habe wirklich nichts gesagt … sie hat so komische Fragen gestellt und dann gesagt, dass ich mit ihr kommen muss … ich wollte nicht-“ „Schon gut“, unterbrach Severus ihn, „ich weiß.“ Einige Momente herrschte Stille, bevor Harry doch fragte: „Bist du sauer?“ „Nein“ Severus seufzte leise. „Charlie hatte absolut recht, eine Beziehung zwischen uns zu vermuten und deine Lehrerin hat das Richtige getan, dich sofort in Gewahrsam zu nehmen und zum Jugendamt zu bringen. Was ich mache, ist falsch. Es ist verboten und moralisch sehr fragwürdig. Ich denke ja selbst, dass es besser wäre, wenn das hier ...“ Er brach ab und machte eine lose Handbewegung zwischen Harry und sich. „Aber ich will dich nicht aufgeben. Bis du nicht selber sagst, dass du das hier nicht mehr willst, werde ich weiter machen. Und das beinhaltet Leute anzulügen, in die Irre zu leiten und zu bedrohen.“ „Ich … will nicht, dass du für mich Dinge tust, für die du dich selbst nicht mehr mögen kannst“ Harry ließ den Kopf hängen. „Ich habe mein Leben lang Schlimmeres getan. Ein paar Lügen mehr machen mir auch nichts mehr aus“ Was fraglos wahr war. Wenn er daran dachte, wie er durch Gerüchte seine Mitstudenten ausgestochen hatte, um heute da zu sein, wo er war … es war nicht so als könnte er wirklich mit Stolz auf sein Leben zurück blicken. Er schien kein Händchen dafür zu haben, das Richtige zu tun. „Wie hat Charlie denn irgendetwas heraus gefunden?“ Harry beobachtete ihn aufmerksam, doch Severus ließ seinen Blick natürlich auf der Straße ruhen. „Vermutlich meine übermäßig eifersüchtige Reaktion, als ich dich in seinem Arm liegend fand“ Oder etwas anderes. Vielleicht auch nur Rache. Er würde es heraus finden und Charlie die Hölle heiß machen. Keiner kam ungestraft mit solchen Aktionen davon, egal, wie gerechtfertigt sie objektiv gesehen waren. „Ich werde dem nachgehen. Mach dir keine Gedanken darüber.“ „Du wirst ihm aber nicht weh tun, oder?“ Die Frage kam vorsichtig, leise. „Ich werde ihn nicht schlagen oder dergleichen“ Höchstens bedrohen. Höchstens seine Geheimnisse und tiefen Verletzungen hervor kramen, um ihn genug zu verletzen, dass er es nicht mehr wagen würde, ein Wort gegen sie zu erheben. Charlie würde bluten für diese Sache, aber nur mental. Er musste ihn nur einschüchtern, nicht vernichten. „Und ich gehe ganz normal weiter zur Schule?“ „Ja, natürlich“ Severus entspannte sich etwas im Sitz. „Muss ich irgendetwas anders machen?“ „Es wäre gut, wenn du mich in der Öffentlichkeit nicht küsst oder umarmst“ Er überdachte, wie auffällig das wirken könnte auf jemanden, der sie zuvor gesehen hatte. „Sagen wir, du kannst mich zum Dank umarmen. Aber nicht einfach so. Man hält hier sehr viel Abstand.“ „Zu viel“, murmelte Harry. „Zuhause darfst du mich umarmen und küssen.“ „Muss man sich hier immer verstecken? Auch als Mann und Frau?“ In Harrys Stimme lag ungläubiges Interesse. „Es ist nicht verstecken, das ist … Privatsphäre. Man zeigt die Gefühle füreinander nur einander, nicht für jeden sichtbar.“ „Warum?“ Severus seufzte nur. Ja, warum … weil man es halt so machte in England. Junge Paare zeigten ihre Gefühle manchmal öffentlich und Mütter drückten Gefühle für Kinder aus, aber sonst war man halt privat. In Thailand war man etwas weniger reserviert, auch wenn man in den höheren Kreise viel durch das Lächeln überspielte und teils noch reservierter war als in England. Aber Harry kam nicht aus den höheren Kreisen Thailands, er war ein Bauernkind. „Wenn ich achtzehn bin, darf ich dich dann umarmen und küssen? Auch vor der Tür?“ „Besser nicht“ Severus fühlte den Beginn einer Migräne. „Wir sind beide männlich und da ist der Altersunterschied … die Menschen würden lästern. Beziehungen werden hinter geschlossener Tür geführt.“ „Aber Chos Freund hat sie geküsst. Sie küssen sich jedes mal, wenn er sie vom Kurs abholt“, argumentierte Harry. „Die sind ja auch Kinder“ Und wie falsch sich das anhörte … „Du kannst so etwas machen. Aber ich nicht. Ich bin zu alt, als dass man mir verzeihen würde, auf offener Straße Intimitäten auszutauschen.“ „Man darf als Erwachsener nicht zeigen, dass man jemanden mag?“ Mittlerweile war Harrys Stimme von Verwirrung durchzogen. „Ihr habt komische Sitten.“ „Mit dem Alter wird alles subtiler“ Während er das sagte, merkte er, welch einen Sinn das machte. „Mit drei haust du jemandem auf die Nase, wenn er dir dein Spielzeug wegnimmt. Mit dreizehn schreist du rum und erzählst allen, wie schlimm der andere ist. Mit dreiundzwanzig erzählst du ein paar böse Gerüchte und mit dreiunddreißig bist du weit genug, dass du ungewollte Menschen einfach ignorierst und dich nur im Stillen beschwerst. Aber ebenso werden auch die Bekundungen von positiven Gefühlen mit dem Alter kleiner. In meinem Alter ist ein Lächeln oder ein Nicken so viel wie eine Liebeserklärung auf den Knien in deinem wäre.“ „Huh … das macht Sinn“ Harry kratzte sich am Kopf. „Aber heißt das, dass man als alter Mann gar keine Gefühlsäußerungen mehr hat?“ „Nein … man ist höflich und geduldig und ist nicht so schnell beleidigt, wenn jemand sich dumm anstellt“ Vor allem wurde man nicht aggressiv und bekam paranoide Ängste. Er hatte noch einiges zu lernen. Harry machte ein zustimmendes Geräusch und schwieg für einige Sekunden, bevor er fragte: „Können wir uns zuhause wieder auf die Couch legen? Es war schön in deinen Armen.“ „Die Polsterung ist schlecht für meinen Rücken“, erwiderte Severus nur. „Wir können auch das Bett nehmen“ Severus hielt sein Seufzen zurück. Teenager … gab man ihnen einen Finger, nahmen sie die ganze Hand. „Es ist hinter mehreren geschlossenen Türen, weißt du?“ Severus schüttelte lächelnd den Kopf. Ja, das Bett war hinter mehreren Türen – und leider auch sehr verführerisch für andere Dinge, die geschlossene Türen verdecken konnten. „Ich könnte dich da auch viel besser massieren.“ Wie sollten sie es jemals schaffen, zwei Jahre durchzuhalten? „Wie lief Ihr Termin gestern?“, fragte Lydia beim Servieren des zweiten Kaffees. Er hob seinen Blick. Sein Termin … warum wollte sie stets so viel über sein Privatleben wissen? Teilte sie ihre Erkenntnisse mit ihren Kolleginnen? Hatte sie sich vielleicht mit Kalebirth ausgetauscht? Von allen Personen in England war er aktuell der einzige, der die Geschichte widerlegen oder zumindest starke Zweifel wecken könnte. Er hatte ihn sicherlich genug eingeschüchtert, aber wenn Lydia und Kalebirth sich einmal ernsthaft unterhalten würden … er sollte so bald wie möglich dafür sorgen, dass man Kalebirth feuerte. Lydia wollte er nicht weggeben, sie war nützlich. „Für alle Parteien zufriedenstellend“, antwortete er ihr. „Das freut mich“ Sie nickte. „Der Mitarbeiter klang sehr alarmiert. Er wollte mich ausfragen, was für ein Mensch Sie sind. Ich habe Ihm gesagt, dass Sie ein guter Chef sind und ich keinen Grund zur Klage habe“ Oho … das kam überraschend. Sie hätte ihm die Sache gestern fraglos komplizierter machen können mit einer anderen Antwort. „Außerdem fragte er, ob ich Ihren Sohn kenne. Ich erwiderte, dass er ein angenehmer junger Mann mit guten Manieren sei und ein paar mal hier war und seine Hausaufgaben machte.“ „Das wird den Herrn sicherlich beruhigt haben“ Er erwiderte ihren fragenden Blick mit völliger Ruhe. Er würde der implizierten Frage nicht nachgeben. Sein Privatleben hatte sie nichts anzugehen. Auch wenn ihre Unterstützung sicherlich hilfreich war. „Und warum war er beunruhigt?“ Sie drehte sich zu ihm und verschränkte die Arme. Schien als würde sie nicht ohne Antwort gehen wollen. Sollte er lügen? Sollte er die Wahrheit sagen? Sollte er eine Halbwahrheit formulieren? Das größte Problem eines notorischen Lügners war stets, wenn er so viele Lügen hatte, dass manche sich widersprachen und im Zwiegespräch aufgedeckt wurden. Darum sollte man so oft wie möglich die Wahrheit sagen. „Harry hat im Unterricht gesagt, dass er in meinem Bett schlafen will und gern von mir geküsst wird. Ein unglückliches Sprachproblem. Er wollte eigentlich sagen, dass er Alpträume hat und es ihn beruhigt, wenn ich ihn in den Arm nehme. Die Lehrerin hat aus seinen Worten einen sexuellen Missbrauch gemacht und ist besorgt zum Jugendamt gegangen. Und da dort natürlich keiner Thai sprach, hat sich das Missverständnis fortgesetzt.“ „Ach du meine Güte“ Lydia hob eine Hand vor ihren Mund. „Das muss unangenehm gewesen sein. Die Lehrerin spricht doch Thai, dachte ich? Hätte sie das mit ein paar Nachfragen nicht schnell klären können?“ „Die zwei haben wohl erstaunlichst aneinander vorbei geredet“ Severus schüttelte den Kopf. „Harry ist ein schlaues Kind, aber bisweilen ein bisschen naiv.“ „Und Sie konnten das gestern restlos klären?“ In ihrer Stimme lag Mitgefühl. „Ich hoffe“ Er schnaubte. „Falls Sie Hassanrufe über Ihren grausamen, pädophilen Chef bekommen, ist es wohl nicht geklärt.“ „Na ja, Harry ist ja nun auch kein kleines Kind mehr. Pädophilie wäre übertrieben“ Sie nickte ihm zu und wandte sich ab. „Ich werde alle komischen Anrufer abwehren.“ Ein Lächeln legte sich auf Severus Lippen. Und er war heilfroh, dass sie es nicht sehen konnte. Es hätte sie möglicherweise verstört. Kapitel 15: Eine explosive Gruppe --------------------------------- Draco grüßte ihn nicht, als er eintrat, allerdings setzte er sich auf Igors Platz links von Severus. Eine fraglos gute Wahl, um genug Abstand von Sirius zu schaffen, wenn dieser überhaupt auftauchen durfte. Severus wäre es ganz recht, wenn er fehlen würde. Er wollte sich diesen Abend auf Charlie konzentrieren, nicht auf hitzköpfige Streithähne. Leider traf nach James und Igor auch alsbald Sirius ein, der kurz stockte, als er Igor auf Bartys Platz sah, sich dann aber auch setzte. Sein Blick zuckte nur kurz zu Draco, um zu sehen, ob er wirklich da war, sonst starrte er geradeaus. Barty erschien wie immer nur Sekunden vor Beginn. Er stockte ebenso wie Sirius, bevor er seine Stimme erhob: „Das ist mein Platz!“ „Stress nicht, Junge“, erwiderte Igor nur. „Aber das ist mein Platz“, meinte Barty nur und schritt in den Raum. Seine Zunge zuckte hervor und leckte über seine Oberlippe. „Ich brauche keine Schlägerei“ Igor erhob sich und setzte sich neben Sirius. „Ihr beginnt echt wegen einer Menge Blödsinn Streit“ Dabei sah er zwischen Barty und Sirius hin und her. Severus beneidete ihn nicht um den Sitzplatz zwischen den beiden. Barty war ein ziemlich zwanghafter Charakter mit wenig Sozialkompetenz und Sirius schien einfach eine Menge innerer Aggression zu haben, wegen der er immer wieder Streit suchte. Severus war nur froh, dass er nicht der einzige zumindest ansatzweise ausgeglichene Charakter war. Auch Charlie stockte beim Eintreten. Severus sah es nur im Augenwinkel, da er sich zwang, nicht zu ihm zu sehen. Er sah ihn erst an, als er vorne stand und alle begrüßte. Er erwähnte es sogar positiv, dass es eine neue Sitzordnung gab. Severus registrierte die Einführung der Stunde nur mit seiner halben Aufmerksamkeit. Die andere konzentrierte sich vollkommen darauf, was für Signale Charlies Körper gab. Er hatte anscheinend nicht erwartet, dass Severus auftauchen würde. Er sprach größtenteils zur linken Seite der Gruppe, um seinem Blick auszuweichen. Beides sprach für ein schlechtes Gewissen oder aber Angst. Möglicherweise auch eine Mischung von beidem. Das brachte Severus zum Lächeln. Leute fertig zu machen, die glaubten, sie seien im Recht, war eine Sache. Leute, die sowieso wussten, dass sie Mist gemacht hatten, das war noch eine viel angenehmere Sache. „Es wurde ja schonmal angesprochen, dass viele zu Gewalt neigende Männer sich ihren Freundinnen und auch allgemein Frauen gegenüber sehr kontrollierend verhalten. Deswegen würde ich gern erstmal mit einer Sammlung beginnen, was jeder hier mal gesehen hat und von dem er wusste, dass das Verhalten der Frau gegenüber nicht okay war oder nicht sicher war, ob das Verhalten okay ist.“ Charlie griff den Handtrainer, den sie seit zwei Sitzungen nicht mehr benutzt hatten und reichte ihn an Barty. Der nahm ihn zwar, aber starrte ihn nur an. „Barty?“ Der Junge sah bei Charlies Worten auf. „Nenn mir ein Verhalten, das man Frauen gegenüber nicht zeigen darf.“ „Ähm“ Dieser sah wieder auf den Handtrainer. „Sie schlagen?“ „Gut“ Charlie schrieb das auf ihre Tafel. „Und weitergeben.“ „Ihr verbieten, das Haus zu verlassen oder ihre Freundinnen zu treffen oder ihre Familie zu besuchen oder was auch immer ihr wichtig ist“ Igor drehte den Handtrainer in seiner Hand, bevor er ihn weiter reichte. „Wie viele Freundinnen hast du mit sowas schon verloren?“, stichelte Sirius, doch Igor ignorierte ihn vollkommen. Severus applaudierte ihm innerlich, da er das wenige Wochen vorher bestimmt nicht geschafft hätte. Anscheinend funktionierte dieser Kurs wirklich bei einigen. „Sirius, konstruktive Beiträge. Hör auf, Streit zu suchen“, ermahnte Charlie ihn. „Mann, Langweiler“ Sirius drückte den Trainer. „Vergewaltigen.“ „Sie in der Öffentlichkeit anschreien und beleidigen“ James gab an Severus weiter. „Sie fälschlich anzeigen, weil man sauer und enttäuscht ist.“ Charlies Hand zitterte, als er das aufschrieb. Weder sah er zu Severus noch gab er irgendeinen Kommentar. Severus war sich allerdings nicht ganz sicher, ob da ein verdächtiges Schimmern in seinen Augen war. „Sie … schwängern. Gegen ihren Willen“, sagte Draco und reichte den Handtrainer an Charlie. „Das war jetzt eine Runde grundlegender Dinge“ Charlie gab den Handtrainer wieder an Barty. „Zweite Runde, euch fällt noch mehr ein.“ „Ich weiß nichts mehr“, sagte Barty nach einigen Momenten. „Wir haben ja vier Gewaltbereiche. Sexuell haben wir die schlimmsten, körperlich haben wir einige wichtige, wir haben noch die Bereiche verbal und emotional. Fällt dir da was ein?“, fragte Charlie. „Beleidigen hatten wir schon“ Barty sah die Tafel an. „Sie bedrohen?“ „Sie einschüchtern.“ „Sie anfassen, ohne dass sie einen Wisch unterschrieben haben, dass man 's darf“ Sirius hob die Hände. „Schließlich ist Sex eine genau geplante, vorher klar verhandelte Angelegenheit.“ „Das stört mich auch“, stimmte James ihm zu und betrachtete den Handtrainer, „Ähm, noch was … sie blamieren und enttäuschen. Also, das kann man schon machen, aber das ist eine ziemlich doofe Idee. Man sollte es vermeiden.“ „Gerüchte und Lügen über sie verbreiten“ Diesmal zog Charlie sich sogar kurz zusammen, bevor er durch atmete und es einfach anschrieb. Es ließ Severus lächeln. „Sie von ihren Kindern trennen“ Draco gab den Handtrainer wieder an Charlie. Diesmal blieb Severus Blick allerdings auf Draco. Er konnte sich ja denken, was Lucius mit ihm machte, aber bisher hatte er gar nicht darüber nachgedacht, dass dazu ja auch noch eine Frau und Mutter gehörte. Was stellte Lucius wohl mit dieser an? Das, was Draco gerade angedeutet hatte? Sie gegen ihren Willen zu schwängern und ihr dann das Kind wegzunehmen? „Stimmen so weit eigentlich alle zu?“, fragte Charlie in die Runde und legte den Handtrainer weg. „Ich hatte mal eine, die wollte unbedingt geschlagen werden. Sie meinte, sie wird nicht erregt, wenn man sie nicht schlägt“ Sirius kratzte sich am Hinterkopf. „Die war mir zu komisch, die hab' ich stehen gelassen.“ „Klingt nach einer guten Idee“ Charlies Stirn hatte sich in Falten gelegt. „Sonst noch Einwände?“ Es kam kein weiterer. „Gut, machen wir die Liste noch vollständig. Man fasst Frauen nicht an, wenn sie das nicht wollen. Man fügt ihnen keine körperlichen Schmerzen zu und man hält sie nicht fest, wenn sie das nicht wollen. Sexuell und körperlich sind die „Darf-man“ und „Darf-man-nicht“ meist recht klar. Bei verbaler und emotionaler Gewalt fehlen noch ein paar Punkte. Zum Beispiel durchsucht man nicht ihre Sachen, liest ihre Post, durchsucht ihr Handy oder ihren Computer oder sonstige privaten Daten. Man misstraut ihr nicht prinzipiell, das heißt, man fragt nicht nach jeder Feier, ob da andere Männer waren, über was sie mit denen geredet hat, ob einer sie angeguckt hat und so weiter und so fort. Ich bin sehr froh, dass der Punkt bereits kam, dass man ihr zum Beispiel keine Treffen mit Freundinnen verbietet. Man redet ihr auch ihre Familie und Freundinnen nicht schlecht. Man beleidigt nicht ihre Interessen und Hobbys. Man belügt sie nicht und man betrügt sie nicht. Betrügen heißt dabei mal nicht, dass man mit irgendeiner anderen Frau schläft. Betrügen heißt, etwas zu tun, wovon sie fest ausgeht, das man es nicht tut. Das kann auch das Schlagen der Kinder oder das Anschwärzen bei Freunden oder das geheime Verspielen des kompletten Geldes sein.“ Severus schickte in seinem Kopf ein Stoßgebet Richtung Himmel und dankte seiner Mutter. Plötzlich wirkte sein Verhalten in Beziehungen erstaunlich harmlos. Was machten andere Kerle denn bitte? Natürlich, sein Vater hatte schier alles falsch gemacht, aber seine Mutter hatte ihm währenddessen vorgebetet, was richtig wäre. Er hatte es zwar nie wirklich gesehen, aber er wusste zumindest in Theorie, was er tun sollte. Er hatte bei Harry nicht einmal das Gefühl, dass er sich allzu schlecht anstellte. „Ansonsten verbietet man ihr nicht zu arbeiten und ihre Ziele zu verfolgen. Man lästert nicht über sie, lässt sich lang und breit über ihre Fehler und Macken aus und man erzählt ihre Geheimnisse nicht weiter. Man bricht keine Versprechen. Man unterlässt die sexistischen Kommentare wie „Frauen an den Herd“ und „Ein guter Boden wird mit Zahnbürsten geputzt“ und was auch immer ihr sonst gelernt hat.“ „Ja, ja, wir haben unser Benimm gelernt“ Sirius verdrehte die Augen. „Das Problem ist doch, dass man entweder ihr nur Komplimente macht und alle Wünsche erfüllt oder dargestellt wird als sei man das letzte Arschloch. Du musst nach ihrer Pfeife tanzen, aber wehe, du hast eigene Wünsche.“ „Das Benimm gilt auch anders herum. Auch Frauen sollten ihre Männer so behandeln“ Charlie legte seinen Stift weg und griff stattdessen nach ein paar Blättern, die er durchgehen ließ. Es war eine vollständige Liste der Verhaltensweisen. „Das Problem liegt meist woanders. Denn all dieses Benimm setzt voraus, dass man weiß, was für eine Frau okay ist, was sie will und was sie wünscht.“ Hm … er wusste, was seine Mutter wollte. Er hatte das automatisch auf Harry übertragen. Aber war das richtig? Wollte Harry vielleicht etwas vollkommen anderes? Hatte er ihn überhaupt mal gefragt, wie er gern behandelt werden würde? Sie hatten große kulturelle Unterschiede, es konnte sein, dass Harry ganz andere Vorstellungen hatte. „Und ob sie sagt, was sie will oder ob man das irgendwie erraten soll“ Sirius schien zu diesem Thema so einiges zu sagen zu haben. „Und ob sie das, was sie sagt, überhaupt meint.“ „Das gilt auch anders herum. Hat einer von euch seiner Freundin mal erzählt, wie er behandelt werden will?“, fragte Charlie in die Runde. Severus hob die Augenbrauen. Nun, er hatte Charlie ziemlich klar gesagt, was er wollte und dachte. Es war nicht so als wäre das beachtet worden. Harry allerdings wusste kaum, was er wollte. Wenn er ganz ehrlich war, wusste er ja selbst nicht einmal, was er wollte … was Beziehungen anging, war er kaum erfahrener als Harry. Er wusste allerhöchstens ein paar Dinge mehr, die er nicht wollte. Lucius sexueller Missbrauch zum Beispiel gehörte ganz klar dazu. Das Schweigen seiner Exfrau, der er völlig egal schien. Die Gewalt seines Vaters und die paralysierende Angst seiner Mutter, nichts davon wollte er in einer Beziehung. Aber was stattdessen … das war schwer zu definieren. „Oder hat einer schonmal seine Freundin gefragt, wie sie behandelt werden will?“ Das stieß ebenso auf Schweigen. „Ich mache auch Kurse für Sexualstraftäter. Leute, die Frauen mehrfach sexuell bedrängt oder sogar vergewaltigt haben. Mit denen sprechen wir dieses Thema natürlich sehr genau durch. Was ich da immer wieder höre, sind Sätze wie „Jede Frau lutscht gern Schwänze“ oder „Frauen sagen nur so lange nein, bis sie deinen Schwanz spüren, dann genießen sie es“. Das entspricht natürlich überhaupt nicht der Wahrheit, aber solche Überzeugungen führen natürlich zu einem Verhalten, was ein Großteil der Frauen als zutiefst missbrauchend empfinden.“ „Und was wollen Frauen, Herr Frauenversteher?“, höhnte Sirius. „Das ist von Frau zu Frau unterschiedlich. Es gibt welche, die mögen ein bisschen Kontrolle, die mögen sogar ein bisschen Gewalt und es gibt welche, die hassen es, aber sagen nichts und es gibt auch welche, die sofort zurückschlagen“ Charlie sprach nur noch zu Sirius anstelle seiner gruppenoffenen Haltung zuvor, aber es schien Severus, dass er das auch zu mehreren hier sagen könnte. Bestimmt war es nicht nur Sirius, der einige eher ungewöhnliche Vorstellungen von den Ansprüchen einer Frau hatte. „Genau so, wie manche auf One-Night-Stands stehen und andere für Sex erst in der Ehe sind. Und manche mögen Oralsex und andere nicht, manche mögen Quickies, andere nur romantische Dinner. Jede Frau ist individuell.“ „Wenn ich jede Frau frage, was sie will, komme ich nie mit welchen ins Bett“ Sirius schnaubte. „Dafür endet man nicht immer wieder mit Klagen sexueller Nötigung am Hals“ Charlie verschränkte die Arme. Anscheinend konnte er Sirius Worte nicht mit voller Ruhe nehmen. Vermutlich hatte er ähnliches von seinen Ex gehört, zusammen mit einer Tracht Prügel. Severus rang es ein leises Seufzen ab. „Die erzählen Blödsinn. Sagen nix, haben Spaß und gehen danach zur Polizei, man hätte ihnen was angetan“ Sirius währenddessen legte seine Arme auf die Sitze neben sich und breitete die Beine aus. Wahrscheinlich merkte er es nicht bewusst, aber er schien zu merken, dass er die Oberhand gewann. „Selbst der Richter hat mir bestätigt, dass ich nichts falsch gemacht habe.“ „Dass eine Menge Leute, vor allem Männer, in unserer Gesellschaft meinen, dass Vergewaltigungsopfer Simulanten sind, die Aufmerksamkeit suchen, heißt nicht, dass das Verhalten der entsprechenden Männer okay ist“ Charlies Stimme blieb überzeugend, aber sein Körper zog sich langsam zusammen. „Es ist nicht immer leicht, das nein zu verstehen, das ist richtig. Aber eine einzige Nachfrage reicht aus. Und Schweigen ist dabei normalerweise ein Nein.“ „Fragst du wirklich jede Ische, ob du sie besteigen darfst? Kriegt man damit überhaupt welche ab?“ „Wenn ich nicht von Ische und besteigen rede, ja“ Charlie schnaubte und löste seine defensive Haltung wieder. „Man muss nur damit leben können, dass man glatt mal zu hören kriegt, dass man nicht der heißeste Kerl unter der Sonne ist.“ „Wenn sie so einen Mist-“ Sirius verstummte, als Charlies Finger sofort auf den Punkt „nicht bedrohen“ auf der Tafel hinter ihm schnellte. „In diesem Kurs werden Kerle zu Schmusis umgemogelt, oder?“ „Eher gibt dieser Kurs Leuten, die aufgrund ihres Gewaltpotentials Frauen dazu kriegen, schweigend unter ihnen zu liegen, die Chance, mal was angenehmeres zu erleben“ Charlies Ton war wieder fest und ausgeglichen. „Der Sex mit schweigenden Puppen wird den meisten irgendwann langweilig.“ Severus Lippen zuckten. Er verbat sich trotzdem zu lächeln. Charlie hatte wohl oft genug blöde Sprüche in diesen Kursen gehört, um einige Konter zu lernen. Severus war es nur ein Rätsel, wie er das absolut nicht im echten Leben einsetzen konnte. Wie konnte jemand all das hier predigen und nichts davon einsetzen? „Aber diese Frau-für's-Leben-Typen sind alle so hässlich“ Sirius Stimme war in ein Jammern übergegangen, womit er sich allerdings an James wandte. „Sind dir die Chicks, die wir aufreißen, wirklich zu langweilig?“ „Ziemlich“, gab James zu. „Na gut, die fünfhundertste Jungfrau muss echt nicht sein, aber erinnerst du dich an die heiße Rothaarige? Gibt eine Menge Frauen, die sich gern auf wilden, unkomplizierten Sex einlassen.“ „Gibt es schon, aber die sind auch nicht das Wahre. Die ersten paar, klar, aber das ist halt einfach nur Sex. Ich hätte gern mal was mit Gefühlen“ James klang so als würde er das nicht zum ersten mal erklären. Sirius sah ihm mit völligem Unverständnis an. Severus dachte mit einem inneren Seufzen an seine One-Night-Stands-Phase zurück. Ihm war es irgendwann zu doof geworden, nur aggressive Idioten, die ihn niederzwangen oder junge, naive Hüpfer abzukriegen. Prostituierte hatten ihm etwas Angenehmeres geboten, aber es war trotzdem zu leer gewesen. Das Bedürfnis, eine echte Beziehung mit Gefühlen zu führen, kannte er. Jetzt musste er es nur noch schaffen, so etwas aufzubauen und zu halten. „Was uns zum Ende der Stunde und der Hausaufgabe bringt: Jeder schreibt zusammen, was er haben will – und ja, das können auch One-Night-Stands für den Rest des Lebens sein. Und wer fleißig ist, der schreibt auch zusammen, was seine Partnerin will.“ Oh lieber Himmel … ja, er würde auch Harry fragen. Was sollte er schon sonst tun? Vielleicht ihn direkt fragen, es aufzuschreiben. Dann könnte er es sich neben dem Zettel über Benimm an seine Tür kleben und jeden Morgen daran denken, dass er seinen Freund nur behalten würde, solange er sich ordentlich benahm. Sie machten noch ein Abschlussrunde, bevor sie die Gruppe für diesen Abend auflösten. Severus erhob sich und nahm seinen Mantel, bevor er sich erinnerte, dass er vor allem gekommen war, um Charlie wegen der Sache mit Harry fertig zu machen. Er sah ihm über die Schulter hinweg zu, wie er die Tafel sauber machte. Wollte er ihn fertig machen? Würde es irgendeinen Sinn machen? Severus suchte die Wut in sich, aber irgendwie war sie verschwunden. War er nicht vorhin noch ziemlich wütend gewesen? Der Gedanke, Charlie jetzt Schmerzen zuzufügen, schmeckte schal und rief eher Ekel als Freude hervor. Aber konnte er die ganze Sache wortlos stehen lassen? Er entschied sich an der Tür zu warten. Die anderen warfen ihm nur einen kurzen Blick zu, sahen zu Charlie und dachten sich wohl ihren Teil. Sagen tat keiner etwas. Nur Draco blieb kurz vor ihm stehen. In seinen Augen lag eine tiefe Traurigkeit, Müdigkeit, aber auch Ruhe. Severus nickte ihm zu und ließ ihn gehen. Er war sich nicht sicher, ob er den Jungen wieder sehen würde, aber es war Dracos Entscheidung, ob er leben wollte oder nicht. Da würde er sich nicht einmischen. Charlie wischte die Tafel sehr gründlich, aber gab schließlich mit einem Seufzen auf, als er merkte, dass es Severus nicht dazu brachte zu gehen. Einen Moment lang starrte er verloren den Boden an, bevor er vorsichtig zu Severus hinüber schielte. Aus dem vorsichtigen Blick wurde eine Musterung. Die Schultern etwas nach vorn gezogen, die Arme verschränkt und leicht gebeugt – als hätte man ihm bereits einen Schlag in die Magengrube verpasst – kam er heran. Er blieb mit einem Sicherheitsabstand von zwei Metern vor Severus stehen und hob seinen Blick bis zu dessen Brust. Er schien es nicht zu wagen, ihm in die Augen zu sehen. „Warum?“, fragte Severus einfach nur. Charlie zuckte zusammen als wäre es ein Schrei gewesen. Severus hielt sein Schweigen aufrecht, bis sein Gegenüber die Lider schloss und flüsterte: „Es wäre leichter, wenn du wütend und nicht enttäuscht wärest.“ „Weil es dein schlechtes Gewissen lindern würde?“ Severus hob eine Augenbraue. „Du musst mich entschuldigen, ich bin Sadist.“ Charlie nahm einen tiefen Atemzug und seufzte. Er blickte auf, diesmal sogar in Severus Augen und gestand: „Weil ich enttäuscht und sauer war, genau wie du sagst. Es tut mir Leid. Das war die hinterhältigste, bösartigste, bescheuertste … es tut mir Leid.“ „Harry ist bei seinen Verwandten in einem kleinen Dorf in einer Provinz Thailands groß geworden“, erzählte Severus ruhig, „sie haben ihn wie einen Sklaven gehalten. Sie haben ihn geschlagen und vielleicht auch missbraucht. Mit fünfzehn haben sie ihn an ein Bordell verkauft. Ich war der erste Mensch, der nett zu ihm war, der ihn fragte, was er will und der ihn da raus geholt hat. Er hat absolut alles aufgegeben und ist mir auf gut Glück in dieses Land gefolgt, ohne genau zu wissen, was hier passieren würde. Er war sogar in dem festen Glauben, dass ich ihn sexuell missbrauchen würde, weil er in seinem Leben gelernt hat, dass das der einzige Wert ist, den er hat.“ Er sah Charlie schlucken. Seine Augen schimmerten vor Tränen. „Hier hat er Freunde gefunden und in deiner Familie einen Ort, wo er sich geborgen fühlt. Er hat gelernt, dass man gemocht werden kann, ohne seinen Körper verkaufen zu müssen“ Severus hielt seine Stimme vollkommen ruhig, aber er merkte, wie die Wut langsam wieder hoch kam. „Und du hast deine Familie gegen mich aufgehetzt. Deine Schwägerin hat Harry ins Jugendamt gezerrt und mich da angezeigt, ich würde den Jungen missbrauchen. Harry hat nicht in geringsten verstanden, um was es geht. Er war völlig verstört, als ich dort auftauchte. Jetzt hat er Angst davor, mich zu umarmen oder meine Hand zu halten, weil er nicht weiß, ob er mich damit nicht in Schwierigkeiten bringt. Du hast ihm mit deiner Aktion beigebracht, dass er Angst davor haben muss, seine Zuneigung zu zeigen.“ Tränen liefen Charlies Wangen hinab. Er schluchzte nicht, aber er stand auch nicht gerade fest. Es wirkte eher als würden ihm jeden Moment die Beine wegbrechen. Er atmete durch den Mund, immer schneller und flacher. „Ich war mordssauer. Ich bin immer noch sauer. Ich weiß, dass du nicht im geringsten darüber nachgedacht hast, was du anrichtest, aber das heißt nicht, dass ich dir vergeben kann. Das einzige Zugeständnis, dass ich dir gerade machen kann, ist, dich nicht völlig auseinander zu nehmen“ Severus zog seinen Mantel an und wandte sich zum Gehen. „Die Entschuldigung schuldest du nicht nur mir.“ Er ließ den fassungslos weinenden Charlie stehen und verließ das Zentrum. Es ließ ihn zwar nicht mit Genugtuung zurück, aber zumindest mit dem Gefühl, das Richtige getan zu haben. Und er hatte das dringende Bedürfnis, Harry zu umarmen. Severus liefen die Worte, die er gesagt hatte, auf dem Weg nach Hause durch den Kopf. Natürlich hatte er auf eine gewisse Weise maßlos übertrieben. So verängstigt war Harry nicht gewesen und diese Sache war auch nicht das einzige, was Harry davon abbringen würde, ihm irgendwelche Zuneigung zu zeigen. Aber man konnte auch nicht von der Hand weisen, dass es wahrscheinlich eine prägende Erfahrung gewesen war. Er würde nie in der Öffentlichkeit Harrys Hand halten. Er würde ihm nie auch nur den Arm anbieten können. Hätte man ihn vor wenigen Wochen gefragt, er hätte wahrscheinlich vehement abgestritten, dass er das in einer Beziehung auch nur wollen könnte. Aber wenn er jetzt darüber nachdachte … er könnte Harry nie ordentlich ausführen. Selbst ins Kino zu gehen, wäre auffällig. In vielen Dingen konnten sie als Vater und Sohn durchgehen, aber sie würden stets Abstand wahren müssen. Außer natürlich, er entschied sich, dass ihm die Meinung Unbekannter egal war. Severus seufzte und lehnte sich im Fahrersitz zurück. Er war bereits angekommen, aber ihm war nicht nach Aussteigen. Er wollte das hier zu Ende denken, bevor er wieder auf Harry traf. Gerade wäre es gesetzlich problematisch, wenn sie diese Beziehung offen führen würden, das stand außer Frage. Aber was, wenn Harry achtzehn war? So langsam schien ihm die Möglichkeit, dass sie dann noch zusammen waren, glatt realistisch. Wollte er das mit Harry auf immer und ewig verschweigen? Was wäre, wenn nicht? Er könnte seinen Job verlieren. Er würde wahrscheinlich seine Sekretärin verlieren. Aber er hatte weder Familie noch Freunde zu verlieren und rausschmeißen konnte man ihn auch nicht aus seinem eigenen Haus. Er lebte relativ sicher. Und als Jurist würde er stets irgendwo Arbeit finden. Nicht so gut bezahlt wie jetzt, aber er hatte keine Angst um seine Altersvorsorge. Er hatte schließlich fast die letzten zwanzig Jahre nur mit Geldverdienen verbracht. Er könnte es sich leisten, eine öffentliche Beziehung zu führen. Aber würde ihn das glücklich machen? Wollte er eine öffentliche Beziehung? Er erinnerte sich an manche homosexuelle Paare im Studium. Sie waren beschimpft, bespuckt und teilweise zusammen geschlagen worden. Wenn er allein an die Worte seines Vaters dachte … ganz zu schweigen davon, dass er ein alter, hässlicher Kauz mit einer thailändischen Schönheit am Arm wäre. Er konnte sich doch ausrechnen, was das für Kommentare geben würde. Er wäre exakt das, wofür er auf andere herabsah. Aber war er nicht unfair Harry gegenüber? Trotz dieser Sache am Montag war Harrys Frage abends gewesen, ob sie nicht wenigstens öffentlich zusammen sein könnten, wenn er achtzehn war. War es richtig gewesen, ihm kategorisch nein zu sagen? War das Harry nicht ein wichtiges Anliegen? Wäre es so schlimm, ihm diesen Wunsch zu erfüllen? Severus schüttelte den Kopf und stieg aus. Er hatte noch zwei Jahre, sich das zu überlegen. Er sollte es wohl im Hinterkopf behalten, aber erst einmal war ja noch nicht einmal klar, ob sie dann überhaupt noch zusammen wären. Es blieb zu sehen, was die Zeit bringen würde. Kurz, bevor er die Tür erreichte, wurde sie ihm auch schon geöffnet. Harry hob vorsichtig die Mundwinkel und musterte ihn kurz, bevor er lächelte. Severus lächelte zurück und umarmte den anderen, direkt nachdem er die Tür geschlossen hatte. Harry schmiegte sich sofort an ihn. Wollte er ihn auch so begrüßen, wenn er ihn vom Zug abholte? Oder von der Uni? Wollte er das Recht, einen Kuss zu stehlen, egal wann? Er hob Harrys Kinn und tat exakt dies. Wollte er sich darauf beschränken, das nur hinter geschlossener Tür zu tun? „Keine Migräne nach der Gruppe?“, fragte Harry. „Nein, alles gut“ Ehrlich gesagt war sie nicht einmal unangenehm gewesen, er hatte sich schon fast amüsiert. „Ich habe allerdings Hausaufgaben aufbekommen.“ „Ein Aufsatz?“ Harry ließ ihn seine Sachen ablegen. „Ist das etwas, wo ich helfen kann?“ „Ich brauche dich sogar dafür“ Severus zog das Blatt mit den Benimmregeln aus seinem Jackett, doch griff es wieder, nachdem er jenes abgelegt hatte. „Ich habe hier einen Zettel mit Grundregeln für Beziehungen. Wir sollen eine Liste schreiben, was wir sonst noch in unserer Beziehung wollen.“ „Steht da drauf, dass wir uns oft küssen sollen?“ Harry griff die Liste und faltete sie auf. „Oh, englisch. Partner nicht … was heißt das?“ „Schlagen“, erwiderte Severus mit einem Blick über Harrys Schulter, „wollen wir erstmal essen? Die Liste können wir später machen.“ „Okay“ Harry faltete sie wieder zusammen. „Kannst du sie mir übersetzen?“ „Wir übersetzen sie zusammen“ Severus folgte ihm in die Küche. „Was gibt es zum Abendessen?“ Harry fand die Liste zutiefst spannend. Zu fast allen Punkten hatte er irgendwelche Ehepaare in seinem Dorf gesehen, wo das Verhalten normal war und war eher verwirrt zu hören, dass so etwas nicht in Ordnung war. Er schien aus einer Welt zu kommen, wo das Schlagen von Kindern und Ehepartnern völlig normal war und man erst die Nase rümpfte, wenn sie so weit verprügelt waren, dass sie ihren täglichen Pflichten nicht mehr nachgehen konnten. Severus begann zu verstehen, dass Harry die Ohrfeige wahrscheinlich wirklich kaum gestört hatte. Sie schien für ihn wie ein normaler Teil einer Unterhaltung. Er wagte es sogar irgendwann nachzufragen, was Harry eigentlich von seinem Leben in England erwartet hatte. Die Antwort hätte er mal kategorisch als eingesperrten Sex- und Putzsklaven zusammengefasst. Harry gab völlig frei zu, dass er noch nie so gut behandelt worden war wie von ihm. Er war zutiefst erstaunt über den Punkt, wo Severus ihm erklärte, dass er jederzeit nein zu sexuellen Tätigkeiten sagen konnte. Und er hatte trotzdem eine sexuelle Beziehung mit ihm anfangen wollen? In seinen Augen war der Junge nicht ganz richtig im Kopf, aber er begann zu verstehen, dass eine Menge schlechten Verhaltens für diesen völlige Normalität war. Der Gedanke, dass er sich nicht eine einzige Vorschrift machen lassen brauchte, außer er erfüllte sie Severus zuliebe, schien ihm vollkommen fremd. Dass er zur Schule, zu einer Uni und sogar arbeiten gehen dürfte, das ließ ihn mehrere Sekunden lang verwirrt blinzeln. Severus versuchte so gut wie möglich „Rechte“ aufzuzählen, die für ihn einfach komplett selbstverständlich waren. Harry wirkte eher als habe man ihm den Schlüssel zum Tor des Paradieses überreicht. „Also kann ich machen, was ich will und kriege von dir, was auch immer ich haben möchte?“ Harry grinste überwältigt. „Nun … in Maßen. Ich hätte ein Problem damit, wenn du kriminelle Taten begehst. Und ich habe auch nicht unendlich viel Geld. Es gibt schon Grenzen, aber die sind vermutlich nicht so eng wie du dein Leben lang gelernt hast.“ „Und wenn ich sage, ich möchte jetzt geküsst werden, küsst du mich dann?“ Harry legte den Zettel zur Seite und saß mit einer schnellen Seitwärtsdrehung in Severus Schoß, das Gesicht auf der perfekten Höhe und nur wenige Zentimeter entfernt. Severus erstickte das moralische Stimmchen in seinem Hinterkopf und lehnte sich vor. Harrys Lippen waren so schön weich. Und gleichzeitig waren sie so voll … wie die weichen Gelpads seiner Mausunterlage bei der Arbeit. Mittlerweile hatte Harry genug Übung, gleich den Kopf zur Seite zu legen. Nicht nur das, er schlang die Arme um Severus und zog sich näher. Wie eine kleine Klette. Nicht, dass das was Unangenehmes wäre. „Und ...“ Harry atmete tief durch. Er hatte das Küssen mit Atmen noch immer nicht so wirklich drauf. „Und wenn ich … wenn ich will, dass du mich anfasst … also, nicht da unten, das dürfen wir ja nicht, aber irgendwo anders … machst du das?“ Severus leckte sich unwillkürlich über die Lippen. In seinem Kopf zischte ein Stimmchen vor Freude, aber die Moral warnte ihn, dass das möglicherweise nicht die beste Idee war. Er fragte: „Wo?“ „Erm … weiß nicht … am Rücken?“ Harry griff Severus Hand und zog sie hinter sich. Im Endeffekt war es als würde er Harry mit einem Arm halten. „Das mochte ich.“ Severus festigte seinen Griff. Es war als würde er Harry einfach nur stützen … als würde er ihn halten, damit er nicht runter rutschte. So konnte er das zumindest vor seinem moralischen Stimmchen verteidigen. Das andere Stimmchen feuerte ihn an, dass er seine Hand auch unter Harrys Shirt legen könnte. Die leise züngelnden Flammen der Versuchung … Severus schüttelte innerlich den Kopf. Der Satz hatte auf „verbrannten einen trotzdem“ zu enden. Zwei Jahre. Das würde er ja wohl aushalten. Er hatte schon längere Episoden gehabt, wo er – meist aufgrund von Interesselosigkeit, aber was tat das zur Sache? – keinerlei Bettgeschichten gehabt hatte. Und bis dahin genoss er ein paar handvoll aufdringlichen Teenager. Wenige Menschen hatten ihn je anfassen wollen. Und die wollten entweder schnellen Sex oder Geld. Das hier war etwas anderes. Und auch wenn ihm die Sache um die Ohren fliegen würde, er hatte das Gefühl, es war die Erfahrung wert. Er hoffte nur, sein Gewissen würde ihm auch im Nachhinein noch zustimmen. „Guten Morgen, Chef“ Lydia grüßte ihn mit einem Lächeln – zum ersten Kaffee. Sie schien mutig zu werden. Oder sie kannte ihn mittlerweile einfach zu gut, schließlich hatte er heute auch nicht das Bedürfnis, sie dafür anzufahren. „Morgen, Lydia“ Er zog den Becher heran und atmete das Kaffeearoma ein. Er wusste gar nicht, was genau sie für Kaffee kaufte, aber es war stets derselbe und er war stets gut. Lydia blinzelte verwirrt, worauf er nur eine Augenbraue hob. Sie murmelte: „Ich glaube, Sie haben mich noch nie mit meinem Namen angesprochen, außer wenn sie irgendetwas wollten.“ „Das mag sein“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung. Es war ja nicht so als würde das eine monumentöse Neuerung sein. „Sie wirken ausgeglichener in den letzten Wochen. Ist diese Fortbildung, die Sie da machen, hilfreich?“ Sie sprach leise. Ein Zeichen, dass Sie unsicher war, wie seine Reaktion ausfallen würde, so viel hatte er gelernt. „Das dürfte eher ein multifaktorielles Geschehen sein“ Von dem sicherlich achtzig Prozent gerade in einem Sprachkurs ein paar Kilometer entfernt saß. „Warum fragen Sie?“ „Ich überlege, ob ich meinen Freund vielleicht überreden kann, da hin zu gehen“ Sie wandte den Blick ab. „Er ist … es ist nicht immer leicht mit ihm.“ „Wenn er bereit ist, dort hin zu gehen, ist das ein gutes Zeichen“ Er nahm einen Schluck Kaffee. „Wenn nicht, würde ich Ihnen empfehlen, sich von diesem Mann zu trennen. Kein Mensch sollte mit einem gewalttätigen Partner leben.“ „Er ist nicht-“ Sie stoppte sich selbst und seufzte. „Da haben Sie recht.“ „Ausreden für ihn zu finden, macht die Sache auch nicht besser. Nehmen Sie einen Rat von Ihrem sozial inkompetenten Chef an: Sie haben etwas Besseres verdient.“ Sie nickte langsam und wandte sich zum Gehen. Bevor die Tür ganz geschlossen war, hörte er ein Hauchen, das erst nach Schluss der Tür in seinem Kopf ein Wort ergab: „Danke.“ Kapitel 16: Eine Einigung ------------------------- Die Abende fanden ihn in Harrys Händen. Sei es, dass er massiert wurde, sei es, dass der Junge ihn in den unmöglichsten Momenten umarmte. Ebenso forderte er allerdings auch. Dass Severus lesen wollte, wurde nur damit quittiert, dass der Junge sich quer über seinen Schoß legte. Es war exakt zwei Tage euphorisierend – samstags schrie er ihn dafür an, sich im selben Raum aufzuhalten. Harry wagte sich erst sonntags morgens wieder aus seinem Zimmer, was Severus so sehr gut hieß wie es ihn Scham empfinden ließ. Es könnte der Grund sein, warum er statt Harry den Tisch gedeckt hatte. Harry schien die Entschuldigung zumindest so weit anzunehmen, dass er mit Severus aß. „Harry … das, was ich dir geben kann, ist begrenzt durch das, was ich kann“, brachte er nach einigen Minuten des Mutsammelns zusammen, „so viel Nähe … kann ich nicht.“ Harry sah weiter auf sein nur halb angekautes Brot, dass er nach einigen Bissen bereits abgelegt hatte. Zumindest hatte er ein paar der Würstchen gegessen, die Severus gebraten hatte. „Entschuldigung“, setzte dieser nach einigen Momenten nach. Harry stocherte lustlos auf seinem Teller herum. Severus seufzte tief. Nun, was erwartete er auch als Antwort? Harry würde ihn verlassen, wenn er jemand Besseren fand. Bis dahin hatte er wahrscheinlich noch, um sich irgendwie in den Griff zu kriegen. Er wusste nur absolut nicht, wie. „Kannst du mir vorher sagen, wenn ich dir auf die Nerven gehe?“, fragte Harry leise. „Ich kann es versuchen“, erwiderte Severus in aller Ehrlichkeit, „ich … merke das nur erst, wenn ich aggressiv werde.“ „Kannst du lernen, es früher zu merken?“ Diesmal sah Harry auf. „Ich mag es nicht, wenn du schreist.“ „Ich werde es versuchen“ Severus senkte seinen Blick. „Ich war noch nie mit jemandem zusammen, der … der gern in meiner Nähe war. Der mich anfassen oder angefasst werden wollte.“ „Warum warst du mit solchen Menschen zusammen?“ Harrys Stimme war von Verwirrung durchzogen. „Weil … weil sie mich manchmal trotzdem angefasst haben?“ Severus verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. „Vielleicht, weil ich es nicht besser wusste.“ „Du bist ein einsamer Mensch“ Harry betrachtete ihn. Zumindest schien seine Angst verflogen. „Warum willst du nicht angefasst werden, wenn du einsam bist?“ „Ich will-“ Severus stockte. Ja, was wollte er eigentlich? Wollte er nun angefasst werden? Wollte er nicht? „Ich weiß es nicht. Ich will es, aber es macht mich … ich weiß nicht, was das mit mir macht. Aber es macht mich garstig und böse.“ „Du bist kompliziert“ Diesmal war es an Harry zu seufzen. „Na ja … wir haben ja anscheinend Zeit.“ Hatten sie das? Wie lang würde Harry seine Macken mitmachen? Wie lang, bis Harry sich nach jemand anderem umsehen würde? Severus sagte sich selbst Stopp. Solche Gedanken würde ihm absolut gar nichts bringen. Es würde ihn nichts kosten zu versuchen, seine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und zu äußern, bevor er sie mit Gewalt ausdrückte. „Können wir das aufschreiben?“, fragte er etwas aus dem Nichts heraus, „was du willst … zum Beispiel, dass ich lernen soll, früh zu merken, wenn ich genervt werde. Und was ich noch lernen soll.“ „Okay“ Harry lächelte breit und sprang auf. „Ich hole Papier!“ Severus lehnte sich mit einem erleichterten Seufzen zurück. Er war vielleicht noch nicht ganz als Freund geeignet – aber zumindest hatte er das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein. Er konnte sich ändern. Für Harry konnte er sich ändern. Als Harry und er die Tür des Restaurants erreichten, sprang Harry dazwischen, bevor Severus sie öffnen konnte. Er hatte gerade noch genug Zeit die Augenbrauen zu heben, bevor Harry schon fragte: „Ich will das machen. Wie macht ein echter Gentleman das?“ „Du hältst die Tür auf und bittest die Dame hinein“ Harry öffnete die Tür und stellte sich hinein, wie er es Severus hatte machen sehen, aber sah fragend auf seine eigene Hand. „Die offene Hand in die Richtung, in der du sie wünscht“ Er korrigierte Harrys Handhaltung. „In deinem jugendlichen Alter kannst du ihr sogar die offene Hand hin halten, um sie daran hinein zu führen.“ „Wieso immer sie? Kann ich nicht für dich ein Gentleman sein?“ Nein. Severus atmete tief durch. Ruhiges Antworten. Er sprach: „Das wäre eine Beleidigung. Man kann ein Gentleman für jede Dame und jedes Kind sein, aber nicht für einen anderen Mann. Es gibt ein paar Gesten, wenn es der Chef ist oder der Vater oder der Schwiegervater, aber diese Gesten sind rein für Frauen. Wenn du das bei mir machst, ist das vorführend.“ „Oh … kannst du mir die Gesten zeigen, die man für einen Vater verwenden würde? Die wären okay, oder?“ „Meinetwegen“ Das wäre zumindest nicht beschämend. Auch wenn er sich damit sehr viel älter vorkam als er war. Andererseits könnte Harry sein Sohn sein, sie hatten dreiundzwanzig Jahre Altersunterschied. Severus musste bei dem Gedanken seufzen. Einige Erklärungen später erreichten sie den Tisch, wo Harry fragte, ob den Stuhl zurück zu ziehen eine erlaubte Geste für Väter war – natürlich nicht – und ob es eine alternative Geste gab. Außer den besten Stuhl anzubieten, fiel Severus allerdings nichts ein. Die bereits Anwesenden beobachteten sie mit einem geduldigen Lächeln. Hangs Mutter flötete aufgesetzt: „Ach, ist er nicht goldig?“ Severus war froh, diesmal nicht in ihrer Nähe zu sitzen. Hang schien das anders zu sehen. Er rutschte von seinem Stuhl – erneut zwischen seinen Eltern – und kam zu Harry hinüber. Dieser beugte sich bereits hinab und Hang schien etwas in sein Ohr zu flüstern. Anscheinend hatte er begonnen zu sprechen. „Dürfen wir spielen gehen?“, wandte sich Harry an ihn. „Wenn ihr das Restaurant nicht verlasst und die Angestellten nicht stört“ Severus nickte. „Okay“ Harry nahm Hang an der Hand und ging mit ihm in den Hauptraum des Lokals zurück. Severus sah sich kurz um. So hatte er sich das irgendwie nicht vorgestellt. War Harry nicht hier, um Englisch zu üben? Na ja. Die Professorin trat zu ihm herüber, begrüßte ihn mit einem Händedruck und sie wechselten einige Worte. Zwischen ihnen schien alles so weit wieder in Ordnung. Ginny starrte ihn unverhohlen an – anscheinend hatte die Geschichte in der ganzen Familie die Runde gemacht – doch sonst waren alle ins Gespräch vertieft. Hangs Vater, der Mann der Professorin und Herr Wethter schienen sich über Automobile zu unterhalten, während Hangs Mutter und Frau Wethter und sehr gebrochenem Englisch im Fall der Zweiten über Erziehung sprachen. Eher gesagt fragte Hangs Mutter die andere Dame über Erziehung in Thailand aus. Da hatte sie wenigstens mal die richtige Ansprechpartnerin gewählt. Severus fand sich also mit einem Platz Entfernung von der Gruppe etwas ab vom Geschehen wieder. Nicht, dass ihn das wirklich stören würde. Er hatte nur kein Buch zur Hand. Nun, es wäre auch ein schwerer sozialer Fauxpas gewesen, hier zu lesen. Sein Fehler darin, nicht aufzurücken, bemerkte er jedoch nur wenige Momente später, als die thailändische Damengruppe sich rings um ihn herum niederließ. Er konnte zwar erwirken, dass Harrys Platz frei blieb, aber es ließ ihn mit einer Schnattertasche zur rechten und zwei gegenüber zurück. Und obwohl Make-Up wohl ein endlos ergiebiges, aber prinzipiell nicht sehr spannendes Thema war, wandte sich die Aufmerksamkeit schnell ihm zu: „Und was machen Sie beruflich?“ „Ich bin Anwalt“ Einen Moment lang hatte er überlegt, Reinigungsfachkraft zu sagen. Irgendetwas, was die Schnattertaschen dazu bringen würde, ihn in Ruhe zu lassen. Vielleicht sollte er das nächste mal etwas richtig Schockierendes sagen … Aufseher im Maßregelvollzug zum Beispiel. „Oh, ein Anwalt!“ Weib eins klatschte in die Hände. „Ein guter Fang“, flüsterte die rechts von ihm als könne er sie nicht hören. „Sind Sie verheiratet?“, fragte die dritte im selben Moment. „Ja“ Er hob die Hand mit dem Ehering, den er trotz der Scheidung nie abgelegt hatte. Es war kein sentimentales Memorandum an seine Exfrau wie manche seiner hohleren Sekretärinnen vermutet hatten sondern eine strategische Abwehr für opportune Weiber. „Wie kommt es, dass Ihre Frau nicht hier ist?“ Tja, bei den meisten Blondinen funktionierte der Trick. Hier anscheinend nicht. „Das ist eine längere Geschichte.“ „Wir haben Zeit“ Die rechts von ihm lehnte sich vor, sodass sie ihre Brust praktisch auf dem Tisch vor sich ablegte. Für eine Thailänderin hatte sie wirklich erstaunlich große Brüste, das musste er zugeben. „Ich bin ein sehr gewalttätiger Mann und sie ist zu ihrer Familie zurück nach Thailand geflohen“ Er versuchte keine Miene zu ziehen. Die erste lachte ohne jede Sekunde des Zögerns, die beiden anderen fielen ein Hauch später ein. „Na gut, Sie wollen nicht darüber sprechen“ Weib eins – die ihm direkt gegenüber – griff nach seiner auf dem Tisch liegenden Hand und tätschelte sie mit ihrer. „Wir haben Verständnis dafür. Erzählen Sie uns doch etwas mehr über Ihren Beruf.“ Da sie Anstalten machte, ihre Hand dort liegen zu lassen, zog er seine zurück und verschränkte die Arme. Das waren echt persistente Dinger. Wirkte er als wäre er irgendwie interessiert? „Ich gehe zur Arbeit, ich sitze am Computer, ich fahre nach Hause. Hin und wieder schreie ich Leute an. Nichts Besonderes“ Womit konnte er sie loswerden? Oder womit könnte er dieser Situation entfliehen? Ein Gang zur Toilette? „Das heißt, Sie sind der Chef?“ Er vermutete, die Tonlage sollte Entzücken ausdrücken. „Ich bin ein einfacher Angestellter“ Er sah zu Misses Wethter herüber in der Hoffnung, sich irgendwie in die Diskussion über thailändische Kindererziehung einmischen zu können. Leider fiel ihm nichts Sinnvolles über traditionelle Windeln ein. „Leute anzuschreien ist mein Freizeitausgleich.“ „Warum stellen Sie sich selbst so negativ dar? Sie scheinen doch ein sehr humorvoller Mann.“ Humorvoll? Kam ihr gar nicht in den Sinn, dass er auch brutal die Wahrheit sagen könnte, an der nichts ansatzweise Lustiges war? Er wandte sich ihr zu und fragte exakt das: „Und was, wenn das vorhin kein Scherz war?“ „Gewalttätige Männer sind selbstherrliche Männer. Sie würden nie Fehler zugeben, erst recht nicht vor anderen. Würden Sie Ihre Frau schlagen, würden Sie das niemals sagen“ Das puppenhafte Gesicht sandte ihm ein freundliches Lächeln, aber diesmal wirkte es dahinter um Längen weniger leer als zuvor. „Sie machen schockierende Witze, um uns zu verstören, aber es sind noch immer Witze. Ich schätze schwarzen Humor.“ „Da sind sie die erste“ Seine Stirn lag in Falten. „Aber gehen wir davon aus, ich scherze, besteht immer noch der Fakt, dass ich versuche, Sie zu verstören. Grund dafür ist, dass ich versuche, nicht ausgefragt zu werden. Mein Privatleben ist privat, ich suche keine Frau, ich bin an keiner von Ihnen interessiert.“ Charlie könnte stolz sein. Er hatte soeben klar festgelegt, was er wünschte und was nicht. Und es waren nicht einmal zwei Minuten des Gespräches vergangen. Das war bestimmt ein Rekord. „Schade“ Die Dame stützte ihr Kinn auf eine Hand. „Und worüber unterhalten Sie sich gern?“ Mathematik. Ausländische Rechtssysteme und Investitionsmöglichkeiten. Anorganische Chemie, wenn er gut drauf war. Er sagte stattdessen: „Vielleicht sollten wir doch über Beziehungen sprechen“ - er lehnte sich vor und legte die Arme auf den Tisch - „ich mache zur Zeit eine kleine Sozialstudie. Könnten Sie mir beschreiben, was Sie als Regeln für Beziehungen ansehen?“ „Regeln?“, fragte die zur rechten interessiert nach. „Was Sie von Ihren Partner erwarten, was er keinesfalls tun darf, was er auf jeden Fall tun muss … Grundregeln für Beziehungen“, beschrieb er. Vielleicht konnte er ja doch etwas Interessantes aus dem Abend ziehen. Ausgestattet mit den neuen Erkenntnissen, dass ein Mann kein echter Mann war, wenn er nicht Wasserkisten tragen konnte, Brusthaar aufwies und Fan einer Sportart war, trat Severus mit Harry im Auto den Heimweg an. Wenigstens schien dieser Spaß gehabt zu haben, mit Hang zu malen und mit ihm zu versuchen, die Karte zu übersetzen. Severus befand den Abend als wenig produktiv, aber zumindest unterhaltsam. Zuhause gab er Harry einen Gute-Nacht-Kuss – die erwachsene Art – und verzog sich in sein Schlafzimmer. Doch, unterhaltsam war es schon irgendwie. Die drei Damen waren weit bessere Gesprächspartner gewesen, nachdem er seine Ansage gemacht hatte. Er gähnte und schloss die Augen. Draußen stürmte es zwar, aber er war müde genug, dass es ihn wenig interessierte. Auf das erste wirklich laute Donnern reagierte er nur mit einem Murren und zog die Decke höher. Vielleicht sollte er die Rollladen herunter lassen, um das Lichtspiel der Blitze draußen zu halten. Er schreckte auf, als er das laute Schlagen einer Tür hörte. Er ortete noch das Geräusch, als seine eigene Zimmertür aufging und Harry herein stürzte. „Es blitzt!“ „Es stürmt, blitzt und donnert“, erwiderte er trocken und richtete sich auf, „kein Grund, so einen Heckmeck zu veranstalten. Das ist ganz normal.“ „Normal?“ Harry trat näher. „Es ist nicht … gefährlich?“ „Es regnet in diesem Land zwar praktisch durchgehend, aber Überflutungen sind sehr selten. Tsunamis gibt es auch nicht. Du kannst weiter schlafen“ Severus schloss die Lider und legte sich wieder hin. „Aber …“ Harry schien ans Fenster zu treten. „Du bist sicher?“ „Ich lebe hier schon mein Leben lang.“ „Okay“ Harry schlürfte ein paar Schritte Richtung Tür. Ein lautes Donnern ließ ihn inne halten. „K- kann … kann ich hier schlafen?“ Severus seufzte nur. Vielleicht würde Harry weggehen, wenn er sich tot stellte. Vielleicht auch nicht. Ein von der Nachtluft etwas verkühltes Wesen kroch unter seine Decke und robbte zu ihm, bis es an seiner Brust angekommen war. Severus überlegte kurz, sich einfach wegzudrehen, aber blieb im Endeffekt liegen. Harry war halt noch ein Kind. Er ging spielen und er kroch nachts unter die Decke. Er legte die Arme um den Jungen, damit er bequemer lag. Das hier war alles so falsch. „Sie starren“, merkte Lydia an, als sie die Blumen in seinem Büro aufstellte. Heute war einer der seltenen Tage, wo er Kunden bei sich empfangen würde. Er wusste jetzt schon, dass er spätestens zur Mittagspause Migräne haben würde. „Ich tue nichts dergleichen“ Er senkte den Blick auf seine Tastatur. Feigling. Er hatte sie etwas fragen wollen. Seit wann war er so erbärmlich? „Kennen Sie das Gefühl, mit einem Menschen zusammen zu sein und es fühlt sich falsch an?“ „Ich wüsste nicht, wann ich das Gefühl nicht gehabt hätte“ Sie drehte auf dem Schuhabsatz. „Das ist jetzt nicht der Gesprächsbeginn meiner Kündigung, oder?“ „Glauben Sie wirklich, ich würde es freundlich verpacken, wenn ich Sie kündigen wollte?“ Er stoppte den Sarkasmus in seiner Stimme nicht. „Oh, ja … natürlich. Ist das eine Beziehungsfrage? Sind Sie in einer Beziehung?“ Neugierige Begeisterung mischte sich in ihre Stimme. Da war wieder das Wesen, von dem er immer vermutet hatte, dass sie über ihn im Büro tratschte. Aber ihm war kein einziges Gerücht zu Ohren gekommen, also war sie vermutlich einfach nur so sehr neugierig. „Vielleicht“ Er seufzte. „Ich glaube, ich sollte sie beenden.“ „Warum denn?“ Ihre Gesichtszüge fielen in Enttäuschung und Trauer. „So schlimm?“ Das war wohl das Schlimme. Es war nicht schlimm. Es war schön. Es war nur falsch. Er war einfach noch zu jung. Harry war noch zu viel Kind als dass das hier eine gute Idee sein könnte. Harry war vielleicht in Theorie sechzehn – genau genommen wusste er ja nicht einmal, ob der Junge wirklich sechzehn war – und hatte anscheinend die körperliche Pubertät hinter sich, aber im Geist war er nicht einmal ansatzweise auf dem Stand eines durchschnittlichen englischen Teenagers. Hier gab es Sechzehnjährige, die könnten auch problemlos fünfundzwanzig sein. Aber Harry war nur ganz knapp dem Alter entwachsen, wo man Kuscheltiere und Licht zum Schlafen brauchte. Er war ganz sicher niemand, mit dem Severus das Bett teilen konnte. Nicht jetzt, nicht in zwei Jahren. „Was ist los?“ Lydia setzte sich auf einen seiner Gastsessel und holte ihn damit in die Realität zurück. „Nichts, schon gut“ Severus schüttelte den Kopf. „Das hat nichts mit der Arbeit zu tun.“ „Wenn es Sie belastet, belastet es auch die Arbeit“ Lydia lehnte sich vor. „Und ich kenne Ihre Exfrau, Sie kennen die Situation mit meinem Freund … wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, lassen Sie mich, bitte. Sie haben mir auch geholfen.“ Hatte er? Nun … wenn sie meinte. Er sagte nach einem tiefen Seufzen: „Ich glaube, Sie haben mitbekommen, dass Harry nicht mein Sohn ist.“ Sie nickte nur. „Aber es stimmt auch nicht, dass ich irgendetwas Unsittliches mit ihm machen würde. Ich habe ihn mitgebracht, weil er mir Leid tat. Ich hatte nicht vor, irgendetwas mit ihm anzufangen. Er ist noch ein Kind in meinen Augen. Aber er ist gleichzeitig schon attraktiv und weiß das auch. Ich weiß nicht, ob er sagt, dass er mit mir zusammen sein will, weil er merkt, wie sehr ich mit mir selbst im Zwiespalt bin oder ob er genuin irgendetwas für mich empfindet, aber … was für eine grässliche Situation. Ich wünschte, er wäre fünf Jahre älter.“ Lydia schwieg einen Moment und erwiderte schließlich leise: „Für mich klingt das als hätten Sie Angst, dass er Ihnen in fünf Jahren vorwirft, wie Sie die Situation heute nur so ausnutzen konnten, wenn Sie jetzt ja sagen.“ „Das ist sehr präzise getroffen“ Severus schob die Tastatur von sich weg. „Und er hätte jedes Recht, das zu sagen.“ „Praktisch alle Männer, die ich kenne, würden sich niemals Gedanken über so etwas machen. Sie würden sich selbst glücklich schätzen und nehmen, was Ihnen geboten wird“ Lydia sah zu Boden. „Mein erster Freund war einunddreißig und verheiratet. Ich war fünfzehn. Er hat sich sicherlich keinerlei Gedanken gemacht und ich weiß, dass diese Beziehung Schäden hinterlassen hat, mit denen ich heute noch zu tun habe.“ „Das will ich Harry ersparen“ Also würden sie sich trennen müssen. Und da ihre häusliche Situation die Sache unendlich schwer machen würde, würde er Harry auch eine neue Unterkunft suchen. Vielleicht würde die Familie Granger-Weasley ihn aufnehmen. Dort wäre er bestimmt gut aufgehoben. „Aber das war nicht seine Schuld“ Lydia sah auf. „Oder zumindest nur bedingt. Ich habe zu allem ja und amen gesagt, weil ich es nicht besser wusste. Ich wusste nicht, dass es okay ist, nein zu sagen. Und da jeder, dem ich von der Beziehung erzählte, mich mit Ekel und Unverständnis angesehen hat, konnte ich auch niemanden fragen. Ich habe alles mit mir machen lassen, einfach weil ich es nicht besser wusste. Er hat ja bei allem gefragt, ob es okay ist. Ich wusste nur die Antwort nicht.“ „Harry wird niemandem von dieser Sache erzählen können. Die Situation ist noch schlimmer als bei ihnen. Ich war jetzt beim Jugendamt, ich habe andere Leute schlichtweg über uns belogen … er hat doch niemanden. Er hat nicht einmal eine Familie. Er hat nur mich und das ist eine denkbar schlechte Grundlage.“ „Das ist richtig. Er braucht Freunde, mit denen er offen reden kann. Er braucht auch Erwachsene, mit denen er offen reden kann. Aber wenn er das hat, dann sollte es ihm auch möglich sein, mit Ihnen zusammen zu sein.“ „Wenn wir an diesem Punkt eine Beziehung öffentlich machen, bin ich morgen hinter Gittern“, erwiderte Severus mit Sarkasmus. „Wer hat Sie da letzte Woche angezeigt?“ „Seine Lehrerin“ Severus lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah zur Decke. „Ihr Schwager ist … so eine Art Ex von mir.“ „Sie machen es sich selbst auch nicht leicht“ Lydia schüttelte lächelnd den Kopf. „Meinen Sie, man kann ihr die Situation erklären? Wahrheitsgemäß?“ „Wenn ich danach wegen Pädophilie im Gefängnis enden will“ Severus schüttelte den Kopf. „Wenn er achtzehn ist, ist sie bestimmt ein guter Umgang für ihn. Aber solange diese Sache noch als illegal zählt – selbst wenn ich ihn nie anfassen würde – würde Sie Gott und die Welt gegen mich bewegen.“ „Also müssen sie noch zwei Jahre geheim mit ihm zusammen sein. Ohne ihn anzufassen, ohne Forderungen zu stellen, die sie nicht auch mir oder anderen Menschen stellen würden.“ „Das ist keine Beziehung“, schloss er. „Nein, ist es nicht. Aber wenn Harry sagt, er will eine Beziehung, was will er denn dann? Wie definiert er denn eine Beziehung?“ Ein schiefes Lächeln legte sich auf Severus Lippen, als er sagte: „Geküsst und im Arm gehalten werden. Er sagt selber, er will einfach nur angefasst werden.“ „Knapp nach Pubertät, hm? Diese Phase, wo man nach körperliche Nähe hungert, weil die Hormone wild geworden sind“ Lydia seufzte. „Das ist exakt die Phase, wo Jugendliche für sexuelle Übergriffe am anfälligsten sind.“ „Wem sagen Sie das?“, murmelte Severus nur. „Ist Ihnen das möglich? Ihn im Haus zu haben, ihn zu berühren, aber es nicht sexuell werden zu lassen?“ In ihrer Stimme war kein Zweifel, es war eine rein neutrale Frage. Dieselbe Frage, die er sich seit über zwei Monaten stellte. „Im Normalfall ja. Ich habe eine gute Selbstkontrolle. Aber dann kriecht er in mein Bett oder beginnt mein Hemd aufzuknöpfen oder … andere sexuelle Dinge. Ich habe ihm strikt und klar gesagt, dass vor seinem achtzehnten Geburtstag nichts laufen darf. Aber dann scheinen seine Hormone ihn irgendwie wieder zu überkommen. Langsam traue ich meiner Selbstkontrolle nicht mehr“ Sollte er dieses Gespräch wirklich weiter führen? Das hier war seine Sekretärin. Er gab ihr gerade alle Mittel in die Hand, ihn jederzeit zu ruinieren. Selbst in zehn Jahren könnte sie all dies noch gegen ihn verwenden. „Und dann ist er wieder Kind und spielt und weint und kommt nachts, weil er Angst vor Gewittern hat und … das macht mich fertig.“ „Er gibt Ihnen all seine Bedürfnisse“ Sie nickte. „Junge Menschen sind so. Sie haben noch diesen Glauben, dass es nur gut und schlecht gibt. Sie haben noch nicht gelernt, dass jeder Mensch irgendwo in einer Graustufe lebt. Manche sind gut für die einen, manche für die anderen Dinge. Für Harry sind Sie vollends gut, also gibt er ihnen alle Bedürfnisse, die er hat und erwartet, dass Sie alle erfüllen. Vermutlich überfordert er sie damit vollkommen.“ „Erneut treffen Sie es sehr genau“ Er sah zu ihr. „Sie werden nicht umher kommen, ihn zu verletzen. Sie können entweder den kindlichen Bedürfnissen oder den sexuellen Bedürfnissen nachgeben. Geben Sie ihm doch so viel, wie Sie können. Und versuchen Sie, den Rest nicht zu schmerzhaft zu machen.“ „Aber ich will ihm nicht wehtun“ Severus Stirn legte sich in Falten und seine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Sie werden. Sie müssen. Aber Sie haben vermutlich die beste Einstellung, die man in dieser Situation haben kann. Er wird sich andere Leute für die anderen Bedürfnisse suchen.“ „Das hatte ich ja gehofft“ Severus schnaubte. „Zumindest diese ganzen persistenten sexuellen Bedürfnisse scheinen ziemlich auf mich fixiert.“ „Er scheint es ernst mit ihnen zu meinen. So ernst wie ein hormoneller Teenager halt sein kann“ Sie lächelte. „Sie machen mir große Hoffnungen“ Severus hob eine Augenbraue. „Na ja, sehen Sie es so … was macht er, wenn Sie trotz Ihres Interesses an ihm durchgehend nein sagen? Er wird glauben, es sei etwas falsch an ihm und er wird sich andere für diese sexuellen Bedürfnisse suchen. Sie meinen es wenigstens gut mit ihm. Ein schwuler Jugendlicher, der die Landessprache nicht spricht, nicht nein sagen kann und nach jemandem sucht, der ihn anfasst? Das sehe ich böse enden.“ Für einige Sekunden schien Severus Kehle wie zugeschnürt. Warum hatte er nie darüber nachgedacht? Harry schien zwar an Frauen interessiert, aber auch nicht so sonderlich stark, wenn er immer wieder auf ihn zurückkam. Andere schwule Jugendliche fand man nicht wie Sand am Meer. Was, wenn er wie er damals in irgendeinen Bereich von London wandern würde, wo es Schwulenbars gab? Was, wenn er auch … Severus fühlte nur eine unbestimmte Übelkeit bei der Erinnerung an sein erstes mal. Nein, das wollte er für Harry ganz bestimmt nicht. „Sie haben Recht“ Er nickte langsam. „Mich wundert nur, wie wenig Sie diese Sache schockiert.“ „Wahrscheinlich, weil ich sie selbst durchlebt habe“ Sie seufzte. „Ich finde Beziehungen mit Älteren nicht schockierend. Problematisch ist das Tabu darum. Wenn man nicht darüber sprechen darf, wenn alle sich nur das Maul über einen zerreißen, dann macht man viele Dinge, die man bei klarem Verstand nicht gemacht hätte.“ In derselben Sekunde schoss ihm die Erinnerung hoch, wie Harry im Jugendamt gesessen hatte. Der traurige Gesichtsausdruck, als er fragte, ob wirklich niemand erfahren durfte, was er fühlte. Der schier zerstörte Gesichtsausdruck, als er sagte, dass er niemals eine offene Beziehung mit Harry führen würde. Das war nicht fair. Und wäre Harry älter und reifer, er hätte nicht einfach nur mit Tränen in den Augen genickt. Er hätte nicht nur stumm akzeptiert, was Severus ihm vorschrieb. „Wie viele Gespräche habe ich heute?“ „Eins um zehn, eins um elf, eins um zwölf. Und danach so viel Schreibarbeit von diesen drei Gesprächen, wie Sie schaffen“ Sie lächelte nachsichtig. „Dann drücken Sie mir mal die Daumen, dass ich die Gespräche ohne Migräne schaffe. Ich will Harry von der Schule abholen“ Er nickte, mehr zu sich selbst als zu ihr. „Schreibarbeit kann ich auch ein andermal machen.“ „Ich vermute, das wäre der erste freie Nachmittag, den Sie sich in Ihrer gesamten Karriere nehmen, oder?“ „Vermutlich“ So etwas wie ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Sie lächelte breit, nickte und erhob sich. Bevor sie heraus ging, hob sie beide Hände, in denen sie ihre Daumen drückte. Er nahm zufrieden einen Schluck Kaffee. „Severus!“ Harry lächelte breit als er ihn vor der Schule entdeckte und lief zu ihm. Er stoppte auch vor ihm und senkte die Arme, die sich kurz zur Umarmung gehoben hatten. Severus nahm den Schritt nach vorne und legte beide Arme um ihn. Nach einem kurzen Moment erwiderte er die Umarmung enthusiastisch. Als Harry aufsah, war das Lächeln zu einem Grinsen geworden und seine Augen strahlten. „Ich dachte, ich lade dich zum Essen ein“ Harry nickte schon fast wild als Antwort. „Wollen wir uns einfach was in der Gegend suchen?“ Auf ein weiteres Nicken wandte er sich in eine beliebige Richtung die Straße entlang. Harry sprang für einige Schritte neben ihm her wie ein Flummi. Nach ein paar Metern beruhigte er sich und sah zwischen der Straße und Severus hin und her als würde er dessen realer Anwesenheit noch nicht ganz glauben. Es war ja auch untypisch. Er schwänzte Arbeit für Harry. Wenn sein Chef das wüsste … besser nicht daran denken. Was wollte er Harry nochmal sagen? Er hatte irgendetwas in seinem Kopf vorbereitet, aber bei Harrys Anblick schien das wie verflogen. Er warf einen Blick über die Schulter und als er niemanden von der Schule erblickte, griff er zögernd nach Harrys Hand. Harry starrte auf ihre Hände, bevor er seine langsam um Severus Hand schloss. Er starrte auch danach noch weiter. Es schien eine halbe Ewigkeit, bis er mit großen Augen den Blick hob. Severus versuchte stur geradeaus zu sehen, aber natürlich bemerkte er den Blick. Er versuchte auch das Lächeln von seinen Lippen zu verbannen, aber das tat er eher halbherzig. Warum tat er es eigentlich? Er durfte lächeln. Harry würde ihn nicht auslachen für seine hässliche Fratze, wenn er lächelte. Nach einigen Momenten spürte er ein Gewicht gegen seinen Arm drücken. Obwohl sie gingen, lehnte Harry sich gegen ihn. Severus überlegte, den Arm um ihn zu legen, aber unterließ es. Harry grinste trotzdem zu ihm hoch. Und Severus lächelte zurück. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)