Behind the Wall von Karo_del_Green (Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft) ================================================================================ Kapitel 15: Der Wunsch nach Normalität -------------------------------------- Kapitel 15 Der Wunsch nach Normalität Ich brauche einen weiteren Moment um mich zurück zu Rick ins Bett zu legen. Nur zögerliche lege ich mich zu ihm. Mittlerweile hat auch er sich richtig hingelegt und sich dabei in die Decke eingekugelt. Er wirkt so friedlich. So unbedarft. Ich weiß, dass es auch ihm nicht leicht fällt und dass die letzten Jahre sehr an ihm nagen, aber dass er nun so friedlich und ruhig hier liegt und schläft, ärgert mich ein wenig. Noch immer spüre ich Aufregung, die sich durch meinen Körper malmt. Meine Gedanken rasen. Der Gewissheit darüber, dass Moore nun eindeutig weiß, dass wir beide miteinander in Kontakt stehen, lässt mich nicht schlafen. Die Vorstellung, dass er es ohne weiteres einfach an Richards Mutter weitergibt und damit meine Rückkehr ins Gefängnis besiegelt, erfüllen mich mit Furcht. Ich bleibe im Bett sitzen, atme tief ein und fühle mich nicht besser. Ein Verstoß gegen meine Bewährungsauflagen hat zur Folge, dass ich für die drei nicht abgesessenen Jahre zurück ins Gefängnis gehe. Mir wird mit einem Mal eiskalt und ein leichtes Zittern durchfährt mich. Ich ziehe meine Beine ran und greife nach meinen Füßen. Meine Zehen sind kalt und die Haut an den Seiten ist trocken. Drei Jahre. Wahrscheinlich würde ich damit den letzten Rest Vertrauen, das meine Familien für mich hat, verlieren. Meine Mutter. Ewan. Ich würde meine Nichten oder vielleicht meinen Neffen nicht wieder sehen. Richard. Unbewusst fasse ich nach der Kette um meinen Hals, die den Ring hält, den ich von ihm bekommen habe. Eine weitere Trennung überstehe ich nicht. Ich fühle mich bei ihm so sicher und trotzdem oder gerade deshalb schwelt dieses beißende Angst in mir. Richard kann nichts tun. Wenn er beginnt Fragen zu stellen, dann wird früher oder später durchsickern, dass wir uns sehen und das wäre nicht gut. Meine Finger streichen über eine besonders raue Stelle an meinem Knöchel und ich greife nach der Aloe vera-Creme, die wir vorhin noch so sträflich für etwas anderes genutzt haben. Mit einem Mal merke ich, wie sich Ricks warme Hand meine Hüfte entlang tastet und sich dann zu meiner Brust arbeitet. Er zieht sich dichter an meinen Körper heran und mich damit auch mehr in seine Arme. Ich biete nicht viel Widerstand und lasse mich nach hinten fallen. Seine Wärme umschmiegt mich, scheint mich zu umhüllen, wie eine wunderbare Wolke der Geborgenheit. Sein Gesicht küsst meinen Nacken. Dann auch seine Lippen. Ricks Anwesenheit ist in diesem Moment das Schönste und das Schlimmste für mich. Ich schließe meine Augen, auch wenn ich noch immer nicht das Gefühl habe einschlafen zu können. Der automatische Weckalarm meines Handys lässt mich hochfahren. Ricks Hand rutscht von meiner Brust zu meinem Becken und ich kann ein leichtes Murren hören, welches von seinen Lippen perlt. Ich sehe zu ihm, erkenne die Bewegung unter der Decke und ein glückliches Kribbeln durchfährt meinen Körper. Wenn das doch jeden Morgen so sein könnte. Es dürstet mich nach Normalität. Nach genau diesen kleinen Momenten der Glückseligkeit und der Ruhe. Mein Blick wandert zur Uhr. Es ist halb 6 und noch habe ich ein paar Minuten Zeit. Ich setze mich auf, spüre, wie mich sein Arm dichter umfasst und sich Richard zu mir heranzieht. Eine ähnliche Szene, wie in der letzten Nacht. Doch diesmal ist sein Griff bestimmter. Ich merke, wie sich seine Hand über meine Schenkel tastet und dabei den Stoff meiner Hose zwischen den Fingern hat. „Wieso hast du eine Hose an?", fragt er mit schlafgetränkter Stimme und klingt seltsam enttäuscht. Ich habe sie mir nach dem Badezimmeraufenthalt übergezogen, weil mir kalt war. „Wieso nicht?" „Aber so kann ich dich gar nicht anfassen", sagt er fast lieblich und drückt seine Nase gegen meine Hüfte. Seine Lippen folgen. Sie küssen sich den Bund meine Stoffhose entlang. Ich merke nur den feinen Druck seiner Lippen und bekomme dennoch das zärtliche Kitzeln auf meiner Haut. Seine Oberlippen trifft meine Haut und das Kitzeln explodiert zu einem tiefgreifenden Prickeln, welches sich meine Glieder entlang arbeitet. Die feinen Härchen meines Körpers beginnen zu tanzen. Seine Hand wandert über meinen Oberschenkel und ich genieße das warme Gefühl seiner Berührung. „Du tust es doch trotzdem.", kommentiere ich ruhig, lasse meine Augen geschlossen und seufze genüsslich. „Ja, ich bin ein böser Junge. Aber ohne Stoff wäre es noch besser." Seine Lippen wandern weiter nach oben. Sie gleiten über meine Wirbelsäule, scheinen jeden Wirbel zu küssen. Einmal links. Einmal rechts und dann in der Mitte. Ich bekomme Gänsehaut, lasse Rick gewähren bis er bei meinem Nackenwirbel angekommen ist und meinen Hals liebkost. „Ich muss zur Arbeit", flüstere ich leise und merke, dass Rick mit seinen Streicheleinheiten nicht aufhört. Ich will es gar nicht. ich will nichts anderes mehr spüren als ihn. Doch dann umfassen mich seine Arme. Er drückt mich fest an sich und seufzt laut und eindeutig. „Bevor ich dich loslasse und zur Arbeit gehen lasse, sagst du mir bitte noch, wo die Prellungen herkommen." Nur hauchzart streichen seine Fingerspitzen über eine der roten Stellen an meine Hüfte. Nun seufze ich. Ich habe wirklich gehofft, dass er es vergessen hat. „Ein Unfall bei der Arbeit" Im Grunde nicht gelogen. Nur nicht ganz die Wahrheit. Die Erinnerung an den Vorfall mit Steven verursacht mir Gänsehaut, aber keine gute. „Ein Unfall? Mit einer Walze?" „Farbeimer." „Die dich überrollt haben?", hakt er nach. Ich murre. „Es ist nichts, wirklich!" „Dann haben also zwei Farbeimer deine Hüfte zusammen gepresst. Bekommst du eine Gefahrenzulage? Wenn nicht, würde ich schleunigst eine beantragen. Eure Arbeitsmaterialien sind gemeingefährlich." Deutlicher Sarkasmus in seiner Stimme. Ich beuge mich nach vorn und entziehe mich so ein wenig mehr seiner Berührungen. Richard rückt schnell wieder auf. „Hast du Ärger?", fragt er nun sanft und sorgenvoll. „Ich bin der Neue und das ist alles", beschwichtige ich und hoffe, dass er damit Ruhe gibt. Rick muss sich nicht um alle meine Probleme sorgen. „Und die Kollegin, mit der du essen warst?" Ich spüre, wie er mit diesen Worten seine Hand fester gegen meine Brust drückt. Sie liegt direkt über meinem Herzen, als würde er spüren wollen, wie ich darauf reagiere. „Kaley", nenne ich ihm ihren Namen, „Sie ist sehr nett zu mir, aber ich werde versuchen, sie nicht mehr zu sehen." Ich greife nach seiner Hand und verschränke unsere Finger miteinander. „Warum?" Seinen Lippen küssen mein Schulterblatt. „Weil ich nicht will, dass sie wegen mir Ärger bekommt oder Probleme kriegt." Kaum habe ich das gesagt, merke ich, wie sich sein Blick schier in meinen Körper brennt. Er starrt mich an. „Also hast du doch Ärger?" Rick ist ein Fuchs. Ich war noch nie gut darin, ihn zu belügen. Schon damals hat er jede noch so kleine Schwindelei sofort aus mir heraus bekommen. Wie ein Lügendetektor. Schrecklich. „Nein, ich bin einfach kein Umgang für sie. Ich bin ein Hausmeister und sie ist die Assistenz der Geschäftsführung. Weißt du." Ich versuche mich aus seinem Griff zu lösen, doch Richard packt mich fester und drückt mich dann zurück aufs Bett. Er zwingt mich ihn anzusehen. „Hör auf sowas zu sagen, Eleen. Du bist wundervoll, witzig und der tollste Kerl, den es gibt. Dich als Freund zu haben, ist ein Gewinn." Er haucht mir einen Kuss auf die Lippen, der all seine Worte bekräftigt. „Ich stehe jetzt auf.", gebe ich als Antwort. Ein weiteres Mal drückt er mich runter, als ich versuche, mich aufzusetzen. Ein weiterer Kuss. Diesmal leidenschaftlich, ehrlich und intensiv. Danach lässt er mich los, greift sich die Decke und rollt sich wieder ein. Ich wage es nicht, ihm zu sagen, dass auch er aufstehen muss. Ich ziehe mich an und verschwinde in der Küche um nach etwas Essbaren zu suchen. Toast und Schokocreme. Mehr spuckt mein Kühlschrank nicht aus. In den letzten Tagen war einkaufen das Letzte, woran ich gedacht habe. Ich werde das unbedingt heute nachholen müssen. Vorbildlich suche ich mir einen Zettel und einen Stift aus der Schublade und beginne die wichtigsten Sachen zu notieren. Danach beschmiere ich ein paar Toasts mit Schokolade und suche Rick im Schlafzimmer. Das Bett ist leer. Ich krame mir ein paar frische Klamotten aus dem Schrank und kehre zurück in die Küche. Im Flur kann ich das leise Rauschen der Dusche vernehmen. Ich greife mir einen der Toasts und beiße ab. Die süße Schokoladencreme kitzelt meine Geschmacksknospen. Der Blick fällt zurück auf meine Einkaufsliste. Bisher stehen vier Artikel darauf. Keine Meisterleistung. Ich entscheide mich eher spontan. Nach Lust und nach Verlangen. Es passt nicht zu mir, aber so mache ich es schon immer. Wenn meine Mutter vor dem Einkaufen fragte, ob sie uns Kindern etwas mitbringen soll, dann entschieden sich Erik und Ewan jedes Mal sofort. Süßigkeiten. Kaugummi. Zeitschriften. Später waren es dann Düfte oder spezielle Haarpräparate. Die Mengen an Haargel- und Spray, die die beiden verbraucht haben, würden wahrscheinlich für das Styling von einer Herde Wollhaarmammuts ausreichen. Die Vorstellung belustigt mich noch heute sehr und es bildet sich ein feines Lächeln auf meinen Lippen. Ich wusste nie vorher was ich wollte. Meistens begleitete ich sie zum Einkaufen, schob den Wagen und half ihr beim Tragen. Der Gedanke an meine Mutter lässt das vorige Lächeln aus meinem Gesicht verschwinden. Mit einem Mal spüre ich eine Hand in meinem Nacken. Sie ist warm und streichelt zärtlich in meine Haare. „Das Lächeln hat mir besser gefallen." Seine Lippen treffen meine Wange, dann drückt er seinen Körper an meinen. Ich spüre Feuchtigkeit, die sich durch mein Shirt drückt. „Du bist noch ganz nass." Erschrocken drehe ich mich zu ihm um und nun sehe, dass er vollkommen nackt vor mir steht. Feine Röte legt sich auf meinen Wangen. Rick allerdings blickt auf den Toast in meiner Hand und greift danach. „Hm, das Frühstück der Helden.", kommentiert er. Damit beißt er ab, leckt sich nach kurzem Kauen Schokolade von den Lippen. Ich beobachte ihn dabei an. „Ich hole dir ein Handtuch", sage ich, nachdem ich mich endlich aus meiner Starre gelöst habe und schiebe mich an ihm vorbei. Richard hält mich zurück und zieht mich in einen Kuss. Schokolade schmilzt auf meiner Zunge und vermischt sich mit dem süßen Geschmack Ricks. Ich zergehe in der Erinnerung. Genau das hat er auch schon damals getan. Er hat ein Stück Schokolade gegessen und mich dann geküsst, weil ich selbst nie wirklich auf die kakaohaltige Süßigkeit stand. Aber in der Kombination mit seinen Lippen war und ist es für mich das Elysium. Ich genieße das zarte Kribbeln auf meiner Zunge. Das schmelzende Gefühl auf meinen Lippen. Seine Nähe. „Bringst du mir auch eine Unterhose mit?", erkundigt er sich als wir unseren Kuss lösen und grinst. Ich hebe meine Augenbraue und bin mir nicht sicher, ob er in irgendeine meiner Unterhosen hineinpasst. Ich lege ihm ein paar Sachen raus und scheuche den nackten Mann zurück ins Schlafzimmer. Angezogen kommt Richard zurück in die Küche. In seinen Händen hält er mein Exemplar von Jules Vernes 'Eine Reise zum Mittelpunkt der Erde'. „Du hast ja den alten Schinken noch?", bemerkt er und kommt auf mich zu. Ich bin mir sicher, dass er noch genau weiß, dass es ursprünglich sein Exemplar ist. Der Gedanke an unsere gemeinsamen Leseabende verursacht mir eine herrliche Gänsehaut. Ausgelöst durch viele glückliche Schauer, die sich in alle Richtungen meines Körpers ausbreiten. Ich nehme ihm das Buch ab und drücke ihm stattdessen eine Tasse Kaffee in die Hand. Rick schnuppert. In seinem Gesicht bildet sich ein sanftes Lächeln und dieser Anblick lässt mich prompt erröten. „Ich habe vor ein paar Tagen darin gelesen", sage ich letztendlich und lege das zerfledderte Buch beiseite. Rick schnappt sich einen weiteren Toast, schiebt ihn sich zwischen die Lippen und blickt auf die Uhr. „Wann musst du los?", fragt er kauend. Eine schreckliche Angewohnheit. „In ein paar Minuten." „Soll ich dich fahren?", fragt er mich und ich sehe ihn erschrocken an. Ist das sein ernst? Für einen Moment zweifele ich an seinen Verstand. „Entschuldige. Ich...Es war ein blöder Vorschlag. Ich habe nicht nachgedacht", sagt er, streckt seine Hand nach mir aus. Doch ich nehme sie nicht an. Der Gedanke an die Verfahrenheit der Situation ernüchtert mich augenblicklich. Es gibt noch immer keine Lösung für all das. Ich will Richard sehen können. Ich will ihn anfassen und mit ihm reden können. „Ich stehe das nicht durch, Richard. Ich..." Ich breche ab, streiche mir mit beiden Händen über das Gesicht und sehe aus dem Augenwinkel heraus, wie er den Toast sinken lässt. „Lee, wir schaffen das. Ich lasse dich nicht mehr allein", sagt er und seine Hand umfasst meine. Ich habe nicht einmal gemerkt, dass er näher gekommen ist. Er lässt mich nicht allein. Vielleicht ist genau das das Problem. Wenn wir uns nicht mehr sehen, dann gerät auch niemand in Gefahr. Ein heftiges Stechen verkrampft mein Herz. Ich versuche mir nichts anmerken zu lassen. Der Schmerz wird besser als ich Ricks Lippen schmecke. In seiner Nähe sein ist das Einzige, was ich wirklich will. Doch das ist genau das, was ich nicht darf. „Ich muss zur Arbeit", sage ich ruhig als wir den Kuss lösen. „Okay." Im Flur bleibe ich einen Moment stehen. Ich lausche. Es ist reine Gewohnheit. Ich schließe die Tür ab, lasse das Schloss zwei Mal klicken. Rick folgt mir nach unten, doch als er die Haustür öffnen will, halte ich ihn zurück. „Du musst hinten rausgehen", sage ich leise. „Nein, ich begleite dich." „Nein! Wir können hier auf keinen Fall gemeinsam rausgehen", sage ich ernst und Rick widerspricht kein weiteres Mal. Ich leite Rick an, wie er aus dem Kellerausgang hinaus kommt und verschwinde durch die Vordertür. Unbewusst gleitet mein Blick über die parkenden Autos. Keines davon erkenne ich wieder. Kein Moore. Jedenfalls zeigt er sich nicht. Ich ziehe die Schultern nach oben und so den Kragen meiner Jacke dichter an meinen Hals. In meinem Körper wüten gemischte Gefühle. Das sanfte und zufriedene Kribbeln, weil ich Rick gesehen habe, weil er bei mir gewesen ist. Die Angst um das Auffliegen und die harte zwangsfolgene Konsequenz. Gefängnis. Eine erneute und vielleicht endgültige Trennung. Auch der Gedanken an die Arbeit behagt mir nicht. Für einen kurzen Moment spüre ich erneut Stevens Beine um meine Hüfte. Seine Hände, die meine Kleidung zerreißen. Die Wut in seinen Augen. Unbewusst greife ich an meine Brusttasche und ertaste das Handy darin. Die Aufnahme. Ich nehme mir vor, sie irgendwo zu speichern und sicher zu verwahren. Rick darf es nicht erfahren. Ich frage mich, was darauf noch folgen wird. Sicher wird Steven diese Blamage nicht einfach auf sich sitzen lassen. Ein flaues Gefühl breitet sich in meiner Magengegend aus. Das Richtige wäre mit dem Vorarbeiter zu reden. Die Stufen zur U-Bahn nehme ich ohne mich umzusehen und auch ohne auf die Leute in meine Umgebung zu achten. An meinem gewohnten Platz bleibe ich stehen, starre auf die geriffelten Steine der Abstandslinie zwischen Bahnsteig und Schienenkeller. Ich kann hören, wie der Zug einfährt und mit einem Mal spüre ich warme Finger an meiner Hand. Die Berührung lässt mich aufblicken und direkt in Ricks hellbraunen Augen. Seine andere Hand greift in meinen Nacken. Er zieht mich an sich heran und drückt mir einen Kuss auf, während die Bahn neben uns zum Stehen kommt. „Pass auf dich auf", sagt er leise und entlässt mich in die U-Bahn. An der Tür bleibe ich stehen. Sie schließt sich und ich kann ihn nur noch schemenhaft durch die dreckige Scheibe erkennen. Getauschte Rollen. Auch ich habe das Bedürfnis, seinen Namen zu sagen, auch wenn ich weiß, dass er es nicht mehr hören kann. Ein Lächeln auf seinen Lippen. Es ist nicht Gewiss, wann und ob wir uns so bald wieder sehen. Noch während der Zug die Bahnhofshalle verlässt und von der Dunkelheit des Tunnels verschluckt wird, stehe ich an der Tür. Schattenhafte Rohrleitungen. Notbeleuchtung in den verzweigten Gängen. In meinem Kopf zeichnet sich Richards Lächeln. Das seltsame, flaue Gefühl in meiner Magengegend wird mit jedem Schritt Richtung Arbeitsstätte schlimmer. Im Foyer bleibe ich einen Moment stehen. Es ist wie eine unsichtbare Sperre, die mich zurückhält. Meine Hände beginnen zu zittern und ich schiebe sie in die Taschen meiner Jacke. In der Stille höre ich, wie Michael seine Zeitung umschlägt. Diesmal eine große Tageszeitung und keine Zeitschrift. Diese folgt vielleicht am Nachmittag. Ich kann die Spitze der Ecken über der milchige Trennscheibe liegen sehen. Er sieht kurz auf und hebt seine Hand zum Gruß als er mich erkennt. Ich erwidere den Gruß und mache mich dann auf den Weg zu den Umkleideräumen. Irgendwann höre ich es laut hinter mir Schnaufen. Verwundert wende ich mich um und sehe Micha mit hoch rotem Kopf hinter mir herlaufen. Er keucht und neigt seinen massigen Oberkörper nach vorn, als er vor mir stehen bleibt. Kein Wort. Kein Atem. Ich widerstehe dem Drang, ihn zu fragen, ob es ihm gut geht. Ich will ihn weder veralbern noch möchte ich ihn auf das deutliche Übergewicht ansprechen. Nur langsam scheint er sich zu beruhigen. „Ich...hab...", stottert er. Kurz richtet er sich auf und sieht mich an, fällt dann aber wieder hin sich zusammen. Er stützt sich erneut auf seinen Knien ab, als er merkt, dass er noch immer nicht genügend Luft zum Sprechen hat. Ich sehe auf einen Umschlag in seinen Händen. „Oh man, hast du...einen schnellen Schritt...Na gut, bei den Beinen", sagt er nun etwas vollständiger. Ich sehe verwundert an mir hinab. Meine Beine sind weder besonders lang noch laufe ich übermäßig schnell. Aber sie sind garantiert 15 Zentimeter länger als Michas. Unbewusst hebt sich meine Augenbraue etwas in die Höhe. „Kann ich etwas für dich tun?", frage ich nun doch und sehe, wie er energisch den Kopf schüttelt. Er reicht mir den Umschlag. Mein Nachname steht darauf in seltsam schnörkeligen Buchstaben. Es ist Handgeschrieben. „Der wurde gestern für dich abgegeben. Irgendwann nach 19 Uhr." Ich spüre, wie mein Puls nach oben geht. Augenblicklich. „Es war diesmal eine Frau. Der Typ, der letztens nach dir gefragt hat, ist nicht wieder aufgetaucht", erläutert er meinen fragenden Blick. Ich nicke ihm dankend zu. „Okay, danke." Ich sehe dabei zu, wie der Pförtner schlendernd verschwindet. Als er aus meinem Sichtfeld verschwunden ist, sehe ich wieder auf den Umschlag. Ich öffne ihn erst als ich in der Umkleidekabine bin. Es befindet sich ein einfaches Blatt Papier darin auf dem 6 Daten und Jahreszahlen gedruckt stehen. Drei davon erkenne ich sofort. Richards Geburtsdatum. Mein eigener und der Todestag von Renard Paddock. Die anderen erkenne ich nicht. Ich wende das Blatt um. Am unteren rechten Rand entdecke ich ein weiteres Datum. Keines aus der Vergangenheit, sondern ein zukünftiges. Es ist der genaue Tag, an dem meine Bewährung endet. Ich lasse mich auf die hölzerne Bank nieder. Zwei weitere Male lese ich die Zahlen. Was bedeuten die drei anderen Zahlenreihen? Ich kann mich nicht daran erinnern. Es sind keine weiteren Geburtstage. Nur andere Tage in vergangenen Zeiten. Wer? Wer schickt mir diese seltsamen Andeutungen? Ich bin mir sicher, dass es von der gleichen Person sein muss, die mir auch die Bilder von Richard und seiner Tochter geschickt hat. Die Frustration überfällt mich schlagartig. Unbewusst wandern meine Augen wieder und wieder über die Zahlenreihen. Ich präge sie mir ein. So wie ich es fast immer automatisch mit Zahlen mache. Woher weiß er so viel? Wie kommt dieser jemand an die Informationen? Wie viel weiß er wirklich? Ich höre, wie die Tür auf geht und sehe, wie der Azubi Kai an mir vorbeihuscht. Er hat mich nicht sofort bemerkt, doch mit einem Mal kommt er zurück. Sein Gesichtsausdruck ist schamvoll. „Guten Morgen", sage ich leise und klinge nicht dem Inhalt entsprechend. „Wie...wie geht es dir?" Wieder ein leichtes Stottern. Wenn er nervös ist, hat er das öfter. Seine Wangen färben sich etwas rot. „Ganz gut", sage ich ihm ehrlich. Kai beginnt an seiner Jacke zu spielen. Er blickt auf seine Hände, schiebt sie danach in seine Taschen. „Wirst du es melden?", fragt er nach einer kurzen Pause und ich sehe nun meinerseits auf meine Hände. Ich möchte ihn am Liebsten fragen, ob ich es melden soll. Ich bin mir selbst nicht sicher, was ich tun soll. „Ist der Plan", sage ich ruhig. Ich sehe, dass er zuckt. Ein weiteres Mal höre ich die Tür. Ich bin seltsam dankbar für die Unterbrechung und öffne meinen Spint. Im Augenwinkel sehe ich einen Kollegen, der sich mit Kai freundschaftlich abklatscht. Ich sehe zu den beiden Männern. Ein schüchternes Lächeln auf dem Gesicht des Azubis. Ich wende mich ab. Den Brief lege ich auf die obere Ablage und ziehe mich um. Ich nehme mir eine Grundwartung und eine Nachkontrolle vor. Als ich im Heizungsraum ankomme, schlägt mir kein penetranter alter Ölgeruch entgegen. Nur noch ein feiner Hauch. Es ist ungewohnt. Noch immer ist es stickig. Kurz vor dem Mittag klingelt mein Handy. Kaley. Ich will nicht rangehen, dennoch zögere ich. Richards Worte kommen mir in den Sinn, aber ich möchte sie einfach nicht mit hineinziehen. Nach zehn Minuten klingelt es ein weiteres Mal. Sieben Minuten später wieder. Nach einer halben Stunde ist ruhe. Ich seufze schwermütig. Es ist zu ihrem Besten, das rede ich mir jedenfalls ein. Zum frühen Nachmittag verschwinde ich in die Umkleidekabine. Ich durchforste mein Portmonee nach Kleingeld. Mit wachsender Ernüchterung stelle ich fest, dass ich nur noch dreißig Cent besitze. Ich sage meinem Mittagessen ade und fange damit an meinem Magen zu beschwichtigen. Ich sehe auf als ich verräterische klackende Geräusche im Flur höre. Es hallt förmlich. Die Tür geht auf und ich sehe verwundert dabei zu, wie sich Kaleys dunkler Haarschopf präsentiert. Sie blickt zuerst in die falsche Richtung und ich starre auf ihren Hinterkopf. Das Ignorieren ihrer Anrufe scheint nicht zu funktionieren. Was habe ich auch erwartet? Immerhin arbeiten wir im selben Gebäude. Als sie mich sieht, richtet sie sich auf. Mit ihren langen Beinen und hohen Schuhen ist sie größer als ich. Weglaufen bringt nichts. Ich fühle mich in diesem Moment, wie die Gazelle, die den Löwen erblickt. Ein merkwürdiger Vergleich, aber das Funkeln in ihren dunklen Augen ist furchteinflößend. „Okay, du arbeitest also noch hier. Ich weiß nicht wieso, aber du ignorierst mich. Darf ich erfahren, warum?" Kaley kommt auf mich zu. Ich räume mein Portmonee zurück in den Schrank. „Ist es wegen dem, was gestern passiert ist?" Sie weiß nicht, was nach dem Vorfall hier im Umkleideraum noch geschehen ist. Ich hoffe inständig, dass es so bleibt. „Ich hab den kleinen blonden Azubis gefragt, aber der hat mich nur angestarrt und mit dem Kopf geschüttelt. Eleen, was ist hier los?" Ich schließe die Tür zu meinem Spint und schiebe die paar Cents in meine Hosentasche. „Ich will nicht, dass du da mit hineingezogen wirst, Kaley und deshalb ist es besser, wenn ich mich von dir fernhalte. Ich will nicht, dass dir irgendwas passiert", sage ich mit ruhiger Stimme und meine es wirklich ernst. Steven ist unberechenbar und da er in die Ecke gedrängt wurde, kann es passieren, dass er auf einem anderen Weg weitermacht. Er hat mich mit Kaley gesehen und wer weiß, was sich noch in seinem Kopf abspielt. „Wo hinein, Eleen? Hast du hier mit irgendjemanden Ärger?" „Kaley hör auf. Umso weniger du weißt, umso besser! Alte Gefängnisweisheit." Ich merke erst, was ich gesagt habe, als es bereits zu spät ist. Ich wende meinen Blick ab und seufze leicht. Sie schweigt. „Ich will ihm keine weiteren Angriffsmöglichkeiten bieten und deshalb darf er uns nicht weiter zusammen sehen." „Du sprichst von Steven, oder? Er kam mir letztens entgegen und er hatte diesen seltsamen Blick drauf. So ein Perversling." Ihr gesamter Körper schüttelt sich. Nur die Erinnerung schien ihr unangenehm. „Du meinst ihn, oder? Ich sehe, wie er dich manchmal ansieht, wenn du an ihm vorbeigehst. Macht er dir Ärger? Belästigt er dich?" „Kaley, ich..." Sie unterbricht meinen flüchtigen Versuch, mich herauszureden. „Melde es." In ihrer Stimme schwimmt Sorge. Ich denke an Kai. „Ich weiß nicht, ob das wirklich etwas bringt", sage ich resignierend und lasse mich auf die Bank vor den Schränken nieder. Ich sehe nicht auf und doch höre ich ganz genau, dass sie näher kommt. Leises Klackern, welches ihre hohen Absätze verursachen. Sie lässt sich neben mir nieder und dann sehe ich ihre schmale Hand, die sich auf mein Knie legt. „Okay, du musst mir nicht erzählen, was genau vorgefallen ist, aber ich garantiere dir, dass du mich nicht beschützen musst. Ich weiß mich gegen so einen Widerling zu wehren und garantiert lasse ich mir wegen so jemand nicht verbieten, mich mit Menschen zu treffen, die ich mag. Schreib dir das hinter die Ohren!" Der Rest des Vortrags ging definitiv an mich. Ich werde also nicht verhindern können, dass sie mit hineingezogen wird. Ich blicke sie verzweifelt an. „Höre auf so zu gucken und lass uns Essen." Der Ausdruck in meinem Gesicht wandelt sich ins Wunderliche. Ich sehe dabei zu, wie sie die Tüte in ihrer Hand auf ihrem Schoss abstellt und öffnet. „Ich wusste nicht, was du magst, also hab ich Hähnchen mit Frischkäse, Salami mit Tomate und Paprika und irgendwas Vegetarisches mitgebracht." Während ihrer Auflistung packt sie die Pakete mit den Sandwichs aus. Dazu gibt es verschiedene Soßen und frischen Salat. Ein großer Armreif rutscht von ihrem Unterarm auf ihr Handgelenk. Er ist aus Holz und trägt ein hübsches figurales Muster. Das Lächeln auf ihren Lippen und die Freude in ihrer Stimme sind herrlich einnehmend. Ich lächele und sie erklärt mir, dass die Currysoße besonders gut auf dem Hähnchen und die Kräutersoße auf dem Salamisandwich schmecken. Ich nehme ihr das belegte Teil mit Hähnchen aus der Hand und sie reicht mir zufrieden lächelnd die Currysoße. „Eleen, wer ist Rick?", fragt sie und durchbricht damit die ruhige Pausenstimmung. Ich blicke von dem belegten Brot in meiner Hand auf und sehe die dunkelhaarige Schönheit an. Ihre langen Finger streichen über ihren beigen Rock. Sie versucht nicht allzu neugierig auszusehen, steckt sich ablenkend etwas heraus gefallene Gurke in den Mund und doch merke ich die Anspannung, die sich in ihrem Körper hält. „Du hast seinen Namen gestern im Heizungsraum gesagt. Mehrmals und na ja, ich wollte gern wissen, von wem du so träumst..." Ich erinnere mich an den Traum, der mich seinen Namen rufen ließ. Kaley hat versucht, mich zu wecken und ihre Berührungen haben sich in meinen Kopf mit dem Wunsch nach Richard verschmolzen. Als sie merkt, dass ich sie beobachte, sieht sie zu mir. Ein unsicheres Lächeln auf ihren Lippen. Ihr Gesicht erhält dadurch eine süße, fast niedliche Note, die durch die kleinen Grübchen in ihren Wangen noch unterstrichen wird. „Er ist ein Freund aus der Kindheit", sage ich daraufhin und die Anspannung gleitet aus ihrem Körper. Ich kann es deutlich sehen. Ich führe das Sandwich zu meinen Lippen, doch ich beiße nicht ab als ich merke, dass nun Kaley mich ansieht. Ihr Blick ist suchend. Ich weiß nicht warum. Ich denke an ihre Bemerkung. Die dass ich nach dem gemeinsamen Wochenende mit Rick anders gewirkt habe. Ob sie etwas ahnt? Aber woher sollte sie? Frauen sind mir manchmal unheimlich. „Steht ihr noch in Kontakt?", fragt sie und beißt dann von ihrem Brot ab. Ich schüttele meinen Kopf. So gerne ich ihr gegenüber auch ehrlich sein will, ich kann es nicht. Ich denke an unsere gemeinsamen Nächte. Meine Fingerspitzen beginnen zu kitzeln. Erneut mustert sie mich und ich merke das feine Lächeln, welches sich auf meine Lippen geschlichen hat, während ich an Richard denke. Auch Kaley lächelt nun. Ihre perfekten, weißen Zähne blitzen hervor. Danach beißt sie wieder von ihrem Sandwich ab. Auch ich widme mich meinem Essen als sie nicht weiter fragt. Ich frage mich, wie viel sie sich zusammenreimt und was sie sich denkt. Ich danke ihr für das leckere Essen und begleite sie noch zum Fahrstuhl. „Eleen, lass dir das von Steven nicht gefallen. Sprich mit Herr Müller oder meinetwegen auch mit Barson direkt." „Ich glaube kaum, dass ihn die niedrigen Angestellten interessieren." Ich denke an den großen, kühl wirkenden Mann. „Er ist anstrengend, aber er dulden so was nicht. Glaub mir", erläutert Kaley mir. Ich drücke die Taste zum Rufen des Fahrstuhls. Die Tür öffnet sich sofort. Sie greift nach meiner Hand. Ihre schöne, dunkle Haut bildet einen wunderbaren Kontrast zu meiner. Erneut beobachte ich, wie der schwere Holzarmreif über ihre Haut streicht. „Du kannst dich jeder Zeit bei mir melden, ja? Das weißt du?" Diesmal sehe ich sie direkt an. „Okay. Danke." Damit lässt sie mich los, lächelt und ich sehe dabei zu, wie sich die Fahrstuhltür schließt. Ich verstehe nicht, warum sie so nett zu mir und trotzdem breitet sich ein warmes Kribbeln in mir aus. Eine gefühlte Ewigkeit stehe ich vor dem Fahrstuhl und hänge meinen Gedanken nach. Erst, als mein Vorarbeiter im Flur auftaucht, reiße ich mich wieder zusammen, hadere damit ihn an zu sprechen und verschwinde dann feige zurück in den Heizungsraum. Der Feierabend lässt auf sich warten. Ich bin nicht bei der Sache und denke an Rick, an Moore, aber auch an Kaley. Ich verstehe sie einfach nicht. Was will sie mit mir? Ich bin weder unterhaltsam noch sonderlich aufmerksam. In meinem Leben bin ich selten auf reine Freundlichkeit gestoßen, wahrscheinlich ist es das, was mich so irritiert. Mir fehlt es an Grundvertrauen. Ich greife nach dem Brief vom Vormittag und sperre meinen Spint ab. So viele verschiedene Daten. In meinen Kopf spulen sie sich ab, wie ein Zeichentrickfilm. Ich weiß nicht, was die Anderen bedeuten. Ob ich Rick davon erzählen soll? Gestern ist er sehr wütend gewesen, weil ich ihm alles so lange verschwiegen habe. Es widerstrebt mir, ihm alles sofort genau zu berichten. Also bin ich für den restlichen Tag hin und her gerissen. Selbst beim Einkaufen bin ich nicht ganz bei der Sache. Letztendlich habe ich eine gigantische Rechnung und weiß beim nach Hause laufen nicht mal mehr, was ich alles eingekauft habe. Ich schleppe die beiden schweren Tüten nach oben. Neben der Tür stelle ich sie ab und weiche zurück. Ein Spalt. Ich sehe eine Diele meines Parketts. Die Tür steht offen. Ich lausche. Es ist nichts zu hören. Mit zitternden Fingern ziehe ich mein Handy aus der Tasche. Ich tippe unbewusst. Ps vom Autor: Ich möchte einen dicken und herzlichen Dank an meine lieben Leser und Kommieschreiber aussprechen. Ihr seid wirklich toll! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)