Behind the Wall von Karo_del_Green (Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft) ================================================================================ Kapitel 9: Die schleichende Furcht vor dem Verlassensein -------------------------------------------------------- Kapitel 9 Die schleichende Furcht vor dem Verlassensein Das durchdringende Geräusch meines Weckers erschreckt mich nicht, denn obwohl ich nur wenige Stunden geschlafen habe, bin ich bereits vor dem Klingeln wach. So ist es fast immer. Ich ertrage das nervende Piepen einfach nicht und mein Körper hat dagegen eine Schutzfunktion eingerichtet, die mich stets ein paar Minuten vorher erwachen lässt. An diesem Morgen eine Viertelstunde früher. Ich spüre Richards warmen, schlafenden Körper neben mir, der sich bei dem energischen Lauten des Weckers die Decke über den Kopf zieht. Ich beuge mich zu dem Gerät, welches auf der anderen Bettseite steht und schalte es aus. Richard murmelt etwas Unverständliches und ich nehme an, dass es entweder eine Beschwerde oder ein Dank ist. Ohne Elan, aber wach, schwinge ich die Beine aus dem Bett. An der Tür bleibe ich stehe und sehe zurück auf den bedeckten Leib des anderen. Das ruhige Atmen, welches eindeutig unter der Decke erkennbar ist, lässt mich sanft lächeln. Das rhythmische Bewegen seines Fußes, der über das Laken streicht, zeigt mir, dass er trotz allen Widerstandes wach ist. Als ich geduscht aus dem Badezimmer trete, hat sich Richard auf den Rücken gedreht und sieht mir dabei zu, wie ich mir die Haare trockne. „Es ist Samstag", murmelt er mir entgegen und zieht eine Augenbraue nach oben. Seine verwuschelten Haare rahmen ein müdes Gesicht. „Und?" „Du hast einen Wecker gestellt?" „Nein, ich habe ihn nur nicht ausgestellt", erkläre ich lapidar. „Hast du dir diese irrsinnige Angewohnheit sofort hellwach zu sein noch immer nicht abgewöhnt?", fragt er amüsiert und dreht sich auf die Seite. „Bist du immer noch ein Morgenmuffel?", frage ich retour, die Antwort bereits kennend und ernte ein Murren. Schon damals waren unsere jeweiligen Morgenrituale sehr unterschiedlich gewesen. Rick brauchte ewig um vernünftig am Tag teilnehmen zu können. Oft saß er murrend und grummelnd am Küchentisch, nickte Gespräche und Fragen einfach nur ab und man war sich nicht sicher, ob er deren Inhalte wirklich verstanden hatte. Ich bin anders. Sobald ich meine Augen aufschlage, beginnt es in meinem Kopf zu rumoren und zu arbeiten. Meine Gedanken stehen nicht still, egal, wie sehr ich es mir wünsche. Einmal wach, schlafe ich nicht wieder ein. Dabei schlafe ich sehr gern, denn dann ist es in meinem Kopf endlich still. Ein weiteres Mal fahre ich mir durch die feuchten Haare. Wir sind so unterschiedlich und doch habe ich mir niemals jemand anderen an meine Seite gewünscht als Rick. Vielleicht sind es gerade die Unterschiede, die mich so sehr an ihn binden, denn er gibt mir Sicherheit, Vertrauen und Stabilität, weil er nicht so ist, wie ich. Während ich darüber nachdenke, halte ich in meiner Bewegung inne und lasse das Handtuch letztendlich sinken. „Wo bist du schon wieder mit deinen Gedanken?", fragt er mich. „Bei dir", wispere ich. Dass sich Richard nach vorn beugt, begreife ich erst, als er mich an der Hand packt und zurück auf das Bett zieht. Erschrocken stütze ich mich über ihm ab und sehe in sein belustigtes, noch immer leicht zerknautschtes Gesicht. „Und wieso muss ich dich erst wieder richtig aufs Bett ziehen, damit das wirklich stimmt?" Seine Augenbrauen zucken nach oben und geben seinem Gesichtsausdruck etwas Schelmisches. Wieder eine vertraute Mimik. Ich lächele und knie mich hin. Rick lehnt am Kopfteil des Bettes. Ich taste nach seiner Hand und er nimmt es als Anlass, mich zu sich zu ziehen. Ich bleibe an seiner Brust liegen und schließe die Augen. Genießerisch ziehe ich seinen schlafgetünchten Duft in mich ein und erfreue mich an dem leichten Kitzeln, welches die Priese Sex verursacht, die noch immer an seiner Haut haftet. Wir genießen einander. „Wie hast du mich eigentlich gefunden?", frage ich leise und öffne meine Augen. Aus meiner Position heraus kann ich sehen, wie sich Richards Atmung etwas beschleunigt und sein voriges Streicheln über meinen Nacken fahriger wird. Wahrscheinlich wird mir die Antwort nicht gefallen. In meinem Kopf erklingen die Worte des Kontaktverbotes. Ich weiß nicht, wie viele Schreiben ich davon besitze. Ihr Inhalt ist immer derselbe und jedes Jahr bekomme ich von meinem Bewährungshelfer ein Neues. Ich kann sie mittlerweile auswendig. Das zu widerrechtliche Handeln wird mit sofortiger Zwangshaft geahndet. Nicht einmal Ewan weiß, dass ich jedes Jahr ein Neues zu gesendet bekomme, was mich daran erinnert, dass ich den Mann, der unmittelbar vor mir liegt, nicht zu nahe kommen darf. Sybilla Paddock wird es so angeordnet haben, damit ich es nicht vergesse. Doch wie sollte ich das? „Ich bin dir gefolgt." Die Antwort gefällt mir wirklich nicht. Ich setze mich auf und Rick lässt seine Hand sinken. Im Grunde überrascht es mich nicht und doch wird mir einen Moment lang eiskalt. Nicht weil er es getan hat, sondern weil mir sofort die seltsamen Begebenheiten in den Sinn kommen, die mich in den letzten Tagen wachhalten. Auch Richard richtet sich auf und legt seine Hände auf meinen Schultern ab. „Lee, mich kann niemand gesehen haben. Es war stockdunkel", versucht mich Rick zu beschwichtigen, doch ich ziehe meine Knie an mich heran und igle mich etwas ein. Mir kommt das verdächtige Auto in den Sinn und auch die Person, die sich anscheinend auf Arbeit nach mir erkundigt hat. Sollte ich ihm davon erzählen? Es sind sicher nur Hirngespinste. Mehr nicht! Ricks Hand legt sich an meinen nackten Rücken. Er streicht hinauf zu meiner Schulter und er beginnt mich beruhigend zu massieren. „Hör zu. Es war mitten in der Nacht und es war wirklich niemand, keine Menschenseele zusehen." Sein Arm gleitet nach vorn und ich spüre seine warme Brust, die sich gegen meinen Rücken presst. Seine Lippen an meinem Hals küssen die empfindliche Haut am Übergang zu meinem Kiefer. „Ich werde nicht zulassen, dass dir noch einmal so etwas passiert, Eleen." Wieder benutzt er meinen vollen Namen und es jagt mir damit einen Schauer durch den Leib. Er drückt mich fest an sich. Seine Umarmung ist beruhigend und gefühlvoll, aber auch unnachgiebig und besitzsichernd. Ich genieße die Vorstellung ewig in seinen Armen zu bleiben. Ein Wunsch. Ein Traum. Langsam wird mir bewusst, dass das, was wir hier gerade tun, gefährlich ist. Es gibt so viele Dinge, über die wir noch nicht gesprochen haben. Von Ewan weiß ich, dass Rick das Erbe der Familienfirma antreten musste. Ihm wurde keine Wahl gelassen. Ich denke an seine Mutter. Sie ist überall, dass war sie bereits damals. Ich weiß, dass sie mich noch nie gemocht hat. Ich bin kein Umgang für ihren privilegierten Sohn. Das Kontaktverbot war ihre genugtuende Konsequenz. Richards Arme liegen noch immer um meinen Körper und er streicht mir über den flachen Bauch. „Du weißt, dass ich dem Kontaktverbot nie zugestimmt habe. Jedenfalls nicht freiwillig." Es ist, als würde er meine Gedanken lesen. „Ich weiß", flüstere ich ihm zu und spüre, wie die Umarmung plötzlich noch heftiger wird. Als würde er mir nicht abkaufen, dass ich es wirklich weiß und daran glaube. Aber dem ist nicht so. Ich weiß es sehr wohl. „Wie geht es ihr?", frage ich leise. „Wem?" Seine Nase drückt sich an meinen Hals. Er schnuppert an mir. „Deiner Mutter." Meine Stimme ist nur ein Flüstern. Ich spüre, wie sich Richard hinter mir etwas verkrampft. „Sie ist herrisch, wie immer", sagt er belustigt und definitiv ausweichend. Seine Hand beginnt von neuem über meinen Bauch zur streichen. „Richard, bitte..." Er unterbricht mich. „Eleen, bitte, lass uns nicht über sie reden. Nicht jetzt. Bitte." In seiner Stimme schwingt so viel Schmerz. Ich schließe meine Augen und verspüre Unsicherheit. „Wir müssen irgendwann darüber reden...über all das, was geschehen ist." „Das werden wir, aber nicht jetzt, hörst du." Richard zieht mich rückwärts in eine liegende Position. Seine starken Arme umfangen mich, doch dann schiebt er mich etwas zur Seite und beugt sich über mich. In seinen Augen spiegeln sich Trauer und unendliches Verlangen. Reine Sehnsucht. Ich strecke meine Hand nach ihm aus und streiche ein paar Strähnen zurück. Sie halten nicht hinter seinen kleinen Ohren. „In diesem Moment will ich dich einfach nur spüren und bei dir sein." Seine zittrige Stimme irritiert mich, doch als sich seine köstlichen Lippen auf meine legen, wischen sich langsam alle Bedenken und Gedanken fort. Ich beuge mich seinem Willen nicht darüber zu sprechen und zergehe gänzlich in unserer Blase der heiligen und unberührten Scheinwelt. Den gesamten Samstag verbringen wir im Bett. Sein warmer, ständig präsenter Körper benebelt mich und irgendwann habe ich das Gefühl auf einer Wolke der Glückseligkeit zu schweben. Jede noch so winzige Berührung, jedes seiner liebevoll gesprochenen Worte nehme ich in mir auf, sauge sie regelrecht ein. Wir verlieren kein Wort darüber, dass wir uns am nächsten Tag wieder trennen müssen und obwohl ich seine Anwesenheit intensiv genieße, schwelt die ganze Zeit dieser grässliche Gedanke in mir. Wir werden uns wieder trennen müssen. Es beschäftigt mich so sehr, dass ich die Nacht nicht schlafen kann. Ich lausche seinen ruhigen Atem, fahre hin und wieder sanft durch seine Haare oder über seinen Körper. Rick wacht nicht auf und ich schlafe einfach nicht ein. Am Morgen glaubt er, dass ich einfach nur wieder früher wach geworden bin. Ich gieße zwei Tassen Kaffee auf und betrachte die kläglichen Reste in meinem Kühlschrank. Richard ist im Bad. Im Hintergrund kann ich das Geräusch der Dusche vernehmen und mit einmal ertönt ein mir unbekannter Klingelton aus dem Flur. Im Dunkel leuchtet das Handydisplay auf der Kommode besonders stark. Ich stelle die Tasse beiseite. Es ist Richards Handy. Als ich die Melodie erkenne, geht sie mir durch Mark und Bein. Die Teufelssonate von Giuseppe Tartini. Auf dem Display erscheint der Name von Richards Mutter und ich erstarre unentwegt auf die leuchtenden Buchstaben. Ihre zornigen Augen kommen mir in den Sinn. Ihre schmalen, hellhäutigen Finger, die sich mit jedem meiner Worte mehr und mehr ineinander verschränkt und verkrampft hatten. Ihre straffen Schultern, die sich die gesamte Verhandlung nicht entspannten. Aber am Schlimmsten war dieser Blick gewesen. Ihre hellblauen Augen waren voller Kälte, Zorn und Wut. Rick kommt nur mit einem Handtuch um der Hüfte aus dem Badezimmer. Mit einem weiteren rubbelt er sich durch die feuchten Haare als er mich sieht, lächelt er. „Dein Duschbad ist alle..." Er bricht ab und sieht mich fragend an. „Alles okay?" Ich schaue von seinem Handy auf und nicke. „Ich habe noch welches im Schrank", sage ich ausweichend. Rick kommt auf mich zu und sieht auf das Telefon auf der Kommode. Ich versuche seinem Blick auszuweichen, doch er greift nach dem Gerät und mit der anderen Hand nach mir. Er schaut, weshalb ich so durch den Wind bin. Er legt das Telefon an sein Ohr hört die Mailbox ab. Ich rechne damit, dass er mit diesem Anruf gleich losfährt. Mein Puls geht augenblicklich nach oben und ich wende mich von dem halbnackten Mann ab. Rick hält mich weiter fest. „Möchtest du noch einen Kaffee?", frage ich leise und spüre anstatt einer Antwort, seine Arme, die sich um meinen Bauch schlingen. „Ja, gern und einen Toast, Marmelade, Schokolade oder irgendwas anderes, was ich dir vom Körper lecken kann." Auf meinen Lippen bildet sich ein beschämtes Lächeln. Dass er nicht sofort geht, beruhigt mich ungemein. „Was wollte sie?" „Wissen, wo ich bin und mir noch einmal deutlich sagen, dass ich am Montag die Fusion nicht versauen darf." Seine Lippen legen sich an meinen Hals, doch ich bin so in Gedanken, dass ich die Berührung kaum wahrnehme. Fusion. Aller höchstes Wirtschaftsvokabular und ich verstehe nicht, welche Bedeutung diese Worte haben. Ich weiß nur, dass Richard niemals, wie sein Vater werden wollte und nun zwang ihn Sybilla Paddock genau dazu. Ich wende mich zu ihm um, sehe in ein verwundertes Gesicht und hauche ihm dann einen Kuss auf die Lippen. Ich spüre unsagbare Schuld. „Wofür war der?", fragt er flüsternd und ich zucke nur mit den Schultern. Er musste von meinen Gewissensbissen nichts erfahren. „Ich mache dir Frühstück.", gebe ich von mir und lose mich von ihm. Rick sieht mir nach, als ich in die Küche zurück kehre und schweigend beginne, die letzten Lebensmittel aus meinen Kühlschrank zu kramen. Ich gähne als ich mich zu ihm auf die Couch setze. Der wenige Schlaf der letzten Nacht macht mir zu schaffen. Aber ich hatte jede noch so winzige Sekunde mit Richard genießen wollen. Schlafen kann ich auch später noch. „Wann willst du los?", frage ich leise und lehne meinen Kopf zurück auf die Couchlehne. Rick streicht mir eine paar Haare von dir Stirn und ich schließe meine Augen. „Ich muss gegen 16 Uhr los. Ich werde noch ein bisschen was für die Arbeit vorbereiten müssen." Die Tatsache, dass er das Wort 'wollen' nicht verwendet, lässt mich zufrieden schmunzeln. „Okay." Ich spüre nur noch, wie er mich an der Schulter runterzieht und ich mit dem Kopf auf seinem Schoss zum Liegen komme. Seine warmen Finger streichen durch meine Haare und ich seufze versonnen vor mich hin. „Hast du wieder die halbe Nacht nicht geschlafen, Lee?", flüstert er mir entgegen und ich bin mir sicher, dass er dabei lächelt. „Ich konnte nicht...", murmele ich und sauge Ricks Duft in mich ein. Seine Wärme. Sein Liebe. Ich fühle mich in eine Wolke der Geborgenheit gehüllt. „Es ist lieb von dir, dass du über mich wachst..." Er beugt sich nach vorn und ich spüre seine sanften Lippen auf meinen. Zärtlich. Liebevoll. „Jetzt pass ich auf dich auf." Ein Kuss an meine Stirn und ich dämmere weg. Ich schlafe traumlos und unglaublich tief. Hin und wieder habe ich das Gefühl, dass mich eine zärtliche Hand berührt. Durch meine Haare fährt und ich merke den sanften Druck einer Hand, die sich schützend auf meine Brust legt. Direkt über meinem Herzen. In diesem Moment spüre ich genau das. Sie streicht über meine Brust, hinab zu meinem Bauch. Ein sanftes, wunderbares Gefühl. Ich atme tiefer ein und die Hand bleibt still am unteren Ende meines Bauches liegen. Nur kurz öffne ich die Augen, sehe das schwere Dämmerlicht. Das Flackern des Fernsehers. Ich brauche eine Weile bis ich merke, dass es bereits sehr spät sein muss. Rick lächelt sanft. „Oh, warum hast du mich nicht geweckt? Wie spät ist es?", frage ich benommen und blinzele ihm entgegen. Seine sanften Augen mustern mich und dann beugt er sich zu mir nach vorn. Die Berührung unserer Lippen ist nur ein Hauch und doch ist es das schönste Gefühl von allen. „Habe ich doch gerade, oder?" Rick lehnt sich wieder zurück an die Couch und ich fahre mir müde durch die Haare, setze mich auf und mein Blick fällt auf die Uhr am Telefon. Ich schrecke auf als sie mir verdeutlicht, dass es schon nach 18 Uhr ist. „Scheiße Rick, es ist schon so spät. Du hast doch gesagt, dass du 16 Uhr los musst." Mittlerweile bin ich von der Couch gesprungen und schaue den ruhig sitzenden Mann an, der in diesen Moment scheinbar alle Zeit der Welt hat. „Halb so wild." Er beugt sich nach vorn und zieht mich zurück auf die Couch. Ich knie mich neben ihn und sehe ihn an. Ich verstehe nicht, warum er mich nicht einfach geweckt hat. Außerdem muss er fast fünf Stunden ohne Bewegung gesessen haben. Wie hat er das ausgehalten? „Schau nicht so schrecklich schuldbewusst. Ich wollte dich nicht wecken, denn du hast so schön geschlafen und dabei so verdammt niedlich ausgesehen. Genauso, wie damals." Sein freches Grinsen lässt mich erröten und jagt mir zu gleich das schreckliche Gefühl des Verlassenwerdens durch den Leib. Nun wird er gehen und ich habe die letzten Stunden unseres vielleicht letzten Zusammenseins verschlafen. Die Vorstellung sorgt für Beklemmungen, die sich in mir ausbreiten. Rick greift nach meinen Händen und zieht mich sachte in seine Arme. Eine Weile bleiben wir einfach so sitzen. „Sei vorsichtig", hauche ich ihm vom Türrahmen aus entgegen. Richards Blick wird weich und noch einmal kommt er auf mich zu. Er greift nach meiner Hand und führt meine Handfläche zu seinen Mund. Ein Kuss seiner warmen Lippen. Danach folgt ein weiterer auf die Kuppen meines Zeige- und Ringfingers. Durch die kühle meiner Finger spüre ich die Hitze seiner Lippen besonders intensiv. Ein warmer Schauer durchfährt meinen Körper und ein hauchzartes Keuchen entflieht meinen Lippen. Wie soll ich nur eine weitere Trennung überstehen? Mein Herz beginnt zu spannen. Wir wissen nicht wann und ob wir uns wieder sehen. Das Reißen in meiner Brust wird immer schmerzhafter. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich blicke zu Boden und versuche die heftigen Gefühle zu verbannen, doch ich schaffe es nicht. Richard macht einen Schritt auf mich zu. „Eleen, wehe wenn du jetzt weinst. Wir kriegen das hin verstanden? Hast du verstanden?" Ich sehe auf und nicke kaum merklich. Rick mochte es nicht, wenn ich weinte. Dann fühlt er sich unsicher und glaubt, irgendetwas falsch zu machen. Das war schon damals so. Doch in diesen Moment ist mir nach weinen. Ich reiße mich nur halbherzig zusammen. „Du kannst mich jeder Zeit erreichen, Lee. Jeder Zeit. Und ich versichere dir diese Nummer kennt niemand anderes. Sie wurde nie benutzt. Nur von dir." Ein weiteres Mal haucht er einen Kuss auf meine Fingerspitze und wendet sich dann um. Ich bin froh und enttäuscht, dass er mich nicht auf den Mund küsst, denn ich weiß nicht, wie stark meine Sehnsucht dadurch noch werden würde. Ich kann ihn anrufen. Seine Stimme hören und in meinen Erinnerungen zerfließen. Ich nehme mir vor, es nicht zu tun. Noch immer müde lasse ich mich auf die Couch fallen. Mein Bein baumelt über die Lehne und das andere steht fest am Boden. Ich habe kalte Finger und ich betrachte die beiden Finger, an die Richard vorhin seinen Lippen gelegt hat. Noch immer spüre ich das zarte Kribbeln, welches sich meinen Arm entlang arbeitet. Unwillkürlich führe ich meine Hand zu meinen Lippen. Ich stelle mir vor den Geschmack seiner Lippen aufzunehmen. Ich will ihn so gern wiedersehen. Ich muss ihn wiedersehen, aber ist das wirklich eine gute Idee? Was, wenn ich mir die Beobachtungen nicht einbilde? Doch wer sollte uns beobachten? Fast automatisch wandern meine Gedanken sieben Jahre zurück in die Vergangenheit. Vielleicht hatte Richards Mutter herausbekommen, dass wir in derselben Stadt wohnen und deshalb jemanden auf mich angesetzt, aber wie hätte sie das herausbekommen sollen? Ich bin nirgendwo gemeldet, außer bei meinem Bewährungshelfer und der durfte solche Informationen nicht einfach herausgeben. Der Gedanke beschäftigt mich den Rest des Tages. In meinem Kopf formen sich Pros und Kontras. Während ich die Wohnung aufräume, lese und mich von dem nichts sagenden Fernseherprogramm berieseln lasse. Am späten Abend habe ich das Gefühl, dass mir die Decke auf den Kopf fällt und beschließe mir eine Kleinigkeit zu essen zu holen. Ich entscheide mich für die Pizzeria um die Ecke. Richard liebt Pizza. Ein Lächeln auf meinen Lippen als ich den Türschlüssel ins Schloss stecke. Mit einem feinen Klack öffnet sich die Tür und ich trete in den dunklen Treppenaufgang. Mein Blick wandert über die Schilder der Briefkästen. Müller. Richter. Morosow und Dima. Von den Meisten meiner Nachbarn hatte ich nicht einmal ein Bild im Kopf. Werbung fällt mir entgegen als ich meine Briefkastenklappe öffne und während ich sie durch gehe, rutscht ein einfacher weißer Briefumschlag hervor. Keine Adresse. Kein Absender. Er ist nur schlicht zugeklebt und wiegt kaum etwas. Ich wende ihn mehrere Male in der Hand und spüre, wie mein Puls nach oben geht. Mein Finger gleitet zwischen die Klebestelle und mühelos öffnet sich der Umschlag. Ich ziehe zwei Bilder heraus. Eine junge, blonde Frau ist darauf zu erkennen. Sie schiebt einen Kinderwagen vor sich her. Es ist keine gute Aufnahme. Ich ziehe das andere Bild nach vorn. Dieselbe Frau und diesmal trägt sie ein kleines Kind auf ihren Armen. Schlafend und mit hellbraunen Locken, die sich zärtlich um den kleinen Kopf kringeln. Ich kenne die Frau darauf nicht. Verwundert wende ich das Bild um. Auf der Rückseite ist eine Adresse notiert und das Datum von vor einem dreiviertel Jahr. Ich kenne die Adresse nicht. Unbewusst trete ich noch einmal aus dem Haus und sehe mich auf der Straße um. In den Autos ist niemand zu erkennen. Niemand auf der Straße. Ich schaue auf die Bilder in meiner Hand. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)