Behind the Wall von Karo_del_Green (Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft) ================================================================================ Kapitel 2: Plattitüden und Phrasen ---------------------------------- Kapitel 2 Plattitüden und Phrasen Als ich die Tür zu meiner Wohnung öffne, höre ich bereits das energische Klingeln des Telefons. Ohne, dass ich auf die digitale Anzeige sehen zu müssen, weiß ich, dass es mein Bruder Ewan ist. Er ist der Älteste meiner Brüder und der Einzige in meiner Familie mit dem ich noch Kontakt habe. Nach meiner Verhaftung brach meine Familie nach und nach mit mir. Meine Mutter verkraftete den Gedanken nicht und meine Brüder gewöhnten sich nur schwer an die Enttäuschung und die Stigmatisierung. Ein Familienmitglied im Gefängnis zu haben, war scheinbar nur schwer zu ertragen. Doch vor allem konnten sie die Gründe einfach nicht verstehen. Ihre Entfremdung war schleichend. Sie war schmerzhaft. Es ist das erste Mal seit Wochen, dass ich zögere ans Telefon zu gehen. Meine Gedanken drehen sich in diesem Moment nur noch um Richard und das Kontaktverbot, welches seit jenem Tag zwischen uns beiden herrscht. Schneidend und Unheilvoll schwebt es über uns und scheint jegliche Erinnerung mit einem mahnenden Stempel zu versehen. Noch einen Moment warte ich, doch das Geräusch reißt nicht ab, also gehe ich widerwillig ran. „Eleen... Na endlich!", nennt er als erstes meinen Namen. Ich schließe ermattete die Augen. Ich bin es so leid. „Hey, entschuldige, aber ich bin gerade erst rein", sage ich ruhe und klinge erstaunlich überzeugend. Von meinem Zögern ist nichts zu hören. „Viel zu tun?" „Ich kann nicht behaupten, dass ich mich langweile", kommentiere ich, lüge mit einer Ruhe, die mich selbst überrascht und lasse mich komplett angezogen auf die Couch fallen. Mein Kopf kippt nach hinten auf die Lehne und ich starre an die Decke. „Das höre ich gern..." Denn es bedeutet, dass ich keinen Unsinn anstelle. „Und wie geht es dir?" „Gut." Einsilbig. Eine weitere dieser Phrasen, die er jedes Mal abspielt. Sie können kein wahres Stimmungsbild abbilden. Diesmal bemerke ich ein Zögern auf der anderen Seite des Hörers. Vielleicht fragt sich Ewan zum ersten Mal, wie glaubhaft mein Gut ist. Ich mich auch. „Mutter hat nach dir gefragt", teilt er mir dann mit. „Hat sie das? Wie geht es ihr?", frage ich unaufgeregt retour und lasse mich wenige Augenblicke später einfach seitlich auf die Sitze kippen. „Soweit gut. Sie ist gesundheitlich etwas angeschlagen, aber Erik kümmert sich mit den Kindern um sie. Wir sind auch oft bei ihr." Er spricht von sich und seiner Frau Sora. Erik ist unser mittlerer Bruder. Meine Gedanken schweifen ab, während er mehr darüber berichtet, was in meiner Familie geschieht. Ich lasse meine Augen geschlossen und denke an den Moment in der U-Bahn zurück. In meinem Kopf läuft die Erinnerung in Zeitlupe ab und die Geräusche, die von ihm ausgehen sind ums tausendfache lauter. Die feine Reibung, die seine Finger auf den rauen Einband verursachten. Das Umblättern. Die Intensität des Moments wirkt auf mich ein, wie die Stille, die mich nach all den Jahren eingeholt hat. Sieben Jahre haben wir uns nicht mehr gesehen. Eine schier unendliche Zeit, doch jeder Versuch ihn zu vergessen, ist gescheitert. „Eleen, was ist los?" Die Stimme meine Bruders holt mich zurück. Er klingt genervt und ich kann hören, wie er seufzt. „Nichts", sage ich leise. „Nichts? Verarschen kann ich mich allein. Was ist los?", bellt er mir mahnend entgegen. Ich kann hören, wie er etwas notiert. Der Stift, den er benutzt kratzt geräuschvoll über das Papier. Ich seufze fahrig und bin mir nicht sicher, ob ich es ihm wirklich beichten soll. Die wöchentlichen Gespräche mit Ewan sind das Einzige, was mir von meiner Familie geblieben ist. Auch, wenn ich sie jedes Mal aufs Neue unangenehm finde. In ihren Augen ist vor allem Richard schuld daran, dass es soweit mit mir gekommen ist. Doch das, was passiert ist, war meine Entscheidung. Nur weiß das niemand und das ist gut so. Sie sind noch immer so sauer auf mich. Enttäuscht und zornig. „Eleen!" Eindringlicher. „Ich habe ihn gesehen", perlt von meinen Lippen. So leise, dass man denken könnte, er kann es nicht hören. „Wen?", hakt er vorsichtig nach. Auch das Schreiben stoppt, denn das Kratzen endet. Meine Fingerspitzen beginnen zu kribbeln und an meinen Armen beginnend, legt sich ein lauwarmer Schauer über meinen gesamten Körper. „Richard." Seit Jahren ist es das erste Mal, dass ich seinen Namen laut ausspreche. Ich sage ihn mit so viel Sanftheit, dass ich die Augen schließen muss. „Wie bitte? Wo hast du ihn gesehen?", fragt er streng und irgendwas Seltsames schwimmt in seiner Stimme. „In der U-Bahn auf dem Weg nach Hause. Er saß in meinem Abteil. Ich habe ihn nicht angesprochen und er..." Ewan unterbricht mich. „Du darfst keinen Kontakt zu ihm haben. Ich muss dich, doch nicht an deine Bewährungsauflagen und das Kontaktverbot erinnern." Nein, das muss er nicht. Ich atme ruhig, während mich mein Bruder weiter darüber belehrt, wie ich mich zu verhalten habe und noch immer wirkt die Gänsehaut, die die Härchen meine Haut im sanften Takt meines schlagenden Herzens tanzen lässt. Kein Kontakt zur Familie Paddock. Ich erinnere mich gut an die strengen Worte meiner Anwältin. An ihren durchdringenden, ernsten Blick, der sich bitterhart in meinen Verstand meißelte. Mehrere Mal ließ sie es mich wiederholen und irgendwann schluckte ich es still herunter. Genauso wie jetzt. Kein Kontakt zu dem Menschen, der mir einfach alles bedeutete. Ich nicke still, während weitere fordernde und warnende Worte durch den Telefonhörer dringen. „Hast du mich verstanden?" „Ja, selbst meine und deine Nachbarn haben dich verstanden", gebe ich bitter von mir und bleibe geknickt auf der Seite liegen. Keinerlei Vertrauen. In seinen Augen habe ich das auf Lebzeiten verspielt. „Eleen! Ich machen keinen Spaß." „Ich weiß." Gerade jetzt würde ich ihm alles versprechen, alles bestätigen und anstandslos abnicken. Denn es ändert nichts. Ich werde Richard vermutlich nicht wiedersehen. Ich weiß nicht, ob er hier lebt oder ob er nur zu einem Besuch in der Stadt ist. Die Wahrscheinlichkeit ihn wiederzusehen, ist gering. Aber, was weiß ich, denn ich habe auch gedacht, dass ein grundsätzliches Wiedertreffen unmöglich wäre. Bevor mich Ewan ein weiteres Mal maßregeln kann, beschließe ich das Gespräch zu beenden. „Ich bin müde. Mach's gut", sage ich nur noch leise und höre, wie Ewan noch versucht ein paar Worte an mich zu richten, doch ich lege auf. Noch einen Moment lang starre ich auf den ausgeschalteten Fernseher und sehe mein Spiegelbild. Es sieht erbärmlich aus, wie ich auf der Polsterung hänge und leise seufzend richte ich mich auf. Richard. Erst nur gedacht. Dann spreche ich seinen Name noch einmal leise aus. Er hat gut ausgesehen. Sein Gesicht ist schmaler geworden und markanter, doch noch immer sind die für mich so vertrauten Gesichtszüge zu erkennen. Die warmen, vertrauenserweckenden Augen. Die Form seiner Nase. Der schmale Nasenrücken, der an der Spitze einen leichten Bogen nach oben macht. Die schon immer feingeschwungenen Augenbrauen. Es ist als hätte sich sein Anblick in meinen Kopf gebrannt. Ein feines Seufzen perlt von meinen Lippen und ich genieße das sanfte Kribbeln, welches sich von meinem Bauch in allen meiner Glieder ausbreitete. Das Gefühl des Vermissens brennt seit langem wieder heiß in mir. Ich habe mir die Gedanken an ihn verboten, doch jetzt kann ich sie einfach nicht mehr stoppen. Ich lehne mich nach vorn und stütze meine Arme auf den Knien ab. Mein Gesicht lasse in die Handflächen fallen. Erneut sehe ich sein Gesicht hinter der dreckigen Türscheibe der U-Bahn. Der Ausdruck in seinen Augen. Abrupt stehe ich auf, gehe vom Wohnzimmer zum Schlafzimmer und hocke mich vor mein Bett. Ich lehne mich tief unter die Holzumrahmung und brauche einen Moment bis ich das gesuchte mit den Fingerkuppen ertaste. Vorsichtig ziehe ich es an mich heran. Zum Vorschein kommt eine kleine Holzkiste. Als ich sie öffne, weht mir der typische Geruch von altem Papier und Staub entgegen. Ich lehne mich gegen den Bettrahmen und nehme die Bilder heraus. Lass sie durch meine Hände gleiten. Eines der Fotos trägt das Datum von vor 10 Jahren. Ich drehe es um. Richard und ich. Wir haben uns die Arme um die Schultern gelegt und grinsen der Kamera entgegen. Es ist Sommer. Wir sind am See und ein leichter Wind streicht uns durchs Haar. Ich erinnere mich an das Geräusch von surrenden Insekten. An den Duft von Gras und Matsch. Unbeschwerte Zeiten. So viele Erinnerungen. Die dunklen Nächte, die oft kühler waren, als gedacht. Sein warmer, ruhiger Atem auf meiner Haut, der mich traf, während er schlafend neben mir lag. Er hat mich gewärmt. Bild für Bild sehe ich mir an, spüre, wie mein Verlangen den anderen wiederzusehen weiter entfacht. Ewans warnende Worte werden mehr und mehr zu einem stillen Flüstern. Bis sie vollkommen verstummen. Ein Bild mit Richards Gesicht. Es ist das letzte Foto, welches ich von ihm habe. Sein Gesichtsausdruck ist nachdenklich und fast melancholisch. In seinen Augen ein seltsamer Schimmer. Es sind Fotos aus einem kritischen Moment, denn zu diesem Zeitpunkt begann es zu enden. Mein Herz stolpert und ich lege das Bild beiseite. Ich will ihn wiedersehen, das schreit mir mein Herz so laut entgegen, so dass das Bedürfnis fast meinen gesamten Brustkorb sprengt. Lange betrachte ich einfach nur die festgehaltenen, stillem Momente meiner jugendlichen Erinnerungen. Bis tief in die Nacht hin. Irgendwann regt sich mein Magen und das knurrende Geräusch durchbricht die Stille des Raumes. Ich lege das Bild, welches ich gerade beschaue zur Seite und greife nach dem Wecker, der auf meinem Nachtschrank steht. Es ist bereits nach Mitternacht. In nur fünf Stunden muss ich wieder auf den Beinen sein, denn ich habe vor der Arbeit noch einen Termin bei meinem Bewährungshelfer. Ein netter älterer Herr, der mich immer erst nach meinem Befinden fragt. Es ist wie das stupide Abspielen einer immer währenden Schallplatte, die nichts als Plattitüden und Phrasen beinhaltet. Ich antworte ihm stets mit einem lächelnden Gut, den alles andere wurde Besorgnis bei ihm wecken. Ein einziges Mal habe ich es nicht getan. Seine Augen begannen aufmerksam zu funkeln. So als suchten sie die Anzeichen für eine zukünftige Katastrophe. Ich war einfach nur deprimiert, da ich an diesen Tag zum wiederholten Mal bei einen Bewerbungsgespräch abgelehnt worden war. Seine forschenden Fragen beantwortete ich sorgsam und beschwichtigend. Er ließ mich erst gehen, als ich ihm versprach am nächsten Tag noch einmal vorbeizukommen. Ich tat es. Ich antworte ihm positiv und die Sache war gegessen. Seither schlucke ich meine Gefühlsverfassung runter, lächle und nehme seine nichtssagenden und dennoch gut gemeinten Ratschläge an. So ist es auch diesmal. Ich bin müde von dem wenigen Schlaf, doch ich lächle, unterschreibe meine Anwesenheit und verschweige mein Zusammentreffen mit dem Freund meiner Kindheit, Richard Paddock. Für einen kurzen Moment stelle ich mir vor, was passieren wurde, sehe Bilder von einem hektischen Polizeieinsatz. Beamte, die mich mit Schlagstöcken und vorgehaltenen Waffen niederringen. Ich spüre förmlich die schweren Körper auf meinem Leib und erschaudere. Ich frage mich, ob mein Bewährungshelfen nicht wissen müsste, ob Richard hier in der Stadt lebt. Meine Augen wandern fragend, ob das faltige Gesicht des Mannes, der mir mit gespreizten Beinen gegenübersitzt. „Eleen, alles okay bei Ihnen?" Ich sehe ihn bei der wiederholten Frage nach meinem Befinden, verwundert an. „Natürlich. Ich denke nur unentwegt darüber nach, was das Problem an der Heizungsanlage sein könnte, an der ich zurzeit tüftle. Ich habe mittlerweile bestimmt jedes Teil einmal ausgetauscht." Mit dieser Erklärung gibt er sich vollends zufrieden. Sein zuvor aufmerksamer Blick wird wieder weich. „Ah, klingt nach einem großen Problem?" „Nur ein ungelöstes, aber ich arbeite daran." Ich lächele. Er nickt. „Gut, gut. Wie gefällt es Ihnen in der Firma? Werden Sie gut behandelt?", fragt er mich weiter und will nichts Negatives von mir hören. Wiederholt tippt die Spitze seines Stifts gegen das Papier und ich mal mir aus, welches Muster er bereits auf dem Blatt hinterlassen hat. „Ja, sie behandeln mich, wie jeden anderen auch." Wieder eine Lüge. Meine Kollegen gehen mir auf die Nerven. Sehr sogar. „Das höre ich gern." Das habe ich mir gedacht. „Ich habe viel zu tun und die Arbeit tut mir gut" „Gut, gut", wiederholt er und streicht einen weiteren Punkt auf seine Frageliste ab. Er liest einen Moment und ich sehe mich in seinem Büro um. Es ist klein und vollgestopft mit allerhand Kram. Etliche Bücher, viele Akten und bedenklich viele Bilder von Katzen. „Nun dann, ich habe keine weiteren Fragen. Haben Sie noch etwas, worüber Sie sprechen möchten? Liegt Ihnen noch etwas auf dem Herzen?" Nur etwas, was mein Herz komplett erfüllt. Er sieht mich aufmerksam an und ich schüttele den Kopf. Ich lächele. So, wie man es von mir erwartet. Wir vereinbaren einen neuen Termin und bevor ich gehe, sehe ich auf den Kalender neben seiner Tür. Noch ein weiteres Jahr werde ich diese Gespräche haben, bis meine Bewährungen endet. Ich seufze lautlos und schließe die Tür. Ich bin pünktlich auf Arbeit und ziehe mir in den Umkleideräumen meine Arbeitsklamotten an als ich meinen Spint schließe, steht plötzlich ein Arbeitskollege neben mir. Steven Pfennig. Er gehört zu der Gruppe, die mich wegen meinem Namen aufziehen. Ich sehe nur einen Moment zu ihm und binde mir dann die Schuhe zu. „Guten Morgen, Eleen!" Er zieht die 'E's übertrieben lang und ich schenke ihm einen bösen Blick, obwohl ich weiß, dass es ihm nur noch Ansporn geben wird. Es ist nicht die erste Konfrontation, die wir beide haben. Ich schließe die Tür zu meinem Schrank endgültig. Steven bewegt sich nicht. „Was willst du?", frage ich zähneknirschend als er mir weiterhin im Weg steht. „Hey, warum so unfreundlich? Ich will nur freundlichen Kontakt zu dir herstellen. Dem Neuen." Weitere Plattitüden und Phrasen. Der Klang seiner Stimme ist wenig freundlich, sondern manipulativ und überheblich. „Sicher", kommentiere ich ironisch und starte einen Versuch mich an ihm vorbei zu schieben. Sein Arm schnellt nach vorn und versperrt mir den Weg, indem er ihn auf Augenhöhe gegen Spind schlägt. Ich kann ihn nicht leiden, denn er ist einer dieser Typen, die sich einbilden etwas Besseres zu sein, nur weil ihr dauerndes aggressives Verhalten die Menschen einschüchtert. Solchen Typen, wie ihm bin ich im Gefängnis zu genüge begegnet. Sie sehen mich als einfaches, schwaches Opfer. Doch ich habe gelernt mich nicht provozieren zu lassen und mich angemessen zu wehren. Ich weiß, wie man beobachtet und noch so kleine Verfehlungen entdeckt. Bei Steven ist es ganz einfach. Er steht darauf Macht aus zu üben und das mit Vorliebe bei jüngeren. Viel zu jungen. Ich habe gesehen, wie er den Azubi Kai ansieht und wie er ihm verräterisch oft den Arm um die Schultern legt. Mehr als kollegiales und freundschaftliches Verhalten. Ich kenne diese Art der Berührung. Zu dem kompensiert er sein verkapptes homosexuelles Verhalten mit Gewalt und das ist keine gute Mischung. „Ich finde als Neuer solltest du dich besser einbringen. Du solltest dich beliebter machen, sonst wirst du es hier sehr schwer haben.", schwafelt er. Ich sehe auf seinen Arm und ihn dann an. Seine Gesichtszüge sind markant und streng. Seine Lippen sind schmal und seine Nase spitz. Seine Augen haben einen seltsamen und kaum bestimmbaren Ausdruck. Er ist gefährlich. Ein Geräusch in der Nähe sagt mir, dass wir nicht allein sind. Ich sehe zur Seite und erblicke den jüngeren Auszubildenden. Auch Stevens Blick geht zu ihm. „Und was hast du dir so vorgestellt?", frage ich ungerührt, sehe, wie seine Mundwinkel nach oben zucken und seine Aufmerksamkeit zurückkehrt. „Mir fällt da so einiges ein." Noch immer stemmt er seinen Arm direkt vor meinem Kopf gegen den Metallschrank. Ich spiele mit. „Hm, lass mich raten. Ich sollte euch einen ausgeben? Vielleicht von Zeit zu Zeit eure Arbeit machen? Dann und wann eure Schichten übernehmen." „Ich sehe, wir verstehen uns. Mach weiter. Ich denke da noch an andere Gefallen", erwidert er siegessicher, grinst und beugt sich weiter zu mir nach vorn. Er glaubt, dass er mich bereits in der Hand hat. Weit gefehlt. Ich kann seinen zigarettengetränkten Atem riechen und verkneife mir ein angeekeltes Gebären. „Gefallen? Die mit stillschweigen? Oh, jetzt weiß ich, was du willst. Du stehst drauf wenn man dir im Hinterzimmer einen bläst." Ich sehe, wie sich augenblicklich sein Kiefer anspannt. „Oh, verstehe schon, am liebsten wäre dir der kleine Azubi. Soll ich ein gutes Wort für dich einlegen?" „Was laberst du für ne Scheiße", bellt er murmelnd. Niemand soll es hören. „Ich sehe, wie begierig du ihn anstarrst. Steht er dir schon?" Seine Nasenflügel zucken und ich sehe ein zorniges Funkeln. „Halt dein Maul", knurrt er, packt mich am Hemd. Seine Hand verkrampft sich. Es ist nur eine Scheingebärde ohne viel Druck und Inhalt „Halt, ja dein Maul, sonst...", wiederholt er. Ich unterbreche ihn. „Sonst was? Lass mich in Frieden oder deinen kleinen Kumpel erfahren, dass du ein Auge auf den kleinen Azubi geworfen hast." Meine Stimme ist nur ein leises, böses Raunen. „Dir würde niemand glauben", spuckt er mir entgegen und lehnt sich dabei noch näher zu mir. Wieder rieche ich den Gestank nach kaltem Rauch und abgestandener Asche. „Bist du dir sicher? Im Gegensatz zu dir mögen ihn hier alle", merke ich an und verstärke seine Zweifel mit meinem spöttischen Tonfall. Nein, er ist sich nicht sicher. Der Zorn in seinen Augen wird kurz von Unsicherheit überdeckt. Ich hingegen bin mir sicher, dass in seiner Personalakte bereits ein derartiger Übergriff vermerkt sein wird. Er schluckt kaum merklich, doch ich sehe es. Das Gefängnis hatte auch sein Gutes. Es hat mich härter gemacht und aufmerksamer. „Du hättest es besser abstreiten sollen", flüstere ich ihm beim Vorbeigehen zu. Nur noch kurz sehe ich ihn an. Ich höre sein aggressives Raunen und das kurze feste Schlagen gegen die Metalltür eines der Schränke. Ich ignoriere es. Im Flur kommt mir der Bereichschef entgegen und ich erkundige mich gleich nach den angeforderten technischen Plänen der Heizungsanlage. Ich bereite ihn darauf vor, dass die Reparatur womöglich einen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen könnte. Er nickt es ab und murmelt etwas von Herbst, dauert und wird sehen. Ich folge ihm in das Büro. Er beginnt in einem der großen Aktenschränke zu kramen, räumt hunderte lose Blätter heraus und reicht mir irgendwann drei Rollen. Noch während er den Schrank schließt klingelt das Telefon. Ich drehe mich zur Tür und will gehen, doch in diesem Moment bewegt sich ein Finger nach oben und er deutet mir an, dass ich warte soll. „... gut. Ja. Ich werde jemanden hinschicken. Ja. Natürlich. Gut." Damit legt er auf und sieht mich an. „Ich denke die Heizung wird noch etwas warten müssen. Wir benötigen Ihre Dienste." „Wie gut, dass sie nicht wegläuft", witzele ich zunächst und ernte einen verstörten Blick, „Was kann ich für Sie tun?" Sofort beginnt er mir von einem Objekt zu erzählen, spricht von Umzug und Erweiterung. Ich nicke es ab und frage mich nach seiner Ausführung noch immer, was ich damit zu schaffen habe. „Und was kann ich nun für Sie tun?", erfrage ich erneut, nachdem er zum Luft holen geendet hat. „Wir betreuen für einen Zeitraum beide Gebäude. Ich muss Sie also darum bitten, auch hin und wieder dort nach dem Rechten zu schauen und bei Anfragen den Mitarbeitern zur Hilfe eilen." Vom Hausmeister zum Laufmeister. Grandios. Immerhin komme ich so wenigstens an die frische Luft. Natürlich sage ich nicht nein. Bereits heute soll ich dort hinfahren. Ich stocke, denn das erste, was mir durch den Kopf geht, ist die Tatsache, dass ich heute nicht nachprüfen kann, ob Richard wieder in der Bahn sitzen wird. Die Hoffnung, dass er den Kontakt zu mir sucht und heute dieselbe Strecke fährt, schwelte den gesamten Morgen in mir. Still. Leise. Aber präsent. Nun sehe ich sie schwinden. Dennoch nicke ich es ab, lasse mir die Adresse, die Schlüssel und die Zugangscodes geben. Ich nehme die Pläne mit in den Aufenthaltsraum. Nur hier habe ich genügend Licht. Die Stimmen lassen mich auf sehen. Steven und ein paar seiner Freunde stehen am Getränkespender, auch der Auszubildende Kai ist dabei. Mein Blick wandert über sein angespanntes Gesicht. Er wirkt verschüchtert. Ich bereite die Pläne auf einen der Tische aus. Ich habe viele solcher Pläne gesehen, doch dieser ist das reine Chaos. Keine gute Arbeit. Wenn es in der Maschine ebenso aussieht, dann weiß ich, wieso nichts funktioniert. Ich lasse mir mit den Plänen Zeit. Studiere sie und bastele mir eine Taktik zusammen. Nach einer Weile spüre ich jemanden neben mir. Ich sehe in Kais jungenhaftes Gesicht. Seine Wangen sind gerötet. „Oh, ich wollte nicht stören. Ich will nur einmal schauen, was Sie sich hier ansehen!" Ein leichtes Stottern. Ich mache einen Schritt zur Seite und ihm damit mehr Platz. „Du störst nicht. Das sind die technischen Karten für die Heizungsanlage. Sie werden von den Firmen erstellt, die die Heizungen montieren und eigentlich auch warten." Er beugt sich dichter an den Plan heran. „Das sieht schwierig aus", sagt er erstaunt und fährt mit den Fingern einige Linie entlang. „Nur, weil du so etwas zum ersten Mal siehst." Ich lächle ihm zu, erkläre ihm die Bedeutung einzelner Linien und das Zusammenspiel der Abbildungen. Die Legende. Die Beschriftungen. Es gibt Normen, die man nachlesen kann. Kai nickt eifrig bis die Tür aufgeht und Steven wieder im Raum steht. Seine Augen funkeln. „Kai komm jetzt. Wir müssen in die dritte Etage. Wir haben richtige Arbeit zu machen!" Seine Stimme duldet keine Widerreden und obwohl er mit Kai spricht, sieht er mich an. Ich höre das leise gemurmelte Danke von Kai und sehe zu, wie er an Steven vorbei aus dem Raum verschwindet. Ich wende meinen Blick uninteressiert von Steven ab, doch er sieht mich noch eine ganze Weile an. Sein Blick scheint sich in mich hinein zu brennen und ich ahne, dass das mit ihm noch lustig werden kann. Mein Plan mich ruhig und unauffällig zu verhalten ist gescheitert. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)