Behind the Wall von Karo_del_Green (Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft) ================================================================================ Kapitel 13: Die Lasten der Schweigsamen --------------------------------------- Kapitel 13 Die Lasten der Schweigsamen Nach unendlichen Minuten des Nichtatemkönnens setze ich meinen Weg fort. Drücke mir unentwegt die Hand gegen den oberen Bereich meines Bauches und laufe so lange durch die Stadt bis ich vor Kälte meine Finger nicht mehr spüren kann. Erst dann bleibe ich vor einer U-Bahnstation stehen und orientiere mich. Ich befinde mich am anderen Ende der Stadt. Die lange Fahrt zurück in meine Wohnung beruhigt mich. Unbekannte Gesichter. Völlige Anonymität. Zwei junge Mädchen sitzen neben mir und teilen sich einen Kopfhörer. Ich kann die heftigen Beats der Musik, die sie hören, förmlich auf meiner Haut spüren. Berauschendes Dröhnen. Die Melodie ist mir nicht bekannt. Ich bin mir auch nicht sicher, ob man es als Melodie bezeichnen kann. Ein älterer Herr, der nach Zigarrenrauch und Seife riecht, sitzt auf der anderen Seite. Die Kombination der beiden Gerüche ist so eigenartig, dass er ein ganze Weile meine Aufmerksamkeit hat, während mich die Vibrationen der Musik neben mir langsam einlullen. Ich selbst habe nie geraucht, aber Rick hatte ein paar Mal Zigarren von seinem Vater geklaut. Den Geruch empfand ich schon damals als anziehend, obwohl sich zugleich auch ein schlechtes Gefühl in mir wähnt. Auch Renard Paddock roch stets nach abgestandenen Zigarren- und Zigarettenrauch. Doch meine Erinnerung hieran ist bissig, ekelhaft und kalt belegt. Vielleicht ist es die Mischung aus beidem, die mir die Schauer durch den Körper jagen. Unwillkürlich schließe ich die Augen. Ich habe das Gefühl den Geschmack des Tabaks auf meinen Lippen zu spüren. Bitter. Herb. Seine Hände an meinem Hals. Ich kriege keine Luft und schrecke auf. Die Mädchen neben mir sehen mich mit leicht geweiteten Augen an. Ich streiche mir die Haare zurück, stehe auf und stelle mich für den Rest des Weges an die Tür. Niemand steigt in der Zeit ein oder aus und ich starre in die Dunkelheit hinaus. Genau in dem Moment als ich die Tür zu meiner Wohnung schließe, klingelt das Telefon. Das Geräusch lässt mich augenblicklich zusammenfahren. Mein rasender Herzschlag hallt und bebt. Seit wann bin ich wieder so schreckhaft? Noch vollkommen bekleidet, gehe ich ins Wohnzimmer und sehe auf das leuchtende Plastikteil herab. Die ersten Wochen nach dem Gefängnis bin ich auch bei jedem noch so kleinem Geräusch zusammen gezuckt. Ich lauschte und beobachtete. Alles und jeden. Im Gefängnis musste man derartig vorsichtig sein. Ich habe eine Weile gebraucht um die Verhaltensmuster abzulegen. Doch bis heute habe ich gern etwas im Rücken, damit niemand von hinten an mich herantreten kann. Allerdings lässt es sich nicht immer verhindern, wie das Zusammentreffen mit Detektiv Moore vor ein paar Tagen bewies. Er hat mich vollkommen überrascht. Als nächstes fällt mir die Begegnung mit einem meiner Nachbarn ein. Er kam rückwärts aus seiner Wohnung gelaufen, ohne nachzudenken und ohne zu gucken und lief direkt in mich hinein. Ich würde mich stets vorher absichern und lauschen, ob ich im Treppenhaus Schritte oder Stimmen höre. Er war völlig unbedarft. Fast beneidenswert. Ein junger Mann, der stets ein Lächeln in seinem Gesicht trug, aber in der letzten Zeit sah ich ihn immer wieder nachdenklich und ruhig. Das Telefon klingt noch immer. Wenn es Ewan ist, muss ich rangehen. Ich greife zögernd danach, sehe keine Nummer auf dem Display. „Hallo?", frage ich. Nur Stille. „Hallo, wer ist dran?", wiederhole ich verbissen. Ich will keine Furcht zeigen. Nun höre ich jemanden atmen. Das Rauschen ist deutlich wahrzunehmen. „Ich höre sie atmen. Was wollen sie?" Meiner verzweifelten Frage folgt ein feines Kichern. Dann wieder nur Atem. Ich nehme das Telefon bereits von meinem Ohr, doch dann ertönt eine Stimme. Männlich. „Hast du sie gesehen? Sie ist ein schönes Kind, nicht wahr?" Mich erfasst Kälte. Ich muss ihm nicht bestätigen, dass ich die Adresse aufgesucht hatte. Er weiß es. Er hat mich beobachtet. „Wer bist du?", erfrage ich mit zitternder Stimme. „Wie fühlt man sich, wenn man schon wieder eine Familie zerstört?" Ich lasse das Telefon sinken und fallen. Ich bin vollkommen erstarrt. In meinen Ohren beginnt es zu rauschen und ich habe das Gefühl, dass sich mit einem Mal das Pochen meines Herzens durch den ganzen Raum arbeitet. Laut. Dröhnend. Er schallt von den Wänden wider und trifft zurück auf meinen Körper. Die Wände beginnen zu vibrieren und meine Beine geben langsam nach. Als ich auf meinen Knien lande, sehe ich auf das am Boden liegende Telefon. Es ist noch an und ich höre das dumpfe Lachen, das aus dem Hörer dringt. Obwohl die Geräusche aus dem Telefon seit ein paar Minuten verstummt sind, schaffe ich es nicht mich wieder aufzurichten. Was passiert hier? Wieder schrecke ich zusammen, als die Türklingel die gesamte Wohnung durchdringt. Mein gesamter Körper ist überzogen mit einer unangenehmen Gänsehaut. Doch als auf das energische Klingeln lautes Hämmern folgt, richte ich mich auf. „Eleen!" Richards gedämpfte Stimme dringt durch die geschlossen Tür. „Eleen, mach bitte die Tür auf. Bitte! Bitte, lass mich rein." Ich rühre mich nicht. Das Bild des kleinen Mädchens ist allgegenwärtig und lässt sich nur schwer aus meinem Kopf vertreiben. Ich sehe ihre müden, sanften Augen. Die kleinen knubbeligen Finger, die an Richards Hals griffen. Der Schmerz, der durch meine Glieder fährt, ist einnehmend und verbrennend. Er frisst sich durch meine Knochen und verhindert, dass ich mich bewege. Ich bin wie gelähmt. „Eleen! Lee. Bitte." Verzweifelt. Meine Lider schließen sich, als würde unendliche Schwere auf ihnen lasten. "Lee, bitte ignoriere mich nicht. Das hast du schon am Telefon gemacht. Bitte. Ich mache mir Sorgen. Bitte, rede mit mir. Lass es mich erklären. Bitte!" Seine Worte sind durchtränkt von Verzweiflung. Sie sickert durch meinen Körper und lässt mich innerlich ertrinken. Still und schmerzhaft. Ich greife nach dem am Boden liegenden Telefon und stehe vollständig auf. Bevor ich die Tür öffnen kann, vernehme ich ein weiteres Mal meinen verzweifelt gerufenen Namen. Rick lehnt mit beiden Armen am Türrahmen. Er trägt nur eine Strickjacke und es sieht aus als wäre er ohne nachzudenken aus seiner Wohnung gestürmt. So ein Dummkopf. Seine Hand streckt sich hoffnungsfroh nach mir aus, doch ich weiche zurück. Er lässt sie sinken. Ich höre, wie sich im Treppenhaus mehrere Türen schließen. Richards Gebrüll ist ziemlich laut gewesen sein. Für einen kurzen Moment erblicke ich den jungen Mann, der in der Wohnung unter mir lebt und nun auf dem Treppenabsatz steht. Seine wachsamen, braunen Augen sehen zu mir und dann zu Richard. Rick murmelt ihm eine Entschuldigung zu, die er vermutlich gar nicht hört. Ich mache keine Anstalten, irgendetwas zu erklären, sondern greife nun meinerseits nach Ricks Hand und ziehe ihn in die Wohnung. „Aufmerksame Nachbarn hast du", murmelt er witzelnd, nachdem ich ebenfalls wieder in den Wohnungsflur getreten bin. Ich antworte nicht, sondern weiche nur zur Seite aus und lasse den Größeren rein. Leise schließe ich die Tür. Unbewusst lege meinen Arm gegen meinen Bauch und streiche mit unaufhörlich über die selbe Stelle, wie vorhin. Das Gefühl nicht atmen zu können, verschwindet nicht. Richard bemerkt es sofort. Er schluckt. Ich sehe dabei zu, wie sein mit Bartstoppeln überzogener Adamsapfel schnell auf und ab hüpft. Rick ringt mit sich. "Lee, ich...." , setzt er an. „Du musst mir nichts erklären. Ich verstehe es.", sage ich vorweg und greife auf seine vorige Bitte zurück, dass er genau das vor hat. Und er muss es wirklich nicht. Er hat das Recht auf eine Familie und wir haben bis auf ein stilles Versprechen und einem unausgesprochenen Wunsch niemals gesagt, dass wir aufeinander warten werden. Es entbehrte sich jeglicher Logik und dennoch merke ich, wie mit jedem weiteren ausweichenden Gedanken mein Herz zu zerreißen beginnt. „Doch Lee, das muss ich. Es tut mir so leid, dass du es so erfahren hast." Seine Stimme scheint mit jedem Wort leise zu werden bis sie fast bricht. Er macht einen Schritt auf mich zu und seine zittrige Hand tastet an die Stelle seiner Brust, hinter der sein Herz schlägt. Es bebt, genauso wie meins. Dann greift er in die Innentasche seiner Jacke. Er zieht ein Foto hervor und reicht es mir. Das kleine Mädchen ist darauf abgebildet. Ein wunderschönes Lächeln umrahmt von niedlichen Locken. Aufmerksame, sanft goldene Augen. Auf diesem Bild sieht man nur noch deutlicher, dass sie Richards Tochter ist. Ich nehme es nur zögerlich in die Hand. „Das ist Kaya... Kaya Eleena." Bei der Erwähnung ihres vollen Namens sehe ich auf. Ich spüre, wie sich mein Brustkorb zusammenzieht und meine Augen feucht werden. „Sie ist mein kleines Mondgesicht", fährt er fort. Seine Stimme ist ein zärtliches Flüstern. Ich betrachte das Bild, merke, wie meine Sicht verschwimmt, weil sich meine Augen immer mehr mit Tränen füllen. „Sie ist bildschön." Ich gebe ihm das Bild mit zitternden Fingern zurück. Er nimmt es entgegen, steckt es aber nicht weg. Ich versuche meine Gefühle unter Kontrolle zu bringen, doch bei Richard fiel es mir schon immer schwer. Auch jetzt schaffe ich es nicht. Ich merke, wie meine Unterlippe zu beben beginnt. Ich beiße mir sachte darauf, um es zu stoppen. Nichts hilft. Mein Kiefer spannt sich an. Fast automatisch wende ich meinen Blick von Richard ab. Wieso kann ich mich nicht einfach über sein Glück freuen? „Bitte, mach nicht dieses Gesicht", fleht er. Ich versuche augenblicklich den Schmerz und die Enttäuschung aus meinem Gesicht zu wischen, doch ich schaffe es nicht. „Es tut mir so leid, aber ich konnte es dir nicht sofort sagen. Ich wusste, dass du dann keinen Kontakt zu mir willst. Und das wollte ich nicht. Ich bin so egoistisch. Es tut mir Leid!" Rick macht einen Schritt auf mich zu und ich weiche unbewusst zurück. Er stoppt. „Ich verstehe es", wiederhole ich nur. Ungewöhnlich tonlos und meide seinen Blick. „Nein, du verstehst nicht." Rick überbrückt die Distanz zwischen uns. Diesmal habe ich keine Chance zu entfliehen. Er greift nach meinen Händen und hält sie fest. „Ich musste Entscheidungen treffen, die mir nicht leicht gefallen sind. Damit meine Mutter Ruhe gibt. Und ich bedauere es. Aber ich bereue nicht, dass sie mir meine Tochter geschenkt haben. Denn sie hat mir erleichtert dich nicht zu haben." Rick zieht mich zu sich. Trotzdem versuche ich mich dagegen zu wehren. Die Stimme am Telefon hat Recht. Ich zerstöre schon wieder eine Familie. Die Erkenntnis breitet sich in mir aus, wie siedend heißes Gestein. Ich zerbreche an der Last. „Eleen. Bitte, glaube mir." Ich kann es nicht. Wie kann er eine Familie haben und zu mir kommen? Wie kann er das tun? Ich spüre heiße Tränen, die über meine Wange rinnen. Ich schluchze ohne es zu wollen und die Fassungslosigkeit ergreift von mir Besitz. Wieso lässt er zu, dass ich noch einmal seine Familie kaputt mache? Reichte es nicht, dass ich vor sieben Jahren seine und meine eigene Familie zerstört habe? „Wieso?", klage ich ihm und kann nicht mehr aufhören zu weinen. „Warum machst du das? Warum lässt du das zu?", frage ich tränenerstickt. Meine Beine geben nach und ich gehe vor Richard auf die Knie. Die ganze Fülle der Empfindungen packt mich. Sie durchrollt meinen Körper und lässt ihn erbeben. Sie schüttelt und zerrt. Richard hält mich noch immer meinen Arm fest. Er hat gehofft, dass sich mit seinem Worten alles erklärt, das er mir die Angst nimmt, aber für mich hat es alles noch schlimmer gemacht. Sein verwunderter und fragender Blick verschwindet vollends hinter dem feuchten Schleier meiner Tränen. Richard geht vor mir auf die Knie. Seine warme Hand umfasst mein Handgelenk, wandert von dort beruhigend und streichelnd meinen Unterarm hinauf. Hinab. Fahrig und unsicher. "Lee, Nein. Nein, nicht weinen. Warum weinst du so?" In seine Stimme schwimmt dieselbe Unsicherheit, wie damals. Mein Anblick bereitet ihm puren Schmerz. Seine Hand legt sich an meine Wange. Ich schaffe es nicht ihn anzusehen. "Bitte, hör auf zu weinen.", fleht er. Doch das lässt mich nur noch mehr in dem dunklen Meer ertrinken. Mein Weinen wird lauter, hemmungsloser. Er zieht mich in seine Arme und ich lasse es geschehen. Mein Gesicht drücke ich in seine Halsbeuge. Seine Hand streicht beruhigend durch mein Haar und über meinen Nacken. Sie zittert und ich bin in der Heftigkeit meine Tränen gefangen. „Bitte" Nur noch ein Flüstern. Die Last der letzten Wochen entlädt sich über mir, wie tonnenschweres Geröll. Es ist als wären mit einem Mal alle vergangenen Probleme und Ängste wieder so intensiv, wie sie es vor sieben Jahren gewesen sind. „Wieso lässt du zu, .... dass ich deine Familie kaputt mache? Warum, Rick? ... Warum? Es ist genau, ..... wie er gesagt hat", stottere ich zusammen, während ich bitterlich weine. Ich spüre, wie sich sein Körper versteift und jegliches Streicheln aufhört. „Wovon redest du?" Nun zwingt er mich ihn anzusehen, in dem er sanft seine Hände an meine Wangen legt. „Deine Tochter... Deine Familie!", bekomme ich nur unter heftigen Schluchzern heraus. Meine Augen sind so verhangen, dass ich sein Gesicht nicht sehen kann. Das Alles überfordert mich. „Oh, Lee. Wovon redest du da?" „Ich zerstöre schon wieder deine Familie, Rick. Ich will das nicht.... Ich will, dass du glücklich bist. Deine Tochter soll.... glücklich sein. Sie soll eine richtige Familie haben." Ich neige meinen Kopf in seinen Händen wieder nach unten. Tränen tropfen auf meine Oberschenkel. Richards Daumen streicht über meine Wange, streicht Tränen und Schnodder breit. Doch es ist ihm egal. Genauso, wie mir. Dann zieht er mich in eine feste Umarmung. Er lässt sich zurückfallen, sodass ich zwischen seinen Beinen in seinen Armen zum Liegen komme. Seine Wärme beruhigt mich und erzwingt zugleich weitere Verzweiflung. Das sollte er nicht tun. Er sollte mir nicht so nahe sein. Dennoch giere ich danach. Nach jeder winzigen Berührung. Nach jedem lieben Wort, welches über seine Lippen fließt. „Oh Lee." Nur ein Flüstern. Wieder und wieder. Ich spüre seine stoppelige Wange, die sich auf meinen Kopf bettet und dann seine Lippen. Ein sanfter Kuss auf meine Haare. Ein weitere folgt auf meine Stirn. Es fehlt nur noch, dass er mich zärtlich wiegt. Noch immer perlen Tränen über meine Wange. Sie sickern in den Stoff von Ricks Strickjacke. Ich ziehe unentwegt die Nase hoch, bis mir Richard ein Taschentuch samt Packung reicht. Ich beruhige mich langsam und irgendwann beginnt er sanft meinen Nacken zu kraulen. Seine Lippen liebkosen weiter meine Stirn. Die Sanftheit seiner Berührungen zieht mich immer tiefer in die unsagbare Liebe, die ich für ihn empfinde. Ich möchte darin ertrinken. Auf der Stelle. „Rachel, Kaya Mutter und ich leben voneinander getrennt. Das haben wir schon während der Schwangerschaft", beginnt er zu erzählen. Mein Gehirn arbeitet noch nicht, also dringen die Worte nur langsam zu mir durch. Rachel. Auch ihr Name kommt mir irgendwie bekannt vor. „Meine Mutter verlangte nach dem Studium von mir, dass ich mich endlich im Sinne des Familienbetriebs entscheide. Ich sollte heiraten, eine Familie gründen und die Firma leiten. Du kennst ja meine Mutter." Ein trockenes Lachen. Ich sage nichts. Mein Blick ruht auf den dunkelblauen Stoff seines Pullovers und ich lausche meinem und seinem Herzschlag. „Ich war während des Studiums eine Weile mit Rachel zusammen gewesen, aber es war nie...ernst gewesen, sondern eher einfach. Immerhin kennen wir uns schon eine Weile. Meine Mutter sorgte dafür, dass Rachel in der Firma anfing und machte mir damit unmissverständlich klar, was sie von mir wollte." Ich schließe bei diesen Worten meine Augen, spüre, wie sich seine Lippen erneut fester gegen meine Schläfe drücken. Meine Hand, die sich eben noch gegen meine Brust drückte, legt sich an seine Taille. Nur sanft klammere ich mich an ihn. Ich erinnere mich wieder daran, wer Rachel ist. Sie ist die Tochter eines der Geschäftspartner von Richards Vater. Sie war auch am See. In dem Sommer, in dem ich 16 Jahre alt geworden war. „Weißt du, ich habe ohne zu murren das Wirtschaftsstudium begonnen und abgeschlossen. Ich habe, ohne ihr irgendwas entgegen zu setzen, angefangen die Firma zu leiten. Ich dachte, das sei ich ihr schuldig. Meiner Familie. Doch als sie ganz selbstverständlich verlangte, dass ich dich aus meinem Herzen streiche, da habe ich zum ersten Mal seit dem Tod meines Vaters Nein gesagt." Seine Worte lassen mich aufblicken. Ich glaube ihm, doch es wird wenig genutzt haben. Schließlich hat er eine Tochter und diese entstand nicht aus Verweigerung. Obwohl es absurd ist, fühle ich mich betrogen. Es ist ein scheußliches Gefühl und es ist unangebracht. „Ich wollte Rachel um kein Geld der Welt heiraten, aber... Ich habe mich dem Willen meiner Mutter gebeugt, so weit, wie ich es mit meinem Gewissen vereinbaren konnte und blieb mit ihr zusammen. Ich hasse mich dafür." Rick blickt zu mir herunter, mustert mein Gesicht mit verzweifelter Zärtlichkeit. Ich halte meinen Blick gesenkt. Doch er drückt mein Kinn nach oben und sieht mir in die Augen. „Aber sie hat mir Kaya Eleena geschenkt und das ist wunderbar. Hörst du!" Ich nicke schwach. „Außerdem hat meine Mutter damit Ruhe gegeben und sich auch nicht darüber beschwert, dass ich mich von Rachel getrennt habe." So wirklich koscher war es nicht, was er getan hat. Ich spüre schon jetzt, wie mich das Wissen darum belastet. Ein paar Strähnen fallen ihm ins Gesicht. Ich streiche sie ihm davon. „Eleen, ich will nur dich. Ich habe nie jemand anderen gewollt", flüstert er mir entgegen. Er umfasst mich fester. „Sag das nicht", erwidere ich. Ich fühle mich geschmeichelt, dankbar und zugleich schlecht. „Doch. Ich wiederhole es immer wieder und immer wieder. So lange, bis du aufhörst dieses Gesicht zu machen." Nun mache ich es erst Recht. Rick lächelt und greift mir in den Nacken, um mich in einen Kuss zu ziehen. Auf meinen Lippen tanzt das Prickeln der Liebe. Sie entfacht das Flehen nach unendlicher Nähe und Glück. Die Erinnerung an die Süße jugendlicher Lippen, die jetzt eine feinherbe Note haben, ist wohltuend und stark. Es ist noch wunderbarer. Ich genieße es als er beginnt meine Unterlippen mit seiner zu liebkosen. Es sind tausende federleichte Küsse und freches Saugen, dann wechselt er zur oberen. Rick lässt seine Zungenspitze gegen das zarte, empfindliche Fleisch meiner Lippeninnenseite gleiten. Es ist ein Buhlen. Ich gebe der Verlockung nach. Der kribbelige Schauer, der durch meinen Körper fährt, als sich unsere Zungen berühren, lässt mich angeregt keuchen. Nun bin ich es, der den Kuss intensiviert. Seine Zunge umspielt und verlangt. Meine Sehnsüchte sind ungestillt. Sie sind tief in mir verankert. Sie lechzen nach dem anderen Mann, der mir nach so vielen Jahren endlich wieder nahe ist. Obwohl er es nicht dürfte. Ich löse den Kuss, nachdem ich einen sanften Kuss auf seine Ober- und Unterlippen gehaucht habe. Rick lässt seine Augen geschlossen und schmiegt sich mir entgegen. Ich seufze in die Wärme seiner Arme hinein und schließe meine Augen. „Lee, was meintest du vorhin damit, dass er es gesagt hätte?", fragt Rick nach einer Weile leise. Seine Finger streicheln zärtlich durch meine Haare, doch ich löse mich von ihm und setze mich auf. Ricks Blick folgt meinen Bewegungen. Es zu leugnen, würde nichts mehr bringen. Nervös streiche ich mir die Haare zurück. „Ich kriege seit kurzem seltsame Anrufe. Erst war es nur Stille, dann lautes Atmen und vorhin, da hat jemand mit mir gesprochen." "Was?" „Ich habe deine Adresse von Bildern, die mir irgendjemand in den Briefkasten getan hat." „Warte. Warte. Langsam, bitte. Du kriegst seltsame Anrufe und komische Post?" Ich nicke. Seine Hand legt sich an meine Schultern und er beugt sich zu mir. „Wirst du bedroht?" Ich senke meinen Blick. Ich weiß nicht richtig darauf zu antworten. Im Grunde werde ich nicht bedroht, aber auf jeden Fall terrorisiert. In meinem Kopf kommen mir alle seltsamen Momente in den Sinn. Die Bilder. Die Anrufe. Der Fremde mit der Zigarette. Ich denke an Steven. Er bedroht mich, aber das ist eine andere Geschichte. Ich seufze leise. Moore. Der Gedanke an den alten Detektiv lässt mich hochschrecken. Trotz meiner müden Beine stehe ich ruckartig auf. Ich stürze fast, halte mich an der Kommode kurz fest und wanke dann ins Wohnzimmer. Meine Finger beginnen zu zittert und meine Füße Kribbeln voller Unruhe. Es ist unangenehm, aber wird von der furchtbare Vorstellung überdeckt, dass er Rick gesehen haben könnte. Ich schiebe den Vorhang zur Seite und starre hektisch atmend auf die Straße vor dem Haus. „Eleen? Was ist los?" Richard folgt mir mit leichter Verzögerung. Bevor er bei mir ankommt, drehe ich mich um und drücke ihn vom Fenster weg. „Bleib weg", fahre ich ihn an. Ich wechsele zum anderen Fenster. Nichts. Das schwarze Auto ist nicht zu sehen. Vielleicht hat er ein Neues genommen. Unsicher wandert mein Blick über die Straße. Nirgendwo eine Bewegung. Ich wechsele zum anderen Fenster zurück. Für einen Moment lehne ich meine Stirn gegen die kühle Scheibe. Ich kriege kaum Luft. „Was machst du da?" Bevor Rick erneut einen Schritt auf mich zu macht, ziehe ich die Vorhänge zu. Ein letzter, kleiner Schlitz, der den Blick auf ein parkendes Auto frei gibt. Es ist ein roter Mini. Ich glaube eine Bewegung zu sehen, doch letztendlich ist es nur ein vorbeifahrendes Auto, dessen Licht sich in der Scheibe spiegelt. Ich werde langsam paranoid. Meine Lippen zittern. Auch Ricks Stimme wird langsam unsicher. Ich versteht nicht, was hier passiert. Wie soll er auch. „Eleen de Faro....Rede mit mir!" Meinen Namen sagt er laut, den Rest ruhig und bedacht. „Moore ist hier." „Wie bitte?" Richards Gesicht wird bleich. Er weiß sofort, wen ich meine. Auch Rick wurde damals von ihm verhört und verdächtigt. Doch irgendwann sind die Anwälte seiner Familie eingeschritten. „Er hat mich vor ein paar Tagen vor dem Haus abgefangen. Er beobachtet mich und vielleicht auch dich. Er weiß, dass wir beide hier in der Stadt leben und er vermutet, dass wir uns sehen", fasse ich ihm mit aufgeregter Stimme zusammen. Ricks Hand legt sich auf seinen Mund. Er wirkt wirklich geschockt. „Ich fasse es nicht. Verdammt...dieser verbissene Mistkerl und....", gibt er aufgebracht von sich und bricht den letzten Teil ab. Seine Hand ballt sich zu einer Faust und er wendet sich von mir ab. Ist er wütend, weil ich es ihm nicht gesagt habe? Ich wollte ihn nicht belasten und uns beide beschützen. Nur deshalb habe ich es ihm verschwiegen. „Warum hast du nichts gesagt?" Es klingt vorwurfsvoll. Ich wende meinen Blick von ihm ab und schließe meine Augen. So bemerke ich nicht, dass er wieder auf mich zukommt. Erst seine warmen Hände, die nach meinen greifen, lassen mich wieder auf sehen. „Warum bist du nicht gleich zu mir gekommen?", fragt er weiter. „Wir hätten uns gar nicht treffen dürfen. Du hättest nie herkommen dürfen. Das ist falsch. Wir hätten uns nie wieder sehen sollen", belle ich ihm aufgebracht und im gleichen Maß verzweifelt die Tatsachen zu, die uns die letzten Jahre diktiert wurden. Ich bin durcheinander und vollkommen fertig. „Denkst du das wirklich?" „Ja", erwidere ich, halbwegs gefestigt. Doch ich spüre erneut Tränen. „Glaubst du es?" Eindringlicher. „Ja", sage ich leise. „Wirklich?" „Nein." Meine Antwort ist nur noch ein gebrochenes Flüstern. Ricks Hand greift in meinen Nacken und er zieht mich zu sich. „Erzähl mir alles. Bitte", sagt er leise und ich nicke. Ich erzähle ihm von den Anrufen, von der Erkundigung auf meiner Arbeit und dass mich jemand verfolgt. Der Typ mit der Zigarette. Jung. Mir unbekannt. Das Aufeinandertreffen in der U-Bahn und im Kino. Das schwarze Auto, welches zu Moore gehörte. Seine Worte, die mich daran erinnern, dass unsere Geschichte nicht so lückenlos war, wie wir glaubten. Moore weiß genau über uns Bescheid. Die Bilder. Der Anruf. Sie kommen nicht von Moore, dessen bin ich mir fast sicher. Als ich geendet habe, löse ich mich von ihm und gehe zum Esstisch rüber. Ich nehme den Umschlag mit den Bildern zur Hand und reiche sie ihm. Er betrachtet sie. Rick fährt sich mit der Hand über die Lippen, streicht sich über die stoppeligen Wangen. Es ist viel. Es ist verstörend. Ich ziehe das Bild von Richard und die Kopie meines Verhörs aus der Hosentasche. Auch diese halte ich ihm hin. „Das ist von heute.", sage ich, „Wie kann da jemand rankommen? Die Akten sind unter Verschluss", frage ich ihn und sehe, wie er ebenso unwissend den Kopf schüttelt. „Wer hat so alte Bilder von dir?" „Ich weiß es nicht." Er legt sie beiseite und lässt sich auf einen der Stühle nieder. Ein ermattetes Seufzen perlt über seine Lippen. Es ist viel auf einmal. Aber er hat es so gewollt. Ich sehe, wie sehr es in ihm arbeitet und ich weiß, dass er einen Moment zum Nachdenken braucht. Also hole ich aus der Küche zwei Gläser Wasser und setze mich zu ihm. Er sagt noch immer nichts. „Es wäre besser, wenn du...", setze ich an, doch er unterbricht mich. „Hör auf." Sein Blick fällt kurz auf die Bilder seiner Tochter. Ich will nicht, dass er oder sie in Gefahr geraten. „Aber...", versuche ich es erneut. „Hör auf, habe ich gesagt. Ich lasse dich damit nicht allein", fährt er mich an. Aufgebracht richtet er sich auf. „Ich habe dich viel zu lange allein gelassen, Lee." Richard greift nach meiner Hand. Eher er weiter sprechen kann, klingt erneut das Festnetztelefon. Ich erstarre. Es ist Rick, der aufsteht und einen Blick auf das Display wirft. Wieder eine unbekannte Nummer. Meine Finger zittern als er mir den Hörer reicht. Ich verwende keine Begrüßung und ich brauche auch keine. „Lass mich mit Richard sprechen", kommt es ohne Umschweife vom anderen Ende des Hörers. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)